Die hystéra... III bis V

Unterschlagung aus Verkehrung der (männlichen) Hysterie

  • Eine Methode der Hypnose - Sie untersagt (und begräbt) den »Wahnsinn - Ein Rest an Aphasie - Die verkannte Differenz - Die ungebrochene und nicht reflektierte Blendung der Verführung.

Wie könnten diese Gefangenen, für die nur Trugbilder existieren, nur Worte, die projizierten Schatten zugesprochen werden, die zwar von Stimmen genarrt werden, aber die listigen Kunstgriffe der Produktion-Reproduktion nicht verstehen, die zwar von spektakulären Schauspielen fasziniert sind, aber deren mimetische Techniken nicht einschätzen können, wie könnten diese Narren, diese Kinder, die von jeder Information abgeschnitten sind, von ihren Ketten befreit und von ihrer geistigen Verwirrung geheilt werden? Und welche Formen wird ihre Verwirrung noch annehmen, ehe sie aus dieser apaideusia herauskommen, die sie in der Höhle festhält, in Unwissenheit über den Unterschied zwischen dem Wahren und dem Falschen?
Immer wenn einer von ihnen von seinen Fesseln befreit wird und plötzlich gezwungen ist, sich aufzurichten, den Kopf zu wenden, sich in Bewegung zu setzen und die Augen zum Licht zu erheben, dann verursachen diese Handlungen ihm Schmerzen, und der Glanz des Feuers hindert ihn daran, die »Gegenstände« zu sehen, deren Schatten er vorher betrachtete.
Es wird jeweils nur ein einzelner befreit. Irgendeiner, ein »Jemand«, eine unbestimmte und stumme Person befreit einen Gefangenen von seinen Ketten, so daß er sich frei bewegen kann. Wenn er es könnte. Doch die Fesseln haben zweifellos jene Unbeweglichkeit, jene Lethargie nur verdoppelt, veranschaulicht, repräsentiert, die auf die Behexung der Höhle und die Zauberei der Magier zurückzuführen sind. Obwohl die Fesseln gelöst sind, wird (würde) der Gefangene unbeweglich bleiben, festgehalten von der Dauer seiner früheren Haltung, erstarrt in der und durch die Faszination dessen, was sich vorn abspielt - die bloße Bewegung, die bloße Kinetik, die auf dem Projektionsschirm vor sich geht, wenn er nicht plötzlich durch jemanden, einen Irgendjemand männlichen Geschlechts - aufzustehen genötigt, zum Aufstehen gezwungen würde. Anástasis*, (*Aufstehen, Aufstellen. (Anm. d. Ü.)) die ihm Schmerzen verursacht. Vertikalität, Phallismus, die bis jetzt dem Blick vorbehalten waren, der nach vorn gerichtet war, dem Gesicht, dem Körper, die nach vorn gewendet waren, der prótasis. Dem proterein, das den Mangel des hysterein bemäntelt und kaschiert, den diese Gefangenen niemals zur Kenntnis nehmen konnten oder wollten. Weil sie so durch das Projekt der Metaphorisierung der hystéra, der Matrix dieser Szenerie der Repräsentation, der Vorstellung, gefangen waren, wird er, werden sie nicht ohne Widerstand, nicht ohne Leiden aufgerichtet und in der Höhle zu gehen beginnen, sie, die bis dahin von einem ununterbrochenen hysterischen Schlaf und Traum umfangen waren. Sicher zunächst mit von außen gelenkten Bewegungen, in einem Somnambulismus, der vom hypnotischen Vermögen eines Pädagogen abhängig ist, der die Erstarrung, die Lähmung der Gelenke beheben muß, deren Beweglichkeit unter Schmerzen wiederkehrt. Ein Körper, der durch den Zauber des an der Höhlenrückwand vorüberziehenden Schauspiels gebannt ist und dessen Paralyse man nur mit Mühe rückgängig machen kann. Das gilt vor allem für jene Wirkungen, die für den Fortbestand des Zaubers besonders wichtig sind: die Unmöglichkeit, sich umzudrehen und zum mutmaßlichen Ort des Ursprungs zurückzukehren, um der analogischen Fiktion gewahr zu werden, auf der diese Repräsentation, diese Vorstellung, beruht. Dumpfe Betäubung, Astasie und Beschränktheit des Blickfeldes, Bevorzugung des Vornliegenden, all diese für die Verführungskraft des Zaubers notwendigen Bedingungen beschließt Sokrates, mit einem Schlag zu beseitigen und damit die Meinungen dieses Gefangenen-Kindes der hystéra aufzulösen. Indem er ihn dazu zwingt, aufzustehen, den Kopf zu wenden und zu gehen. Als ob er das gleich beim ersten Versuch könnte, ohne Rekurs auf einen anderen Kunstgriff: die suggestive Kraft eines Präzeptors, der sich um den Widerstand des »Körpers« gegen eine derart brutale Veränderung des Tropismus nicht bekümmert. Alle diese Handlungen werden ihm also Leiden verursachen, und wenn das Kind oder Gefangene gezwungen wird, nach oben, nach hinten und oben zu sehen, zum Licht des Feuers hin, wird er durch dessen Glanz geblendet und unfähig sein, in dieser Verblendung die »Dinge« wahrzunehmen, auf deren Schatten er vorher seinen Blick, seine Aufmerksamkeit gerichtet hatte. Und zweifellos gelangt das Auge, das in der Nacht eine Veränderung erfährt und erlischt,[1] nicht übergangslos von der Dunkelheit in den hellen Schein des Lichts. Wie könnte er auch auf den ersten Blick das sehen, was bisher immer aus seinem Gesichtskreis entfernt, für seinen Blick verborgen war? Wenn man auf einmal und auf pädagogische, vielleicht gar philosophische Anweisung den Horizont verrückt, der bis jetzt die Perspektive, den Gesichtspunkt bestimmte, der den Blick beschränkte? Vor allem wenn es sich darum handelt, durch eine Drehung des Kopfes genau das in den Blick zu bekommen, was bis dahin immer hinter ihm war, was zwar alles Sichtbare determinierte, aber nur unter der Voraussetzung, selbst nicht angeschaut, in Betracht gezogen zu werden. Wie den Gefangenen aus der Tiefe der Höhle der Glanz des Feuers blendet, so verursacht diese plötzliche Drehung, das unvermittelt aufgezwungene Umschwenken, Umwenden ihm Schwindel. Die Folgen sind eine für eine Weile nicht zu behebende Doppelsichtigkeit, zwei unvereinbare Gesichtspunkte, von denen einer sich unverändert durchsetzen darf, wenn man nicht Feuer einbüßen will. Ob nun die Wahrheit über die trügerischen Erscheinungen siegt oder ob man versucht, die Optik von neuem umzukehren und das Trugbild, die Maske, das Phantasma so ausschließlich bevorzugt, daß sie schließlich die Sehnsucht nach etwas Wahrem zum Ausdruck bringen.

Dilemma, Oszillation, Unentschiedenheit, aus der man nicht herauskommt, wenn man nicht das Interesse, den Nutzen erklären kann, die hier auf dem Spiel stehen. Wenn man nicht begreift, welche Person oder Sache von dem Vertrauensvorschuß profitiert, der in die Wirksamkeit dieser Metaphorizität investiert wird, in die Unterteilungen des Spielfelds und die Definitionen der Spielfiguren, in die Zuordnung der Unterscheidungsmerkmale zu den Feldern des Schachbretts, in diese Hierarchie von Werten als Einsatz, Regel und Gewinn des Spiels. Welches Vergessen - nicht das einer wahreren Wahrheit, einer wirklicheren Wirklichkeit, sondern das Vergessen des Profits, den das Paar Wahrheit\Phantasma absichert - liegt in alledem verborgen? Und welcher Tribut wird weiterhin dafür gezahlt? Es wird um den Preis von Komplikationen aufrecht erhalten, die das Spiel immer komplexer, subtiler, schwindelerregender, kurz gesagt: endlos machen, ohne daß ein Schiedsrichter Interesse daran hätte, die Hypothek aufzukündigen und das Spiel zu beenden.

In der Höhle jedoch, in der wir immer noch sind, versucht ein Meister, einen Gefangenen zur Wahrheit, zumindest zum »Wahreren« zu bekehren, wobei der Gefangene nicht ohne weiteres auf seine Verirrungen, seine aphrosyne zu verzichten scheint. Denn »was würde er sagen, wenn ihm einer versicherte, damals habe er lauter Nichtiges - phlyrias* (*Unnützes, unsinniges Geschwätz. (Anm. d. Ü.)) - gesehen, jetzt aber, dem Seienden - tú ontós - näher und zu dem mehr Seienden - prós mállon ónta** (**Zum mehr Seienden hin. (Anm. d.Ü.)) - gewendet, sähe er richtiger - orthóteron blépoi?*** (*** Richtiger sehen, das Richtigere sehen. (Anm. d.Ü.)). Wenn man ihm bestätigte, daß sein Blick jetzt in eine richtigere Richtung gewendet, also schärfer sei, tauglicher für eine richtige Einschätzung des Seienden? Kindlich wie er ist, würde er, wie man sich denken kann, antworten, daß das, was er damals gesehen, wahrer als das sei, was ihm jetzt gezeigt wird.

So spielt sich in der Höhle - in der wir immer noch sind - die Tragödie zwischen dem Verfechter der Wahrheit und dem Verfechter des Phantasmas ab. Aber die Macht, den Wahnsinn zu klassifizieren, hat weder der eine noch der andere; keiner kann seinen »Anderen« oder seinen »Einen« oder das, was ihm fremd ist, was durch und für ihn immer und ewig entfremdet ist, als wahnsinnig bezeichnen. Hier soll die Wahrheit herrschen, und sie hat allemal im voraus das Wahre und das Falsche voneinander getrennt. In ihrem Reich wird angesichts einer solchen Alternative keine Unentscheidbarkeit geduldet. Also ist von den beiden Menschen - von den beiden halben Menschen - einer auf einem guten Weg, sieht genau, denkt richtig, während der andere ein von Trugbildern irregeführtes, betrogenes Kind ist, unvernünftig, unbewußt. Es kommt also darauf an, daß eine der beiden Hälften die andere auf den guten Weg (zurück-)führt, daß sie deren Dummheit verringert, die trügerischen Träume zerstört. Das wird mittels eines Gewaltstreichs gelingen, weil der »Wahnsinn« sich nicht durch bloße Autorität vertreiben läßt, sondern vielmehr verboten, vergraben, verleugnet werden muß, damit ein klares Gesetz und ein klarer Diskurs sich durchsetzen können, mit säuberlich herausgearbeiteten Kategorien, mit uneingeschränkten Dichotomien. Die Willkür dieser Entscheidung wird mit dem Hinweis auf ein anderes Leben gerechtfertigt. Sich an dieses andere Leben zu erinnern, ist angebracht, denn welche Entscheidung sonst könnte in diesem Leben, dem des Kindes aus der Hohle, dazu führen, daß es das, was ihm jetzt als solches gezeigt wird, für sichtbarer, für wahrer, also insgesamt für gültiger hält, ungeachtet des Schauspiels, von dem es seit eh und je verführt worden war. Und heißt es nicht, sich auf Irrtum, Verwirrung, Delirium einlassen, wenn man ohne besondere Anreize, einzig unter dem Zwang eines Meisters, auf die früheren Gewißheiten verzichtet? Ganz gleich, ob sie nun »sichtbar«, phantastisch oder phantasmatisch waren. Und sobald man sich auch nur im mindesten auf die Methoden und Ziele dieser autoritären Pädagogik einläßt, weiß man nicht mehr, was es mit dem Wahnsinn, der Maßlosigkeit auf sich hat. Man kann nicht mehr darüber entscheiden, wer oder was mehr oder weniger verrückt ist.

Und, falls man es noch betonen muß, auch das: Die »Dinge«, von denen man dem Gefangenen sagt, sie hätten mehr Sein, sie seien wahrer als die Dinge, von denen er immer nur die Schatten gesehen hat, oder sie seien das »Positiv«, von dem er immer nur das »Negativ« wahrgenommen habe, diese Dinge sind durchaus nicht einfach als das jetzt gegenwärtig Seiende zu erkennen, dessen Projektion ausgereicht hatte, eine trügerische Faszination auszuüben. Die ganze szenographische, kinematographische Montage wird für ihn nicht entschleiert. Weder die Kunstgriffe des Inszenators noch die architektonischen Tricks, weder die List der Zauberer noch die Mechanismen der Projektion, nicht einmal das Prinzip der Kinetik, ganz zu schweigen von dem des Echos... Und mit einer neuen Täuschung, durch die Vernunft, wenn man so will, bringt ihn der Pädagoge dazu, in bloßen »Standbildern« die unverhüllteste, die wahrste, dem Sein am nächsten liegende Ursache dessen zu sehen, was ihn vorher gefangen hielt. Denn in seiner Beweisführung entschleiert er die Triebkräfte des Begehrens, die Wandlungen des Tropismus, sogar den Eindruck des Schwindels nur, um desto besser zu verdecken, daß alles vom Glanz der Idee abhängig ist: der unwandelbaren (fixen) Idee.

In seiner Verblendung also wird der Entfesselte, der Entzauberte, der Irregeführte alles, was man ihm zeigt, nur undeutlich erkennen. Und er wird annehmen, daß das, was er vorher betrachtet hat, alles in allem klarer war als diese Blendung und Verwirrung. Und wenn jemand »ihm jedes Vorübergehende zeigend, ihn fragte und zu antworten zwänge, was es sei - ho ti éstin —? Meinst du nicht, er werde ganz verwirrt sein?«
Wer wäre es nicht? Was der Gefangene »Seiendes« - onta -nannte, bezeichnete das, was er immer gesehen hatte. Oder besser: das, was sie immer gesehen hatten, er und die (selben) anderen, und zwar ausschließlich. Weil jeder andere Anblick ihnen unmöglich oder verboten war. Sie, die miteinander identisch waren, hätten angesichts dieser immer gleichen Schatten in einer hypothetischen Unterhaltung schließlich das, was sie sahen, »das Seiende« genannt. Und zwar ganz notwendig. Sie hätten lediglich unter der Voraussetzung miteinander sprechen können, daß sie jeden Gegenstand mit einem »eigenen«, richtigen Namen - selbst einem willkürlichen -, das heißt mit einem unzweideutigen Begriffbezeichneten. Das Paradigma aller eigenen, richtigen Namen ist das Sein oder die Wahrheit. Das Sein der Wahrheit oder die Wahrheit des Seins. Kein Diskurs, kein Dialog kann diesem Gesetz entgehen, nicht einmal innerhalb dieses Mythos im Dienst des Philosophen. Die Namen, die er, die sie genannt hätten, waren auf die Wahrheit bezogen, an der Wahrheit gemessen worden, weil sie einander andernfalls nicht hätten verstehen können...
Aber der Gefangene wird plötzlich von alledem weggewendet, losgelöst, entzaubert, was er und die (selben) anderen mit dem Namen Wahrheit bezeichneten, und man befiehlt ihm, zu sagen, was die Dinge sind, die seit jeher hinter ihm waren und von denen er vorher einzig die Schatten sah. Wie aber könnte er das tun, wenn er für dies neue »Seiende« - seiend, obwohl es für ihn aus einer anderen Welt ist — über keinen passenden Begriff, über keine vereinbarte oder angemessene Benennung verfügt, wenn er dies »Seiende« ganz allein ansehen muß und bei der Kehrtwendung, zu der man ihn gezwungen hat, seinen Gesichtspunkt für das Wahre, das Seiende verloren hat? Außerhalb der Sprache, außerhalb der Konvention oder der allgemeinen Anerkennung, außerhalb der identischen Wahrnehmung und nicht durch die wechselseitige Übereinkunft im Gespräch mit denjenigen identifizierbar, die seine Sicht der Dinge teilen, sind diese Dinge für ihn nichts. Oder das Fremde. Die Fremdheit, der Fremde. Auf jeden Fall hat er nichts, womit er sie voneinander unterscheiden könnte - apokrinesthai. Auf keinen Fall sind sie etwas, das er auseinanderhalten, durch treffende Wörter definieren könnte.
Diese »Dinge«, die zweifellos - freilich mit Hilfe eines ganzen Apparats von trügerischer Verführungskraft - sein Interesse oder vielleicht auch seine Interessengemeinschaft mit den (selben) anderen und darüber hinaus die Sprachgemeinschaft mit diesen »anderen« unterhielten, diese »Dinge«, so wird der Pädagoge ihm versichern, hätten in ihrer eindeutigen Einfachheit mehr Sein, sie würden ihn auf exaktere Art sehen lassen, im Vergleich mit ihnen wäre alles, was er vorher gesehen habe, ein Nichts ohne Konsistenz. Er wird sie gewaltsam in eine Ökonomie von Werten einbeziehen, in der sie als solche keine Funktion, keinen Platz haben können, jedenfalls keinen, der vom Gefangenen definiert würde, der für ihn definierbar wäre. Er wird sicher sein, daß es sich fortan nicht schickt, etwas anderes als sie zu sehen oder gar zu benennen und zu verstehen - worauf man sich allerdings nicht mehr in einem Gespräch einigt, sondern was in einer Belehrung festgelegt wird, die keinen Widerspruch duldet. Das Verhältnis zur Wahrheit wird nicht mehr durch die Identität der Positionen - und der Täuschungen -, der Blicke, der Blickwinkel, der Schatten bestimmt, die den Gefangenen der Höhle aufgezwungen wurden, sondern durch den Diskurs eines Meisters, der als Garant für die Stimmigkeit der Analogien gilt, für die Adäquatheit der Verhältnisse zwischen jedem »Seienden« und der Wahrheit.
Die Wahrnehmung des Gefangenen kommt in Zukunft durch die Urteile des Meisters zustande. Sie wird durch den Logos, die Logik des Präzeptors der Philosophie festgelegt. Wenn das »Präsentere« auch das repräsentiert, was mehr Sein hat - während dasjenige, was unmittelbar wahrgenommen wurde, nur Projektion war —, dann wird also dieses Mehr an Sein oder an Wahrheit von der Entscheidung einer Obrigkeit vorgeschrieben, die sowohl mit der Hypothek eines früheren Lebens spekuliert (wobei man sich schuldig fühlen müßte, es vergessen zu haben) als auch mit der Notwendigkeit eines neuen Projekts, eines télos, das die Verhältnisse zwischen den Menschen zu regeln taugt. Doch dieses »Mehr an Wahrheit« wird nicht einfach ins Spiel, in Umlauf gebracht als ein Überschuß im Verhältnis zu dem, was die Gefangenen vorher als »Seiendes« wahrgenommen haben. Worin auch immer die trügerische Verführungskraft des Mehr besteht, es bezeichnet jedenfalls einen Bruch mit der überlieferten Ökonomie, die man wie Kindereien, Träume, Wahnsinn aufgeben muß. Man muß sich etwas anderem zuwenden, zu etwas anderem zurückkehren, kurzerhand Schluß machen mit dem kindlichen Glauben und der kindlichen Sprache, einen klaren Trennungsstrich zwischen den Phantastereien und der Wirklichkeit ziehen. Und in gewisser Weise vergessen, um sich an das Wahre zu erinnern.
Dieser Übergang aber setzt einen Sprung voraus, einen Riß, eine Spaltung, die sich nicht ohne Risiko (wieder) überwinden läßt. Man kann dabei die Sehkraft, das Gedächtnis, die Sprache verlieren, das Gleichgewicht. Und außerdem gibt es bei diesem Übergang kein Zurück. Durch ihn werden die Verkettung von Zusammenhängen und jede Art von Umkehrbarkeit, von Rückwirkung negiert. Er kostet jeden das Leben, der es wagt, ihn in entgegengesetzter Richtung zu beschreiten. Um das Leben geht es hier auf jeden Fall. Das ist der Preis für diese Vernunft, zu der der Gefangene jetzt bekehrt ist.

Nicht ohne Leiden, Schwindelgefühl, Blendung, sogar Aphasie. Denn ebensowenig wie er das als wirklicher erkennt, was man ihm zeigt, kann er diese »Dinge« benennen, mit Stummheit geschlagen, bis man ihn lehrt, zu sagen, was er sagen soll. Weil dieser Diskurs des »Mehr« an Wahrheit offenbar nicht darauf beruht, daß etwas im Verhältnis zu seinen früheren Worten zusätzlich zu Sagendes zur Geltung käme, sondern auf einer Konversion, nicht zuletzt einer Konversion der Sprache. Und das kommt nicht durch einfaches Aneinanderfügen einiger adäquater Begriffe zustande, sondern erfordert eine Transformation des gesamten Verlaufs des Diskurses. Man muß also (wieder) sprechen lernen, vor allem unterscheiden, registrieren, benennen. Einem Gesetz entsprechend, das nicht nur eine Verschiebung zu einem »Mehr« an Wahrheit hin vorschreibt - wobei die Wahrheit in diesem Fall irgendeinen Wert, ein X repräsentiert, dessen Nutzen, dessen Sinn nicht schon im voraus durch eine grundsätzliche Entscheidung festgelegt wäre. Das Gesetz dieses »neuen« Diskurses verwirft das, was vorher durch und wegen einer allgemeinen Verständigung über (sogenannte) sinnliche und unmittelbare Gewißheiten als »Seiendes« bezeichnet wurde. Man geht zu anderen Verbindungen über, die nicht auf die vorhergegangenen reduzierbar sind.
Es untersagt die Rückkehr nach hinten und erklärt jede Retroversion für ungültig. Und es befiehlt, endgültig den Sprung aus den Phantastereien, dem Traum, der Kindheit zu wagen. Auch aus dem Begehren? Dem hysterischen auf jeden Fall. Um sich der Weisheit zuzuwenden. Des Herrn und Meisters. Der Beherrschung.
Doch wenn es die List des Inszenators und der Zauberer war, den Gefangenen unter anderem durch Ellipsen und Eklipsen zu faszinieren, dann ist es jetzt eine andere Art von Okkultation, die den (angeblich) Befreiten verführen und gefangennehmen wird: dadurch, daß das Nicht-Sichtbare, das Nicht-Angemessene, das Nicht-Richtige aus der Ökonomie der Wahrheit, der richtigen Richtung, des richtigen Sinns, des richtigen (eigenen) Namens ausgeblendet werden. Von der List des Zauberkunststücks geht man über zur List der Autorität, zum Beispiel. Sie allerdings läßt sich nicht darauf ein, daß man sie in Frage stellt oder ihre Begründung anzweifelt. Es handelt sich um eine Autorität, die man im Diskurs der Wahrheit nicht sehen, nicht beurteilen, nicht bezeichnen wird. Die Leidenschaft, die diesen Diskurs beherrscht, wird von ihm selbst unterdrückt.

Zwei nicht entschleierte Taschenspieler-Tricks bestreiten den Prozeß der Vorstellung, der Repräsentation (und machen ihn sich streitig). Eine Spaltung, Schize, reißt das arché und die Gegenwart auseinander. Und die Unversöhnlichkeit dieser Trennung unterminiert seit jeher die ruhige Klarheit der Weisheit, der Philosophie. Selbst wenn sie die Kopula von vornherein extrapoliert hat. Die Idee, das Sein, das Sein der Idee verdecken im Zenit der Transzendenz die Dehiszenz eines Ursprungs, der niemals als (Ergebnis der) Kopulation anerkannt wird. Von seiner Höhe herab, von außerhalb, aus dem angeblich anderen Leben, einem früheren oder späteren, aus einem angeblich zusätzlichen Leben heraus entscheidet das Sein über die tödlichen Rivalitäten zwischen den Repräsentanten und den Repräsentationen des Ursprungs. Wenngleich feststeht, daß diese Kämpfe angesichts der Sonne vergehen, daß das Licht über die Dunkelheit triumphiert, die Wahrheit über das Phantasma, wenngleich, anders (?) gesagt, feststeht, daß der Vater das Monopol der Zeugung besitzt, als einziger Spender des »guten« Samens, als einziger fähig, ihm einen »richtigen«, eigenen Namen zu geben, ändert das nichts daran, daß unterirdisch, im Halbdunkel der Höhle oder vielmehr im kindlichen, gefangenen Unbewußten der Konflikt weiter bestehen bleibt. Der zweiten Geburt, dem sekundären Ursprung, der Wiedergeburt oder Wiedererinnerung wird es in Wirklichkeit niemals gelingen, den hysterischen Tropismus außer Kraft zu setzen. Der Diskurs der Vernunft, die väterliche Sonnenmetaphorik, wird die Phantasmatik der Höhle niemals endgültig, ohne Umkehr, ersetzen.
Das Monopol der Wahrheit (über den Ursprung) wird weiterhin von zweimal zwei halben Ursprüngen, von zwei halben Drehungen um den Ursprung, zwei halben Umschreibungen des Ursprungs beansprucht werden, die um den Vorrang bei allem rivalisieren, was mit der (Re-)Produktion zu tun hat, ohne daß so der Abstand, der Zwischenraum jemals verringert werden könnte, das Hin- und Hergerissensein zwischen der Zauberei der Höhle und der Logik der Vernunft, zwischen der Anziehungskraft der Erde und der Verführung durch die Sonne. Zwischen dem, was mehr mütterlich, und dem, was mehr väterlich ist. Deren - sexuelle - Differenz niemals als Ursache und Voraussetzung der Kopulation angesehen wurde. Weder ihre Verbindung noch ihr Produkt sind offenbar als zwei Hälften berechenbar, weder als zwei Hälften von »Mensch(en)« noch von Geschlecht(ern), noch von Repräsentation(en), noch von Sprache(n). Sie können also nicht in Hälften geteilt werden. Außer wenn hier schon die fixe Idee des Selben - Seins - vorherrscht, das man wiederfinden, wiederverbinden, re-produzieren müßte. Eher im Besseren als im Schlechteren, eher im Guten als im Bösen, eher in der Wahrheit als in Trugbildern. Als Idee (?) also. Ein Sein, das nicht einfach asexuell oder transsexuell ist. Was indes nicht bedeutet, daß es das eine oder das andere Geschlecht ausdrücklich bezeichnet, sondern eher, daß es die Teilung aufrechterhält, ohne sich von der Differenz spalten zu lassen, die in ihr wirksam wird. Denn um seine Herrschaft zu sichern, muß das, was — innerhalb des Selben - als »mehr« (wahr, gut, klar, vernünftig, intelligibel, väterlich, männlich) definiert worden ist, mehr und mehr die Oberhand über sein »Anderes«, sein »Unterschiedenes« - das Kontroverse - gewinnen, kurz über sein Negativ, sein »-weniger« (phantasmatisch, schädlich, unklar, »verrückt«, sinnlich, mütterlich, weiblich...), bis hin zur Fiktion eines einfachen, unteilbaren, idealen Ursprungs: bis in der Einheit des Begriffs die Spaltung des Beginns, der ursprünglichen Vereinigung(en) ausgelöscht wird.
Ewiges Archiv der Idee. Geburt, die ins Unendliche zurückverlegt wurde, wo sich alle Differenzen, alle Kontroversen in einer blinden Kontemplation auflösen.
Dieser Gefangene also, der schon Schwindelanfällen, Verwirrung und verschiedenen Schmerzzuständen ausgesetzt war, die durch seine gewaltsam erzwungene Umkehrung hervorgerufen wurden, »wenn man ihn gar in das Licht selbst zu sehen nötigte, würden ihm wohl die Augen schmerzen«? Der Blick, der an das Halbdunkel der Höhle, an die Dunkelheit der Höhlenrückwand gewöhnt ist, an die mitternächtlichen, unterirdischen Projektionen, er wird jetzt gewaltsam gezwungen, das Licht, das Feuer, die glänzende »Quelle« der Phantasmen anzuschauen, die ihn bezauberten. Wie könnten diese Augen es ertragen, daß man ihnen einen solchen Anblick, eine solche Erleuchtung zumutet? Wie sollte er nicht »fliehen und zu jenem zurückkehren, was er anzusehen imstande ist«? Auf das vielleicht weniger erhabene Schauspiel zurückkommen, das tiefer verborgen ist, das er aber ohne Schmerzen ansehen kann, ohne daß es ihn blendet? Und wäre dieser Mensch nicht »fest überzeugt«, das, was er zu sehen gewohnt ist, »sei in der Tat deutlicher«, einleuchtender als dieses »Licht«, das man ihm durch die Geste oder das Wort als die »Vernunft« zeigt, bezeichnet, die ihn in ihrer teilweisen Verdunkelung fesselte?

Von einer halben Drehung zur nächsten weiß er, der doch kaum gehen kann, bald nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Was soll man nach vorn stellen? Was hinten lassen? Wo ist das Gegenüber, die Vorderseite, das Gesicht? Und die Rückseite? Wo das próteron, das hysteron? Und die hystéra? Worauf, wem kann man vertrauen? Und die Macht der Gewohnheit, die Beständigkeit der Wiederholung, der Repräsentation der Wiederholung, die er kennt, verweisen ihn auf seine frühere Position, seine früheren Visionen und Stimmen. Lieber von Trugbildern irregeführt werden als erblinden, weil man den Blick auf das Licht der Wahrheit gerichtet hat. Zumal diese Wahrheit, die man ihm jetzt angeblich »entschleiert«, nicht einfach die des verführenden Phantasmas ist. Weil es keine alethéia der Verführung gibt und geben wird. Aber das Feuer und auch die Sonne könnten einen über diesen Punkt hinwegtäuschen, insbesondere den Gefangenen, der nichts anderes kennt, weil er seit seiner Kindheit in der Tiefe einer Höhle gefesselt ist. Ihn, der noch nicht weiß, welcher theoretischen Fiktion das Feuer und die Sonne seit jeher gedient haben. Der es noch nicht gelernt hat, sie durch eine »gute« Metaphorik zu unterschlagen, zu verschleiern, die seinen Blick der Entwicklung des Bildes anpaßt.
Feuer, das den unerträglichen Glanz eines Lichts hat, das für den Metabolismus des Auges zu intensiv, zu unmittelbar »gegenwärtig«, allzu nah ist. Schmerzhaftes Eindringen der hybris* (*Gewalt, Frevel, Hochmut. (Anm. d.Ü.)) - der Natur. Blendung durch etwas, das man noch nicht betrachtet, vermessen hat. Oder das so erscheint. Wovon man sich abwenden muß, um wieder in seine Kammer zurückzukehren. Zu seinen Phantomen. Zu seinen Träumen. Die man gern für die einzig möglichen (sinnlichen) Gewißheiten hielte.

In der Höhle gibt es zwei Weisen des Auftauchens und Wiederverschwindens der natürlichen hybris, die sich aufeinander beziehen, sich wechselseitig den Schleier der Wahrheit zuschieben, ihn einander zuwerfen, ihn zu sich herüberziehen, selbst auf die Gefahr hin, ihn zu zerreißen. Für den Gefangenen, der die Kunst der Dialektik, die Macht des Ideals nicht kennt, läge das Unerträgliche der hybris im blendenden Glanz des Feuers, der Sonne. Für den Philosophen, der das Licht durch seinen Logos bereits gebrochen hat, liegt es in der Verzauberung durch Schatten, durch Phantasmen, in der Halluzination und dem »Wahnsinn«. Eine bestimmte natürliche Gewalt muß von seiner Weisheit resorbiert werden. Durch diese Kehrtwendungen, die halben Drehungen von einem Weniger zu einen Mehr an Wahrheit, bei denen die Wahrheit überall und nirgends ist. Listiger Vergleich zwischen diesen »Erscheinungen« des Ursprünglichen, die nicht nur einfach in einer Beweisführung auftreten sollen, bei der die einen den Sieg über die anderen davontragen, sondern die miteinander verbunden und ineinandergefügt werden sollen. Die Wahrheit ist überall dank der Täuschung, des trügerischen Vorrangs eines »Mehr«. Eine Stufenleiter von Werten, die im übrigen ohne jede tatsächliche Erscheinung auskommt. Um urteilen zu können, müßte man jeweils zwei Gesichter haben. Eine Mißbildung der Natur, ganz gewiß. Trotzdem setzt sich die Wahrheit durch die List eines Komparativs durch, der jeden »natürlichen« Maßstab ausschließt. Die Verwandtschaftsgrade, die Ähnlichkeiten oder Differenzen in den Beziehungen, die Annäherungen und Konfrontationen, die Bewertungen der Nützlichkeit und des Preises etc. sind von Prozessen innerhalb des Logos bestimmt. Die »Natur« löst sich in ihnen auf, auf dem Umweg über Vergleiche, Analogien, Metaphern, die den Anschein erwecken, sie könnten die Natur vergegenwärtigen und repräsentieren mit einem »Mehr« an Wahrheit, wenn man so will; man könnte freilich auch sagen: einem »Mehr« an Phantasma, das sie verdunkelt.
Aber man kann die natürliche Gewalt nicht ohne Leiden unterwerfen. Zum Beispiel nicht ohne die physischen Schmerzen dieses kindlichen Gefangenen, sein Schwindelgefühl, seine Blendung. Und nicht ohne seine Unentschiedenheit, seine Unsicherheiten, sein Umschwenken, durch das er etwas von seinem früheren Tropismus, von seinen vergangenen Leidenschaften wiederzufinden sucht. Von seinem Boden, der Höhle. Er, der nichts anderes kennt und noch nicht einmal weiß, in was für einer symmetrischen Verdrehung, Verkehrung der hystéra er schon gefangen war. In einer jedenfalls noch quasi hysterischen Projektion, die der Bühnenhintergrund für seine Vorstellungen, Repräsentationen, seine Träume, seine Phantasien, seine Meinungen, seine Urteile war. Für seine Doxosophie. Für immer noch hysterische Reminiszenzen, aus denen man ihn plötzlich herausreißen will, damit er zur Ordnung des Gesetzes zurückkehre. Des Gesetzes des »Mehr« an Wahrheit.
Doch die hystéra läßt sich nicht so leicht besiegen, noch nicht einmal verführen, auch nicht durch eine vernünftige Argumentation, ein (angeblich) genaues, angemessenes Wort. Das Ohr könnte sich dadurch sehr wohl täuschen lassen, ohne daß deswegen freilich die Matrix schon besiegt wäre. Außerdem bedeutet eine halbe Drehung mehr vielleicht eine weitere Verkehrung und nicht eine Verkehrung der Verkehrung. Daß die Berechnung der symmetrischen Effekte, die im Spiel sind, der Metaphern, die zirkulieren, der Modifikationen von Tropismen komplexer wird, ganz zu schweigen von den Modifikationen der Ellipsen und Elisionen, das alles bedeutet noch nicht, daß eine vollständige Umdrehung (einschließlich eines völligen Umdenkens) stattgefunden hätte, daß eine Kreisbahn die Vernunft nach ihren hysterischen Verirrungen wieder zu sich selbst zurückgebracht hätte, paß der Gefangene nach seinen geotropischen Abweichungen dieselbe Wahrheit, die Wahrheit des Selben wiedergefunden hätte. Eine zusätzliche halbe Umdrehung wird niemals dorthin zurück-rühren, wo man vorher war: zur Höhle, zur Erde, zur Mutter, zur hystéra. Vor der Geburt und vor allem vor der Konzeption. Daß dies, was sich noch an den Aufenthalt im Uterus erinnert, in Phantome, Phantasmen, Kindereien, Geplapper, ja sogar in Nichts aufgelöst wird. Daß jede Spur des intrauterinen Lebens ausgelöscht wird. Und wenn dies das Projekt ist, das realisiert werden muß, um zu einer essentielleren, idealeren Geburt zurückzukehren, dann bietet diese halbe Drehung jedenfalls keine geeigneten Mittel oder lediglich scheinhaft. Die Blendung durch diese Täuschung entspricht der optischen Illusion der Trugbilder und dem Zeitvertreib der Ewigkeit der Idee. Des Seins. Fiktive Tötung des Umwegs des Lebens, des Umwegs durch das Leben.

Aber wo sind denn nun die Schattenbilder? Überall? Ist der Körper des Entzauberten nichts als ein Schatten? Immerhin besteht diese Gefahr, wenn er auf diese/seine noch mütterlichen, uterinen Reminiszenzen verzichtet. Wenn er ohne »Phantasmen« des Ursprungs leben will und seinen Anfang, seine Geschichte abtreiben läßt. Und glauben Sie nicht, daß er dabei ist, nicht mehr áphron* (*Unverständig. (Anm. d.Ü.)) zu sein, sondern paránus** (**Wahnsinnig. (Anm. d.Ü.)) zu werden?

Der »Ausweg« aus der Höhle

  • Die »Passage« - Eine undurchführbare Niederkunft - Wie und wodurch kommt er also heraus? - Eine Welt voller Gespenster.

Und »wenn einer« - tis, ein anonymer Jemand männlichen Geschlechts - diesem Mann noch mehr Gewalt antut, dem er zuvor die Ketten gelöst hat, und ihn »mit Gewalt von dort durch den unwegsamen und steilen Aufstieg schleppte« - gegen seinen Willen, und mit einer hybris, die im Gegensatz zu seiner »natürlichen« Neigung stand - »und nicht losließe, bis er ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte«? Wenn er seinen Zugriff nicht lockerte, ihn weder ruhen noch rasten ließe, bevor er ihn nicht, seinem Plan entsprechend, dem Schatten seiner alten Behausung entrissen und ins helle Tageslicht hinausgezogen hätte? Was glaubt ihr, wird dieser schlecht behandelte, mißhandelte, vielleicht verletzte Mann, der auf diese Weise »befreit« wurde, »nicht viel Schmerzen haben und sich gar ungern schleppen lassen«?
Es gibt also einen Komplizen, einen Akoluthen der Hebammenkunst, einen Helfer ohne Gesicht und Namen, von dem man nur das Geschlecht - männlich - weiß, und er wird (würde) mit sicherer Hand, mit Entschlossenheit, den kindlichen Gefangenen gegen seinen Willen, gegen seine Wünsche aus seinem bisherigen Aufenthaltsort herausreißen. Er wird (würde) ihn aus der Höhle vertreiben, ihn zwingen, den unwegsamen Weg zu gehen, der voll von Hindernissen ist, die ihn zu verwunden, zu verletzen drohen, er wird (würde) ihn auf die steile Anhöhe schleppen, den senkrecht ansteigenden Pfad, der von dem Ort, wo er seit jeher wohnte, zum Licht des Tages hinaufführt. Er wird (würde) ihn aus seiner unterirdischen Kammer, dem geschlossenen Raum herausholen, um ihn zum Anblick der Sonne zu führen, und ihn den ganzen schwierigen Aufstieg lang gebieterisch festhalten, ihn nicht ein einziges Mal loslassen. Das wird (würde) dem nicht gefallen, der so gewaltsam nach draußen gebracht wird (würde), sondern wird (würde) ihn mit Schmerz und Entrüstung erfüllen. Jemand also wird (würde) auf diese Weise handeln, um den Unbesonnenen auf den Weg der Vernunft (zurück) zu bringen. Was aber bedeutet »auf diese Weise«?

Man kann sich vorstellen - und man hat es auch erzählt bekommen -, daß dieser selbe »Jemand« den Gefangenen zunächst herumgedreht hat, ihn von der am weitesten zurückliegenden Höhlenwand weggedreht hat, um seinen Blick, seinen Kopf, seinen Körper zu den Statuen, zum Feuer, aber auch zur Öffnung der Höhle hinzuwenden. Er hat ihn also eine Kreiselbewegung machen lassen, die seinen Aufbruch aus der Kammer, der Höhle oder dem Bauch vorbereiten soll. Man kann ferner annehmen, daß er ihn in seinem Gefängnis vorwärtsgehen läßt und ihn dabei dem Weg näher bringt, der von drinnen nach draußen führt. Und man kann weiterhin annehmen, daß er ihm Schmerzen zufügt, wenn er ihn in diesen Gang, den Tunnel, den Engpaß hineingeleitet -sowohl durch die Mühseligkeiten des Weges wie auch wegen des jähen Ortswechsels, den er ihm zumutet. Aber von welchem Ort an welchen anderen Ort wird er denn versetzt? Und um welchen Übergang kann es sich handeln? Oder, besser, was wird durch diese Praxis der Entbindung verschleiert?
Doch selbst wenn man von dem Mimen verlockt, verführt wird, sollte man die Tatsachen nicht aus dem Blick verlieren, die Realitäten, das »Seiende«. Der Gefangene befand sich auch vorher nicht in einer Gebärmutter, sondern in einer Höhle - ein Versuch also, die Höhlung des Uterus bildlich darzustellen, zu metaphorisieren. Er war an einem Ort eingeschlossen, dessen Bedeutung, dessen Sinn es war, wie eine Gebärmutter zu sein. An einem Ort, von dem man annehmen muß, er sei durch Projektion(en) reproduziert, reproduzierbar, reprodzierend. Schon den Gesetzen der Symmetrie, der Analogie unterworfen, die ihm die Form einer Grotte gegeben, ihn schon zur Höhle transformiert haben. Mittels und wegen der Repräsentation(en). Wobei die am weitesten zurückliegende Mauer dieser Höhle als Horizont-Grenze und zugleich als Bühnenhintergrund der Projektion dient.
Der Gefangene wußte nichts von dem Kunstgriff dieses »Wie« oder »Als ob« der Höhle, einem fiktiven Mechanismus unter anderen; daher seine Gefangenschaft in dieser einmaligen Behausung; deshalb ist er einem einzigen metaphorischen Projekt in die Falle gegangen. Doch muß man einräumen, daß auch der Geburtshelfer, zumindest sein anonymer Helfershelfer - des Seins, wenn man so will -, den vertrackten, umgekehrten, verkehrten Charakter dieses »Gefängnisses« nicht kennt. Daß er jedenfalls so tut, als wüßte er nichts davon? Denn er tut so, als brächte er den Gefangenen aus der Höhle heraus wie aus einer Gebärmutter, entsprechend den Techniken der Entbindung. Wobei er das »Wie«, das »Als ob« außer acht läßt, das eine solche Szenographie von vornherein belastet, und erst recht die Auswirkungen des Umkehrens, der Rückwärtsverlagerung nicht einkalkuliert, durch die sie als solche schon bestimmt ist. Sicherlich läßt er den Gefangenen vor der Vertreibung sich um seine eigene Achse drehen, nicht jedoch das Theater der Repräsentation, der Vorstellung, aus dem er, weil es als solches bestehen bleibt, als solcher nicht so ohne weiteres herauskommen kann, nicht einmal durch eine philosophische Bestimmung. Die Operation wird also so durchgeführt, als ob der geschlossene Raum der Höhle die Gebärmutter wäre. Ein »als ob«, das selbstverständlich das »als ob« der Szenerie dieser Höhle nicht aufheben, ja nicht einmal hervorheben kann. Ein »als ob«, das er, das sie vergessen zu haben scheinen, dessen Intervention er - der Szenograph - vielmehr zu verschleiern, dessen Rückwirkungen er für bedeutungslos zu erklären versucht.
Aber ist er nicht selbst in dem Netz gefangen, das er geknüpft hat, in einer stärkeren Fessel als seiner dialektischen Argumentation? So sehr gefangen, daß ihm - wenn er herauskommen will, und er will »herauskommen« - nichts anderes übrig bleibt, als in »anderes« Leben zu springen. Deshalb die Zuflucht, der Rückgriff auf eine andere Geburt, einen anderen Ursprung - eine ideale Geburt, einen idealen Ursprung, die ein harmonisch kalkuliertes Verhältnis zu der (den) anderen haben, aber doch die Unterbrechung der Kontiguität, den Bruch in der Progression oder Regression nicht verhindern können, die von Geburt und Ursprung verursacht werden. Der Übergang von der einen zur anderen wird (würde) allein mittels der Einführung von Proportionsverhältnissen möglich, die nur wenigen Initiierten-Initiatoren bekannt sind, deren Schweigen, Verschwiegenheit, Verborgenheit - vor allem hinter den Kulissen- zweifellos die Wirksamkeit verbürgen. Auf magische Weise. Denn sie selbst scheinen ein wenig von ihren eigenen Praktiken getäuscht, in ihren Verhältnissen verwirrt zu sein. Die Arithmetik kommt ihnen da gerade gelegen, um den Weg zu markieren, der in die Erde, die Mutter hinein- oder hinausführt. Engpaß, Tunnel, Weg, die sich nicht ohne weiteres durch rationale Maßnahmen bezwingen oder bestechen lassen, auch dann nicht, wenn diese Maßnahmen weniger rational oder sogar gänzlich imaginär wären... Und in der Tat sind bis jetzt alle wohl oder übel von dieser Pantomime gefesselt, auf die Mimikry hereingefallen. Hysterische Pantomime und Mimikry.
Und jede weitere List wird einen Ausweg nur simulieren können. Man wird dem nicht entkommen, worin man gefangen war. Und wenn der Gefangene von den Kunststücken der Zauberer gefesselt, von denen des Inszenators beherrscht wurde - falls es sich dabei nicht um Fehler handelte, um Irrtümer, vor allem in der Topographie -, dann wird der Weise, der Philosoph verrückt genug sein, zu glauben, er könnte so den uterinen Raum ein für allemal hinter sich lassen, um auf der Erde, unter freiem Himmel, im reinen Licht der Natur die endlich entschleierte und unzweideutige Ursache dessen zu bedenken, was bis jetzt seine Aufmerksamkeit erregt, seine Augen betört und seinen Tropismus bestimmt hatte. Indem er aus der ständigen Verzauberung durch projizierte, in der Rückspiegelung wahrgenommene Schatten in die ewig gegenwärtige Ekstase der Sonne (der) Idee »springt«. Vom Zauber dessen, was seit jeher bekannt war, zur keinen Widerspruch duldenden Behauptung, daß es nichts Erkennbares, Wiedererkennbares gibt außer dem, was durch (den Diskurs der) Wahrheit als solches definiert wird. Die durch und für ihn plötzlich und unmittelbar entschleiert wird, ohne den Schatten eines Zweifels oder die Intervention eines einzigen Spiegels, mit einer Evidenz, die Gesetzeskraft haben muß. Er geht von der Unbestimmtheit des Halbdunkels, vom Unsicheren und Ungenauen der Reflexe, von den Phantasmagorien der doxa* (*Meinung. (Anm. d.Ü.)) zu den klaren, deutlichen, unveränderlichen, unzweideutigen Kategorien über, die alle Dinge, alles »Seiende« einteilen, klassifizieren und ordnen, der rationalen Intuition gemäß, in der klaren und distinkten Intelligibilität des nús. Aber ist er durch diese Konversion von áphron, was er war, paránus geworden?

Aus der Höhle wird man ihn also gewaltsam entfernen. Tatsächlich aus der Höhle? Oder vielleicht aus einem anderen, dritten Ort? Durch einen anderen, dritten Ausgang? Der in gewisser Weise die beiden anderen in den Schatten stellt? Alle anderen? Ein Ausgang, zu dem es keine entsprechende Öffnung gibt, durch die er hätte hineingehen können, durch die man ihn hätte eindringen lassen, es sei denn als Phantasma? Oder mit Worten? Weil die Durchgänge, durch die er hätte hineingeführt, einbezogen werden können, unkenntlich gemacht oder verschlossen gewesen wären, um die Vorherrschaft der Wahrheit zu garantieren. Ein sozusagen vergessener Weg, der überdies für den dominierenden Projektionstypus nicht gangbar ist, weil er eine Verkehrung, eine Rückwärtsverlagerung einschließt. Man erweckt den Anschein, als hätte man ihn durch zwei halbe Umdrehungen, Finten in die Matrix und alles ihr Ähnliche verstrickt, um dann das Ganze durch zweckdienliche symmetrische Operationen zu verdecken, zu vertuschen, zu bemänteln. Und an ihre Stelle setzt man entsprechende Hüllen, Umhüllungen, die leichter zu beherrschen, zu handhaben sind. In die man (quasi) hineingehen kann, aus denen man endgültiger und entschiedener (quasi) herauskommen kann, und die doch konventionelle, angemessene Formen bewahren. Man wird ihn dort »hinausgehen« lassen, wo er nicht hat hineingehen können und wo er sich nicht aufgehalten hat. Aus einem Ort, in den er auf teilweise unerklärliche Weise projiziert worden ist, durch einen nicht vollständig kalkulierbaren Akt, durch Passagen, die nicht auf eine rein ideale Entstehung zurückgeführt werden können. Immer noch in der apaideusia, aus der er endgültig »herauskommen« müßte. Daher die Nachahmung von Praktiken und topoi, die man in der Tat nicht reproduzieren, verdoppeln, imitieren kann, es sei denn durch Fiktion. Und das so Imitierte soll dann die Funktion eines aus dem Sinn extrapolierten Gesetzes wahrnehmen, das die Adäquatheit, die Prinzipien, die Ökonomie des Imitierenden festlegt. Und der autoritäre Vorrang einer derartigen Anweisung verdeckt die Aporien, die der Imitierende übergeht.

Er wird also herauskommen. Er kommt heraus. Doch offenbar nicht von dort, wo er hineingebracht worden ist. Und nicht einmal aus der Höhle von Platon. So hat er auch das teichion, den Mauer-Vorhang nicht überwunden, den er schon vorher nicht hatte (hätte) überqueren können. Ein Paraphragma schützt vor dem Durchbrechen der Begrenzung: vor dem Samen, dem Blick, den Lichtstrahlen, vor allen Körpern, allem »Seienden«, das nicht ideal ist. Als für die Vorstellung notwendiges Artefakt stellt es sich ihr als undurchdringlich für jede Materie dar. Vielleicht ist es - als Balustrade, die die Höhle, ihre Menschen, ihre Blicke, ihren topos teilt - nach der Ankunft der Gefangenen errichtet worden. Angenommen, das wäre so. Vielleicht hat man den »Grund«, die Tiefe der Höhle verschlossen, damit die Körper der Menschen darin bleiben. Aber wie kann man über diese undurchdringliche, hermetisch abgedichtete Scheidewand hinausgelangen, um zurückzukehren, sich wieder aus den Tiefen dieser Höhle zu lösen oder herausgerissen zu werden, es sei denn, man wäre ein Schatten, ein Gespenst, es sei denn, es handle sich um ein Trugbild, eine Erscheinung von der »anderen« Seite? Um den Schein, draußen zu erscheinen. Aber wo sind eigentlich die Schatten? Und die Trugbilder? Draußen? Oder drinnen? Oder wuchern sie überall, durch die(se) Unterscheidung von Draußen und Drinnen, durch ein listig dazwischengestelltes Paraphragma, das überall Draußen/Drinnen einander entgegensetzt? Eine Höhle, in der und durch die selbst der Körper des Menschen nur noch eine Illusion zu sein scheint, eine Höhle, die nur Gespenster, Spektren hervorbringt, weiße oder schwarze, Hirngespinste der Sonne oder Schatten des Grabes; mehr oder weniger gute.

Nun konnte bekanntlich eine Mauer noch niemals ein Gespenst, einen Geist daran hindern, zu erscheinen, auch keine Tür und erst recht nicht ein Vorhang oder ein Schleier. Der Geist bemerkt sie nicht einmal. Daß es sich um einen Geist handelt, kann man an der Leichtigkeit erkennen, mit der er jede Scheidewand, Trennung, Teilung, jeden Abstand zwischen zwei Stätten, Orten, Zeiten, Zeit-Räumen zu überwinden vermag. Mühelos. Er geht über alle Differenzen hinweg. Aber Barrieren, Trennungen, Differenzen sind notwendig, damit es Phantasmen, Geistererscheinungen geben kann und sie fortbestehen können, natürlich auch solche Barrieren, die den Übergang vom Tod zum Leben und vom Leben zum Tod verhindern. Nachdem solche Grenzen einmal gezogen sind, überschreitet er sie. Nichts hält ihn zurück. Daher die Angst, die Unterdrückung, die Gesetze, mit denen die verschiedenen Bereiche gegeneinander abgeschirmt werden: um sich vor den »Erscheinungen« zu schützen, die sich deshalb nur um so leichter vermehren. Die Schutzmaßnahmen gegen »Erscheinungen« bringen Erscheinungen hervor, und umgekehrt. Man wird sie nicht mehr los. Diese Höhle erzeugt mehr Gespenster, Spektren als jede andere, auch wenn sie manchmal klar, sonnenhell sind. Reingewaschen vom Schmutz des Uterus, von der Fäulnis des Grabes. Weiß wie jedes Gespenst, das etwas auf sich hält. Die Idee (der) Erscheinung ist überall, man versucht indes, ihren furchterregenden und — durch die Erinnerung an den Tod - den »Körper« erschreckenden Anblick zu mildern. Kurz gesagt, es genügt,
wenn es nichts anderes mehr gibt als Erscheinungen. Keine Unterscheidung mehr zwischen Nicht-Erscheinungen und Erscheinungen. Zwischen Leben und Tod. Zwischen unterirdischen oder sonnenhellen Behausungen. Zwischen Mutter und Vater, »wenn man so will«. Damit allen alles am Himmel der ewigen Ideen geläutert erscheinen kann.
Es ist freilich unangebracht, jemanden wegen des »Paradieses« zu alarmieren, das ihn erwartet, und ihm zu sagen, was es mit dem anderen Leben auf sich hat. Und daß es vielleicht kein »anderes« Leben geben wird. Also muß man noch einen Ausgang vortäuschen, und zwar einen, der für den Körper des Gefangenen, der schon unter der Blendung seiner Augen, unter Schwindelanfällen, Arthritis und Allergien leidet, mühsam, ermüdend, sogar verletzend ist. Merkwürdigerweise beschäftigt man sich ausgiebig mit den Mißgeschicken des Körpers. Und während man schweigend durch die unwirkliche Öffnung hindurchgeht, die man nur durch Sublimierung überwinden kann - aber wenn man einen Körper sublimiert, bleibt von ihm nichts als Luft, Nebel, Dünste, Gespenster -, während man durch die Öffnung hindurchgeht, beharrt man weiter auf den Peripetien beim Aufstieg aus der Höhle.
Sicher, vom Weg in der Höhle wird man nicht mehr sprechen, ebensowenig wie vom teichion. Dadurch, daß sie in der Höhle repräsentiert wurden, waren der Ein- und Ausgang verstellt. Durch einen Zaubertrick also, bei dem die Zauberer sich selbst in Luft aufgelöst haben, bilden sie kein Hindernis mehr. Zumindest will man davon nichts wissen, nichts sehen, es nicht zur Kenntnis nehmen. Für die (diese) Bewegung gibt es nur noch den einen Weg, der von der Erde zur Sonne führt. Er ist jedoch voll von Fallen, mit Steinen bedeckt, dornig. Man kann sich auf ihm verletzen, verwunden, schneiden. Und man muß den Menschen festhalten, damit er bereit ist, ihn zu gehen. (Schweigt nur, wenn ihr wollt, ihr werdet schließlich doch - und sei es nur durch ein weiteres Adjektiv, ein sichtlich zweideutiges: tracheias* (* Hart, steinig, aber auch leidenschaftlich, heftig, streng. (Anm. d.Ü.)) - das eingestehen, was ihr nicht sagen konntet oder wolltet.) Der Tunnel ist also voller Unebenheiten und Hindernisse, und der Mensch wird ihn nicht ohne Schmerz und Zorn (wieder) entlanggehen. Und wenn man ihn nicht dorthin mit sich zöge - irgend jemand, ein Jemand männlichen Geschlechts —, würde er sich dieser Prüfung entziehen, lieber in oder vielleicht auf der Erde, der Mutter bleiben, aber jedenfalls das Hin und Her im Umgang mit ihr vermeiden, der ihm hier als sehr dornig und gefahrenschwanger dargestellt wird.

Zeit zur Anpassung der Perspektive

  • Eine unmögliche Umkehr(ung) - Wenn es zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die Hilfe der Sophistik gäbe, die mit Doppeln spielt- - Eine gefrorene Natur. - Autos, in der a-léthaia verschwunden. - Bastard oder legitimer Abkömmling?

An dieser Stelle des Berichts holt ihn jemand aus der Höhle heraus, kraft der Autorität, ungeachtet seiner »Schmerzen und seiner Entrüstung«. Und er zwingt ihn, das Tageslicht anzusehen. Aber »wenn er nun an das Licht kommt und die Augen voll Strahlen hat, wird er nicht das Geringste sehen können von dem, was ihm nun für das Wahre gegeben wird«. Der Philosoph Akoluth kann dem nur zustimmen, zumal ihm sogleich erklärt wird, daß es sich dabei um eine Sache der »Gewöhnung« handelt. Seine Optik muß an die neuen Bedingungen gewöhnt, ihnen angepaßt werden. Um durch die Notwendigkeit, das Diaphragma des Auges neu zu orientieren, davon abzulenken, daß es nicht möglich ist, das Paraphragma zu durchdringen? Es wäre also nur eine Frage der Zeit. Eines in diesem Fall progressiven Übergangs. Einer Übertragung vielleicht? Man muß warten können, man muß die einzelnen Etappen berücksichtigen, geduldig und methodisch vorgehen. Eine Perspektive, die von dem Philosophen bestätigt wird, dem Inszenator der die Erziehungsprogramme für unwissende Kinder festlegt, die noch ihren Trieben unterworfen sind und die man an die Wege, an die Gesetze der Vernunft erst gewöhnen muß. Verfolgen wir also, wie diese Kunst der Formation, der Transformation - durch Erhebung - verwirklicht wird.

Nach Meinung des Weisen, des Geburtshelfers, »würde er Schatten am leichtesten erkennen, hernach die Bilder der Menschen und der andern Dinge im Wasser und dann erst sie selbst. Und hierauf würde er was am Himmel ist und den Himmel selbst leichter bei Nacht betrachten und in das Mond- und Sternenlicht sehen als bei Tage in die Sonne und in ihr Licht. - Wie sollte er nicht! -«
Eine wirklich merkwürdige Erziehung. Wie soll man sie interpretieren? Alles ist wieder einmal verkehrt herum — zumindest auf der Ebene der Erscheinungen, des Erscheinenden. Wie man es hätte erwarten können? Ja, wenn man die Funktion der Mimesis in dieser (sogenannten) Progression berücksichtigt. Der vorige Aufenthalt muß nachgeahmt werden, indem man ihn umkehrt, verkehrt und dabei stufenweise erhöht. Indem man ihn in die Vertikale bringt, ihn aufrichtet. Diese Aufrichtung kommt zu der bereits festgestellten horizontalen Verlagerung hinzu, die die hystéra von Platon vorab belastete. Weil es nicht möglich ist, zur Mutter zurückzukehren, sich zu ihr umzuwenden, tut man so, »als ob« man den Uterus oder seine Repräsentation umdrehen könne, wie man einen Beutel, eine Tasche, ein Netz oder eine Börse umdreht. Eine wirksame Methode, um zu verhindern, daß jemand, wer auch immer, in ihr eingeschlossen, vergraben, begraben wird; daß er sich in ihr versteckt, verbirgt, einschließt, sich entzieht. Damit in Zukunft alles im hellen Licht des Tages geschieht.
Diese Umkehrung ist freilich schwierig. Man braucht dazu eine neue Achse, eine neue Ebene, die das symmetrische Verhältnis festlegt - von unten nach oben -, die man diesmal angemessenerweise in Betracht ziehen müßte. Oder besser eine weitere photographische, photo-logische Operation? Aber wie kann man das Formlose umkehren, verkehren und dabei festgelegte Proportionen bewahren? Sicher, dieses Formlose ist schon durch Projektion(en) transformiert worden. In exemplarischer Weise durch die Projektion von hinten nach vorn. Es ist schon durch und für Repräsentationen) ausgearbeitet worden. Doch in einigen ihrer Eigentümlichkeiten widersteht sie noch. Es ist eine Weichheit, Dehnbarkeit, Biegsamkeit, die man berücksichtigen muß, wenn man nicht Modelle-Entwürfe, Bilder, Formeln, Worte..., Diskurse - entwerfen will, die immer schon überholt sind. Bewegliche Formen in einem unbestimmten Jenseits, die stets Gefahr laufen, von einem Überschuß, einem Rest überflutet zu werden, mit dem man nicht gerechnet hatte und der jede Berechnung, jede Operation mit vorweg definierten Symbolen übersteigt.
Doch wie kann man das analogisch reproduzieren, was weder repräsentiert noch repräsentabel ist, was sich der Vorstellung entzieht? Sicher, es gibt die Höhle. Aber... Und selbst in der Höhle gibt es keinen Spiegel. Sie selbst ist Speculum, eine Höhle der Reflexion, der Spiegelung. Selbst wenn man sie in die Sonne verlegt, findet das Schauspiel drinnen statt. Möglicherweise sieht man auch gar nichts mehr, findet gar kein Schauspiel mehr statt. Auf jeden Fall scheint es schwierig zu sein, die Bilder und Reflexe, die von einem Speculum aufgefangen werden, ohne jede Höhlung von oben nach unten symmetrisch zu reproduzieren. Kurz, stellen wir uns etwas vor, was einer solchen Höhlung ähneln könnte. Die Nacht würde das sternenlose Halbdunkel der Höhle darstellen - oder von ihm dargestellt werden. Die Sonne wäre das Feuer, also das, dessen Bild das Feuer hatte sein sollen. Die Gefangenen wären die Gefangenen, allerdings in einem Raum, der offenbar viel geräumiger, grenzenlos, unendlich ausgedehnt ist. Die »Körper« von Menschen wären also die Körper von Menschen, aber von welchen? Die Schatten würden den Schatten entsprechen. Man wird versuchen, uns davon zu überzeugen. Und die Bilder im Wasser? Sie entsprechen nichts von dem, was in der Höhle erscheint, aus der die Spiegel verbannt sind. Es gibt auch keine Magier mehr, jedenfalls keine, die als solche bezeichnet werden. Keine Geräte, die der Ausübung ihrer Zauberei dienen, keine Fetisch-Statuen, deren Reflexe faszinieren. Kein Theater mehr, keine Phantasmen, keine Echos. Kein Paraphragma mehr, zumindest keines, das als solches repräsentiert ist, vorgestellt wird. Auch keinen Weg mehr, nur noch den methodischen Prozeß, Progreß der Schulung des Blicks. Keinen materialisierten Übergang zwischen dem Drinnen und dem Draußen, keine erkennbare Trennung zwischen dem Eingang und dem »Grund« der Höhle; zwischen der Stelle, auf der sich die Projektion abzeichnet, und derjenigen, von der aus man projiziert; zwischen dem Ort, von dem aus man die Verführung plant (planen würde), und demjenigen, an dem man ihrem Einfluß erliegt.
Die Verkehrung der Szenerie ist also nicht einfach. Und der Mensch wird »draußen« - draußen und oben —, in der Sonne, wenn er die unterirdische Behausung verlassen hat, nicht mehr sehen können, was in der Höhle - drinnen und unten — vor sich geht. Er wird mehr und zugleich weniger sehen. Auf andere Weise als im »Innern« dieses geschlossenen Raumes. Und es ist nicht richtig, zu sagen, daß die Szenerie nur einfach von den »niederen« zu den »höheren« Regionen — einschließlich denen der Seele - erhoben worden ist. Vom Sinnlichen zum Intelligiblen, von den Leidenschaften zur harmonischen Liebe zur Wahrheit, von der doxa zur episteme* (*Wissen, Wissenschaft. (Anm. d.Ü.)) Die Vorkehrungen, die getroffen werden, damit der Neophyt sich nicht umdreht und nicht zu seiner früheren Behausung zurückkehrt, damit er erst dann wieder hinabsteigt, wenn sein Glaube an sein neues Wissen so gefestigt ist, daß er seinerseits die anderen bekehren kann, belegen deutlich genug, daß bei dieser Rechnung etwas nicht stimmt. Daß dieser »Aufstieg« Zögern, Zweifel, Verdacht erweckt. Sehnsucht.
Wenn der Mensch sich also an dieses neue Licht einigermaßen gewöhnt hat, kann er zunächst einmal die Schatten erkennen. Die pädagogische Entscheidung läuft zweifellos darauf hinaus, ihn während der ersten Zeit das wiederholen zu lassen, was er früher gesehen hat: Schatten. Und die Wiederkehr des Signifikanten: Schatten - skiás, kann die mimetische Absicht unterstützen. Greift man also auf die Sophistik zurück? Tatsächlich, sie ist seit langem heimlich in der Beweisführung am Werk. Also skiás = skiás. Und übrigens ist es für ein Auge, das an das Halbdunkel der Höhle und an die unterirdischen Projektionen gewöhnt ist, wirklich leichter, einen Schatten anzusehen - auch wenn es ein Tagesschatten ist -, weil er dem ähnlicher ist, was es bisher gesehen hat. Also Schatten = Schatten, in diesem Fall ein visueller und nicht akustischer Signifikant. Das Verfahren ist stets das gleiche. Phonetisch oder nicht, es wird auf den Signifikanten angewendet, der nicht auf das selbe Signifikat, auf den selben Referenten verweist. In Wirklichkeit wird so die Formation, die Bildung pervertiert. Sie benutzt in verallgemeinerter Weise - in einer umfassenderen Ökonomie - sophistische Verfahrensweisen, die zwar als solche nicht benannt, nicht eingestanden, aber unerbittlich und quasi »unbewußt« gebraucht werden, sobald die Wahrheit zum ersten Mal Wurzel geschlagen hat. So werden ihr Fundament und der Zeit-Raum ihrer Herrschaft unterminiert.

Die Schatten sind nicht die »selben« Schatten. Man kann sie für die Analogie, die Verschiebung, die Übertragung nur dann benutzen, sie nur dann »aufheben«, wenn man sich auf den Signifikanten bezieht. Durch die Art und Weise, in der er hier eingeschaltet wird, werden insbesondere das Begehren und die Sinne mißbraucht, indem man die Trugbilder, die Phantasmen, die Produkte des listigen Zaubers der Magier ersetzt - die ihre durch Zauberkünste geschaffenen Geräte brauchen, Standbilder, die zwischen dem Feuer und der Höhlenrückwand aufgestellt werden, die oberhalb des Mauer-Vorhangs aufgerichtet werden und auf der am weitesten zurückliegenden Wand der Höhle, dem Projektionsschirm und -träger gesehen werden -, indem man sie also durch den Schatten eines »Körpers in Präsenz«, den Schatten von etwas »Seiendem« (in Präsenz) ersetzt, das jetzt das Licht der Sonne auffängt. All das - Schatten und Körper, die simultan (re-)präsentiert werden - geschieht direkt vor den Augen, am hellen Tag, in einem Augenblick. Und es ist mit wissenschaftlichen Mitteln verifizierbar. Die Schatten dort oben ersetzen die Schatten dort unten, das ist der erste Schritt bei der Veränderung der Optik, die man erreichen will. Eine regelrechte Operation. Und man wird zugeben, daß derjenige, der sich ihr unterzieht, zunächst zögern wird, seine Augen den »Dingen« zuzuwenden, die den »Schatten«, also auch den Phantasmen, entsprechen. Daß er sich einen — zusätzlichen — Umweg, ein wenig — zusätzliche — Zeit verschafft: den Vorteil oder den zusätzlichen Schatten eines Zweifels.
Der Gefangene hat den Schatten und den »Körper«, den dieser verdoppelt (verdoppeln würde), noch nie gleichzeitig gesehen. Ihr gleichzeitiger Anblick wurde durch eine halbe Umdrehung ausgeschlossen, obschon der Pädagoge auf einen Vergleich rekurrierte. Was übrigens in der Höhle — auf die man immer wieder zurückkommen muß - Schatten erzeugte, das waren »Gegenstände«, die dem Begehren der Magier entsprachen, die von Kunstgriffen abhängig waren, die durch »menschliche« Bewegungen bestimmt wurden: Fetisch-Statuen, deren Urbild, deren treibende Kraft versteckt, dem Augenschein entzogen blieben, ohne einen »letzten« sichtbaren oder beweisbaren Referenten, Kopie einer Kopie, deren Original man niemals geschaut hat und das man also auch niemals kennen wird. Zeichen für was? Für wen? Woher kommend? Signifikanten welches Signifikats? Und in welcher Zeit treten sie in Erscheinung? Auf jeden Fall ist eine Komplexität der Zeit, der Zeiten für ihre Produktion erforderlich -eine Arbeit, die einen Identifikationsversuch mit dem (Proto-)Typ impliziert, die Projektion, Vermehrung, Vervielfältigung durch Reflexion auf einen Schirm, durch Rückspiegelung. Diese Zeiten werden in der Präsenz und im Präsens der Sonne übersprungen, das heißt, sie werden reduziert auf die sofortige und synchrone Verdoppelung eines (natürlichen) Körpers und seines Schattens.
Für das Sichtbarmachen des »Körpers« und des Schattens braucht man im Tageslicht keine Verzögerung. Wiedervereinigung der Gegenwart, des Präsens. Tagesschatten, die die unterirdischen Schatten ersetzen - aufgrund eines Vergessens, eines Verlusts der Erinnerung. An die Zeit der (Re-)Produktion (der) Vergangenheit, aber auch an die vergangene Zukunft und das Imperfekt. An die Rückwirkungen, die irgendwelche Spuren hinterlassen. Eine winzige Abweichung, einen Abstand, der die Fiktion der Gegenwart, des Präsens, brüchig macht. Erinnerungsspur der Dehiszenz. Die immer wieder jene Nahtstelle zwischen vorn und hinten, zwischen früher und später ins Gedächtnis ruft. Oder (auch) jene zwischen dem Menschen und seinem Schatten. Seinem Anderen? Immer noch könnten sich die Lippen zu einem Riß spalten, der mit einer Kunstfertigkeit verdeckt wird, die man der Natur zuschreibt.

Der Mensch kann, für einen ersten Augenblick, der Konfrontation mit seinem Schatten ausweichen, der schwarz und langgestreckt vor seinen Füßen auf der Erde liegt. Da er in Richtung auf den Sonnenaufgang herauskommt, bleibt er ihm zunächst verborgen, noch hinter ihm. Unter dem Schutz des Schattens der anderen - Menschen oder Dinge - geht er auf die Sonne zu.
Wäre es nicht notwendig, sich mit dem Eintritt in die Philosophie die Frage nach seiner eigenen (scheinbaren) Zweiteilung als Erscheinung(en) zu stellen? Oder eher nach der der anderen »Seienden«? Die verschieden sind? Ein Verschiedensein jedenfalls, zu dem bald der Gang durch den Spiegel (des Wassers) hinzukommen wird. Die leuchtenden, hellen, klaren Bilder im Wasser schieben sich dazwischen, bevor die simultane Wahrnehmung der Schatten und der »Körper«, die sie verdoppeln, zugelassen wird. Die Zeit einer spiegelnden Reflexion - die Zeit einer Spekulation? - schafft trotz allem einen zusätzlichen Abstand zwischen dem Weisen und den Schatten. Seinen Schatten? Seinem Schatten? Seinem Anderen, der nicht von der Sonne erleuchtet wird. Seiner Sonnen-Nacht. Das nächtliche Double wird (würde) in seiner Zweiteilung nur dann gesehen, erkannt, intelligibel, wenn es durch die Verdoppelung des Tages-Doubles hindurchgegangen ist, wodurch das Problem der Inversion, der Verkehrung verborgen, versiegelt wird, das er aufwirft: die Inversion der Reflexion. Spiegelnde, spekulative Rückversicherung, der man nicht notwendig ansieht, was sie im Hinblick auf das Vergangene, auf das, was hinten liegt, verbirgt; was aus der vergangenen Zeit sie in der Zukunft vergessen läßt, vom Früheren, das vom später Kommenden seit jeher umgestürzt wird. Welchen Einschnitt zwischen dem Menschen und den Schatten sie verdeckt. Den Schatten von unten, aber auch - sofern es welche gibt, und es wird immer welche geben - den Schatten von oben. Zeit der Reflexion, die quasi Null ist, die jedoch ausreichte, um eine neue Drehung in die Sonnen-Szenerie hineinzubringen: ihren Rückzug, ihre Verlagerung ins Innere (des Auges) der spekulativen Seele. Um die Illusion aufrechtzuerhalten, es gäbe eine Reversibilität zwischen dem Äußeren und dem Innern, zwischen Drinnen und Draußen. Zwischen dem Anderen und dem Selben. Zwischen dem Produkt und dem Produzenten. Zwischen dem Künftigen und dem Imperfekt des noch nicht Abgeschlossenen, noch Offenen. Endlos. Zeit der Spiegelung, der Spekulation, die quasi Null ist, die aber im Präsens, in der Szenerie der Gegenwart, in der Sonne selbst die Frage nach der Garantie und damit nach dem Glauben (wieder) aufwirft, der ihrer umgekehrten Reproduktion, der Inversion ihrer (Re-)Produktion geschenkt wird. Hypothek eines Spiegels, der die ewige Identität der Sonne (der) Idee mit sich selbst unterstützt. Die sich in jedem Augenblick und unaufhörlich als die sich selbst gleiche selbst reproduziert. In einem Prozeß, der die Zeit (bis zu) ihrer Produktion und deren Rückwirkungen umfaßt und abschließt. Was man erst sehr viel später bemerken wird, weil die Projektion auf dieser Ebene des »Unbegrenzten« schwer durchschaubar ist.

Die Bilder im Spiegel haben den unerschütterlichen Lauf der Sonne von Ost nach West abgelenkt, durch den der Schatten sich von West nach Ost dreht. In umgekehrtem Lauf. Man kann sich nicht gleichzeitig der Sonne und »seinem« Schatten zuwenden, sie zusammen mit dem Blick beherrschen, es sei denn, es handelte sich um die anderen, Menschen oder Dinge, wenn es nicht Mittag ist. Die Helligkeit der Sonne wird durch diesen Teil von Nacht herausgefordert, den das Spiegelnde, das Spekulierende durch quasi unmittelbare Repräsentation zu bannen suchen wird. Man wird so tun, als sei das nächtliche Double ein Tages-Double. Schatten = Bilder im Spiegel = Kopien. Die Differenz, die Verschiedenheit werden nach und nach ausgetrieben. Zweifellos bleiben sie bestehen, aber in einer immer kürzer dauernden Verdoppelung, die sofort beherrschbar ist, beherrscht wird. Die immer klarer, einleuchtender, evidenter wird. Jedenfalls könnte man das glauben. Zumal das Wasser, das »wie« ein Spiegel wirkt, den Zugang zu den Untiefen des Meeres und seiner Nacht vereist. Wasser, keine Erinnerung an das mütterliche Element, sondern ein Reflexionsschirm, der das Bild der Sonne, der Menschen, der Dinge, sogar des kindlichen Gefangenen zurückwirft. Diese Erscheinungen verschleiern die Gefahr des Rückfalls, der Rückkehr in die Dunkelheit der Meerestiefen.
Eine gefrorene Decke trennt das »Oben« vom »Unten«. Eine Oberfläche, eine Schutzschicht aus Eis gewährleistet die Autarkie der Sonnen-Szenerie, die dadurch zwangsläufig invertiert, verkehrt wird. Noch einmal. Die Mutter bedeckt sich abermals mit einem neuen Paraphragma, das für die Vermehrung von symmetrischen Effekten ergiebig ist: von oben nach unten, von draußen nach drinnen, vom Früheren zum Späteren und umgekehrt. Die Verlagerung, die Verlagerungen, die im Projekt der Höhle wirksam waren, wiederholen sich, verdoppeln sich, gleich und anders. Sind es Versuche, die Öffnung zu schließen? Der Eingang der Höhle wird verborgen, verschlossen durch die Einführung von Proportionen, Übereinstimmungen, Entsprechungen, von sachkundig geplanten Analogien, die mehr oder weniger gut sind, dem Urbild mehr oder weniger adäquat sind. Ihre Bewertung setzt auf jeden Fall voraus, daß Achsen, Ebenen, Schirme gegeben sind, die jetzt »als« natürliche dargestellt werden. Nach der angeblichen Beseitigung der von Menschenhand ausgeführten Kunstgriffe der unterirdischen Szenerie.
Hier also schließt sich die Natur (von) selbst, um das Schauspiel (von oben) nach oben wiederzugeben. Das Licht der Sonne spiegelt und reflektiert sich an und auf der Oberfläche des Wassers. Das gefroren ist. Zu Glas geworden. Zum tragenden Schirm für die Reflexionen der Sonne, die jetzt nicht mehr durch die List, durch magische Prozeduren, durch die Verführungskraft der Scharlatane garantiert werden - was ja immer nur auf »Meinungen« hinausliefe - sondern durch die »Natur«.
Merkwürdiger Prozeß, Progreß. Bei dem die Zeit zerschnitten, zerteilt wird, sich verliert in heterogenen Zäsuren und Intervallen, die man auf die Bestimmung des Linearen zurückführt, indem man sie in verfälschende Beziehungen zueinander setzt. Ausflucht und Rückkehr zur Einbildung, zum Phantasma, zum Glauben? Die jetzt durch die episteme abgestützt werden. Berechnungen von Proportionen, die nur mühsam den Wunsch bezähmen können, die Erde (Mutter) auf eine glatte Oberfläche zu reduzieren, so daß man sie durch Sonnen-Projektionen messen könnte, die aber nicht ohne weiteres in die Tiefen von Höhlen eindringen können, Hohlen, die ungeformt, daher nicht meßbar, nicht rationalisierbar sind und die man gewaltsam in Vergleiche, Einschätzungen, Aufzählungen einbeziehen müßte, die sie in Wirklichkeit nicht zu fassen vermögen.
Daher also Schatten (von unten) = Schatten (von oben) = Reflexe im (natürlichen) Spiegel. Die Reflexion macht die Verführung unkenntlich. Die Spiele des »Als ob«, die die Zeit, die bis zu ihrer Produktion vergangen ist, antizipieren, projizieren und wiederholen, hören auf und kommen in einer spiegelnden Verdoppelung zur Deckung. Eine (quasi) simultane Vorführung der Kopie und dessen, was sie kopieren soll. Das Urbild wird fortan weniger gut, weniger schön, weniger wahr durch seine - symmetrische, synchrone, unbewegliche - Kopie reproduziert, an der die Zeit der Reproduktion-Produktion nicht mehr sichtbar wird, es sei denn als Augenblick. Der Augenblick einer Inversion, einer Verkehrung, in der die Gegensätze von unten/oben, drinnen/draußen, früher/später, links/rechts, Ost/West umgedreht, verkehrt, verschränkt werden, (angeblich) nur ein Mal - in der Zeit, die man braucht, um sie aufzuheben. Wobei das eine quasi in das andere übergeht, im Licht der Sonne.

Von den Schatten (von oben) über die Spiegelungen (im Wasser) gelangt der Meister-Pädagoge schließlich zu den Menschen und den Dingen, die durch diese Schatten und Bilder verdoppelt werden. Aber er hält sich nicht dabei auf und geht ohne Kommentar zu dem neuen Verhältnis über, das sich nun zwischen »Seiendem« und »Kopien« etabliert. Er gleitet über die Kunstgriffe der Analogien, über die rhetorischep Kühnheiten hinweg, mit denen er in seiner Beweisführung Fetisch-Statuen durch Menschen, Schatten durch Schatten, Projektionsschirm durch »natürlichen« Spiegel ersetzt hatte.
Dieser neue metaphorische Sprung wird nicht im mindesten interpretiert. Ebensowenig wird hier die Beziehung zwischen dem Gefangenen und »seinem« Schatten und »seinem« Bild als Problem wahrgenommen. Die Zeit der Selbst-Reflexion ist noch nicht gekommen, erst recht nicht die Zeit, in der die Folgen seines Erscheinens auf der Szene der Repräsentation, der Vorstellung erwogen werden. Die Differenz zwischen einem Menschen und einem anderen, zwischen einem Menschen und seinem Anderen wird noch nicht durch Information, durch etwas Spiegelndes, über etwas Spiegelndes hervorgehoben, durch Reflexion auf die Auto-Kopie. Es gibt noch keine Autonomie, auch keine des Blicks. Die Verhältnisse zwischen Gesichtspunkten, Menschen, allem »Seienden« werden durch das Licht der alethéia geregelt, durch das Funkeln der fein zerstäubten Spiegel-Folie. Erleuchtung eines nicht reflektierten, von der Wahrheit aufgeklärten Blicks, die in der Idee aufgehoben ist, die über die Angemessenheit der Verhältnisse »zwischen« entscheidet. Die Syntax wird vom Begehren nach der Wahrheit beherrscht, die die Übereinstimmung »zwischen« festlegt, ohne den Weg über die Unterscheidung, die Definition, das Wiedererkennen der Blicke, der Zuschauer, der Sprechenden zu nehmen - der »Subjekte«, die daher als Spiegel, Speculum für die Reflexe, Bilder, Phantasmen der Wahrheit dienen.
Weil man sich nicht repräsentieren kann, weil die Selbst-Reproduktion bei diesem Schauspiel ausgeschlossen ist, wird sie zur treibenden und bestimmenden Kraft seiner Ökonomie: die ausufernde Suche nach dem Selbst, dem autós, dessen Begriff durch die Dominanz der Idee in den Schatten gestellt wird. Nichts, also auch nicht der Mensch, kann hier in den Genuß seines »eigenen« Bildes gelangen, weil das »Eigene« von der Wahrheit verordnet, beherrscht, monopolisiert wird, die (sich) selbst in der Tat nur durch mehr oder weniger gute Ideen, mehr oder weniger gute Kopien wiederholt, reproduziert, repräsentiert. Autogame Abkömmlinge der Wahrheit. Unter ihnen ist der Mensch eine mehr oder weniger gute Kopie der Idee des Menschen, einer mehr oder minder guten Idee. Und die Seele ist mehr oder weniger fähig, die Idee der Ideen mehr oder weniger gut zu reflektieren, ist der Idee (der) Wahrheit mehr oder weniger nahe.
Der Spiegel, die Fähigkeit des Spiegelns sind der Selbst-Reflexion (des Menschen), des (sich) Repräsentierenden genommen, sie wirken jedoch, freilich verdeckt, in der Idee fort, von der die Szenerie der Repräsentation bestimmt wird. Die Idee (der) Wahrheit - wie die Höhle und auch anders als sie - ist ein abgeschlossener Raum des (und für das) Speculum. Wie die Seele und doch anders als sie ist sie der Angel- und Wendepunkt, der Ort des Vergleichs und der gleichzeitigen Gegenwart von Original und Kopie, der Ort der Verdrehung, Verkehrung, Inversion von Vorstellungen, Repräsentationen, ein vermittelnder und vermischter Ort. Wie das Auge und zugleich anders als es, dessen Eigenschaften verstreut, zerrissen, zusammenhanglos, zerstückelt sind, während der Gesichtspunkt - begrenzt, abgeschlossen, umgedreht, umgewendet - außerhalb, im Glanz der Idee fixiert ist. Leuchtendes Feuer, das seit jeher jede Reflexion leitet. Vollständig in der Idee aufgehender Autismus. Der unerschöpflichen Reserve von Visionen, Spiegelungen, Spekulationen.

In der Höhle, dem reflektierenden Speculum, wird der Mensch in den Prozeß der Repräsentation, der Vorstellung eingeführt, hineingestellt. Und die Vieldeutigkeit der Schatten dort unten beruht, so könnte man meinen, auf der Tatsache, daß sie keine reinen Selbst-Reflexionen (des Menschen) sind, obschon sie dank dem Licht eines Feuers möglich werden. Eine Matrix, die schon von einem Bild der Sonne erleuchtet wird, in der sich aber der Mensch bestimmte Funktionen des Spiegels, bestimmte Qualitäten des Lichts aneignet: indem er Statuen von menschlichen Körpern herstellt, indem er seine Morphologie reproduziert, indem er daraus die Projektion von verführerischen Trugbildern für die Gefangenen ersinnt, die - zweifellos? oder unter anderem? — fasziniert sind von der Ungewißheit der Beziehungen dieser Schatten zu einem eigentlichen Ursprung, zu einer eigentlichen Natur und sogar zu irgendeinem Eigentümer. Gefangene, die nicht genau wissen, wem oder was sie diese Reflexe, diese Projektionen zusprechen sollen. Vielleicht sich selbst, da sie zwischen das Feuer und den Reflexionsschirm treten?
Diese Mimetik kann also nicht einem Urbild, einem Paradigma, der »Präsenz« eines reproduzierten Dinges zugeordnet werden. Diese Bilder, die von der durch die Wahrheit beherrschten Genealogie des »Eigenen« abgeschnitten sind, werden indessen (oder darüber hinaus) von einem tönenden Echo, von Stimmen, einer Stimme gestützt, die den Trugbildern, Schemen eine Sprache gibt, die ihrer Wirklichkeit Authentizität verleiht. Mit einem Kunstgriff wird auch die phone unterworfen und ein wenig in ihrem Verhältnis zur alethéia verwirrt. Ein ungewisser Diskurs, der nicht ein einzelnes Seiendes bezeichnet, der nicht auf einen Sprechenden zu münzen ist, dessen Grad anpaideia* *Bildung, Erziehung. (Anm. d.Ü.)) der Maßstab für die Wahrheit der Sprache wäre. Schatten also, die der logos nicht assimilieren kann, die seiner Funktionsweise aber auch nicht ganz fremd sind. Richtig und unrichtig, unrein: durch Einmischung, Einführung des Menschen in den Prozeß der Reflexion; durch seine Manipulation der spiegelnden, reflektierenden Kräfte; durch selbstreflektierende Pläne, die die Schatten, die Kopien, die Repräsentationen der Ideen verändern. Man muß ihn also aus diesem Speculum, aus dieser schon, noch spiegelnden Höhle vertreiben, damit es keine Möglichkeit für ein Selbstporträt mehr gibt. Damit es keine Zweideutigkeit im Hinblick auf das Richtmaß gibt, das für jede Form, selbst für Schatten gilt, ein Gesicht, eine Präsenz, ein Maß: das der Wahrheit. Die alethéia duldet keine Verwechslung, keinen Vergleich - auch keine Überdetermination, könnte man sagen - von Gesichtern, Figuren. Sie allein wird erscheinen, mehr oder weniger maskiert oder entschleiert, auf ihre Einzigartigkeit bedacht. Und diejenigen, die nach einer Kontemplation ihrer selbst streben -nach einer Art Repräsentation eines narzißtischen Genusses? -würden darüber die Weisheit, die Vernunft verlieren. Sie würden einschlafen, Träumen ausgeliefert, gelähmt-gefesselt von einem Schauspiel, das ihre Blicke verzaubert. Sie hätten daher weder Zugang zur Wissenschaft noch zur gerechten Regierung und würden aus gutem Grund in unterirdischen Gefängnissen belassen.
Nun ist in der apaideusia der Höhle ein solcher Irrtum bei der Identifikation der Schatten, der Reflexe und sogar der Kopien stets möglich. Er ist sogar wahrscheinlich. Die virtuellen Kräfte des Wahrscheinlichen sind noch nicht beschworen worden. Zumal die projizierten »Dinge« hinter den Menschen sind und sich reflektieren, wie er »sich« reflektieren würde, wobei die gewohnten Koordinaten des Sehens von »Körpern« und von allem natürlichen »Seienden« umgedreht werden: Der Strahl, der aus dem rechten Auge kommt, trifft auf die linke Seite des angeschauten »Objekts«. Wenn man noch hinzufügt oder wiederholt, daß die reflektierten »Dinge« Bilder des Körpers des Menschen sind...

Man wird also den Kandidaten der Philosophie aus der Höhle herausholen, um ihn zu richtigeren, genaueren und gehobeneren Ansichten zu bringen. Zum orthótes. Wodurch man ihn aus derartigen Irrtümern, Ungenauigkeiten, Undifferenziertheiten, Unentschiedenheiten herausreißt. Aus der Höhle, in der es noch nicht grundsätzlich unrealisierbar ist, sich zu reflektieren, sich zu reproduzieren, also sich als (ein) Ursprung, als (ein) Original zu konstituieren. Ökonomie der Reproduktion-Produktion des (sich selbst) Gleichen, die - jedenfalls scheinbar - mit jener unvereinbar ist, die durch den Vorrang der Wahrheit bestimmt wird. Also wird man den Menschen aus der Höhle herausholen, ihn auf einen anderen Ursprung — den Ursprung des Selben, den Ursprung selbst -, auf ein anderes Leben verweisen, die älter sind, weiter zurückliegen, die aber zugleich zukünftig sind, die wiederkehren werden, an die man (sich) erinnern muß. Matrix der Idee, die fern im Unendlichen liegt, wohin der Mensch niemals kommen, niemals zurückkehren wird, ebensowenig wie er von dort hat herkommen können. Weil das Unendliche nicht seinem Maß, dem Maß seiner Geschichte, seines Auto... entspricht. Zumindest ist es vernünftig, so zu denken. Er kann sich dem Unendlichen nur nähern oder sich von ihm entfernen wie eine Asymptote einer Hyperbel - durch mehr oder weniger erleuchtete, mehr oder weniger gute, wahre Visionen, durch mehr oder weniger harmonische numerische Verhältnisse, durch eine mehr oder weniger angemessene Sprache.
Der genealogische Zusammenhang allerdings ist abgeschnitten. Das Kind - zumindest erscheint dies als Absicht der paideia,der Bildung - wird von allen noch empirischen Beziehungen zur Matrix getrennt. Von allem, was es daran erinnern könnte, es dazu bringen könnte, sich umzuwenden, zurückzukehren, es zu seinem Anfang zurückführen könnte, zu einem »Ursprung«, der sich noch in einer besonderen, »eigenen« Geschichte ausprägt und es prägt, der sich in den Projekten, Projektionen, Umwegen, Rückwendungen und in deren Metaphern kenntlich macht und kenntlich wird; der seinen Blick, sein Gehör, seine Sprache, seinen Tropismus determiniert, überdeterminiert und sie so für die Wahrheit untauglich macht. Es entstehen degenerierte Schatten der Wahrheit, wenn der Mensch in den Prozeß der Reproduktion, der Repräsentation eingreift. Reformierte Abkömmlinge der Wahrheit, von denen man nicht mehr weiß, von wem sie abstammen. Waisen eines einfachen, reinen, idealen Ursprungs. Bestenfalls Mischlinge. Gezeugt von einer noch empirischen Matrix, durch die Beziehung des Menschen zu einem noch diachronischen Anfang, und vom Feuer, das in dieser Höhle eine legitimere Abstammung signalisiert.

Man wird also den »Gefangenen« entwurzeln, ihn aus dem Zusammenhang dieser allzu »natürlichen« Empfängnis und Geburt herausreißen, ihn auf einen entfernteren, höheren, edleren Ursprung zurückführen: auf einen Arche-Typus, auf ein Prinzip, einen Urheber. Und im Verhältnis zu ihm soll er sich wiedererkennen. Weil man die Repräsentation der Matrix, die sich niemals als »Präsenz« zu erkennen gibt, nicht begrenzen, umschreiben kann, weil man das Verhältnis dieses Ortes zu ihrer »Kopie«/ihren »Kopien« niemals klären kann: weil man dieses ursprüngliche télos, diese chóra*, (*Leerer Raum, Erde. (Anm. d.Ü.)) die durch ihre Ungeformtheit, ihre amorphe Ausdehnung über alles »Seiende« hinausgeht, nicht in »Seiendes« und Reproduktion von »Seiendem« transformieren kann; weil man um das Ungeformte dieses »Ursprungs« nicht herumgehen, nicht hinter es zurückgehen kann, um es zu hintergehen, indem man es betrachtet, benennt, repräsentiert, prüft und mißt, und weil man auch nicht einfach darüber hinausgehen kann, extrapoliert man es ins Unendliche der Idee, die ihrerseits nicht mehr sichtbar, nicht mehr repräsentierbar ist, sondern selbst lediglich Beschwörung einer Blindheit gegenüber dem Ursprung ist. Eine Quelle, die jeden Blick strukturiert, der sich auf die Nichtwahrnehmbarkeit der Zeugung, auf die Unsichtbarkeit ihrer Instanz, auf die Unmöglichkeit ihres (Wieder-)Zutagetretens richtet. Wurzel und Gipfel eines Stammbaums, nach dessen Muster die Festlegung der Abstammung, die Berechnung der Verwandtschaftsverhältnisse künftig durch die »Mimesis« geregelt werden.