Meine Mitbewohner und ich feierten den ersten Abend in Harvard, indem wir auswärts essen gingen. Wir entschieden
uns, nach Boston zu fahren, schnell etwas im >Union Oyster House< zu essen und dann zum Scollay Square zu gehen, der einzigen Oase der Sünde in der Wüste puritanischen Anstands dieser Stadt.
Dort sahen wir uns das erhebende Schauspiel im >0ld Howard< an. In dieser ehrwürdigen Schmiere waren die legendären Striptease-Tänzerinnen unseres Zeitalters beheimatet. Die Attraktion des heutigen Abends mußte da keineswegs zurückstehen: Irma, die Bombe.
Nach der Vorführung (wenn man das so nennen kann) machten wir uns gegenseitig Mut, hinter die Bühne zu gehen und diese Dame einzuladen, mit uns Feinsinnigen ein Glas Champagner zu trinken. Zuerst wollten wir einen vornehmen
Brief verfassen (»Sehr verehrte Miss Bombe,...«), beschlossen dann aber, daß ein lebendiger Abgesandter mehr Wirkung haben würde. Jeder einzelne von uns bewies seinen großen in ihm schlummernden Mut, indem er vorgab, auf
dem Weg hinter die Bühne zu sein. In Wirklichkeit hatte keiner auch nur zwei Schritte in Richtung des Bühneneingangs getan. Dann kam ich auf eine fabelhafte Lösung: »Warum gehen wir denn nicht alle zusammen?«
Wir sahen uns gegenseitig an und warteten, wer zuerst antworten würde. Das tat aber keiner. In einem plötzlichen, unerklärlichen Anfall von Moral beschlossen wir schließlich gemeinsam, es sei ein Gebot der Vernunft, schlafen zu gehen, um für die harten Anforderungen Harvards gewaappnet zu sein. Der Geist - so unsere Begründung . müsse über das Fleisch siegen.
Ach, arme Irma, du weißt ja gar nicht, was dir entgangen ist.
Zwölf Erstsemester standen aufgereiht nebeneinander, splitternackt. Die verschiedensten Körpertypen waren vertreten: korpulente wie spirrige (auch Danny Rossi war darunter). Im Körperbau waren sie so verschieden wie Mickey Mouse und Adonis (auch Jason Gilbert war einer der zwölf). Vor ihnen stand eine etwa einen Meter hohe Bank und dahinter ein majestätischer Trainer, der sich bedrohlich als »Colonel« Jackson vorgestellt hatte.
»Also«, bellte er, »ihr Erstsemester werdet jetzt den berühmten Harvard-Stufen-Test machen. Das heißt — und das könnt ihr auch ohne Studium in Harvard begreifen —, ihr müßt auf die Bank rauf und dann wieder runter. Klar soweit? Dieser Test, um festzustellen, ob unsere Soldaten fit sind, stammt noch aus dem Krieg. Und er muß funktioniert haben, denn wir haben Hitler schließlich geschlagen, nicht wahr?«
Er machte eine Pause und erwartete ein begeistertes und patriotisches Hurra von seinen Untergebenen. Aber er wartete vergebens und fuhr fort, die Spielregeln zu erklären. »Okay, wenn ich pfeife, geht's auf die Bank und wieder runter. Dazu spielt 'ne Langspielplatte, und ich schlage zusätzlich mit dem Stock hier den Takt. Das Ganze dauert fünf Minuten. Ich beobachte jeden einzelnen von euch, also
kein Betrug und nichts auslassen, sonst seid ihr ein ganzes verdammtes Jahr lang dran.«
Während das Monster noch brabbelte, zitterte Danny innerlich. Scheiße, sagte er zu sich, die anderen sind alle viel größer. Für die ist das nur wie ein Bordstein. Für mich ist diese blöde Bank der Mount Everest. Das ist nicht fair.
»Achtung«, schrie Colonel Jackson, »wenn ich los sage, fangt ihr an! Und im Takt! — Los!«
Und es ging los.
Die Platte schepperte, das Monster stieß mit erbarmungsloser und abstumpfender Regelmäßigkeit den Stock auf den Boden. Auf-zwei-drei-vier, auf-zwei-drei-vier, auf-zwei-drei-vier.
Nach ein paar dutzendmal die Bank hinauf und hinunter wurde Danny müde. Wenn der Colonel wenigstens etwas langsamer den Takt schlagen würde, aber der Kerl war ein teuflisches Metronom. Wenigstens würde es bald vorbei sein.
»Eine halbe Minute!« rief Jackson. Gott sei Dank, dachte Danny, nicht mehr lange, dann kann ich aufhören. Aber qualvolle dreißig Sekunden später bellte es: »Eine Minute, noch vier Minuten.« Nein, dachte Danny, nicht noch vier Minuten. Ich kriege keine Luft mehr. Dann fiel ihm ein, wenn er aufgab, mußte er regelmäßig zum Training zu diesem Sadisten — und das zusätzlich zu all den anderen Fächern. Deshalb nahm er seinen ganzen Willen zusammen, der ihn schon einmal auf der Aschenbahn weitergetrieben hatte, und kämpfte sich über die Schmerzgrenze hinaus.
»Los da, du kleiner Karottenheini«, bellte der Folterknecht. »Du läßt ja Schritte aus. Los, weiter, sonst gibt es eine Extraminute!« Den zwölf Erstsemestern lief der Schweiß herunter und spritzte bis zum Nebenmann. »Zwei Minuten, noch drei mehr.«
Jetzt spürte Danny verzweifelt, daß er es nie schaffen würde. Er konnte kaum noch die Beine heben. Er würde hinfallen und sich den Arm brechen. Mach's gut, Konzertkarriere. Und alles nur wegen dieser lächerlich nutzlosen, viehischen Übung. Da sagte eine ruhige Stimme neben ihm: »Nur ruhig, mein Junge, versuch, normal zu atmen. Wenn du einen Schritt ausläßt, versuch' ich dich abzudecken.«
Danny sah vorsichtig auf. Es war ein blonder, muskulöser Kommilitone, der ihm diese Ermutigung zugeraunt hatte, ein
Sportler in so blendender Form, daß er bei all dem Rauf und Runter noch genug Luft hatte, ihm einen Rat zu geben. Dan
konnte nur dankbar nicken. Er nahm sich zusammen und hielt weiter durch.
»Vier Minuten«, schrie der Würger im T-Shirt. »Eine Minute noch. Ihr seid ganz gut — für Harvard.«
Danny Rossis Beine blockierten plötzlich. Er konnte keinen einzigen Schritt mehr machen. »Nicht schlapp machen«, flüsterte sein Nachbar. »Los, weiter, nur noch alberne sechzig Sekunden.«
Dann spürte Danny, wie ihn eine Hand am Ellenbogen hochzog. Seine Glieder bewegten sich wieder, und steif fuhr er mit dem grausamen Aufstieg ins Nichts fort. Dann endlich war es geschafft. Der Alptraum war vorbei.
»Gut so. Alle auf die Bank setzen, eine Hand an den Hals des rechten Nebenmanns. Puls nehmen.«
Nachdem sie endlich das schweißtreibende Ritual hinter sich gebracht hatten, ließen sie sich erleichtert auf die Bank
fallen und versuchten, wieder zu Atem zu kommen.
Colonel Jackson notierte alle notwendigen Fitnessdaten, dann schickte er die zwölf erschöpften Erstsemester zum Duschen und anschließend, immer noch im Adamskostüm, ins Schwimmbad. Denn wie es der treffliche Sportlehrer so treffend ausdrückte: »Wer keine fünfzig Yards schwimmen kann, wird auch diese Universität nicht schaffen.«
Als sie nebeneinander unter der Dusche standen und sich den Schweiß der Heimsuchung abwuschen, sagte Danny zu dem Kommilitonen, dessen großherzige Unterstützung ihm unzählige zusätzliche Ubungsstunden an den schwarzweißen Tasten ermöglicht hatte: »Ich kann dir gar nicht genug danken, daß du mir da durchgeholfen hast.« »Schon gut. Erstmal ist es einfach ein saudummer Test, und dann tut mir jeder leid, der ein Semester lang der Scheucherei dieses Affen da folgen muß. Wie heißt du übrigens?« »Danny Rossi«, sagte der Kleinere und streckte eine seifige Hand aus.
»Jason Gilbert«, sagte der athletische Typ und fügte grinsend hinzu: »Kannst du denn gut genug schwimmen, Dan?« »Ja, danke«, lächelte Danny, »ich komme aus Kalifornien.«
»Kalifornien, und bist kein Sportler?«
»Mein Sport ist Klavierspielen. Magst du klassische Musik?« »Wenn es nicht schwieriger als Johnny Mathis ist. Aber ich
würde dich gerne spielen hören. Vielleicht mal nach dem Essen in der Union, ja?« »Klar«, sagte Danny, »aber wenn das nicht klappen sollte, dann bekommst du zwei Karten für mein erstes öffentliches Konzert.«
»Was, so gut bist du?«
»Ja«, sagte Danny ruhig und ungeniert.
Dann gingen beide zum Schwimmbecken hinunter und schwammen auf nebeneinanderliegenden Bahnen die verlangten fünfzig Yards, womit sie die letzte sportliche Anforderung für einen Harvard-Abschluß erfüllten — Jason schwamm natürlich schnell und in fabelhaftem Stil, Danny betont vorsichtig.