6-2 Andrew Eliots Tagebuch 22. September 1954

Gestern mußten wir den dämlichen Harvard-Schritt-Test machen. Da ich durchs Fußballspielen ganz gut in Form bin, ging das ohne Schweiß ab. (Oder, um genauer zu sein: mit viel Schweiß, aber ohne große Anstrengung.) Das einzige Problem entstand, als >Colonel< Jackson uns unserem Nebenmann an der Halsschlagader den Puls fühlen ließ. Der Kerl neben mir war so glitschig geschwitzt, daß ich den Puls nicht finden konnte. Als der faschistische Typ dann die Herzfrequenz aufschreiben wollte, nannte ich eine Zahl, die mir gerade einfiel. Als wir wieder im Wohnheim waren, sprachen wir drei nochmals über diese ganze schön erniedrigende Erfahrung. Wir waren einhellig der Meinung, das Unwürdigste und Unnötigste daran war das verdammte Haltungsfoto vor dem Schritt-Test. Man stelle sich vor, Harvard besitzt eine Kartei mit jedem einzelnen des Jahrgangs, wie er nackt vor der Kamera steht - angeblich zur Dokumentation unserer Körperhaltung. Wahrscheinlich aber, wenn einer von uns Präsident der Vereinigten Staaten wird, damit die Sportabteilung das Bild heraussuchen und nachsehen kann, wie der Führer der größten Nation der Welt nackt aussieht. Was Wigglesworth wirklich störte, war die Vorstellung, daß ein Einbrecher unsere Fotos klauen und damit ein Vermögen machen könnte. Ich fragte ihn: »Aber wer sollte denn die Fotos von eintausend nackten Harvard-Erstsemestern kaufen?« Er dachte nach. Schon richtig, wer würde diese Sammlung wirklich haben wollen? Vielleicht ein paar geile Wellesley-Mädchen. Dann fiel mir ein: Gab es solche Bilder auch von den Radcliffe-Mädchen? Newall meinte, ja. Und ich hatte die geniale Idee, man müßte sich in die Sportabteilung von Radclifi'e einschleichen und diese Bilder klauen. Das wäre 'ne Schau! Dann wüßten wir wenigstens, auf welche Mädels wir unsere Bemühungen zu konzentrieren hätten. Zunächst fanden sie die Idee toll. Dann aber verflüchtigte sich ihr Mut. Und Newall argumentierte: »ein echter Mann« müsse so etwas durch Erfahrung herausfinden. Das zur Frage von Mut. Ich hätte Lust zu einem solchen nächtlichen Ausflug gehabt. Glaub ich jedenfalls.

Die Belegzettel mußten am Donnerstag, fünf Uhr nachmittags, abgegeben werden. Das gab dem Jahrgang '58 ein wenig Zeit, sich umzuhören und sich ein ausgewogenes Veranstaltungsprogramm zusammenzustellen. Die Vorlesungen und Seminare im Hauptfach waren festgelegt, die Nebenfächer aber mußten noch ausgewählt werden, und vielleicht noch etwas zur kulturellen Fortbildung. Wichtig war dabei natürlich, ein wirklich leichtes Fach zu nehmen, dies galt vor allem für die Leute von Privatschulen und die Teilnehmer an medizinischen Vorbereitungskursen. Für Ted Lambros, mit dem Hauptfach Klassische Sprachen, war der Fall eigentlich klar: >Latein 2 A, Horaz und Catulh, und dann Naturwissenchaften 4 mit dem Feuerwerker L. K. Nash, der sich garantiert mehrmals im Jahr in die Luft sprengte. Als Wahlpflichten belegte er >Griechisch A<, eine Einführung in das klassische Griechisch, mit dessen moderner Version er ja aufgewachsen war. Nach zwei Semestern würde er Homer im Originaltext lesen können. Bis dahin las er die berühmten Epen in englischer Übersetzung, für seine vierte Veranstaltung, die der legendäre John Finley, der Inhaber des Eliot-Lehrstuhls für Griechische Literatur, abhielt. Geisteswissenschaften 2< - >Geist 2<, wie die Vorlesung liebevoll abgekürzt wurde - war anregend lehrreich, und wie ganz Harvard wußte, bekam man ohne Mühe eine gute Note.
Danny Rossi hatte seinen Stundenplan schon auf der Durchquerung des Kontinents geplant. >Musik 5K, Formanalyse, Pflichtfach. Alles andere war das reine Vergnügen: Kompositionen für Orchester von Haydn bis Hindemith, und: Anfängerkurs Deutsch, als Vorbereitung für das Dirigieren der Wagner-Opern. Italienisch und Französisch wollte er später machen. Und natürlich die beliebteste und anregendste Vorlesung von Harvard: >Geist 2<.
Er hatte Walter Pistons Kompositionsseminar belegen lund geglaubt, der große Mann würde ihn zulassen obwohl Danny Erstsemester war und im Seminar überwiegend Doktoranden saßen. Aber Piston hatte ihn »zu Ihrem  eigenen Vorteil« abgelehnt. »Hören Sie«, hatte ihm der Komponist erklärt, »die Komposition, die Sie eingereicht haben, war hübsch. Und eigentlich hätte ich sie mir gar nicht anzusehen brauchen, denn Gustav Landaus Brief genügte schon. Wenn ich Sie jetzt zulasse, könnten Sie in die paradoxe Lage geraten — wie soll ich sagen —, sprinten, aber noch nicht gehen zu können. Falls Sie das tröstet, als Leonard Bernstein hier war, haben wir ihn ebenfalls gezwungen, die einführenden musikalischen
Übungen mitzumachen, wie wir das auch bei Ihnen wollen.«
»Okay«, sagte Danny mit höflicher Enttäuschung und dachte im Gehen, wahrscheinlich wollte er mir nur nicht sagen, daß meine Komposition noch reichlich unreif ist.
Erstsemester, die von Privatschulen kommen, die Preppies, haben einen großen Vorteil. Durch ihren Kontakt mit Absolventen, die mit den Harvard-Verhältnissen vertraut sind wissen  sie genau, welche Vorlesungen und Seminare sie belegen und welche sie meiden müssen.
Die mit Vorliebe Harris-Tweed tragenden alten Herren vermitteln ihnen das Losungswort, mit dem man in Harvard gut durchkommt: >Scheiße<. Je mehr man in einem Seminar mit Worten um sich werfen kann (ohne sich mit so trivialen Dingen wie den sogenannten harten Tatsachen abgeben zu müssen), desto eher ist die jeweilige Veranstaltung ein guter Griff.
Wenn sie auf ein College kommen, sind sie bereits versiert in der Kunst, Abhandlungen und Aufsätze zu schreiben, und können die einzelnen Abschnitte mit so nützlichen Phrasen wie »vom theoretischen Standpunkt aus gesehen« oder »bei oberflächlicher Betrachtung scheint sich eine bestimmte Haltung herauszuschälen, die möglicherweise näherer Untersuchung standhält« und so weiter anreichern. Diese Art heiße Luft kann einen schon halbwegs durch einstündige schriftliche Prüfungen bringen, bevor man auch nur eine einzige Tatsache zu Papier gebracht hat.
In der Mathematik geht das leider nicht. Also, man läßt um Himmels willen die Finger von den Naturwissenschaften.
Auch wenn naturwissenschaftliche Kurse für das Hauptstudium verlangt werden, spar sie dir für das dritte oder vierte Semester auf- Bis dahin ist dein Sprachstil so perfekt, daß sich vielleicht sogar ein Standpunkt finden läßt, von dem aus gesehen zwei und zwei dann doch fünf sind.
Andrew Eliots Studienplan war in dieser Hinsicht märchenhaft. Als erstes: >Soz. Bez. 1 <, weil schon die Bezeichnung >Soziale Beziehungen zum Blödeln reizte. Dann >Englisch io< ein Überblick über die englische Literatur von Chaucer bis zu Vetter Tom. Das war eine ziemlich harte Sache, aber er hatte das meiste davon, zumindest in Zusammenfassungen, schon während des letzten Schuljahres gelesen. »Kunstgeschichte iv zu belegen, bewies ebenfalls Scharfsinn. Nicht
allzuviel Pflichtlektüre, wenig zum Mitschreiben. Im großen und ganzen bestand die Geschichte darin, farbige Dias anzusehen. Dazu kam, daß die Veranstaltung zur Mittagszeit stattfand und das Halbdunkel des Hörsaals sich durchaus dazu eignete, ein kurzes Schläfchen vor dem Essen zu machen, und wie Newall außerdem bemerkte: »Ein fabelhafter Ort um unsere künftigen Weiber aus Badcliffe anzumachen.«
Kein Problem war die letzte Vorlesung: Selbstverständlich mußte es >Geist 2< sein. Da, abgesehen von zahlreichen anderen Vorzügen, Professor Finley auf dem Lehrstuhl saß, den Andrews Vorfahren gestiftet hatten, sah dieser ihn als eine Art Familienfaktotum an.

Am Abend, nachdem die Belegzettel abgegeben waren. feierten Andrew, Wig und Newall ihr jetzt offizielles - und damit verpflichtendes - Veranstaltungsprogramm zur Persönlichkeitsfindung mit einer Gin-Tonic-Party.
Nach dem vierten Gin Tonic  fragte Dickie: »Na, Andy was willst du denn werden, wenn du mal erwachsen bist?« Und Andrew antwortete halb im Spaß, halb ernsthaft »Offengestanden - ich glaube, ich will gar nicht erwachsen werden.«