1. «Verschneite Märzblüthen» (Louise Otto)
Nach dem Scheitern der 1848er Revolution herrschte im ganzen Deutschen Bund die Reaktion, «eine kompromißlos konservative Unterdrückungs- und Stabilisierungspolitik».[1] Und obgleich die alten Zustände nicht gleich wiederherzustellen waren, wurde doch der größte Teil revolutionärer Errungenschaften wieder zurückgenommen: vor allem anderen die Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit. Denn nun wurden Verfassungen «oktroyiert», Kammern aufgelöst und z. B. in Preußen an die Stelle der ersten Kammer ein «Herrenhaus» eingesetzt, das sich aus geborenen Vertretern des preußischen Landadels, der «Junker», und aus vom Monarchen persönlich berufenen Mitgliedern zusammensetzte. Da kein Gesetz in Preußen ohne seine Zustimmung passieren konnte, bildete dieses «Herrenhaus» bis 1918 ein «Bollwerk des Konservatismus in Deutschland». Aber auch die Vertreter der zweiten Kammer, des preußischen Abgeordnetenhauses, wurden nicht durch ein allgemeines, sondern nur männliches und zudem ungleiches Wahlrecht bestimmt, ein Drei-Klassen-Wahlrecht, in dem die 82 Prozent Wahlberechtigten der untersten Steuerklasse nur ebensoviel Stimmengewicht erhielten wie die knapp fünf Prozent der obersten Klasse. Überall in den Bundesstaaten wurden Liberale und radikale Demokraten aus den öffentlichen Ämtern entfernt, wenn nicht gar verfolgt und in die Emigration getrieben. Auf Bundesebene schließlich etablierten die Regierungen einen «Reaktionsausschuß», ein bürokratisches und polizeiliches Überwachungssystem und scheuten sich nicht, die in der Paulskirche einmal feierlich verkündeten «Grundrechte der Deutschen» ausdrücklich wieder aufzuheben.
«Der schöne Traum währte nicht lange — es kam die Reaktion, es kamen die Kämpfe um die Reichsverfassung — es kamen Angst und Schrecken und Not für die einen - Hohn und Triumpf und Übermut machten sich nun bei den anderen geltend.»[2]
So kommentierte L. Otto aus der Rückschau diese Zeit, die sog. «stille Zeit», in der sie selbst wie viele andere «in die Vergangenheit flüchtete». Während ihr Verlobter, August Peters, noch bis 1856 als politischer Häftling in Rastatt einsaß, trieb sie kulturhistorische Studien, veröffentlichte historische Romane und mahnte ihre Geschlechlsgenossinnen mit der Bearbeitung von «Hexengeschichten» verstockt zur Wachsamkeit.[3]
Pressezensur und Versammlungsverbot
Die politische Betätigung, die gemeinsame und öffentliche Behandlung ihrer wirtschaftlichen, rechtlichen, staatsbürgerlichen Interessen war den Frauen in Deutschland noch unerbittlicher und nachhaltiger als etwa den des Sozialismus verdächtigen Arbeitern untersagt. Zwar waren die ersten Verordnungen «über die Verhütung eines die gesetzliche Freiheit und Ordnung gefährdenden Mißbrauchs des Versarnrnlungs- und Vereinigungsrechts», die Bayern und Preußen im Frühjahr 1850 fast gleichlautend erließen, vorrangig gegen die politischen Zusammenschlüsse der Arbeiter gerichtet. Doch alle vereinsrechtlichen Regelungen, auch die in den anderen deutschen Staaten — verstärkt durch einen Bundesbeschluß von 1854—, liefen darauf hinaus, neben der Maßregelung aller demokratischen und oppositionellen Kräfte die «eine Hälfte der Menschheit», die Frauen, auszuschalten, politisch mundtot zu machen, für mehr als ein halbes Jahrhundert zu bevormunden und zu gängeln, so der berüchtigte und folgenreiche Paragraph 8 des Preußischen Vereinsgesetzes vom 11. März 1850:
«Für Vereine, welche bezwecken, politische Gegenstände in Versammlungen zu erörtern, gelten... nachstehende Beschränkungen:
- a) sie dürfen keine Frauenspersonen, Schüler, Lehrlinge als Mitglieder aufnehmen;
- b) sie dürfen nicht mit anderen Vereinen gleicher Art zu. gemeinsamen Zwecken in Verbindung treten, insbesondere nicht durch Komites, Ausschüsse, Central-Organe oder ähnliche Einrichtungen oder durch gegenseitigen Schriftwechsel (…)
Frauenspersonen, Schüler und Lehrlinge dürfen den Versammlungen und Sitzungen solcher politischen Vereine nicht beiwohnen. Werden dieselben auf Aufforderung des anwesenden Abgeordneten der Obrigkeit nicht entfernt, so ist Grund zur Auflösung der Versammlung oder der Sitzung vorhanden.»[4]
Trotz der politischen Erstarrung gehören die fünfziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in der Beurteilung der Historiker wirtschaftlich und gesellschaftlich zu den wichtigsten Umbruchperioden der deutschen Geschichte. Denn in dieser Zeit wurde durch das Anwachsen der industriellen Produktion der entscheidende Schritt zur Durchsetzung einer kapitalistischen Warenwirtschaft vollzogen. Von nun an lebten und arbeiteten immer weniger Menschen von und in der Landwirtschaft. Von nun an bestimmte die Abhängigkeit vom Lohnerwerb zunehmend auch die Beziehungen zwischen Männern und Frauen.
Unter den Bedingungen wirtschaftlicher Prosperität, von der vor allem das Bürgertum profitierte, und getragen von der Idee eines deutschen Einheitsstaates unter der Führung Preußens aber, waren auch viele ehemalige 48er, Liberale und Demokraten mehr und mehr bereit, «realpolitisch» zu denken, und das hieß, ihren Frieden mit dem autoritären Staat zu machen. Der Liberalismus, ursprünglich eine Bewegung, jetzt eine politische Partei, die «Fortschrittspartei», setzte nun auf Reform statt Bevolution und wurde im preußischen Verfassungskonflikt mit dem harten Kurs Bismarcks konfrontiert. Seit 1862 zum Ministerpräsidenten berufen, soll dieser schon im Jahre seines Amtsantritts vor der Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses sein Politikverständnis folgendermaßen formuliert haben.
«Die großen Fragen der Zeit werden nun einmal nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse, sondern durch Eisen und Blut entschieden.»[5]
Dabei hatte zu Beginn der 1860er Jahre, mit dem Thron- und Begierungswechsel in Preußen, der Übernahme der Regentschaft durch Kronprinz Wilhelm, den späteren ersten Deutschen Kaiser, eine «neue Ära» begonnen, die viele Hoffnungen weckte und nicht zuletzt durch eine Amnestie für Teilnehmer der Revolution von 1848/ 49 Liberalisierung und Entspannung versprach. Auch in den anderen Bundesstaaten wurde die Reaktion nach einem Jahrzehnt brüchig, die Gesetze, u. a. auch die Koalitions- und Zensurverbote, gelockert, versuchten die Herrschenden, «Frieden zu haben mit dem Volk»[6]
Dies war die Voraussetzung dafür, daß neue Bewegung in die Arbeiter- und Handwerkervereine kam, daß unter Förderung liberaler Politiker zahlreiche Arbeiterbildungsvereine gegründet wurden, daß 1863 in Leipzig unter der Führung von Ferdinand Lassalle der «Allgemeine Deutsche Arbeiterverein» (ADAV) und damit eine erste deutsche Arbeiterpartei entstand. Dies aber war auch die politische Situation, in der die Frauen sich wieder aus ihrer Vereinzelung herauswagten, das Schweigen durchbrachen und die Initiative zur Organisation ihrer Interessen übernahmen:
«Was damals (um 1848) gekeimt und geblüht hatte, verfiel dem Schicksal aller Märzblüthen — sie verschneiten wieder — aber jetzt, wo der Schnee wieder hinweggethaut, kommt Alles aufs Neue zum Vorschein. Im Stillen ist fortgewachsen und hat sich ausgebreitet, was zu jener Zeit nur Keim war und schießt jetzt in frischen Halmen lustig empor.
Im Dienste der Subjectivität, wie im Dienste der Politik sind die weiblichen Bestrebungen beendet worden, nicht etwa um nun am Ende zu sein, sondern um nach Verirrungen und Prüfungen geläutert und erstarkt, wieder neu aufgenommen zu werden im Dienste der Humanität und des Socialismus.»[7]
2. «Im Dienste der Humanität und des Socialismus» (Louise Otto)
Die Gründung des «Allgemeinen Deutschen Frauenvereins»
Vom 16. bis zum 18. Oktober 1865 fand in Leipzig eine erste Frauenkonferenz statt, auf der die Gründung des «Allgemeinen Deutschen Frauenvereins» (ADF) beschlossen wurde. Dieses Ereignis, das in der zeitgenössischen Presse Aufregung und Aufmerksamkeit hervorrief und —wie könnte es anders sein — auch mit Spott als «Leipziger Frauenschlacht»[8] kommentiert wurde, galt auch schon im Selbstversländnis der allen Frauenbewegung als Geburtsstunde der deutschen organisierten Frauenbewegung.[9] Der «Allgemeine Deutsche Frauenverein» war von nun an die Keimzelle vieler Fraueninitiativen und weiterer Vereinsgründungen. Für die Idee und Einladung zur Konferenz verantwortlich zeichnete der «Leipziger Frauenbildungsverein», der erst ein halbes Jahr vorher von Louise Otto und einigen gleichgesinnten Frauen gegründet worden war. Eine von ihnen war die Lehrerin Auguste Schmidt, die nun L. Otto auf den «Neuen Bahnen» der Frauenbewegung begleiten sollte.
Auguste Schmidt (geb. 3. Aug. 1833 in Breslau, gest. 10. Juni 1902 in Berlin),
...als Tochter eines preußischen Berufsoffiziers in bildungsbürgerlichem Milieu aufgewachsen, legte schon mit siebzehn Jahren ihr staatlich anerkanntes Lehrerinnenexamen ab. Sie unterrichtete zunächst als Erzieherin, dann als Schulvorsteherin ab 1861 in Leipzig, im sog. Steyberschen Institut, einer höheren Töchterschule mit angeschlossenem Lehrerinnenseminar, dessen Leitung sie nach Ottilie Steybers Tod übernahm.
Sie galt als gute Lehrerin — Clara Zelkin gehörte zu ihren berühmtesten Schülerinnen — und als begeisternde Rednerin. Ihre öffentlichen literarischen Vorträge wurden «nicht allein von vielen Frauen, sondern stets von einer großen Zahl Leipziger Studenten besucht».[11]
1865 lernte Auguste Schmidt Louise Otto(-Peters) kennen und schätzen, mit der sie von da an eine dreißigjährige Freundschaft verband. Beide Frauen gründeten im gleichen Jahr den «Allgemeinen Deutschen Frauenverein», der für den Neubeginn der Frauenbewegung in Deutschland steht.
Vorangegangen war die Konstituierung des «Leipziger Frauenbildungsvereins», zu dessen Eröffnung A. Schmidt einen Vortrag hielt unter dem Motto «Leben ist Streben». Dieser Vortrag schloß mit den Worten:
«Wir verlangen nur, daß die Arena der Arbeit auch für uns und unsere Schwestern geöffnet wird, und Freiheit für die Entwicklung der Frau ist eine Forderung der Gerechtigkeit. Freiheit zur Arbeit muß der Frau gegeben werden, um ihrer eigenen sittlichen Vervollkommnung, um des erzieherischen Wertes der Arbeit willen. Denn das Ziel der Frauenbewegung ist die Erhöhung der sittlichen Werte in der Menschheit.»[12]
Gemeinsam mit Louise Otto gab sie die Zeitschrift «Neue Bahnen» heraus und gründete zusammen mit Helene Lange und Marie Loeper-Housselle 1890 den «Allgemeinen deutschen Lehrerinnenverein». 1894 wurde A. Schmidt erste Vorsitzende des «Bundes Deutscher Frauenvereine», ein Amt, das sie bis 1899 innehatte.
Noch länger als L. Otto verkörperte A. Schmidt die Kontinuität der deutschen Frauenbewegung. Während M. Stritt in einem Nachruf 1902 noch einmal ihre «bestechende Liebenswürdigkeit», «eminente Rednergabe... und echt weiblich-mütterliche Art» rühmte,[10] ist ihre Person für uns Nachgeborene eher «farblos», zu traditionell, steht sie doch für die Richtung im ADF, deren emanzipatorische Forderung nach Vertiefung und Erweiterung der Frauenbildung sich unmerklich auf ein pädagogisches Reformprogramm Für bürgerliche Töchter verengte und sich damit in der bürgerlich-patriarchalen Gesellschaft nur auf eine geringfügige Veränderung der Frauenrolle einrichtete.[13]
Ähnlich den zu dieser Zeit unter den Arbeitern gegründeten liberalen Arbeitervereinen, z.B. dem «Leipziger Arbeiterbildungsverein» unter dem Vorsitz des Drechslermeisters August Bebel,[14] galt für die Frauen die Losung: «Nur Einigkeik macht stark, nur Bildung macht frei.» Dieses Programm war zunächst keine biIdungsbürgerliche Beschränkung, war nicht Selbstzweck, sondern zielte in der Tradition der Aufklärung auf «allgemeine Menschenbildung», auf Menschenwürde und sollte zugleich nützliches Wissen vermitteln, das Frauen sowohl für die Berufstätigkeit vorbereiten als auch zur Teilhabe an gesellschaftlicher und politischer Macht befähigen sollte. Aus diesem Grund schienen diese Bestrebungen das geeignete Mittel zu sein, auch die sozialen Unterschiede zwischen den Frauen verschiedener Klassen zu überbrücken, war die «geistige Speise» gerade auch «für die leiblich Hungernden»[15] die emanzipatorische Provokation, die die frühen, von liberalen Demokraten initiierten Arbeiterbildungs- wie Frauenvereine einte.
Auch der «Leipziger Frauenbildungsverein» war nicht als Damenkränzchen oder «Wohltätigkeitsverein in gewohntem Sinne» mißzuverstehen, denn er leistete «gewissermaßen Pionierdienste».[16] Gegen einen monatlichen Beitrag erhielt jedes Mitglied für alle Veranstaltungen drei Billetts und war verpflichtet, sie «an ihm bekannte Arbeiterinnen oder andere Frauen und Mädchen ... zum Besuch der <Abendunterhaltungen> des Vereins auszugeben», zu denen im übrigen «nur weibliche Personen Zutritt hatten». Geboten wurden Vorträge über Geschichte, Natur und Literatur«, stets mit spezieller Berücksichtigung des Vereinszwecks: Erweiterung des weiblichen Gesichtskreises, ... Erweckung und Stärkung freudiger Berufstätigkeit usw., Deklamation klassischer wie neuerer Gedichte, Pianoforte- und Gesangsvorträge, sämtliche von Frauen gehalten».[17] Neben diesen «Abendunterhaltungen» gab es eine Fortbildungsschule für konfirmierte Mädchen, «Bureaus für Abschreiberinnen», eine Stellenvermittlung, eine Kochschule und Speiseanstalt für Frauen, schließlich noch eine Sonntagsschule — für die interessanterweise das Vereinslokal des «Arbeiterbildungsvereins» genutzt wurde[18] - und eine Bibliothek — insgesamt also ein recht umfassendes feministisches Selbsthilfeprojekt.
Ein wichtiger Passus in der Satzung dieses Frauenbildungsvereins, auf den es insbesondere für L. Otto ankam, war die Selbstverpflichtung, «eine Frauenkonferenz von deutschen Frauen der verschiedensten Städte und Staaten» einzuberufen, denn «obwohl die deutsche Einheit (1865) noch ein Traum war», sollte; nun in der Frauenfrage das Ende der Bescheidenheit eingeläutet werden: Es ging nicht mehr nur um das Wirken in einer Stadt, «das ganze Deutschland soll(te) es sein!»[19]
Die Leipziger Frauenkonferenz von 1865
Diese erste gesamtdeutsche Frauenkonferenz in Leipzig wurde ein beachtlicher Erfolg. Einladungen zu der Konferenz waren in mehreren Zeitungen erschienen, viele persönlich verschickt worden,[20] ganz gezielt nicht nur kleindeutsch oder preußisch orientiert, sondern in alle Richtungen des Deutschen Bundes, nach Wien, Prag, München, Mannheim und Köln — auch an einige wohlwollende Männer, Liberale, radikale Demokraten, führende Köpfe auch der jungen Arbeiterbewegung, z. B. an den Bijouterie-Fabrikanten Moritz Müller, der auf dem 3. Vereinstag deutscher Arbeitervereine im September 1865 eine denkwürdige Rede zugunsten von Frauenarbeit gehalten hatte mit dem Kernsatz:
«Die Frauen sind zu jeder Arbeit berechtigt, zu welcher sie fähig sind».[21]
Er sandte diesmal eine Grußadresse.
Schließlich versammelten sich etwa 120 Frauen, gewiß die meisten aus der sächsischen Umgebung, doch eine stattliche Zahl aus allen Teilen des Bundes, und es kamen auch ein paar Männer, darunter: August Bebel, der Justizrat Joseph Heinrichs aus Lissa und der mit dem Ehepaar Otto-Peters befreundete radikale Demokrat Ludwig Eckhardt aus Karlsruhe. Als L. Otto ihn am Vorabend der Konferenz bat, die Versammlung zu eröffnen, soll er geantwortet haben:
«Der Frauentag darf doch nicht mit einer Inkonsequenz beginnen und von einem Mann eröffnet werden? Die Frauen müssen ihre Sache selbst führen, sonst ist sie von vornherein verloren!»[22]
Welcher Kühnheit es in jener Zeit bedurfte, als Frau in einer öffentlichen Versammlung eine politische Rede zu halten, ist allenfalls noch an dem Spott der konservativen Presse abzulesen, so in der «National-Zeitung» vom 17.10.1865:
«Es ist eine auffallende und dem deutschen Geschmack wenig zusagende Erscheinung, Frauen auf so hohem Piedestal zu sehen und mit so weithin tönender Stimme reden zu hören.»[23]
Louise Otto leitete die Verhandlungen mit Bravour, doch sie wußte sehr wohl, daß sie selbst «mit ihrer leisen Stimme und ihrem stark sächselnden Dialekt keine Rednerin»[24] war. Deshalb übertrug sie die Festansprachen in Zukunft in der Regel ihrer Gefährtin Auguste Schmidt, deren «zündende Rednergabe» immer wieder gerühmt wurde.
Zwei Tage lang wurde lebhaft debattiert. Der Dreh- und Angelpunkt aller Forderungen und Reformvorschläge war das Recht der Frauen auf Arbeit, präziser noch auf Erwerb. Der gemeinsame Beschluß zu diesem wichtigsten Programmpunkt lautete darum:
«§ 1. Wir erklären... die Arbeit, welche die Grundlage der ganzen neuen Gesellschaft sein soll, für eine Pflicht und Ehre des weiblichen Geschlechts (und) nehmen das Recht der Arbeit in Anspruch und halten es für notwendig, daß alle der weiblichen A rbeit im Wege stehenden Hindernisse entfernt werden.»[25]
Das Recht auf Arbeit stand für die Proletarierinnen, die Frauen der unteren Schichten und Stände kaum zur Debatte. «Unter den Proletariern muß Jeder arbeiten, der nicht verhungern will», schrieb L. Otto in ihrer 1866 erschienenen programmatischen Schrift «Das Recht der Frauen auf Erwerb». Scharf kritisierte sie darin die übliche Rede von dem Mann als dem «Ernährer der Familie», beklagte die Hungerlöhne für die schwersten weiblichen Arbeiten, bei denen keine Rücksicht auf das sog. «zarte Geschlecht» genommen werde, und analysierte den weiblichen Arbeitsmarkt, «die Unzulänglichkeit der gegenwärtigen weiblichen Erwerbszweige». Bürgerliche Frauen hatten allenfalls die Wahl zwischen dem Beruf der Gouvernante, der schlecht und privat bezahlten Lehrerin oder verschämter Heimarbeit (und liefen mit ihren Strick-, Stick- und Näharbeiten noch Gefahr, den noch Ärmeren Konkurrenz zu machen).[26] Darum ging es für die bürgerlichen Frauen zunächst einmal darum, ein selbständiges Recht auf Erwerb überhaupt erst zu erkämpfen. In § 2 des in Leipzig verabschiedeten Programms hieß es dazu:
«Wir halten es für ein unabweisbares Bedürfnis, die weibliche Arbeit von den Fesseln des Vorurteils... zu befreien. Wir halten in dieser Hinsicht die Errichtung von Industrie-Ausstellungen für weibliche Arbeitserzeugnisse, die Gründung von Industrieschulen für Mädchen, die Errichtung von Mädchenherbergen, endlich aber auch die Pflege höherer wissenschaftlicher Bildung für geeignete Mittel, dem Ziele näher zu kommen.»[27]
Auch § 1 der am letzten Versammlungstag beschlossenen Satzung des «Allgemeinen Deutschen Frauenvereins» bezeichnete noch einmal den wichtigsten Vereinszweck, die Förderung der Bildung und die «Befreiung der weiblichen Arbeit von allen ihrer Entfaltung entgegenstehenden Hindernissen». Kühn und heftig umstritten aber blieb der § 2 des Statuts, da er nur Mädchen und Frauen die Mitgliedschaft ermöglichte, Männer dagegen lediglich als Ehrenmitglieder mit beratender Stimme zuließ. Dieser grundsätzliche Ausschluß von Männern, der frühe Wahlspruch «alles für die Frauen durch die Frauen»[28] hat den ADF von Anbeginn in feministischen «Verruf» gebracht und schon damals nicht nur Männer, sondern gerade auch Frauen abgeschreckt. Doch L. Otto, die vor allen anderen den Grundsatz der Selbstorganisation und Selbsthilfe der Frauen verfocht, ließ sich nicht beirren, sondern meinte, «daß es das Unweiblichste ist, was es gibt, wenn Frauen in ihren Frauenangelegenheiten die Männer entscheiden lassen. Was sich für sie ziemt und was sich nicht geziemt, wußten von je die Frauen selbst am besten.»[29]
Schließlich wurde in Leipzig neben der Vereinbarung, die jährlichen Mitgliederversammlungen als «Deutsche Frauentage» an wechselnden Orten abzuhalten, auch die Gründung einer eigenen Vereinszeitschrift beschlossen, ein unentbehrliches Mittel zur Förderung der Öffentlichkeits- und Propagandaarbeit: Die «Neuen Bahnen», von 1866 bis 1895 von L. Otto und A. Schmidt gemeinsam herausgegeben, erschienen vierzehntägig bis 1920 in mehr als 50 Jahrgängen. Sie blieben ein Vereinsblatt mit kaum die Mitgliederzahl übersteigender Auflage, das, «dem weiblichen Fortschritt« dienend, «keine Modebilder, keine Stick- und Schnittmuster, keine Recepte» enthielt — «dies alles findet sich anderwärts zur Genüge»[30] Doch es sorgte für den Zusammenhalt unter den in der Frauenbewegung aktiven Frauen und ist — heute kaum noch verfügbar - als «Chronik der Frauenbestrebungen jener Zeit»[31] eine unschätzbare Quelle für die Geschichte der deutschen Frauenbewegung.
3. «Was wir nicht wollen..., ist die politische Emanzipation
und Gleichberechtigung der Frauen» (W. Adolph Lette)
Die Gründung des Lette-Vereins
Wie unabhängig und bewußt feministisch die Gründung des «Allgemeinen Deutschen Frauenvereins» in seiner Zeit war, wird deutlich, wenn wir seine Prinzipien und seine Organisationsweise mit der anderen Vereinsinitiative vergleichen, die sich der Lösung der Frauenfrage als sozialer Frage verschrieb, mit dem «Verein zur Förderung der Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts». Er wurde 1866 von dem Präsidenten des «Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen», Dr. W. Adolph Lette, in Berlin ins Leben gerufen. Der nationalliberale Lette, einst Abgeordneter der Frankfurter Paulskirche und später des preußischen Abgeordnetenhauses, Vorsitzender vieler gemeinnütziger Gesellschaften, hatte diese Gründung wohl vorbereitet und groß angelegt. In einer berühmt gewordenen «Denkschrift über die Eröffnung neuer und die Verbesserung der bisherigen Erwerbsquellen für das weibliche Geschlecht» aus dem Jahre 1865 hatte Lette einer zeitgemäßen Sorge des Bürgertums Ausdruck verliehen, und zwar dem Problem der unverheirateten, nicht durch die Ehe versorgten Frauen des Mittelstandes. Angeregt durch Erfahrungen im westlichen Ausland und gestützt auf Erwerbsstatisliken, ein gerade in bürgerlichen Beamtenpositionen höheres Heiratsalter und den angeblichen Rückgang der Eheschließungen in Deutschland / Preußen, war er zu dem Schluß gekommen:
«Das Bedürfnis (nach Sicherung ihrer Existenz) dränge die unverheirateten Frauen der mittleren und höheren Klassen dazu, auch ihrerseits im Bereich gewerblicher und technischer bürgerlicher Beschäftigungen eine Stellung einzunehmen; daraus folge mit Notwendigkeit, daß sie sich auch eine der männlichen Befähigung für solche Beschäftigungen nicht nachstehende Ausbildung aneignen müssen.»[32]
Die Anerkennung der Frauenfrage als «Brotfrage» speziell in den bürgerlichen Kreisen - und wer kannte sie nicht, die «altgewordenen Tanten, (die) nur noch wie jeder andere alte Hausrath geduldet werden»?[33] — war durch andere Autorinnen vorbereitet worden. Louise Büchner (1821 - 1877) z. B., zugleich Gründerin eines entsprechenden Frauenerwerbsvereins in Hessen, des «Alice-Vereins», wie auch Fanny Lewald-Stahr (1811-1889) hatten in ihren vielgelesenen
Büchern für und wider die berufliche Emanzipation auch der bürgerlichen Frauen argumentiert.[34] Die Einsicht, daß standesgemäße Berufswege zu eröffnen seien, gab die Richtung der von Lette vorgeschlagenen, heute noch typischen Berufe für Frauen an. Dazu gehörten in der Medizin «jedenfalls (die) Assistenzärzte bei Frauenkrankheiten», im übrigen aber vorwiegend technische und kaufmännische Dienstleistungen wie «Buchhalterei, Kassenführung, Warenverkauf... Postdienst» oder später Photographie.[35]
Den «Besorgnissen der Männerwelt» vor der Konkurrenz der Frauen trat Lette mit Entschiedenheit entgegen, zumal er der weiblichen Erwerbstätigkeit «eine naturgemäße Grenze in der Verschiedenheit der Befähigungen»[36] zog. Keinesfalls aber durfte die zugestandene Frauenerwerbstätigkeit nach Ansicht der Berliner Initiatoren in Konkurrenz zur eigentlichen Bestimmung der Frau, ihren familiären Pflichten, treten. Deshalb hatte Lette seine Denkschrift mit der unmißverständlichen Bemerkung eingeleitet:
«Was wir nicht wollen und niemals, auch nicht in noch so fernen Jahrhunderten wünschen und bezwecken, ist die politische Emanzipation und Gleichberechtigung der Frauen. Wenn sogar der berühmte englische Nationalökonom John Stuart Mill[37] das aktive und passive Wahlrecht, die Vertretung und Teilnahme an politischen Versammlungen zu vindizieren
geneigt ist, so befindet er sich dabei im Widerspruch, wie mit den tausendjährigen Einrichtungen aller Staaten und Völker, so auch mit der Natur und Bestimmung des Weibes und mit den ewigen Gesetzen der göttlichen Weltordnung. Der alte Satz der christlichen Kirche <mulier teiceat in ecclesia> (die Frau schweige in der Gemeinde) gilt für alle Zeit, nicht bloß für die kirchliche, sondern auch für die politische Gemeinde.»[38]
Als Lette nach der Veröffentlichung dieser Denkschrift im Februar 1866 in der Tagespresse seinen Aufruf zur Bildung eines «Vereins zur Förderung weiblicher Berufstätigkeit» verbreitete, wies dieser bereits eine stattliche Liste von prominenten Befürwortern auf. In der konstituierenden Versammlung im Februar 1866 trugen sich bereits 300 Mitglieder ein, allesamt Honoratioren des gehobenen liberalen Bürgertums, die nicht nur die soziale, sondern auch die materielle Basis künftiger Vereinsaktivitäten bildeten. Nicht zuletzt die Gunst Ihrer Königlichen Hoheit, das Protektorat der Kronprinzessin Viktoria, war werbewirksam und zahlte sich immer wieder in baren Talern aus.
Die Arbeitsweise und Organisationsstruktur des Lette-Vereins, wie er seit dem Tod des Gründers 1868 verkürzt genannt wurde,
unterschied sich in zweierlei Hinsicht grundlegend vom «Allgemeinen Deutschen Frauenverein»:
- Der Letle-Verein war ein von Männern initiierter und verwalteter Verein zum Wohle der Frauen, wobei die Männer bestimmten, worin das Wohl der Frauen bestand. Die Leitung des Vereins oblag einem gewählten Ausschuß aus zwanzig Männern, die gemäß den Statuten befugt waren, Frauen vorzuschlagen. Zunächst durften lediglich fünf im Ausschuß mitarbeiten, eine von ihnen, Jenny Hirsch, wurde zugleich als einzige Frau und Schriftführerin in den fünfköpfigen Vorstand gewählt, das bedeutete, sie machte die ganze Arbeit.
Jenny Hirsch (1829- 1902)
hatte es schwer gehabt. Von Haus aus Autodidaktin, wurde ihr, «nachdem sie ihre Lehrfähigkeit durch Probelektionen erwiesen (hatte), die Erlaubnis zum Schulehalten erteilt, obgleich sie Jüdin war».[39] Sie schrieb unter dem Pseudonym Fritz Arnefeldt Romane und hatte auch vorübergehend in L. Ottos «Neuen Bahnen» unter dem Namen J. N. Heynrichs mitgearbeitet. Sie übersetzte J. St. Mills «Die Hörigkeit der Frau» und gab von 1870 bis 1882 die Vereinszeitschrift «Frauen-Anwalt» heraus.
Noch 1869, als in der Nachfolge des Präsidenten Lette der Wirtschaftsprofessor F. v. Holtzendorff sich anschickte, die inzwischen
allerorten entstandenen) Frauenerwerbs- und Frauenbildungsvereine zu einem großen Verband zusammenzuschließen, wehrte L.
Otto stellvertretend für ihre Richtung die Zusammenarbeit ab mit dem Hinweis:
«... ein grundsätzlich nur von Frauen geleiteter Verein (kann) sich nicht einem zum größten Theil aus Männern bestehenden Vorstand unterwerfen...»[40]
Der 1869 auf der Berliner Konferenz gebildete «Verband deutscher Frauenbildungs- und Erwerbsvereine» vereinigte unter der Führung des Berliner Lette-Vereins also nur die sog. Frauenerwerbsvereine, während der «ADF nebst den von ihm gegründeten Vereinen nicht beitrat».[41] Trotzdem kam es wiederholt zu Kooperationen, z. B. einigten sich beide Richtungen 1872 auf eine Reichstagspetition, mit der die Anstellung von weiblichen Beamten im Post- und Telegraphenwesen gefordert wurde.[42] Erst nach 1876, als der Lette-Verein nach einigen Jahren zunehmend von Krauen geführt wurde — 1872 war
die Tochter des Gründers, Anna Schepeler-Lette, Vorsitzende geworden — und auch im ADF die Pragmatikerinnen das Sagen hatten, vereinbarte man, die Verbandstage abwechselnd auszurichten und den jeweiligen Delegierten Stimmrecht zu gewähren.[43]
- Der Lette-Verein kümmerte sich ausdrücklich nur um die Verbesserung der Erwerbsmöglichkeiten von Frauen der gehobenen Stände: «Die in den Fabriken und im Landbau beschäftigten Handarbeiterinnen, Dienstboten, Wäscherinnen und dergleichen...» waren — so § 1 der Statuten — vom Vereinszweck ausgenommen. Anders im «Allgemeinen Deutschen Frauenverein», der sich zwar auch vorwiegend aus Frauen des Bürgertums rekrutierte, sich jedoch grundsätzlich und ausdrücklich der Arbeiterinnenfrage geöffnet und wiederholt den Versuch zur Organisation auch ihrer Interessen unternommen hat. Ein Beispiel war die Einladung Louise Ottos 1869 nach Berlin von dem «Louisenstädtischen Handwerkerverein», die zur Gründung eines Arbeiterinnenvereins führte.[44]
Selbst als der oben erwähnte § I wegen allzu häufiger Kritik 1871 aus der Satzung des Lette-Vereins gestrichen wurde, änderte dies nichts an der Praxis, daß alle sozialen, fürsorglichen und qualifizierenden Einrichtungen des Lette-Vereins, auch die oftmals vergebenen Stipendien, ausschließlich Frauen der höheren sozialen Schichten zugute kamen — selbst die in den 1880er Jahren eingeführte Dienstbotenausbildung. Zu den Einrichtungen gehörten insbesondere die Handeis- und Gewerbeschule sowie ein Arbeitsnachweisbüro, der «Nähmaschinenfonds», eine Darlehenskasse für die Gründung eines selbständigen Geschäfts und schließlich das Victoriastift, eine Pension zum «Schutz selbständig beschäftigter Frauen».
Dem Lette-Verein gebührt das Verdienst, gerade durch die Qualifizierung von Frauen für die kaufmännischen und gewerblichen Berufe, durch Industrie-Ausstellungen in Form sog. Bazare und damit durch die Werbung für weibliche Arbeitsprodukte wichtige Pionierdienste geleistet, ja ganz neue Berufswege für Frauen erschlossen zu haben.
Die Frauenfrage als soziale Frage
Offensichtlich stand die Frauenfrage als soziale Frage nur im Aufbruch der Arbeiter- und der Frauenbewegung um die Mitte der
1860er Jahre gleichrangig neben der Klassenfrage auf der politischen Tagesordnung.
«Frauenfrage! — Frauenverein!! - Frauenemancipation!!! — Üeberall, wohin man hört, bei jeder geselligen Zusammenkunft, fast in jeder öffentlichen Versammlung tönen Einem jetzt diese Worte entgegen, werden diese Themata jetzt regelmäßig und mit wahrer Leidenschaft discutirt…
Genug, die <Emancipation> ist eine ebensolch lächerliche und unausführbare Theorie, wie alle anderen Theorien der Cummunisten und Socialisten. Indeß hat die <Emancipation> außer dieser lächerlichen auch ihre sehr ernste und gefährliche Seite, welche wir nicht verschweigen dürfen, zumal sie die Frauen am nächsten betrifft. Die letzte Consequenz ist nämlich nichts Geringeres als die Aufhebung der Ehe, die Zerstörung der Familie.»[45]
So war in einer Artikelfolge der illustrierten Zeitschrift «Der Bazar» im Jahr 1870 zu lesen. Alle männlichen Befürchtungen und patriarchale Abwehr sind hier auf den Begriff gebracht. Denn die «verrufene» Emanzipation der Frauen, wie W. H. Biehl sie schon 1855 in seinem Bestseller «Hausbuch für die deutsche Familie» gescholten hatte, die wirkliche Gleichberechtigung mit den Männern, berührte nicht nur männliche Privilegien, sondern gefährdete, ja «zerstörte» nach Meinung bürgerlicher Sozialpolitiker das Familienleben. Die Familie galt und gilt nicht von ungefähr als Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft. Denn ihre «Ordnung», insbesondere die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen, ist die selbstverständliche und immer wieder verteidigte Grundlage und Voraussetzung kapitalistischer Wirtschaft und patriarchaler Macht. Dies hatten auch fortschrittliche Zeitgenossen um 1870 ganz offensichtlich erkannt, Gefahr drohte ihnen nicht nur «von unten», von der ihren neuen Besitz und ihre Ordnung bedrohenden Arbeiterklasse, sondern auch von innen, aus dem von Politik und Recht abgetrennten Raum privater Beziehungen.[46]
Die Verkürzung der Frauenfrage auf ihre ökonomische Seite, auf eine «Brotfrage» nur der unverheirateten und unversorgten Frauen
des Bürgertums, war somit ein Ablenkungsmanöver. Der beharrliche Hinweis, daß hiermit die «sogenannte Frauenemancipation»
ausgeschlossen, ja verhindert werden sollte, war die Art und Weise, wie die bürgerlichen Familienväter ihre sozialen Probleme mit den Frauen, den Widerspruch zwischen angeblicher bürgerlicher Gleichheit und der Ungleichheit der Frauen, zu lösen versuchten.
Für Louise Otto und ihre Gesinnungsgenossinnen war die Berufsfrage, «das Recht der Frauen auf Erwerb» dagegen nur Teil, alIerdings wesentlicher Bestandteil weiterreichender Forderungen nach Emanzipation.
«Selbständig kann auch dem Sprachgebrauch nach nur sein, wer selbst zu stehen vermag, d.h. wer sich selbst auf seinen eigenen Füßen und ohne fremde Hilfe erhalten kann. Den Frauen zu dieser Art der geforderten Selbständigkeit zu verhelfen ist der wichtigste Schritt... Freilich werden sich durch den Grundsatz, der jede Frau für selbständig erklärt... auch die bürgerlichen Gesetze modeln müssen.»[47]
Berufliche Selbständigkeit war also ein wesentlicher Schritt, der sogar helfen sollte, die «brutale Willkür» bürgerlicher Gesetze zu beseitigen, doch eben nur ein Schritt. Deshalb betonten die ADF-Frauen gegenüber den sog. Realpolitikern im Lette- Verein immer wieder die «ideale Seite» der Frauenfrage. Diese Betonung des Ideellen, der besonderen «Kulturaufgabe der Frau»,[48] wie sie wenig später formuliert wurde, ist weniger als weltfremder, abgehobener Idealismus mißzuverstehen, sondern meinte in dieser Zeit eher die weitergehenden Ziele der Emanzipation und darüber hinaus die Forderung nach gleichen Menschenrechten und nach Selbstverwirklichung. Nichts anderes bedeutete die Anknüpfung an die «Bestrebungen (von 1848) im Dienste der Humanität und des Socialismus» - Sozialismus hier wohlverstanden im Sinne sozialer Demokratie, die auf dem Weg der Reform, aber auch nur durch Beantwortung der anderen sozialen Frage, der Frauenfrage, zu verwirklichen wäre.
4. «Das Vaterland erwartet, daß alle Frauen bereit sind,
ihre Pflicht zu thun!» (Kaiserin Augusta)
Die «Vaterländischen Frauenvereine»
Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 ist für die deutsche Geschichte, im ganzen gesehen, ein wichtiges Ereignis. Mit dem
Sieg über Frankreich war Preußen-Deutschlands Wende zum Nationalstaat, zur politischen, militärischen und wirtschaftlichen
Großmacht vollzogen, mit der Proklamation des preußischen Königs zum Deutschen Kaiser im Spiegelsaal von Versailles schließlich die kleindeutsche Einigung erreicht, doch um welchen Preis? Die Siege Preußens, 1866 zunächst zusammen mit Österreich über Dänemark, dann über Österreich, 1871 über Frankreich, schufen die Grundlage deutschen Nationalstolzes, eines unverhohlenen männlichen Chauvinismus und einer imperialistischen Politik. Die Verfassung des Reiches als konstitutionelle Monarchie kombinierte die Privilegien aller Obrigkeiten mit einem demokratischen Männerwahlrecht und bewahrte doch, da der Reichstag nur Mitwirkungsrechte bei der Gesetzgebung hatte, unter der «Kanzlerdiktatur» Bismarks das alle Machtgefüge von Krone, Heer, Landjunkern und Bürokratie.[49]
Welche Bedeutung aber hatte dieses politische Datum für die Frauen?
Die Geschichte der Frauen ist zumindest in den vergangenen 200 Jahren eng mit der Geschichte der Kriege verknüpft. Das ist nicht weiter verwunderlich,weil in Kriegs-und anderen Notzeiten Frauen besonders gebraucht und deshalb ausdrücklich umworben werden: als Lückenbüßer für die in den Krieg ziehenden Männer, als Reservearmee im wahrsten Sinne des Wortes, für die seelische «Aufrüstung» und praktische Mobilmachung aller Kräfte — und nicht nur «zum Charpiezupfen, Verwundete Pflegen, Kleidernähen und Kochen für das Heer».[50]
Trotzdem war gerade der 1870er Krieg keineswegs Schrittmacher der Frauenemanzipation, ganz im Gegenteil, und dies, obwohl er
Frauen zum erstenmal so massenhaft mobilisierte und Frauen ihren Patriotismus wohlorganisiert und tatkräftig unter Beweis stellen konnten.
Den Rahmen für dieses Engagement bildeten die «Vaterländischen Frauenvereine», die nichts mit den Vereinen der Frauenbewegung zu tun hatten, dennoch allein zahlenmäßig ein nicht unwesentlicher Teil eines problematischen Kapitels der Frauengeschichte sind: So werden für die «Vaterländischen Frauenvereine» in Deutschland schon 1873 mehr als 30 000 Mitglieder angegeben, als die Gesamtzahl der im ADF und damit in der Frauenbewegung engagierten Frauen zur gleichen Zeit «nicht mehr als einige Tausend betragen haben kann»[51]
Das Zahlenverhällnis blieb: In den achtziger Jahren zählte man bei den «Vaterländischen» 150 000 beitragzahlende Frauen, während die «emsige Insektenarbeit der Lokalvereine» (des ADF) allenfalls 12 000 Frauen im ganzen Deutschen Reich auf die Beine brachte.[52] Selbst in der Blütezeit der alten Frauenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg waren die «Vaterländischen Frauenvereine» mit einer halben Million Mitglieder[53] immer noch die bei weitem größte
Frauenorganisation gegenüber dem «Bund Deutscher Frauenvereine», dessen offizielle Mitgliederzahl für 1912 mit 328 000 angegeben wird.[54]
Der erste «Vaterländische Frauenverein» wurde 1866 von der preußischen Königin, der späteren Kaiserin Augusta, im Zusammenhang mit dem deutsch-dänischen Krieg gegründet, als sich das Personal freiwilliger und ungelernter Helferinnen in der Verwundetenpflege als völlig unzureichend und überfordert erwies. Vorläufer waren bekanntlich die Frauenvereine, die die preußische Königin Luise in den Befreiungskriegen aus gleichem Anlaß ins Leben gerufen hatte. Die englische Krankenpflegerin Florence Nightingale hatte im Krimkrieg (1854—1856) vorbildlich gewirkt und Vorarbeit für die Gründung des Internationalen Roten Kreuzes geleistet.
Die preußische Königin erledigte - wie in ihrer Nachfolge andere Landesfürstinnen auch, z.B. die Großherzogin von Hessen und
Nassau mit dem nach ihr benannten «Alice-Verein» — die allzu frauentypische Aufgabe mit großem Aufwand und Organisationstalent. Schon im Laufe des ersten Jahres bildeten sich weitere 44 Zweigvereine, und bis 1869, bis zu ihrem Zusammenschluß zum «Vaterländischen Central-Frauenverein» unter dem roten Kreuz, war ihre Zahl auf 291 gestiegen.[55] So war diese «Armee der Kaiserin» tatsächlich im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 auf die «den
Frauen im Krieg zufallenden Aufgaben» schon viel besser vorbereitet. Doch nachdem einmal so viele Kräfte für Gott, Kaiser und Vaterland mobilisiert waren und sich auch im Krieg so gut bewährt hatten, ging es darum, Aufgaben wie Organisationsform auch für Friedenszeiten neu zu definieren:
«Die deutsche Frauenvereine verfolgen den gemeinschaftlichen Zweck:
- in Friedenszeiten innerhalb des Verbandes ausserordentliche Notstände zu lindern, sowie für die Förderung und Hebung der Krankenpflege Sorge zu tragen.
- in Kriegszeiten an der Fürsorge für die im Feld Verwundeten und Kranken Teil zu nehmen und die hierzu dienenden Einrichtungen zu unterstützen.»[56]
Als Abzeichen führte der Verband von nun an das rote Kreuz im weißen Feld. Der Führungsstil war autoritär, standesbewußt und militärisch. Der Vorstand wurde zur Hälfte von der Kaiserin ernannt und bestand vorwiegend aus Männern, Generälen, Geheimen Regierungsräten usf.; die weiblichen Vorstandsmitglieder kamen aus dem Adel. Die Vorsitzende des preußischen Vereins war von 1867 bis 1916 die Gräfin Charlotte von Itzenplitz. Für den Kriegsfall aber, so sahen die Statuten vor, sollte die Führung fest in den Händen der Generalität hegen.
Aber auch in Friedenszeiten redeten und organisierten in den meisten Generalversammlungen in der Regel nur die Männer.
«Ihre Majestät> sprach zumeist nur <huldvolle> Ermahnungs- und Entlassungsworte.»[57]
Aus alledem ergibt sich, wie wenig dieses «Frauenhilfscorps für den Fall eines Krieges»[58] mit den Organisationen der Frauenbewegung, auch mit den Frauenerwerbsvereinen vergleichbar war.
National oder pazifistisch?
Eine Frau, die die Geschichte der Frauenbewegung bis ins 20. Jahrhundert begleiten, ja entscheidend gestalten wird und erstmals im Zusammenhang mit den preußischen Kriegen zwischen 1866 und 1871 Frauengeschichte macht, war Lina Morgenstern, die «Mutter der Volksküchen» oder auch einfach «Suppenlina» genannt.[59] 1866 hatte sie die erste «Volksküche» gegründet, eine Speiseanstalt, in der der armen Bevölkerung Berlins eine warme Mahlzeit angeboten wurde, wohlgemerkt nicht als Almosen, sondern zum Selbstkostenpreis. Den Anlaß bot die Verknappung und Verteuerung der Lebensmittel im deutsch-österreichischen Krieg. Gestützt auf den von ihr gegründeten «Verein der Berliner Volksküchen» und ebenfalls getragen von dem Wohlwollen und unter dem Protektorat der Kaiserin Augusta, kam ihre große Zeit 1870, als sie auf den Bahnhöfen Berlins zugleich die Verpflegung und Versorgung der ausrückenden und durchziehenden Truppen übernahm. Sie eckte an, weil sie selbstverständlich auch die französischen Kriegsgefangenen versorgte. Doch auch der «Vaterländische Frauenverein» unter der
Leitung der Gräfin von ltzenplitz und zahlreiche private Spender unterstützten ihr Unternehmen, das innerhalb nur weniger Monate
mehr als 300 000mal Soldaten bewirtet und mit Proviant versorgt hatte.[60]
Lina Morgenstern (1831 — 1909)
...repräsentiert mit ihren vielfältigen Initiativen die ganze Spannbreite, aber auch Ambivalenz weiblichen Engagements und fraulicher Politik.
Sie war eine schillernde und widersprüchliche Frau: bürgerliche Radikale — die allerdings bei der Organisation der Arbeiterinneninteressen die soziale Frage lediglich als «Brot- und Magenfrage» unterschätzte, sich jedoch 1896 z. B. beim Berliner Frauenkongreß auf der Seite der Radikalen sich für das Stimmrecht und in der Sittlichkeitsfrage engagierte —, Pazifistin und zugleich Monarchistin, weil eine glühende Verehrerin der Kaiserin Augusta; eine Praktikerin der sozialen Arbeit par excellence und zugleich eine beachtliche Literatin und Journalistin, auch als verantwortliche Herausgeberin der «Deutschen Hausfrauen-Zeitung», Vereinsorgan des von ihr gegründeten «Berliner Hausfrauenvereins», schließlich eine engagierte Pazifistin, die in den 1890er Jahren für die «Ligue internationale pour le Desarmement general» und für die «Deutsche Friedensgesellschaft» warb.
Festzuhalten bleibt, daß der Krieg von 1870/71, der vorgeblich Deutschlands Größe vollendete, die Frauenbewegung zurückgeworfen hat. Die Tatsache, daß sich das neue Deutsche Reich auf militärische Gewalt, alte feudale Eliten und eine zunehmend repressive Klassenherrschaft stützte, mußte auch die Politik der bürgerlichen Frauenbewegung beeinflussen, ihr emanzipatorisch-feministisches Engagement lähmen. Im ADF führte dies nach 1871 zu einer Wachablösung: Zunehmend kamen andere und anderes zu Wort, war Anpassung spürbar. Schon während des Krieges und später in der Beurteilung des Sieges waren die Differenzen deutlich geworden. Die Trennlinien verliefen dabei nicht mehr eindeutig zwischen den Anhängerinnen des ADF und den Mitgliedern des Lette-Vereins, auch wenn die beiden Publikationsorgane die unterschiedlichen Orientierungen — mehr national oder mehr pazifistisch — noch am deutlichsten markieren.[61]
Da veröffentlichte z.B. der «Frauen-Anwalt», das Organ des Lette-Vereins, breit und mit ausführlicher Diskussion die Ablehnung einer Friedensbotschaft, die die Schweizerin Marie Goegg im Namen der «Internationalen Friedens- und Freiheitsliga» an die deutschen und die französischen Frauen gerichtet hatte.
«Adresse der Frauen aller Nationen an die beiden kriegführenden Völker und Regierungen:
In dem Augenblicke, wo zwei Völker, die bestimmt sind, einander zu lieben und zu achten, von einer blinden Wuth getrieben, die Wohlthaten eines 55jährigen Friedens vernichten... protestieren wir Frauen, aller Länder, aller Stände, jedes Alters gegen den Krieg, der nur das Resultat der Entfernung ist, in welcher man die Frauen von Allem gehalten, was den Staat angeht, der nur hervorgegangen ist aus der Rivalität zweier Dynastien. In dem Augenblicke, wo in Europa so viele Frauen weinen, als es Männer unter den Fahnen giebt, verlangen wir, daß die Stimmen unserer Mütter, Gattinnen, Töchter, Schwestern, Bräute gehört werden, und daß die durch ihre Lippen sich kundgebenden Gesetze der Menschlichkeit und Gerechtigkeit endlich das Gehör finden, das man ihnen bis jetzt verweigert hat.»[62]
Diese «Friedensliga», ein Zusammenschluß einer Gruppe internationaler Republikaner und Demokraten mit dem Zentrum in
Genf, halte 1868 auf Initiative von Marie Goegg eine besondere Frauengruppe gegründet, der ADF-Frauen wie Louise Otto und
Rosalie Schönwasser angehörten. Trotzdem war es möglich, daß auch in den «Neuen Bahnen» die Zurückweisung des Friedensappells durch Henriette Goldschmidt erscheinen konnte, weil sich auch im ADF zunehmend die national Gesinnten durchsetzten.
«Wir Frauen sind stolz auf unser Volk; wir hassen den Krieg, aber wir würden der Verachtung werth sein, wenn wir es versucht hätten, unsere Männer, die in dieser Weise, herausgefordert wurden, von ihm zurückzuhalten.»[63]
Während H. Goldschmidt immerhin noch von den Zeiten träumt, in denen «Schwerter sich in Pflugscharen verwandeln», in denen «Gattinnen, die Mütter den ihnen gebührenden Einfluß haben», um das «Sichzerfleischen der Menschen» zu beenden, ist die Antwort Jenny Hirschs als der maßgeblichen Vertreterin des Lette-Vereins im Ton unverhohlener:
«Das deutsche Volk kämpft für Haus und Hof für die deutsche Sprache und deutsches Wesen, es kämpft für die Zivilisation gegen die Barbarei und mit seinem vollständigen Sieg wird weil mehr für den Frieden Europas geschehen sein als mit allen Adressen für den Frieden, mit allen Protesten gegen den Krieg. Eine deutsche Frau, die diese Adresse unterschreiben könnte, würde sich des Namen einer Deutschen unwerth machen.»[64]
Zur gleichen Zeit veröffentlichte Louise Otto in den «Neuen Bahnen» mehrere nachdenkenswerte Leitartikel, die alle Argumente
gegen den Krieg zusammenfassen. Da heißt es unter der Überschrift «Krieg»:
«Uns Frauen lautet dieses Wort am schrecklichsten, obwohl es uns ja scheinbar mindestens - am wenigsten berührt. Wir haben ja keine aktive Rolle dabei. Uns sendet man ja nicht den todbringenden Feuerschlünden entgegen, uns drückt man auch nicht das Mordgewehr in die Hand, uns zwingt man nicht zum Handeln gegen Gottes Gebot, noch gegen die Stimme unseres Gewissens und der Menschlichkeit, die ja alle drei einstimmig fordern: Du sollst nicht töten! Uns bürdet man keine Blutschuld auf.
Oft, wenn unsere neuern Frauenbestrebungen <Gleiche Rechte für Alle> also auch für uns Frauen im Staate fordern, hielt man uns entgegen: dies sei schon darum nicht möglich, weil die Frauen keine Kriegsdienste leisten könnten, leisten möchten und meinte uns damit zu schlagen. Wir aber erwidern: ein Culturzustand, in welchem noch Kriegsdienste nöthig und Kriege möglich sind, ist überhaupt ein noch so barbarischer, vom Ziel der Humanität entfernter, daß man mit edlen Mitteln darauf hinarbeiten muß durch Belehrung, Bildung und Sitte die herrschende Rohheit zu beseitigen und dies würde längst geschehen sein, wenn man nicht die Frauen mit ihrem zarteren Empfinden, mit ihrer Liebe und Milde zurückgehalten und zurückgedrängt hätte auf den allerbeschränktesten Wirkungskreis...»[65]
Die auffällige Zurückhaltung der deutschen bürgerlichen Frauenbewegung in den 1890er Jahren, als überall in der Welt Friedensgesellschaften entstanden, hat Marie Stritt, eine der wenigen, die sich als Vorsitzende des «Bundes Deutscher Frauenvereine» für die Friedensbewegung engagierte, noch mit den Nachwirkungen des Deutsch-Französischen Krieges erklärt:
«Vielleicht liegt das daran, dass seit dem Krieg 1870-71 im deutschen Volksempfinden - also auch dem Empfinden der Frauen - alle Vorstellungen von nationaler Größe und Wohlfahrt an den Militarismus geknüpft sind, und dass man demzufolge den Gedanken des Internationalismus, auf dem alle Friedensbestrebungen basieren, selbst in aufgeklärten Kreisen als Utopie betrachtet, trotzdem ihn Dampf und Elektrizität schon längst verwirklicht und damit zugleich die Solidarität der Völker erwiesen haben.»[66]
Lesetips
Herrad-Ulrike Bussemer: Frauenemanzipation und Bildungsbürgertum, Sozialgeschichte der Frauenbewegung in der Reichsgründungszeit,
Weinheim 1985
Margrit Twellmann: Die deutsche Frauenbewegung. Ihre Anfänge und erste Entwicklung. 1843-1889, 2 Bände, Meisenheim 1972. Die Frauenfrage in Deutschland 1865—1915. Texte und Dokumente, hg. v. E. Frederiksen, Stuttgart 1981
Sieglinde Peters: Mütterlichkeit im Kaiserreich. Die deutsche Frauenbewegung und der soziale Beruf der Frau, Bielefeld 1984
Louise Otto-Peters: Frauenleben im deutschen Reich. Erinnerungen aus der Vergangenheit mit Hinweis auf Gegenwart und Zukunft. Leipzig 1876. Neudruck Paderborn 1988