1. «Die Obrigkeit ist männlich» (Heinrich von Trecke)
Die Zeit von der Gründung des Deutschen Kaiserreichs bis zur Entlassung des Reichskanzlers Bismarck im Jahr 1890, die Bismarck-Ära, ist die in der deutschen Geschichte meist beschriebene Epoche.[1] Sie gilt als die Zeit des endgültigen wirtschaftlichen und sozialen Umbruchs Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat unter Ausbildung der industriellen Klassengesellschaft und ist gekennzeichnet von schweren politischen Konflikten und inneren Widersprüchen. Stichworte dieser Geschichte sind:
- Die Gründerjahre bis 1873, eine Periode stürmischen Aufschwungs, endeten mit dem Zusammenbruch vieler neugegründeter Firmen und Banken, dem sog. Gründerkrach, gefolgt von einer langanhaltenden, alle Industrieländer betreffenden wirtschaftlichen Depression,
- der Kulturkampf zwischen preußischem Staat und katholischer Kirche, bei dem es um die Trennung von Staat und Kirche z. B. bezüglich staatlicher Schulaufsicht und der nun obligatorischen Zivilehe ging,
- schließlich, 1878 durchgesetzt und bis 1890 viermal verlängert, die «Sozialistengesetze» gegen die angeblich «gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie».
Auch die Begleitumstände dieses beschleunigten Industrialisierungsprozesses, die Schattenseilen des technischen Fortschritts, traten nun zum erstenmal in aller Deutlichkeit ins allgemeine Bewußtsein:
- Bevölkerungszuwachs, Landflucht und der Ausbau des Verkehrswesens, insbesondere der Eisenbahn — damals ein Gradmesser der wirtschaftlichen Entwicklung— und damit die Ausweitung des industriellen Arbeitsmarktes bedeuteten: Immer mehr Menschen lebten in der Stadt, oft auf engstem Raum, arbeiteten in abhängiger Beschäftigung.
- Zwischen 1848 und 1875 nahm allein die Zahl der in Industrie und Handwerk Beschäftigten von einer Million auf 5,4 Millionen zu bei insgesamt 18,6 Millionen abhängig Beschäftigten. Von 1875 bis 1907 stieg die Zahl der in Handwerk, Industrie und Bergbau Beschäftigten noch einmal um das Doppelte auf 10,8 Millionen bei insgesamt 28 Millionen Erwerbstätigen.
- Die Bevölkerung des Ruhrgebietes z. B. wuchs zwischen 1860 und 1870 um das Vierfache.
- Die tägliche Arbeitszeit betrug um 1870 durchschnittlich elf bis zwölf Stunden (in der Textilindustrie sogar dreizehn Stunden oder 72 Stunden in der Woche, d. h. einschließlich sonnabends.[2]
Schier unendliche Arbeitstage, die skrupellose Ausnutzung menschlicher Arbeitskraft, Kinderarbeit trotz ihres gesetzlichen Verbots, das Sinken der Reallöhne auf dem «freien» Markt, dies alles veränderte den Alltag und das Selbstverständnis der Menschen von Grund auf, im Haus und in der Fabrik. Die sozialen Gegensätze verschärften sich: bürgerliche Saturiertheit, die Anhäufung von Kapital und Privilegien auf der einen, Wohnungsnot und Massenelend auf der anderen Seite. Und man wußte voneinander, denn im Gleichschritt mit den Neuerungen hatten immer mehr Menschen, auch dank einer besseren Schulbildung, an den Informationen teil, weiteten sich das Nachrichtenwesen und die Massenmedien aus.
In allen diesen Aufstellungen sind auch die Frauen erfaßt, und doch spielen sie in den Geschichtsbüchern über diese beiden Jahrzehnte eine noch geringere Rolle als zu anderer Zeit, allenfalls am Rande als Untersuchungsgegenstand von Sozialenqueten oder unter dem Gesichtspunkt der Familie. In diesem Zeitalter «kernechter deutscher Männlichkeit»,[3] das sich seines «Herr-im-Hause-Standpunkles» rühmte und von einem autoritären Herrschaftssystem gestützt wurde, hatten Frauen — so scheint es — erst recht nichts zu sagen. «Obrigkeit», dozierte der Nationalhistoriker H. v. Treitschke in seinen vielbesuchten Vorlesungen vor dem männlichen akademischen Nachwuchs: «Obrigkeit ist männlich, das ist ein Satz, der sich eigentlich von selbst versteht.»[4]
Gleichzeitig erlebten die Haushalts-, Koch- und Jungfrauenbücher der Henriette Davidis[5] seit den 1860er Jahren Massenauflagen. Ihre «dem häuslichen Wohlstand und Familienglück» dienenden Anweisungen, die Ansprüche bürgerlicher Häuslichkeit und die Bedürfnisse der modernen Menschen waren differenzierter geworden, setzten besondere Qualifikationen oder zumindest Dienstboten voraus.
In der Geschichte der Frauenbewegung scheint eine Pause eingetreten zu sein, selbst die Chroniken aus der Frauenbewegung[6] verzeichnen Stagnation, ein vorsichtiges Sich-Bescheiden und Zurücktreten in den Pflichtenkreis des Hauses, das nun mit neuem wissenschaftlichem Aufwand als das «eigentliche Reich der Frau» gepriesen wird.[7]
«Es war die Glanzzeit der Bismarckschen Ära, der gewaltige Wille des Mannes war bestimmend, lähmend legte er sich auf die Frauenbestrebungen. Unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes aber wurden alle freiheitlichen und reformerischen Bestrebungen mit Mißtrauen angesehen...»[8]
Doch wenn wir genauer hinsehen, ist viel zu entdecken, nicht nur ein «stilles, viel zu unbekanntes Heldentum»[9] unter den Frauen der frühen Arbeiterinnenbewegung, sondern auch viel Unermüdliches im ADF und mutige Einzelkämpferinnen, wie z. B. Hedwig Dohm oder die Außenseiterin Gertrud Guillaume-Schack, die, alle Konventionen und Klassenschranken sprengend, für leider zu kurze Zeit in der deutschen Geschichte für Aufregung sorgte.
Geprägt waren die Frauenemanzipationsbemühungen dieser Zeit von dem Kampf an zwei Fronten: Als Arbeiterinnen, Angehörige einer unterdrückten Klasse, waren für sie die Hauptgegner, der Not gehorchend, «Herrschaften» und Unternehmer oder, anders ausgedrückt, das Kapital; als Angehörige ihres Geschlechts kämpften die Frauen gegen Bevormundung und die Privilegien der Männer, gegen ein in Staat und Familie restauriertes Patriarchat. Zwischen diesen Fronten trennten sich nun auch die Wege der Frauen — entsprechend der Loslösung der Arbeiterbewegung aus der liberal-demokratischen Bewegung — in eine bürgerliche und eine proletarische Frauenbewegung. Weibliche Solidarität bleibt seither eine doppelte Herausforderung.
2. «Erwachet, Deutschlands Frauen» (Hedwig Dom)
Das Patriarchat formierte sich neu, denn nach 1870 erschien eine ganze Flut antifeministischer und antiemanzipatorischer Abhandlungen, Reden und Aufsätze,[10] in denen die «Herren Professoren» ihre Bastionen und Privilegien als «Wissenschaft» verteidigten und damit offensichtlich mehr als einer Männergeneration «aus der Seele» sprachen. Aufgefordert fühlten sie sich wohl weniger durch die von der Frauenbewegung aufgeworfenen Fragen als vielmehr durch die von ihrem englischen Kollegen John Stuart Mill herausgegebene Schrift «Die Hörigkeit der Frauen», die er gemeinsam mit seiner Frau Harriet Taylor Mill erarbeitet hatte[11] und die seit 1869 in Deutschland große Verbreitung fand.
Hedwig Dohm -eine radikale Vordenkerin
Eine, die gegen die vereinigte Männermacht, gegen das Patriarchat in Wissenschaft und Politik anschrieb, war Hedwig Dohm. 1872 erschien ihre erste Schrift «Was die Pastoren von den Frauen denken. Zur Frauenfrage, von Philipp von Nathusius und Herrn Professor der Theologie Jacobi in Königsberg», in der sie mit «funkelnder Ironie und treffendem Spott» die «Dogmen» der Herren Theologieprofessoren im Hinblick auf die notwendige Unterordnung der Frauen zerpflückte.[14]
Hedwig Dohm (geb. 20.9. 1833 in Berlin - gest. 4-.6. 1919)
...war das dritte von insgesamt achtzehn Kindern von Henriette Jülich und dem jüdischen Tuchfabrikanten Gustav Schieb in Berlin. Hedwig erhielt die übliche unzureichende Mädchenerziehung, bis sie fünfzehn Jahre war. Danach war es ihre Aufgabe, im Haushalt zu helfen und auf den Ehemann zu warten. Sie beschrieb ihr Elternhaus als «eng, philiströs und schlafmützig... Die gute Stube mit den stets verhüllten Möbeln, die Kostbarkeiten hinter Glas, der Vater im Flauschrock, gestickten Pantoffeln und Pfeife, die Mutter, morgens in Nachtljacke, mit fliegenden Haubenbändern, nachmittags in seidenen Kleidern mit einer Fülle von Ringellöckchen ...»[12] eine Biedermeier-Idylle, unter der das wissensdurstige Mädchen sehr litt. Die Erlebnisse während der 1848er Revolution machten sie — wie sie später schrieb — zu einer «blutroten Revolutionärin»[13]Wenigstens gelang es ihr als Achtzehnjähriger, den Eltern die Erlaubnis zum Besuch eines Lehrerinnenseminars abzuringen. Ein Jahr später heiratete sie den Redakteur der satirischen Zeitschrift «Kladderadatsch», Ernst Dohm. In kurzen Abständen wurde sie fünfmal Mutter, sie hatte einen Sohn und vier Töchter, führte ein großes Haus, in dem die intellektuelle Elite Berlins verkehrte, und fing trotz Windeln und Hausarbeit an zu schreiben: zunächst eine spanische Literaturgeschichte, die 1867 erschien — ein nicht gerade üblicher Anfang für eine Schriftstellerin —, dann ab 1872 Feministisches, Streitschriften für die Emanzipation der Frau, deren Argumente heute noch (!) verfangen.
In kurzen Abständen folgten:
— 1873 «Der Jesuitismus im Hausstande. Ein Beitrag zur Frauenfrage». Hierin ging sie nicht nur mit den «schmählichen Lügen» der Männer ins Gericht, sondern auch mit den «guten Hausfrauen», die der Frauenemanzipation im Wege ständen. Als deren auffälligste Laster bezeichnete sie «die schlechte Behandlung der Dienstboten, ... ihren Hochmuth, ihren Tugendstolz und ihr Pharisäertum».
Zum erstenmal forderte H. Dohm in diesem Beitrag auch die Beteiligung der Frauen an der Gesetzgebung, also das Stimmrecht der Frauen, denn polemisch fragte sie:
«Wer macht die Gesetze? - Die Männer.
Auch die Gesetze, die das Verhältnis der Mutter zu ihrem. Kinde regeln? —
Auch die...
Dieselben Männer, die da vorgeben, den einzigen und erhabenen Beruf der Frau in ihrer Mutterschaft zu finden, erteilen in den Gesetzen, die sie machen, der Frau als Mutter ein Mißtrauensvotum sondergleichen und sonder Beispiel. — Verdorrt ihnen nicht die Zunge ob so schmählicher Lüge!... Für mich liegt der Anfang alles wahrhaften Fortschritts auf dem Gebiet der Frauenfrage im Stimmrecht der Frauen.»
— 1874 «Die Wissenschaftliche Emanzipation der Praxi», womit sie stichhaltig die Zulassung der Frauen zum Medizinstudium begründete, schließlich
— 1876 «Der Frauen Natur und Recht, zwei Abhandlungen über Eigenschaften und Stimmrecht der Frau», ein mitreißendes Plädoyer für die völlige private und staatsbürgerliche Gleichberechtigung der Frau.
«Erwachet, Deutschlands Frauen, wenn ihr ein Herz habt zu fühlen die Leiden Eurer Mitschwestern und Thränen sie zu beweinen, mögt Ihr selbst auch im Schooß des Glückes ruhen. Erwachet, wenn Ihr Grimm genug habt, Eure Erniedrigung zu fühlen, und Verstand genug, um die Quellen Eures Elends zu erkennen. Fordert das Stimmrecht, denn nur über das Stimmrecht geht der Weg zur Selbständigkeit und Ebenbürtigkeit, zur Freiheit und zum Glück der Frau.»[13]
Wie kühn und wie weit war H. Dohm mit dieser Forderung doch ihrer Zeit, auch den meisten ihrer Zeitgenossinnen voraus! Sie schrieb mit spitzer Feder und meisterlicher Polemik und fürchtete keine Autoritäten. Im persönlichen Umgang schüchtern und bescheiden, eine gütige Frau und geliebte Großmutler, war sie politisch eine unerschrockene Einzelkämpferin, die zunächst mit der Frauenbewegung nichts zu tun hatte. Trotzdem wurde sie zu ihrem Orientierungspunkt, zur Wegbereiterin der radikalen Feministinnen um die Jahrhundertwende.
1888 gehörte Hedwig Dohm dem Gründungskomitee des «Deutschen Frauenvereins Reform» an, der sich für eine gleichberechtigte Mädchenbildung einsetzte. Von 1889 bis 1901 war sie auch Beisitzerin im Vorstand des Vereins «Frauenwohl», der von M. Cauer geleitet wurde, sowie seit 1905 Mitarbeiterin in der von H. Stöcker herausgegebenen Zeitschrift «Mutterschutz» bzw. «Neue Generation». Das zeigt, sie engagierte sich sehr wohl in und für die Frauenbewegung, aber trat doch nie in der Öffentlichkeit auf. Neben einer Reihe von Novellen und Romanen, in denen sich die Probleme der «Übergangsfrau» — hin- und hergerissen von «Altererbtem und Neuerrungenem» — spiegeln,[18]sind als wichtigste feministische Schriften zu nennen:
- «Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung» 1902
- «Die Mütter. Beitrag zur Erziehungsfrage» 1903
- «Die Erziehung zum Stimmrecht der Frau» 1909
Als Hedwig Dohm am 4.6.1919 in Berlin starb, hatten die deutschen Frauen zum erstenmal das politische Wahlrecht erhalten — das Recht, für das sie ein Leben lang gekämpft hatte.
3.«... ein stilles, viel zu unbekanntes Heldentum» (Marie Juchaz)
Die frühe Arbeiterinnenbewegung
Früher noch und anhaltender als zur Zeit der Sozialistengesetze wurden die Versuche der Proletarierinnen, ihre Interessen zu organisieren, von den staatlichen Behörden behindert und vereitelt, wurden ihre Versammlungen von der Polizei aufgelöst und ihre Führerinnen strafrechtlich verfolgt. Denn Frauen unterlagen von 1850 bis 1908 den berüchtigten Vereinsgesetzen (vgl. Kap. 3, S. 73ff), die ihnen grundsätzlich jede politische Betätigung untersagten. Dabei wurde auch in dieser Frage Recht mit zweierlei Maß gemessen.
Zwar hatten auch die Gründerinnen des ADF 1865 zunächst Schwierigkeiten, die sächsischen Behörden von dem unpolitischen
Charakter ihres Vereins und insbesondere ihres überregionalen Zusammenschlusses zu überzeugen, war doch nicht nur L. Otto als Demokratin der 1848er Bewegung bekannt. Und in der Folgezeit wird die erzwungene politische Abstinenz ihr Teil zu dem immer wieder ängstlichen Bemühen des ADF und seiner Schwestervereine um parteipolitische Zurückhaltung beigetragen haben und erklärt die Betonung des Bildungsmoments in der Zielsetzung des ADF. Trotzdem waren die Initiativen der bürgerlichen Frauen den Behörden ohne Zweifel grundsätzlich unverdächtiger als die der Arbeiterinnen. Denn «politisch», darunter verstand man im kaiserlichen Deutschland, in dem «das rote Gespenst bis in die letzte Bierstube spukte»[19], vor allem die Nähe zur Sozialdemokratie und zur Arbeiterbewegung. Auch die in der Gewerbeordnung von 1869 angeblich garantierte Koalitionsfreiheit und die Versicherung der Arbeiterinnenvereine, sich lediglich mit Lohnfragen zu befassen, verringerte das Mißtrauen des Staates nicht, sondern machte sie in doppelter Hinsicht suspekt, als Sozialistinnen und Frauenrechtlerinnen.
Ein Beispiel hierfür war die «Affaire Schulze-Siebenmarck», die in Berlin Aufsehen erregt hatte, da sich hierbei zum erstenmal Heimarbeiterinnen gemeinsam gegen die ausbeuterischen Methoden der Wollefabrikanten gewehrt hatten und in einem Gerichtsurteil von dem Vorwurf der Unterschlagung freigesprochen wurden. Bei der Abrechnung ihres kargen Arbeitslohns waren die Gewichtsdifferenzen zwischen ausgeteilter und verarbeiteter Wolle den Arbeiterinnen abgezogen worden, eine betrügerische Manipulation, da die Wolle beim Austeilen vom Färben noch feucht und deshalb schwerer war Obgleich die Arbeiterinnen in der Sache Recht bekamen, hat das gleiche Gerichtsurteil ihren Versuch, einen Rechtsschutzverein für Lohntagen zu gründen, gem. § 8 des Vereinsgesetzes untersagt.[20]
In der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung wird in der Regel die im Februar 1869 gegründete «Internationale Gewerksgenossenschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeiter» mit dem Sitz in Crimmitschau in Sachsen als Beginn der organisierten Arbeiterinnenbewegung zitiert.[21]
Tatsächlich bestimmten die Statuten dieses ersten gewerkschaftlichen Zusammenschlusses in der sächsischen Textilindustrie, daß Arbeiter «beiderlei Geschlechts» zugelassen wären und gleiche Rechte und Pflichten hallen, also auch die gleichen Ansprüche auf Unterstützung bei unverschuldeter Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Sogar eine Wöchnerinnenunterstützung für neun Tage nach der Entbindung wurde für die weiblichen Mitglieder eingeführt.
Dennoch ergibt die hier so ungewöhnlich und früh statuierte Gleichberechtigung der Frauen ein allzu harmonisches Bild.
Schließlich waren gerade in der Textilindustrie der überwiegende Teil der Arbeiter Frauen. Crimmitschau war das Zentrum der Textilindustrie im sächsischen Erzgebirge. Und doch verstand sich die Beteiligung und Vertretung von Fraueninteressen nicht von selbst, war die ganze Initiative eindeutig der Durchsetzungsfähigkeit der beteiligten Frauen zu verdanken. Bei der Generalversammlung des Verbandes im Jahr 1870, dem sich inzwischen Spinn- und Webgenossenschaften und lokale Komitees aus anderen Orten angeschlossen hatten, war immerhin ein Sechstel der insgesamt 6000 bis 7000 Mitglieder Frauen. Aufsehen erregt hatte hier die «wahrscheinlich erste» öffentliche Rede einer Proletarierin, der Christiane Peuschel. Auch noch auf dem deutschen Webertag 1871 in Glachau setzte sie, von A. Bebel unterstützt, eine Resolution durch, die ihre Klassengenossen verpflichtete, «dahin zu wirken, daß die Frauen in den Fabriken und Werkstätten mit in die Gewerks- und Fachorganisation als gleichberechtigt eintreten (und ...) daß die Löhne der Frauen und Männer gleichgestellt werden».[22] Als jedoch der Deulsch-Französische Krieg die Reihen lichtete und Handel und Industrie in Mitleidenschaft zog, wurde den Frauen von den Genossen der Vorwurf gemacht, sie würden die Kranken- und Unterstützungskassen allzu
stark in Anspruch nehmen. Auch wegen der allgemeinen Schikanen gegen die Organisationen der Arbeiterbewegung löste sich die «Gewerksgenossenschaft» 1873 auf. Erst in den 1880er Jahren nahmen die gewerkschaftlichen Organisationen wieder Frauen auf.[23]
Frauenarbeit
Von den oben genannten 5,4 Millionen 1875 in Handwerk und Industrie Beschäftigten war rd. eine Million (960 000) Frauen. Weitere 1,4 Millionen arbeiteten in häuslichen Diensten.[24]
Die Daten um 1875 sind noch ziemlich unvollkommen, leider sind auch die Angaben für Industrie und Handwerk wegen der fließenden Übergänge zwischen Hand- und Heimarbeit oder Fabrikarbeit nicht getrennt verfügbar. Immerhin gibt es eine erste besondere Erhebung «Über die Frauen- und Kinderarbeit in den Fabriken», die auf Beschluß des Bundesrats im Jahr 1875 durchgeführt wurde.
Daher weiß man:
Von den 960 000 in Handwerk und Industrie gezählten erwerbstätigen Frauen arbeiteten 220 000 in Fabriken, d.h. in Betrieben mit
mehr als 10 Beschäftigten. Von diesen 220 000 waren 25,9Prozent = 53925 verheiratete Frauen.
Der in dieser Enquete ermittelte große Anteil von Ehefrauen, die überaus hohe Säuglings- und Kindersterblichkeit, der schlechte Gesundheitszustand der Frauen lieferten damals die überzeugendsten Argumente für die Beschränkung der Frauenarbeit bzw. die Einführung eines besonderen Frauenarbeitsschutzes. (1878 wurde daraufhin der erste Mutterschutz, ein Wöchnerinnenschutz für Fabrikarbeiterinnen von 3 Wochen eingeführt.)
Genauere Daten für das Deutsche Reich gibt es erst mit den großen Volks- und Berufszählungen von 1882, 1895 und 1907. Doch
eine Fehlerquelle aller dieser Statistiken, die immer wieder sehr unterschiedlich interpretiert wurden, ist die ungenügende Erfassug under «familialen»[25] Arbeitsformen, d.h. der Hausfrauenarbeit, der Arbeit der sog. mithelfenden Familienangehörigen in der Landwirtschaft und im Gewerbe und schließlich die Heimarbeiter oder «Hausindustriellen».
Bei einer Erwerbsquote von 33,8 Prozent, (d.i. der Anteil von erwerbstätigen Frauen gemessen an der weiblichen Bevölkerung)
arbeiteten 1882 von 7,7!) Millionen erwerbstätigen Frauen 61,4Prozent in der Landwirtschaft,
18 Prozent als Dienstboten, 12,8 Prozent als Arbeiterinnen oder Gehilfinnen in Industrie und Handwerk, 7,7Prozent in übrigen Dienstleistungen, insbesondere in Handel und Verkehr.[26]
In diesen Statistiken sind die Heimarbeiterinnen nicht mitgezählt.
Die Angaben dazu sind bis zur Jahrhundertwende mit knapp einer halben Million eindeutig unterschätzt.[27] Doch all die «Zwischenstufen» des Gelderwerbs zwischen der einzelnen «Handarbeiterin» und der Fabrikarbeiterin, die sog. «Hausindustriellen», die in ihren eigenen Wohnungen oder in kleinen Werkstätten für einen schäbigen Stücklohn Massenartikel produzierten, war das Hauptarbeitsgebiet der Frauen. Die ganze Textilindustrie, insbesondere die Konfektionsindustrie, aber auch die Tabak- oder Spielzeugindustrie waren überwiegend Frauenindustrien. Oftmals trat hier zwischen die einzelne Arbeiterin und das große Konfektionshaus oder den Unternehmer der sog. «Zwischenmeister» oder Verleger, der die Abnahme der Ware, Lohn und Auskommen der Arbeiterin diktierte. Wegen der elenden Arbeitsbedingungen ist dieses System als «sweating» oder sog. Schwitz-System zu zweifelhaltem Ruhm gelangt.
Die Art der Hausindustrie war somit ein frauenspezifischer Kompromiß, und zwar vorwiegend der verheirateten Proletarierin, weil
diese Arbeitsweise die «Versöhnung von Mutterpflichten und Erwerbsarbeit» zu garantieren schien, aber auch für die «verschämten» Armen aus dem Mittelstand. «... der ganze Überschuß von Töchtern aus dem Krämer-, Handwerker- und Beamtenstand, die»- nach Meinung des Experten G. Schmoller — «nicht so glücklich (waren) in den Hafen einer auskömmlichen Ehe einzulaufen, sehr viele Witwen (waren) froh, solche Beschäftigung zu finden».[28]
Zu einem der wichtigsten Hilfsmittel der Hausarbeiterin wurde in dieser Zeit die Nähmaschine.[29] In den 1850er Jahren noch auf Jahrmärkten als «Eiserne Näherinnen» wie ein «Curiosum» bestaunt, «wie man wilde Tiere, Wachsfiguren, Mißgeburten usw. sehen läßt»[30] entwickelte sich dieses Arbeitsgerät der Frauen aller Klassen und Schichten schon in den 1860er Jahren zu einem Massenprodukt. Doch diese Erfindung brachte keineswegs nur «Befreiung von den nachtheiligen Folgen der Handnäharbeit, Vermehrung der Arbeit und sogar bessere Bezahlung derselben», war (auch) nicht nur «ein Segen in jeder Familie, wo der Hausfrau die Instandhaltung aller Hausnätherei obliegt...», sondern war in ihrer Verwendungsweise im 19. Jahrhundert ein «Knotenpunkt» (K. Marx) weiblicher Ausbeutung und geschlechtsspezifischer Unterdrückung.
Das Verhältnis von Arbeiter- zu Frauenbewegung
Der Kampf der Arbeiter gegen Frauenarbeit — oder, wie es in der Terminologie der Zeit ein wenig freundlicher und verschleierter
hieß: für die Beschränkung der Frauenarbeit in den Fabriken — ist ein Kapitel für sich, das sehr unterschiedliche Einschätzungen erfahren hat.[31] Eines der häufigsten Argumente schon der frühen Arbeiterbewegung war, daß der einzelne Fabrikarbeiter nicht nur unter der weiblichen Konkurrenz und dem durch diese Konkurrenz gedrückten Lohn leide, sondern auch unter dem «öden und verlassenen Zuhause», der fehlenden Häuslichkeit und «Vernachlässigung» der Familienpflichten durch die Frau. «Mit der Aufzählung (der Nachteile) können Foliobände gefüllt werden», hieß es bereits 1848 in einer Flugschrift an Leipziger Arbeiter, und sie sind gefüllt worden mit Argumenten über die «Zerstörung» der Familie, über die Fabriken «als Pflanzstätten der Entsittlichung, des Lasters, des Wuchers, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen».[32] Überlieferte Gewohnheiten und die Anpassung an ein bürgerliches Familienideal auch bei der neuen Klasse der Proletarier, gerade auch ihrer klassenbewußten und bildungshungrigen Führungsschicht, kamen in Konflikt mit der sozialistischen Theorie, die Gleichheit, und Emanzipation für alle, also auch für die Frauen versprach.
«Schafft Zustände, worin jeder herangereifte Mann ein Weib nehmen, eine durch Arbeit gesicherte Familie gründen kann.... Den Frauen und Müttern gehören die Haus- und Familienarbeiten, die Pflege, Überwachung und erste Erziehung der Kinder, wozu allerdings eine angemessene Erziehung der Frauen und Mütter vorausgesetzt werden muß. Die Frau und Mutter soll neben der ernsten öffentlichen und Familienpflicht des Mannes und Vaters die Gemüthlichkeit und Poesie des häuslichen Lebens vertreten, Anmuth und Schönheit in die gesellschaftlichen Umgangsformen bringen und den Lebensgenuß der Menschheit veredelnd erhöhen.»[33]
Von solcher «Gemüthlichkeit» war in einer Denkschrift die Rede, die auf der ersten Konferenz der «Internationaler) Arbeiterassoziation», der sog. «Internationale», in Genf mit Eifer diskutiert wurde und mehrheitliche Zustimmung fand. Als «aller Gesittung und Humanität hohnsprechend» bezeichnete L. Otto denn auch den «Grundsatz» der Lassalleaner, wonach «die Lage der Frauen nur verbessert werde durch die Lage des Mannes».[34] Doch ihre scharfe Unterscheidung zwischen dem Antifeminismus der Lassalleaner, dem von Ferdinand Lassalle 1863 gegründeten «Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein», und der «fortschrittlichen» Frauenfreundlichkeit der Eisenacher, den Arbeiterbildungsvereinen der Bebelschen Richtung trifft wohl die historische Wahrheit nicht.[35] Zwar hatte der liberale Demokrat Moritz Müller bekanntlich auf dem 3. Vereinstag deutscher Arbeitervereine 1865 in Stuttgart durch seine Rede[36]eine Bresche für die Frauenarbeit geschlagen, doch 1867 bei der nächsten Zusammenkunft in Gera setzten sich auch bei den Eisenachern schon wieder die Gegner durch. Frauenarbeit wurde «als in jeder Beziehung verwerflich angesehen, weil sie entsittlichend wirke, die Familie zerstöre, die Gesundheit der (kommenden) Generation untergrabe und damit das staatliche und damit das allgemein menschliche Interesse gefährde»[37]
Dabei hatte der «Allgemeine Deutsche Frauenverein», noch in dem Gefühl politischer Verbundenheit, an den Arbeitertag eine Zuschrift gerichtet, in der es u. a. hieß:
«Es ist gebräuchlich geworden, die Arbeiter den vierten Stand zu nennen, in gleichem Sinne könnte man die Frauen als den fünften bezeichnen, wenn man es wirklich schon dahin gebracht hätte, sie der socialen Gliederung des Staates mit einzureihen... Wahren Sie sich selbst das reine Bewußtsein, jede Unterdrückung, auch die der Frauen, zu bekämpfen und gönnen Sie uns den Triumph: nicht auf den sogenannten Höhen der Gesellschaft, sondern bei dem Kern des Volkes, den armen Arbeitern, unsere besten Bundesgenossen gesucht und gefunden zu haben.»[38]
Bei dem Gründungskongreß der «Sozialdemokratischen Arbeiterpartei» in Eisenach im Jahr 1869 kam es zu einem Kompromiß, den die Frauen aus dem ADF schon sehr ironisch und distanziert kommentierten:
Der Arbeiter-Congreß zu Eisenach im Gasthaus zum «Mohren» beschäftigte sich auch mit der Frauenarbeit in den Fabriken. Man beantragte (Nippoldt aus Gotha) wieder einmal die vollständige Abschaffung derselben, erklärte zwar diese wie die Abschaffung der Kinderarbeit (- immer diese Zusammenstellung von Frauen und Kindern! -) zur Zeit für unmöglich, wünschte sie aber doch als Ziel aufzustellen. Ehre dem Abgeordneten Graulich aus der Schweiz, welcher gleichen Lohn für Frauen (das beste Mittel gegen die Männerangst vor der Concurrenz der Frauen und das nach allen Seiten hin einzig gerechte) vorschlug! Die Abstimmung lehnte das Verbot der Frauenarbeit zwar ab, nahm aber die «Einschränkung von Frauenarbeit» (und Verbot der Kinderarbeit) in industriellen Etablissements» an. Dieser Satz ist nun in das «Programm der sozial-demokratischen Arbeiterpartei» aufgenommen worden. Unter 11 lautet § 2:
«Der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf für Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern für gleiche Rechte und gleiche Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft.» (Aber die Herrschaft des Geschlechts bleibt bestehen? Wo sind die gleichen Rechte und Pflichten der Frauen?) § 5 lautet:
«Die ökonomische Abhängigkeit des Arbeiters von dem Kapitalisten bildet die Grundlage der Knechtschaft in jeder Form und es erstrebt deshalb die sozial-demokratische Partei unier Abschaffung der jetzigen Produktionsweise durch genossenschaftliche Arbeit den vollen Arbeitsertrag für jeden Arbeiter.» (Aber die ökonomische Abhängigkeit der Frau vom Manne bleibt, bestehen? — Wenn die Arbeiter ihren neuen Volksstaat nun auf die Sklaverei der Frauen, gründen können, begehen sie ja dieselbe Ungerechtigkeit an der Menschheit wie sie in den Sklavenstaaten alter und neuer Zeit herrschte.»[39]
Auf dem Vereinigungskongreß der Lassalleaner und Eisenacher 1875 zur Gründung der «Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands» in Gotha schließlich wurde von einer «Beschränkung der Frauenarbeit» abgesehen, jedoch das «Verbot aller die Gesundheit und die Sittlichkeit schädigenden Frauenarbeit» gefordert. Bei den politischen Zielsetzungen kam das von A. Bebel mit Vehemenz eingebrachte Frauenwahlrecht nicht durch, statt dessen wurde — geschlechtsneutral formuliert— der Kampf für das «allgemeine, gleiche direkte Wahl- und Stimmrecht aller Staatsangehörigen vom 20. Lebensjahr an» ins sog. Gothaer Programm aufgenommen.[40]
Dieses bedeutete in jener Zeil nicht selbstverständlich den Einschluß der Frauen.
Arbeiterin contra Bürgerliche
Um 1870 war also noch keineswegs entschieden, in welcher Bewegung die Interessen der Arbeiterinnen am besten aufgehoben wären, klar war nur, daß auch die Arbeiterinnen gegenüber den Männern ihre Sache selbst in die Hand nehmen mußten. Diese zunächst autonome, noch keiner der bestehenden Parteien zuzuordnende Geschichte der Arbeiterinnenbewegung beginnt deshalb 1869, als der «Verein zur Fortbildung und geistigen Anregung der Arbeiterfrauen» gegründet wurde. In den «Neuen Bahnen» findet sich hierüber z. B. folgende Notiz:
«Der Berliner Arbeiterinnen-Verein macht erfreuliche Fortschritte., seit vier Wochen seines Bestehens zählt er schon 140 Mitglieder. Zu unentgeltlichem Unterricht haben sich bis jetzt 8 Lehrerinnen und 10 Lehrer bereit erklärt. Als Unterrichtsgegenstände sind aufgeführt: Deutsche Sprache, Briefstyl, Buchführung, Rechnen, Zeichnen, Handarbeit, Französisch, Englisch, Literatur, Chemie, Physik, Gesang und Turnen. Ein jeder Vereinsabend beginnt mit einem populären Vortrage, hierauf erfolgt eine Debatte über denselben, dann eine kleine Pause und nach dieser werden innere Vereinsangelegenheiten besprochen, wie Unterricht, geselliges Vergnügen etc. Zur unentgeltlichen Stellenvermittlung hat sich Frl. Pomtow, von Luise Büchner, dem L. Otto eine vermittelnde Anmerkung der Redaktion beifügt. Stallschreiberstr. 56, zur unentgeltlichen. Wohnungsvermittlung Frl. Heuer, Sebastianstr. 12 erboten...»[41]
Bemerkenswert an den Statuten dieses Vereins ist, daß — wie auch schon im ADF — nur Frauen und Mädchen ab sechzehn Jahren zugelassen waren; Männer hatten nur eine beratende Stimme. Ferner sah der Vereinszweck ausdrücklich «die Förderung geistiger und materieller Interessen» vor, und eine Stellen- wie auch Wohnungsvermittlung entsprach sehr konkreten, existentiellen Bedürfnissen. Allerdings war es bei der ehrenamtlichen, d. h. kostenlosen Mitwirkung von Lehrerinnen praktisch auch leichter, zunächst die «geistigen Interessen» zu befriedigen, wozu ausdrücklich (so § 1 des Statuts) «die Förderung weiblichen Wissens und dadurch die Erhöhung der Erwerbsfähigkeit» gehörte. Die aus der Rückschau klassenkämpferische Kritik «einer Arbeiterin» (so das Pseudonym für Adeline Berger) war darum eigentlich ungerecht:
«Es bleibt nun unbestritten ebenso vortheilhaft als angenehm, wenn die Arbeiterin von vorzüglichen Lehrern gebildet und ihre Unterhaltung geleitet wird, aber ich habe noch niemals gehört, daß irgendwo eine Arbeiterin, selbst wenn sie noch so gut zu deklamieren verstand, bessere Arbeitslöhne erhielt als die ungebildete. Auch weiß ich, daß in Tagen der Noth die gebildete Arbeiterin den Schmerz des Hungers ebenso tief empfindet als die ungebildete...»[42]
Nach hoffnungsvollem Beginn kam es im «Berliner Arbeiterinnen-Verein» allerdings bald zu Querelen, z. B. auch über die Frage,
inwieweit der «Arbeilerinnenverein» in allgemeinen politischen Auseinandersetzungen Stellung beziehen solle oder ob den Männern — mit Ausnahme von «wissenschaftlichen Vorträgen» — nicht das Rederecht in den Versammlungen zu entziehen sei. Die Führungsspitze wechselte zwischen den eher radikalen Demokratinnen (z. B. Marie Funk), die sich mehr an der feministischen Politik des ADF orientierten, und denen, die Anlehnung bei den männlichen Bildungs- und Handwerkervereinen suchten (vertreten durch Frau Bischoff, deren Ehemann im Handwerkerverein mitwirkte). Nach vielem Hin und Her, Unterbrechung und Charpiezupfen für den Krieg, sogar einer Spaltung in eine neue Organisation, den «Bildungsverein für Arbeiterinnen», wurde 1872 wieder ein gemeinsamer Neuanfang gemacht, bei dem sich die inzwischen prominente Lina Morgenstern einschaltete. Doch zur Realisierung ihrer ehrgeizigen Vorhaben — Einrichtung einer gewerblichen Berufsschule, eines Arbeiterinnenheims und eines Arbeitsnachweisbüros — kam es vorerst nicht. L. Morgenstern hatte sich mit dezidierten Äußerungen gegen die Fabrikarbeit junger Arbeiterinnen und ihrer Initiative, die Gesindeordnung zugunsten der Hausfrauen und zu Lasten der Dienstboten zu ändern, die Sympathien der Arbeiterinnen verscherzt.
Damit war die Spaltung zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung an einem ihrer auch später noch wunden Punkte zutage getreten, in der Dienstbotenfrage. Einerseits hatte die erfolgreiche «Mutter der Volksküchen» durchaus richtig erkannt, daß Frauenpolitik auch den Privatbereich einbeziehen muß. Ihre Klage über die Gleichgültigkeit und den «Egoismus» der verheirateten Frauen, der angeblich glücklichen und «zufriedenen» Hausfrauen, die «vor lauter Abstauben, Räumen und Umherwirthschaften im Hause» sich nicht um «die wirtschaftlichen Angelegenheiten außerhalb des Hauses, auf dem Markt des Lebens» kümmern,[43] trifft ohne Zweifel ein Kernproblem der Frauenemanzipation. Und gegen die anläßlich steigender Lebensmittelpreise von ihr mit viel Umsicht organisierten Konsumgenossenschaften für Hausfrauen läßt sich kaum etwas einwenden. Andererseits aber geißelte sie die überzogenen Ansprüche und den neuerlichen «Widerstandsgeist» der Dienstboten, bei denen «die Hausfrauen einen schweren Stand haben»,[44] und petitionierte für eine Verschärfung der ohnehin feudalen Gesindeordnung. Mit dieser Parteinahme für die bürgerlichen Hausfrauen aber blieb sie blind für die Probleme von Herrschaft, d. h. die Klassenprobleme auch unter Frauen. Denn das Dienstbotenverhältnis war und blieb vorerst ein Prüfstein weiblicher Solidarität, «weil es überhaupt das einzige Verhältniß ist, in welchem wir Frauen uns selbst zur Rolle der Unterdrücker haben degradieren lassen.[45]
Während L. Morgenstern nun, 1873, den ersten «Hausfrauenverein» gründete und damit für die nächsten Jahrzehnte ihr ureigenes
und erlolgreichstes Wirkungsfeld fand, konstituierte sich der «Berliner Arbeiterfrauen- und Mädchenverein», der zum erstenmal
von zwei entschiedenen Sozialdemokratinnen geleitel wurde, von Bertha Hahn und Pauline Staegemann.
Pauline Staegemann (1838- 1909)
...war als Dienstmädchen nach Berlin gekommen und stand früh in Kontakt mit Funktionären der Sozialdemokratischen Partei. Ihr Gemüseladen, aus dessen Einkünften sie nach dem frühen Tod ihres Mannes den Lebensunterhalt für sich und ihre vier Kinder bestritt, hatte sich zum heimlichen Treffpunkt vieler Parteigenossen entwickelt. Sie wirkte zeit ihres Lebens an vorderster Front für die Arbeiterinnenbewegung und wurde deshalb immer wieder strafrechtlich verfolgt.[46]
Die Frauen vom «Berliner Arbeiterfrauen- und Mädchenverein» gingen scharf mit L. Morgenstern ins Gericht, luden sie ein zur Diskussion und versuchten erstmalig, Dienstmädchen zu mobilisieren. Aus ihrer Parteizugehörigkeit machten die beiden Vorsitzenden B. Hahn und P. Staegemann keinen Hehl, ja sie agitierten mit ihrem Verein für die Sozialdemokratie. Deren Organ «Neuer Sozialdemokrat» stellte daher mit Datum vom 7.März 1873 auch mit Genugtuung fest:
«Am Freitag hat sich in Berlin ein Frauenverein konstituiert, der über 70 Mitglieder zählt. Die Tendenz des Vereins ist, die Lage des weiblichen Geschlechts zu verbessern, von der Grundlage ausgehend, daß das nur durch eine vollständige soziale Umwälzung der heutigen Gesellschaft geschehen kann. Wir begrüßen diese Erscheinung umso mehr mit Freuden, da wir wohl wissen, daß die Frauen bei allen großen Bewegungen eine bedeutende Rolle spielen.»[47]
Die Idee steckte an; in verschiedenen Städten Norddeutschlands wurden Schwestervereine gegründet, die nun miteinander in regen Austausch traten. Doch als nach dem überraschenden Erfolg der Sozialdemokraten bei den Reichstagswahlen im Sommer 1874 (die Sozialdemokraten errangen 6,8 Prozent der Stimmen, 1877 9,1 Prozent, und waren damit bereits viertstärkste Partei[48]) eine Verfolgungswelle einsetzte, traf dies auch und vor allem die Frauenvereine, zumal die Vereinsgesetze bei ihnen wiederum eine viel schnellere Handhabe möglich machten. Bei verschiedenen Vorsitzenden wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt, die Vereinsunterlagen beschlagnahmt, acht von ihnen der Prozeß gemacht.
«Angeklagt waren 8 Mitglieder des >Allgemeinen deutschen Arbeiter-Frauen und Mädchenvereins>, weil sie, statt sich nur um Verbesserung der Lage weiblicher Arbeiterinnen zu kümmern, Politik getrieben, die Fahne Lassalles entfaltet, für die Reichstagswahlen agitirt und daß sie sich von der Führerin der Sozialdemokratie politische Reden halten ließen...»[49]
Die so Verurteilten aber gaben nicht auf, sie luden nun ein per Annonce, und sei es zum «Kränzchen, arrangiert von mehreren
Frauen».[50] Mit der Verfolgung, erst recht durch die Sozialistengesetze seit 1878, rückten Arbeiterinnen- und Arbeiterbewegung enger zusammen. Die Frauen entwickelten sich zur findigen und listigen Hilfstruppe einer Partei des Klassenkampfes, auch wenn diese Verdienste um die Partei von den Genossen nur selten wahrgenommen, geschweige denn honoriert wurden. D.h. sie nahmen teil am Vereinsleben ihrer Väter, Brüder oder Ehemänner und lasen Marx und Bebel auch bei der Näharbeit:
«Die beiden Bücher... August Bebels <Frau> und Karl Marx' <Kapital> erregten gerade, in der Zeit des Sozialistengesetzes das allergrößte Aufsehen. Beide Werke wurden sofort als slaatsgefährlich verboten, aber trotzdem recht viel und eifrig gelesen und diskutiert. Da harte Strafe auf die Verbreitung angedroht, war, mußte man bei der heimlichen Beschaffung rech t vorsichtig sein. (…) Wir gingen dabei ganz vorsichtig zu Werke, die Frau trug das Buch, den ersten Band, unter das Kleid geknöpft auf dem Körper.
Heimlich gingen wir beide an einen stillen Ort, und als wir den stillschweigend wieder verließen, da war das Buch unter mein Kleid geknöpft.»[51]
August Bebels «Die Frau und der Sozialismus» war «die populärste und maßgebendste Schrift der sozialdemokratischen Bewegung». Sie erschien 1879 und erreichte bereits bis 1909 50 Auflagen.[52]
4. «Das Ewig-Weibliche zu retten» (Auguste Schmidt)
Tendenzwende und Vereinsaktivitäten
im «Allgemeinen Deutschen Frauenverein»
Gleichzeitig mit dem wachsenden Klassenbewußtsein der Arbeiterinnen hatte im ADF und seinen Schwestervereinen eine Distanzierung von den ursprünglich gemeinsamen Zielen der «Humanität» und des «Socialismus» eingesetzt, fand (siehe auch Kap. 3, Seite 94) eine Wachablösung in den Führungsrollen statt, vollzog sich eine politische Richtungsänderung. Nach den Erfahrungen der «Pariser Commune» (1871), bei der ähnlich wie zur Zeit der Französischen Revolution wiederum die revolutionären Frauen, die sog. «Petroleuses», dem Bürgertum den Hauptschrecken eingejagt hatten, ging nun auch unter den Frauen «das rothe Gespenst der Frauenemancipation» um, «die nach Männertracht und Männergewohnheiten strebe».
Diese Schreckgespenster, dozierte Lina Morgenstern vor einem neugegründeten Hausfrauenverein 1874 in Potsdam und brachte in der ihr eigenen praktisch-politischen Art die neue Zielsetzung auf den Begriff,
«gehören längst in die Rumpelkammer der Vorurtheile und andern Aberglaubens. Die jetzige Frauenbewegung gehe von dem Grundsatz aus, daß sie die heiligsten Güter des Lebens zu erstreben und zu vertheidigen habe, nicht aber darauf Eroberungen zu machen, welche der weiblichen Natur und Würde widersprächen. Auf dem Banner, unter das sich die edelsten Frauen des Jahrhunderts schaaren, die einheitlich vorwärts streben wollen, stehe die Inschrift: <Für das Haus und für die Familie>, <für Erziehung und Bildung>, <für Gleichberechtigung in Arbeit und in Erwerbsthätigkeit, für Sittlichkeit und Gerechtigkeit, für Gesundheits- und Krankenpflege, für Wohltätiges und Gemeinnütziges!»[53]
Richtungsweisend wurde nun anstelle von L. Otto mehr und mehr Auguste Schmidt, die Lehrerin, die immer schon die Betonung
auf «Bildung als den eigentlichen Kern- und Schwerpunkt»[54] der Frauenfrage gelegt hatte und, statt Rechte zu fordern, Pflichterfüllung und Dienen als genuin weibliche Tugenden predigte. Sie beharrte auf einer spezifischen Frauenbildung, die das studierende Mädchen «nicht aus der Bahn der Sitte und von dem Charakter edler Weiblichkeit entferne».[55] Von L. Ottos Forderung «Menschen werden wollen die Frauen» — so in ihrem Grundsatzreferat bei der Gründung des ADF 1865[56] - blieb nur noch das Bestreben, das «Ewig-Weibliche» zu retten.
Eine andere beliebte Festrednerin auf allen Frauentagen des ADF war Henriette Goldschmidt.
Henriette Goldschmidt (23.11.1825-30.1. 1920)
...war schon in der 1848er Revolution zur Demokratin geworden. Seit 1853 war sie verheiratet mit einem Prediger der deutsch-jüdischen Gemeinde in Warschau, der drei Söhne mit in die Ehe brachte. Sie übersiedelte 1859 mit ihrem Mann nach Leipzig, wo sie in Kontakt kam mit den Pionierinnen der Frauenbewegung und dem «Allgemeinen Deutschen Frauenverein». Sie nahm von Anfang an eine eher gemäßigte Position ein. So soll sie bei der Debatte um den § 2 der Satzung des ADF, der den Ausschluß der Männer vorsah, die Sitzung mit der Erklärung verlassen haben, «sie werde niemals einem Verein beitreten, dem ihr Gatte nicht als gleichberechtigtes Mitglied angehören dürfe»?[57] Obwohl ihr Mann nicht ihre, sondern L. Ottos Haltung in dieser Frage teilte, zögerte sie ein Jahr, bis sie sich mit großem Engagement in den Dienst des Frauenvereins stellte. Sie gründete 1871 in Leipzig den «Verein für Familien- und Volkserziehung» und half bei der Gründung vieler Kindergärten. Sie selbst leitete seit 1872 einen Volkskindergarten in Leipzig, dem ein Kindergärtnerinnenseminar sowie ein Lyzeum angegliedert war. Typisch für sie ist eine «Erklärung gegen das Frauenstimmrecht», mit der sie sich 1895 in die neu entfachte Debatte der Radikalen einmischte: «... unser Programm (muß) ein gemäßigtes und kein überstürztes sein; besonders an die Stellung der Frau als Gattin und Mutter dürfen wir nicht rühren, sondern müssen ihren Wert und ihre Bedeutung immer an erster Stelle betonen.»[58]
H. Goldschmidt war es, die Fröbels Idee der Kindergärten und seine Erziehungslehre als «Wissenschaft für Mütter»[59] verbreitete und die «zur Menschenliebe erweiterte Mütterlichkeit», geistige Mütterlichkeit als «Culturaufgabe der Frau»[60] zum Programm der bürgerlichen Frauenbewegung erhob:
«Die Vergeistigung des Naturberufes der Frau führt nicht nur zu bewußtvoller Erfassung der Pflichten im Familienleben, sondern zu der Erkenntniß, daß es der <Culturberuf> der Frau sei, <das Mutterherz> für unsere Volkszustände zu erwecken, und auch hier das instinktive, passive Thun zu einem bewußten und zu gleicher Bedeutung wie das männliche zu erheben.»[61]
Diese Programmatik wurde vor allem deshalb so emphatisch von der bürgerlichen Frauenbewegung übernommen, weil sie der traditionellen Rollen- und Arbeitsteilung, insbesondere dem Mutterberuf, eine kulturrevolutionäre Richtung wies, aber sie blieb eben traditionell, paßte sich ein in das Herrschaftssystem des Patriarchats und gab damit den demokratischen und feministischen Anspruch nach Aufhebung von Unterdrückung und sozialer Ungleichheit auf. L. Otto, bis zu ihrem Tod 1895 Vorsitzende des ADF, trat in den Hintergrund, blieb ihren Ansichten treu als Chronistin, Mahnerin und doch manchmal zu zaghafte Kritikerin.
Unter den Vereinsaktivitäten, den fleißigen Petitionen und den alle zwei Jahre in einer anderen Stadt veranstalteten Frauentagen (von Eisenach bis Düsseldorf, von Lübeck bis Stuttgart), waren zwei Initiativen für die weitere Geschichte der Frauenbewegung von Bedeutung:
- die Reichstagspetition zur Verbesserung der Rechtsstellung der Frau aus dem Jahr 1876 {«Einige deutsche Gesetz-Paragraphen über die Stellung der Frau») und
- die Expertise von Marianne Menzzer über die Lohn Verhältnisse der Arbeiterinnen (veröffentlicht 1882).
Über die Rechtsstellung der Frau
Den Anstoß zur Erarbeitung einer Petition hatte eine auf dem Frauentag in Gotha im Jahr 1875 verlesene Schrift gegeben. Charlotte Pape schilderte hier einen eklatanten Fall von Ausübung väterlicher Gewalt. Ein Ehemann hatte seiner Frau alle sechs Kinder weggenommen, um sie auf diese brutale Weise zur Scheidung zu zwingen. An diesem Beispiel wurde den Frauen blitzartig klar, daß selbst und gerade auch in dem Bereich, der ihnen «in erster Linie als ihr natürlicher Beruf» angetragen, zur «heiligsten Pflicht» gemacht wurde, die Frauen keinerlei Rechte hatten, vielmehr ganz der Gewalt und Willkür des Ehemannes und die Kinder nur der väterlichen Gewalt unterworfen waren.
«Jeder Mutter kann begegnen, was Frau S. gelitten, wenn ihrem Mann es so beliebt. Das Gesetz kennt keine Mutterrechte; von Männern für Männer gemacht, kennt es nur den Vater.»[62]
Da nach der Reichsgründung im Zuge der Rechts Vereinheitlichung 1874 gerade eine Vorkommission zur Vorbereitung eines Entwurfs für ein erstes deutsches Bürgerliches Gesetzbuch berufen worden war, beschlossen die Frauen auf der Versammlung in Gotha einstimmig, eine Petition an den deutschen Reichstag zu richten mit der Aufforderung, «bei Abänderung der Civilgesetzgebung die Rechte der Frauen besonders auch im Ehe- und Vormundschaftsrecht zu berücksichtigen».[63]
Um die Begründung zu erarbeiten, mußten sich die Frauen erst rechtskundig machen, und dies war gar nicht so einfach. Denn bevor es das schließlich 1900 in Kraft gesetzte Bürgerliche Gesetzbuch (das BGB) gab, war die Rechtslage der Frauen nicht nur schlecht, sie war überaus kompliziert und unübersichtlich. Selbst Juristen blickten da nicht durch, zumal Frauenrechte im 19. Jahrhundert für sie erst recht kein Thema waren und, abgesehen von einigen populären Auslassungen wie z.B. den nichtssagend-geschwätzigen «Juristischen Unterhaltungen am Damentisch»,[64] auch die Rechtsgeschichte zu diesem Thema weitgehend schweigt. Sprichwörtlich geworden sind allein die über 100 unterschiedlichen Regelungen zum ehelichen Güterrecht, die den Verfassern des BGB unerhörtes Kopfzerbrechen bereiteten.
Wir müssen uns die Rechtslandschaft im Kaiserreich also wie einen bunten Flickenteppich vorstellen, in dem sich die verschiedenen Rechtsgebiete und Rechtsgewohnheiten je nach früheren Ländergrenzen und Staatsgewalten Überlagerten und mischten, und wer zu seinem Recht kommen wollte, mußte oftmals erst gerichtlich klären lassen, welches Recht denn nun anwendbar war.
Die vier wichtigsten Rechtsquellen
- Das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794: Es war verhältnismäßig frauenfreundlich, weil es der Mütter wenigstens bei Abwesenheit des Vaters gewisse Rechte zubilligte, auch ein Eigentumsrecht der Frauen kannte, wenn es vorher vereinbart war und insbesondere nichtehelichen Müttern und ihren Kindern zumindest bis zur Mille des 19. Jahrhunderts großzügige Ansprüche gegen den Vater gewährte. Auch das Scheidungsrecht war verhältnismäßig liberal, ja galt nach Meinung der Konservativen geradezu als «lax und frivol».[65]
- Das sog. Gemeine Recht, es war aus der Rezeption Römischen Rechts und der Vermischung mit deutschen Rechten entstanden, war im Eherecht erstaunlich unvoreingenommen. Die Ehe beeinträchtigte die Rechtsstellung der Frau zunächst nicht, z. B. galt Gütertrennung. Doch es versteht sich beinahe von selbst, daß diese Vorteile für Frauen in den meisten Gegenden durch Gewohnheitsrecht oder örtliche Statuten, z. B. Stadtrechte, wiederum Mannesvorrechten weichen mußten.
- Das Sächsische Recht, 1865 noch als Bürgerliches Gesetzbuch verabschiedet, beruhte auf deutschrechtlichen Traditionen des Mittelalters, insbesondere dem «Sachsenspiegel». Obwohl - wie L. Otto immer wieder betonte — in Sachsen bereits in den 1830er Jahren die grundsätzliche Geschlechtsvormundschaft über Frauen aufgehoben wurde, galt dies nicht für verheiratete Frauen. Sie waren ausdrücklich «zum Gehorsam verpflichtet» und konnten keine Rechtshandlung, kein Geschäft des alltäglichen Lebens vornehmen, insbesondere nicht vor Gericht ohne den «Beistand» ihres Ehemannes.
- Schließlich der in den Rheinlanden, der Pfalz und Baden seit 1804 bzw. 1810 geltende Code civil, das Gesetzbuch Napoleons, das sich durch eine despotische Frauenfeindlichkeit auszeichnete, «die Züge des mittelalterlichen Patriarchalismus am reinsten und längsten bewahrt hatte».[66]
Mehrere Aufrufe in den «Neuen Bahnen» um Mitteilung von Erfahrungen und um die Mitarbeit «gesetzkundiger Juristen» hatten eine unerwartete Resonanz:
«... es sind uns darauf aus den verschiedensten deutschen Staaten, aus großen und kleinen Städten, von Edelsitzen und Dörfern, aus Hütten und Palästen eine Unzahl von Briefen unglücklicher Ehefrauen und Mütter zugegangen (… )
Dies Material weiblichen Martyriums reichte aus, um Bände damit zu füllen.»[67]
In der daraufhin veröffentlichten Denkschrift ließen die Frauen daher — aus weiblichem Taktgefühl und aus Rücksicht auf die betroffenen Frauen —nur die Gesetze sprechen, eine recht detaillierte, aber unsystematische Zusammenstellung von Unrechtstatbeständen.
Das Ergebnis war eindeutig: Alle Gesetze regelten, in mehr oder weniger rigider Form, die Unterwerfung der Ehefrau unter den Willen, die Willkür des Mannes, er entschied in allen ehelichen Angelegenheiten und Erziehungsfragen. D.h. er war Eigentümer, zumindest Nutznießer des Vermögens der Frau, auch ihres Arbeitslohns, ja mit Hilfe der sog. ehelichen Pflicht auch ihres Körpers. Sogar um einem Frauenverein rechtsgültig beizutreten, war die Genehmigung des Ehemannes erforderlich.
Die Lohnverhältnisse der Frauenarbeit
Die Ergebnisse ihrer Untersuchung über die Lohnverhältnisse von Frauen in der Hausindustrie oder Manufaktur trug Marianne
Menzzer zum erstenmal 1881 auf dem Frauentag in Lübeck vor.
«Lauter Beifall gemischt mit Thränen der Rührung dankte der Rednerin», verzeichnet die Chronik.[68]
Marianne Menzzer (1814—1895)
...Erzieherin, die jahrelang ihrem Vater den Haushalt führte, war seit den 1840er Jahren mit L. Otto befreundet und von 1865 an eine der treuesten Mitarbeiterinnen im ADF und Begründerin auch des «Frauen-Erwerbsvereins» in Dresden. Sie war Autodidaktin und hatte auch die Kenntnis sozialer Verhältnisse im Selbststudium gewonnen. Sie sammelte nicht nur die vielfältigen statistischen Belege für die Ausbeutung und Lohndiskriminierung von Frauen, sondern schlug vor, über die Frauenvereine die ausbeuterischen Firmen bekannt zu machen und zu boykottieren, bot einen Rechtsschutz für Arbeiterinnen an und betonte immer wieder die Notwendigkeit von gewerkschaftlichen oder genossenschaftlichen Zusammenschlüssen der Arbeiterinnen.
Tatsächlich kam es auf Menzzers Anregung 1883 zur Gründung eines neuen Arbeiterinnenvereins, des «Frauenhilfsvereins für
Handarbeiterinnen» in Berlin. Der Vorwurf, den Emma Ihrer später erhob, dieser Verein habe Fabrikarbeiterinnen ausgeschlossen,[69] ist herbeigeholt, da die Unterscheidung zwischen Hand- und Fabrikarbeiterin in der Blütezeit der Hausindustrie noch keinen Sinn macht.
Das Material, das M. Menzzer vorgelegt hat, spricht jedenfalls für sich:
5. «Zwischen allen Stühlen» - Gertrud Guillaume-Schack,
Frauenrechtlerin und Sozialistin
Eine andere Frau, der es in den 1880er Jahren vorübergehend gelang, die Kräfte der Frauenbewegung zu mobilisieren und zu bündeln, und die sich dabei politisch zwischen alle Stühle setzte, war Gertrud Guillaume-Schack.
Gertrud Guillaume, geborene Gräfin Schack (1845 bis 1905)
... war in Uschütz/Oberschlesien geboren, heiratete den Künstler Guillaume, den sie auf einer Reise in die Schweiz kennengelernt hatte, und zog mit ihm nach Paris. Doch schon nach wenigen Monaten trennten sie sich. In Paris erfuhr G. G.-Schack von der Arbeit des «Britischen, kontinentalen und allgemeinen Bundes zur Bekämpfung des staatlich reglementierten Lasters», später «Föderation abolitioniste internationale» genannt, die von der Engländerin Josephine Butler ins Leben gerufen worden war und der scheinheiligen doppelten Moral des Bordellwesens den Kampf ansagte.
Doppelt war die Moral, weil nach dem von Napoleon in Europa eingeführten System nur Frauen strafrechtlich verfolgt wurden. Trotz des Verbots von gewerbsmäßiger Unzucht wurden Lizenzen an Prostituierte vergeben, wenn sie sich einer ärztlichen Untersuchung unterzogen. So hoffte man, die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten einzudämmen. Die Überwachung oblag der sog. Sittenpolizei, die ohne richterliche Kontrolle jederzeit das Recht hatte, verdächtige «Weibspersonen» (§361,6 StGB) zu verhaften und zwangsweise untersuchen zu lassen — ein gravierender Eingriff in die Freiheit der Person und ein einseitiges Unrecht gegenüber Frauen.
Um die Ziele der von England ausgehenden Sittlichkeitsbewegung auch in Deutschland zu verbreiten, gründete G. G.-Schack
einen Zweigverein, den sie mit Rücksicht auf die Vereinsgesetze als «Kulturbund» tarnte, mit Sitz in ihrer Heimatstadt Beuthen in
Schlesien. Sie bereiste viele Städte und fand ein großes —weibliches wie männliches — Publikum. Teilnehmerzahlen von 300 bis 1000 werden genannt. Daß eine Frau in jener Zeil öffentlich über Prostitution, Sexualität und Sittenwidriges sprach und dazu Versammlungen abhielt, zu denen nicht nur Frauen, sondern auch Männer, ja auch Jugendliche zugelassen waren, war damals ein Skandal. Daß sie diese Versammlungen «zu einer Zeit repressiver Vereins- und Sozialistengesetze in Gegenwart der observierenden Polizeibeamten auch noch zu scharfen Angriffen auf Staat, Obrigkeit und Sittenpolizei nutzte, blieb nicht lange ungeahndet. Die Sittlichkeitsbewegung kam rasch in den Verruf <unsittlich> zu sein.»[70]
Deshalb wurde schließlich ein Vortrag, den sie am 23. Mär. 1883 vor dem Darmstädter Frauenverein «Sonntagsruhe» gehalten hatte, bereits nach zehn Minuten von der Polizei «wegen groben Unfugs» verboten und die Versammlung aufgelöst. Den anschließenden Prozeß gegen G. G.-Schack und die Vereinsvorsitzende Frau Lesser-Kiesling, in dem die beiden Angeklagten freigesprochen wurden, haben die Frauen zusammen mit dem Vortrag dokumentiert. Das Protokoll liest sich heute wie eine Provinzposse, und doch wird deutlich, daß es den Vertretern der Staatsgewalt weniger um das Tabuthema Prostitution ging als um die Gefahr, die dem Staat von so viel weiblicher Aufmüpfigkeit drohte. Tatsächlich führte der Staatsanwalt in weitschweifiger Rede u. a. aus:
«An einer Stelle leuchtet auch der Pferdefuß hervor, da wird von Gleichberechtigung der Geschlechter in Bezug auf die unehelichen Kinder gesprochen.. . (ds sollte daraufhin gewirkt werden, die bisherige, gesellschaftliche Ordnung zu untergraben.»[71]
G. G. Schack ließ sich vorerst nicht beirren. 1883 gründete sie auch in Berlin und in Hannover Zweigvereine des «Kulturbundes» unter großer öffentlicher Aufmerksamkeit und großer Beteiligung von Arbeiterinnen. Der Zusammenhang zwischen Armut und Prostitution spielte in ihren Begründungen zunehmend eine Rolle, so auch in der Reichstagspetition, die von dem Berliner Verein verabschiedet wurde:
«Indem die Gewalt der Sittenpolizei nur den Frauen gegenüber zu vollem Ausdruck kommt, die. gezwungen sind, sich ihr Brot zu erwerben, und nicht durch zufällige äussere Verhältnisse geschützt werden, schafft sie nicht nur einen Unterschied der Geschlechter, sondern auch der verschiedenen Klassen vor dem Gesetz.»[72]
Allmählich trat sie immer mehr in Kontakt mit Sozialdemokraten, veröffentlichte in sozialdemokratischen Blättern und ging mit den männlichen Genossen ins Gericht, die Frauenarbeitsbeschränkungen befürworteten.
«Die Interessen der beiden Geschlechter gehen im Arbeiterstande Hand in Hand, während die Bourgoisie ihren Frauen eine Ausnahmestellung anweist, die im Laufe der Zeit in jeder Hinsicht redlich ihre faulen Früchte getragen hat... Es giebt nur eine gesunde Grundlage, auf der die Zukunft aufgebaut werden kann, und. das ist die strenge Durchführung der Gleichberechtigung von Mann und Frau.»[73]
Bei den Reichstagsverhandlungen über die Einführung eines Nähgarnzolls, der für unendlich viele Textilarbeiterinnen die Existenzfrage stellte, organisierte sie Protestversammlungen und wiederum eine Petition, die mit Tausenden von Unterschriften aus ganz Deutschland unterstützt wurde.
Der 1885 von ihr initiierte «Verein zur Vertretung der Interessen der Arbeiterinnen» vereinigte alte und neue Führerinnen der Arbeiterinnenbewegung: 1. Vorsitzende wurde Marie Hofmann, 2. Pauline Staegemann und Schriftführerin Emma Ihrer. Gertrud G.Schack übernahm nur das Amt der Ehrenpräsidentin, da sie als schweizerische Staatsangehörige mit der Polizei und dem Sozialistengesetz, das noch in bester Blüthe war, rechnen mußte».[73] Auch in anderen Städten (z.B. Hamburg und Bremen) wurden im Laufe des nächsten Jahres auf Anregung der Ehrenpräsidenin Arbeiterinnenvereine gegründet. Doch schon sehr bald machte die Staatsgewalt den «sozialistischen Umtrieben» der Schack ein Ende:
Die Berliner Frauenvereine wurden im Mai 1886 geschlossen und Arbeiterinnenversammlungen polizeilich untersagt. Die seit Januar 1886 von G. G.-Schack herausgegebene Zeitschrift «Die Staatsbürgerin» mußte nach einem halben Jahr ihr Erscheinen einstellen. G. G. Schack selbst, als «weiblicher Ferdinand Lassalle» und «Sozialdemocratie im Unterrock»[75] von Freund und Feind in die Schlagzeilen gebracht, wurde kurz darauf ausgewiesen und verließ Deutschland.
In der neuen Wahlheimat England gelang es G. G.-Schack nicht, im Emigrantenkreis um Friedrich Engels ernst genommen zu werden. Engels diffamierte sie als Anarchistin und bezeichnet in einem Brief an Bebel das Organisieren von Arbeiterinnenvereinen als «reine Bourgoisspielerei».[76] Sie ist am 20.Mai 1903, sehr zurückgezogen und nahezu vergessen, gestorben. Minna Cauer, die sie auf dem Londoner Internationalen Frauenkongreß 1899 persönlich erlebt hatte, schrieb 1903 in einem Nachruf über sie:
«Wer sie, wie wir während des Londoner Kongresses (1899), auf dem Podium, hat stehen sehen, in lebhafter, hinreißender, fast jugendlicher Begeisterung flammende Worte der lauschenden Menge zurufend, der kann diese Frau nicht vergessen, der kann begreifen, daß sie... gegen alles Halbe, Unklare und Schwankende zu Felde zog.»[77]
Das Verbot der Arbeiterinnenvereine hatte noch ein gerichtliches Nachspiel: Gegen die Führerinnen der Arbeiterinnenbewegung,
Marie Hofmann, Emma Ihrer u. a., «wurde auf je 60 Mark Geldstrafe oder entsprechende Gefängnißstrafe erkannt, die Angeklagte Staegemann wurde, weil bereits wegen desselben Vergehens vorbestraft, zu 90Mark verurteilt[78]Das Reichsgericht entschied 1887 in einem Grundsatzurteil, was bei der Auslegung des preußischen Vereinsgesetzes unter «politischen Gegenständen» zu verstehen sei: «edle Angelegenheiten, welche Verfassung, Verwaltung, Gesetzgebung des Staates, die staatsbürgerlichen Rechte der Unterthanen und die internationalen Beziehungen der Staaten zueinander in sich- begreifen».***413.4.79**
Das bedeutete, jegliche Bestrebung, mit Hilfe von Recht und Gesetz zur Verbesserung der sozialen und rechtlichen Stellung der Frau
beizutragen, fiel unter das Verbot politischer Betätigung.
Lesetips
Ottilie Baader: Ein steiniger Weg, Stuttgart, Berlin 1921. Neudruck Berlin, Bonn 1979
Hedwig Dohm: Die Antifeministen. Ein Buch der Verteidigung (1902), Frankfurt o. J.
Die Staatsbürgerin. Offenbach a. M. 1886. Originalgetreuer Nachdruck der ersten Arbeiterinnenzeitschrift Deutschlands, hg. v. H. Gebhardt, U. Wischermann, München, New York, London, Paris 1988
Werner Thönnessen: Frauenemanzipation. Politik und Literatur der deutschen Sozialdemokratie zur Frauenbewegung 1863—1933, Frankfurt 1969