1. Kapitel

Betrachtung der Rechte der Menschheit, und der Pflichten, welche daraus fliessen

Ein blick auf den gesellschaftlichen zustand, in dem sich gegenwärtig die menschheit befindet, überzeugt uns von der notwenigkeit, selbst da, wo man die einfachsten Wahrheiten sucht, auf erste grundsätze zurückzugehen. Auf jeden schritt stellen sich dem forscher herrschende vorurteile entgegen, die er wegräumen muss, wenn er weiterkommen will. Um mir meinen weg zu bahnen, muss ich um die erlaubnis bitten, ein paar fragen aufzuwerfen. Meine antworten sollen eben so einleuchtend sein, als die obersten prinzipien unserer vernünftigen erkenntniss überhaupt es sind: Ich gebe zu, dass die urteile und handlungen der menschen dazu im Widerspruch stehen, so bald die mannigfaltige triebfedern sich ins spiel mischen, die ihre denk- und-handlungsweise bestimmen.

Worin liegt das übergewicht der menschen über die tierwelt? Was man darauf antworten muss, ist so klar, als der satz: dass die hälfte weniger als das ganze ist - dieses übergewicht liegt in der vernunft.
Was ist der selbsterworbene vorzug, der ein vernünftiges wesen über das andere erhebt? Tugend; ist die antwort, die sich einem jeden aufdringt.
Zu welchem zweck wurden wohl die leidenschaften uns gegeben? Der kampf mit ihnen soll den menschen in den stand setzen, einen grad von kenntnis zu erreichen, der den tieren versagt ist. So spricht die leise stimme der erfahrung.
Hieraus folgt, dass die vollkommenheit unserer natur und unsere empfänglichkeit für wahres glück nach demjenigen grade von vernunft, tugend und kenntnis  geschätzt werden muss, durch den die gesetze der gesellschaft geleitet werden, und der an ihren einzelnen gliedern bemerklich ist. Eben so unleugbar ist es aber auch, dass aus der übung der vernunft, die kenntnis und die tugend folgen.
Bei einer so vereinfachten darstellung der rechte und pflichten der menschen scheint es mir überflüssig zu sein, so unwiderlegbare wahrheit noch zu erläutern. Doch, tief eingewurzelte vorurteile haben die vernunft verdunkelt. Unlautere eigenschaften haben sich den namen von tugenden angemasst. Daher ist es nötig, dem ganzen gang der vernunft nachzugehen und zu zeigen, wie er durch einfluss äusserer umstände verwirrt und in irrtum eingehüllt wurde. Dabei soll der einfache grundsatz mit der abweichung verglichen werden.
Die menschen scheinen weit mehr bemüht zu sein, die vorteile, die sie, oft unbewusst, eingesogen haben, zu verteidigen, als abzulegen. Selten trifft man eine starke seele, die mut zu eigenen grundsätzen besitzt. Es herrscht eine geistesfeigheit, welche die meisten menschen dieses geschäft mutlos aufgeben oder nur zur hälfte verrichten lässt. Die fehlerhaften Schlüsse, die so gemacht werden, sind oft nicht ohne schein, weil sie sich auf nicht genügend ausgebreitete erfahrung und auf richtige, aber sehr beschränkte ansichten gründen.
Geht man auf erste grundsätze zurück, dann weicht das laster in seiner angeborenen hässlichkeit jeder nähern beleuchtung aus: allein ein schwarm seichter vernünftler schreit dagegen ohn' unterlass: dergleichen gründe beweisen zu viel, und eine massregel, die im grunde nichts tauge, könne demungeachtet ganz nützlich sein. Auf diese art stellt man das nützliche so lange den einfachen grundsätzen entgegen, bis endlich Wahrheit in einem nebel von worten verschwindet, tugend in formen erstickt, und Wissenschaft durch gleissende vorurteile, die ihren namen annehmen, in ein tönendes nichts verwandelt wird.

Der satz, dass diejenige einrichtung der gesellschaft die weiseste ist, bei der man die natur der menschen zur grundlage angenommen hat, muss einem jeden denkenden wesen einleuchten. Es könnte mir daher als besondere anmassung ausgelegt werden, wenn ich mir mühe gäbe, beweise dafür beizubringen. Gleichwohl muss doch einmal ein solcher beweis geführt werden, wenn es je gelingen soll, das bollwerk, hinter dem das alte herkommen sich noch hält, durch vernunft über den haufen zu werfen. Immer ist es ja dieses herkommen, worauf man sich beruft, wenn der grund angegeben werden soll, wodurch man berechtigt sei, menschen (überhaupt, oder weiber insbesondere) ihrer natürlichen rechte zu berauben - einer von jenen ungereimten trugschlüssen, die dem gesunden menschenverstande noch täglich hohn sprechen!

Wenn man von den völkern Europas rühmend sagt, sie seien zivilisiert, so kann das nur in einer und der andern hinsicht gelten. Ja, man kann es noch sehr zweifelhaft finden,

  • a. ob diese nationen gegen ihre unschuld wirklich auch nur eine tugend eingetauscht haben, die so viel elend aufwiegen könnte, als die laster hervorbrachten, mit denen man die alte unscheinbare unwissenheit nunmehr übertünchte,
  • b. ob sie gegen den verlust ihrer freiheit, die für sie eine glänzende sklaverei dahin gaben, auch nur einen  wahren vorzug gewonnen haben.

Ein unruhiges streben, durch reichtum zu blenden, der ihnen der wichtigste vorzug ist, zu dem menschen gelangen können, das vergnügen, welches man empfindet, wenn man über schmeichelnde Schmarotzer mit einem wink gebieten darf, und manch andere verwickelte, aber niedrige pläne, die eine kindische eigenliebe so gern zu entwerfen pflegt, - all das hat dazu beigetragen, den grossen haufen der menschen zu überwältigen und ihre freiheit zum bequemen raube eines erheuchelten patriotismus zu machen. Denn so lange man noch rang und ehrentitel als dinge von der äussersten Wichtigkeit ansieht, vor denen das genie »mit gebeugtem haupte zurücktreten muss«, so lange ist es, wenigstens in den meisten fällen, ein unglück für eine nation, wenn eine person von talent, aber ohne stand oder eigentum, sich auf einen posten schwingt, der die augen der menge auf sich zieht. - Ach, welch unerhörtes unglück haben tausende erduldet, allein um den kardinalshut für einen ränkevollen abenteurer zu erkaufen, dem der gedanke in den kopf kam, aus seiner dunkelheit zum glanze der dreifachen krone aufzusteigen, sich fürsten gleich zu stellen, oder gar über sie den herrn zu spielen!
Das elend, das erbliche ehrenstellen, reichtum und monarchie über die Staaten brachte, war so gross, dass leute von warmer empfindung verleitet wurden, da fast lästerung zu sprechen, wo sie die verhängnisse der vorsehung rechtfertigen wollten. Man gab den menschen für ein wesen aus, das gar nicht mehr von der macht dessen, der es schuf, abhänge, oder sah ihn als einen planeten an, der aus seiner bahn geschweift sei, um das himmlische feuer der vernunft zu stehlen. Er büsste aber auch diese vermessenheit schwer genug dadurch ab, dass die rache des himmels in der trügerischen flamme verborgen liegen und durch sie alles böse in die welt kommen musste.
Dieser anblick von elend und Unordnung in der menschlichen gesellschaft machten auf Rousseau tiefen eindruck. Müde des kampfes gegen künstelnde toren, war er ein freund der einsamkeit. Weil er dabei an eine beste welt glaubte, so bot er nun seine ganze beredsamkeit auf, zu beweisen, dass der mensch von natur zum einsam leben bestimmt sei. Seine achtung für die güte gottes, die gewiss (welcher mensch von güte und verstand könnte es bezweifeln?) nur deswegen geschöpfe ins dasein rief, um glückseligkeit zu verbreiten - und führt ihn so weit, dass er das böse bloss als etwas zufälliges, und nur als das werk des menschen betrachtet, ohne gewahr zu werden, dass er eine eigenschaft der göttlichen vollkommenheit auf kosten einer andern erhebt, die ihr eben so notwendig zukommt.
Die beweise, die er nun zu gunsten eines naturzustandes auf jene falsche grundlage baut, haben zwar viel schein, am ende aber halten sie doch keine strenge prüfung aus. Ich sage es dreist, dass sie die prüfung nicht aushalten. Zu behaupten, ein naturzustand sei besser als kultur in höchster vollkommenheit - das heisst mit andern Worten: die oberste weisheit meistern wollen. Auch finde ich den paradoxen spruch: Gott habe alle dinge gut gemacht, und das böse sei nur durch die geschöpfe in die welt gekommen, die der schuf, der doch wohl wusste, was er schuf - eben so unfilosofisch, als er irreligiös ist.
Nein, so wie das wesen, das uns schuf, und uns unsern platz anwies, so wie der allweise seinen ganz schönen plan überschaute, so wollte er auch gleich, weil er es so werden liess, dass durch leidenschaften unsere vernunft sich entwickeln sollte. Denn er war im stande vorauszusehen, dass sehr vieles, was für die gegenwart als übel zu betrachten ist, doch manches gute für die Zukunft wirken würde. Konnte wohl das ohnmächtige geschöpf, das er aus dem nichts hervorrief, seiner vorsehung entlaufen, und ohne seine erlaubnis den kühnen versuch wagen, böses zu tun, um gutes daraus zu lernen?  Nimmermehr. -
Wie war es möglich, dass Rousseau, jener verteidiger der unsterblichkeit so unzusammenhängend räsonieren konnte? Freilich, setzen wir den fall, die menschheit wäre stets in jenem naturzustand geblieben, den selbst seine gewandte feder nicht zu einem solchen zustand auszumalen vermag, in dem auch nur eine einzige tugend zur reife käme - so würde das urteil über ihre bestimmung ganz anders ausfallen müssen. Gewiss würde dann einem jeden der gedanke sich aufdrängen, dass der mensch zu weiter nichts geboren sei, als um eine weile hier zu leben, und nur gottes garten zu einem oder andern zwecke zu schmücken, der sich wohl schwerlich mit seinen eigenschaften vereinigen lassen dürfte.
Wollte dagegen der Schöpfer, sein werk zu krönen, vernünftige wesen hervorbringen, denen es vergönnt sein sollte, durch den gebrauch eigener, dazu mitgeteilter kräfte zu ihrer wahren würde aufzuklimmen, fand die höchste güte selbst es gut, ein geschöpf ins dasein zu rufen, das, auf eine höhere stufe als das tier gestellt, des denkens und einer immer steigenden veredlung fähig wäre, was könnte uns da noch nötigen, dieses unschätzbare geschenk (als geschenk muss es wohl betrachtet werden, wenn der mensch so geschaffen ist, dass er die fähigkeit besitzt, sich über jenen zustand zu erheben, der vermöge bloss sinnlicher eindrücke nur tierisches Wohlbehagen gewährt) geradezu qual nennen? Und doch müsste man es als eine qual ansehen, wenn unsere ganze existenz auf ein dasein in dieser welt eingeschränkt wäre. Sollte der allgütige, der alles lebens quelle ist, leidenschaften und denkkraft nur dazu in uns gelegt haben, um uns unsere tage zu verbittern? Sollte er mit leeren eingebungen falsch verstandener würde uns täuschen wollen ? Er sollte uns von der selbstliebe zu den erhabenen empfindungen haben leiten wollen, die die erforschung seiner Weisheit und güte in uns weckt; und doch sollte die aufregung jener gefühle nicht die absicht haben, unsere natur, von der sie ein wahrer teil sind, zu veredeln, und uns des genusses eines gottähnlichen anteils von glückseligkeit fähig zu machen? Nein,f ür mich ist es ausgemachte Wahrheit, dass selbst kein übel in der welt existiert, dem gott nicht seine stelle darin angewiesen hätte. Ich gründe diesen glauben auf die vollkommenheit gottes.
Rousseau gibt sich sehr viel mühe zu beweisen, dass ursprünglich alles gut war. Andere schriftsteiler sind der meinung, dass jetzt noch alles gut ist. Mich belebt die hoffnung, dass einmal alles gut werden wird.
Rousseau geht von seiner lobrede auf seinen naturzustand zu einer andern fort, die er nun auch der barbarei halten muss. Wenn er hier den schatten des Fabricius aufruft, so vergisst er freilich, dass es den römern einst, da sie die welt bezwangen, auch im traum nicht einfiel, ihre freiheit auf festen grund zu bauen, oder das reich der tugend zu erweitern. Doch, auch da bleibt er nicht stehen. Eifrige begierde, sein System zu stützen, verleitet ihn, sogar jede anstrengung des genies als etwas tadelswertes zu brandmarken. Und, wenn er endlich die rohen tugenden apotheosieren will, so unterwindet er sich geschöpfe zu halbgöttern zu erheben, die kaum etwas menschliches an sich hatten - die grausamen spartaner, die der gerechtigkeit und allem dankgefühl zum hohn, mit kaltem blute ihre sklaven zur schlachtbank führten, die einst als männer sich gezeigt und ihre unterdrücker gerettet hatten.
Erkünstelte sitten und erkünstelte tugenden sah der bürger von Genf mit widerwillen an. Anstatt aber die dinge so, wie sich's gebührte, von einander zu sichten, warf er den weizen mit der spreu hinweg. Er liess es sich gar nicht einfallen vorher zu untersuchen, ob die übel, von deren anblick seine so wohlwollende seele sich mit abscheu wegwandte, wirklich als folgen der kultur, oder vielleicht nur als reste der barbarei zu betrachten seien. Vor seinen augen sah er, wie das laster die tugend mit füssen trat. Er sah, wie ein schein von güte die stelle der Wahrheit selbt einnahm. Und er sah, wie talente, durch übermacht gebeugt, zu schlechten zwecken wirken mussten. Und doch fiel ihm niemals ein, dem grossen übel bis zu seiner quelle nachzugehen, es bis zu willkürlicher gewalt, hinauf bis zu den erblichen vorzügen zu verfolgen, die mit jener geistesüberlegenheit streiten, welche eigentlich nach dem gange der natur,  einen  menschen über andere seines gleichen erheben sollte. Er wurde nicht gewahr, dass königliche macht, binnen wenigen generationen, in den edeln stamm selbst geistesschwäche bringen muss und andern nur lockspeise vorhalten kann, um sie untätig und lasterhaft zu machen.

Wer den stand der könige in ein verächtliches licht stellen wollte, der dürfte nur die mannigfaltigen übeltaten aufzählen, durch die sich menschen zur höchsten würde aufgeschwungen haben. Niedrige ränke, unnatürliche verbrechen, und entehrende laster waren es nicht selten, die ihnen den weg zu jenem vorrang bahnen mussten. Und doch konnten millionen menschen gedankenlos genug sein, die kraftlosen abkömmlinge solcher gierigen räuber auf ihren mit blut besudelten thronen sitzen zu lassen.

Was anderes als giftiger hauch kann durch eine gesellschaftliche verbindung wehen, wenn ihr oberstes glied nur in der kunst, verbrechen auszusinnen, geübt, wenn ihr führer in weiter nichts, als in der einfältigen routine eines kindischen Zeremoniells erfahren ist? - Werden denn die menschen niemals weise werden? Werden sie nie aufhören, korn von trespen und feigen von disteln zu erwarten?
Man kann dreist behaupten, dass kein mensch, er sei auch, wer er wolle, selbst beim zusammentreffen der glücklichsten umstände, im stande ist, sich so viel einsicht und stärke des geistes zu erwerben, als erfordert wird, um alle pflichten eines königs, dem eine völlig unbeschränkte macht übertragen ist, zu erfüllen. Wie sehr müssen nicht diese pflichten vollends da verletzt werden, wo selbst der erhabene posten, auf dem er steht, ein unüberwindliches hinderniss für ihn wird, vor dem er weder zur weisheit, noch zur tugend gelangen kann? Wird nicht noch jede gute empfindung durch Schmeichelei erstickt und allem nachdenken durch sinneslust der weg verschlossen ? Wahrhaftig, es ist wahnsinn, wenn man das schicksal tausender von der laune eines ihrer schwachen mitgeschöpfe  so abhängig macht, den schon seine stelle notwendigerweise unter manche seiner geringsten Untertanen herabsetzen muss; Nein, nie sollte man es unternehmen, eine kraft im Staate niederzudrücken, bloss um eine andere dadurch zu heben. Ein so schwaches geschöpf als der mensch ist, wird jederzeit durch macht und gewalt berauscht. Und der missbrauch  den er davon zu machen pflegt, ist beweises genug, dass, so wie mehr gleichheit unter den menschen sich verbreitet, in demselben verhältnis auch mehr tugend und glückseligkeit in der gesellschaft gedeihen muss. Ich weiss gut, dass man diese und ähnliche, aus der schlichten vernunft abgeleitete maximen nicht äussern kann, ohne einen feueralarm zu erregen. So wie nur jemand abstand nimmt, den einsichten der vorwelt mit blindem glauben beizutreten, so schreit man auch sogleich, die kirche und der staat sei in gefahr. Und wagt einer gar, beim anblick des elendes menschliches ansehen zu bestreiten, trägt man vollends kein bedenken, ihn als gottesverächter und als menschenfeind zu brandmarken. So kränkend solche lästerungen auch sind, so konnte ihnen doch selbst einer der besten menschen nicht entgehen, dessen asche noch immer frieden predigt, und dessen andenken ein ehrfurchtsvolles schweigen da gebietet, wo von wahrheiten die rede ist, die seinem herzen so nahe lagen.[2]

Nach diesem angriff auf die geheiligte majestät der könige, wird eine andere erklärung, die ich hinzusetzen will, nicht mehr auffallen. Ich bin nämlich fest davon überzeugt, dass ein jeder stand im staate, in dem eine eine beträchtliche Unterordnung in rücksicht auf rang, ein grosses gewicht hat, für sittlichkeit in hohem grade schädlich werden muss.
So kann, z.b., ein stehendes heer sich durchaus nicht mit freiheit vertragen, weil Subordination und schärfe recht eigentlich als nerven der kriegszucht anzusehen sind, und weil despotismus schlechterdings notwendig wird, wenn kraft und leben in unternehmungen kommen soll, die nur der wille eines einzigen leitet. Nur wenige befehlshaber sind im stande jenen hohen mut in sich zu fühlen, den überspannte ideen von ehre einhauchen, und der doch nur eine art von moralität ist, die von dem herrschenden ton des zeitalters abhängt. Dagegen muss der grosse haufe immer durchs kommando, wie die meereswellen, sich bewegen lassen. Gleich einem gewaltigen winde treibt ein machtwort den haufen der gemeinen vor sich weg. Sie stürzen mit blinder wut dahin, ohne die Ursache zu wissen, warum sie sich dahin stürzen, oder sich auch nur darum zu kümmern.
Noch ein anderer umstand muss betrachtet werden. Ich glaube kaum, dass irgend etwas für die Sittlichkeit der einwohner von landstädten so nachteilig werden kann, als wenn der zufall einen schwarm untätiger, oberflächlicher junger leute in ihre mitte führt, deren es im militär so viele gibt. Das, womit sie sich einzig und allein beschäftigen, ist galanterie. Durch ihre geglätteten sitten wird das laster weit gefährlicher, weil sie seine hässlichkeit unter einer gefälligen, verschönernden bekleidung zu verstecken wissen. Ein gewisser ton der grossen welt, der ihnen eigen ist, der freilich immer Sklaverei verrät, und immer ein beweis ist, dass die seele keinen starken eigentümlichen charakter hat, pflegt dennoch einfache landleute in ein so ehrerbietiges staunen zu versetzen, dass sie wenigstens die fehler jener artigkeit nachzuahmen suchen, wenn sie auch ihre anmut nicht erreichen können. Man kann sagen, dass jede armee eine despotenkette ist. Jedes einzelne glied derselben beugt sich auf der einen, und tyrannisiert auf der andern seite , ohne seine vernunft zu gebrauchen. Alle zusammen machen eine tote last aus, die mit torheit und laster schwer auf den staatskörper drückt. Ein mensch von stande und von vermögen darf unter diesen umständen, im vertrauen auf seinen einfluss, der ohnehin ihn hebt, sein einziges geschäft daraus machen, dieser oder jener tollen grille nachzulaufen. Dem unbemittelten bürger bleibt nichts anderes übrig, als sklavischer Speichellecker oder verworfener kuppler zu werden.

Dieser klasse kann man auch die Seefahrer, oder die herren der marine einfügen. Mit dem unterschied, dass ihre fehler einen andern, bei weitem nicht so feinen anstrich haben. Sie darf man in einem noch eigentlicherem sinne der untätigkeit bezichtigen, sobald die handleistungen des dienstes vorüber sind, während man unsern kriegern zu lande, so unbedeutend ihr hin-und herflattern auch sein mag, doch immer noch einen geschäftigen müssiggang zugestehen muss. An jenen, deren umgang meist auf männliche gesellschaft beschränkt ist, zeigt sich häufig ein hang zu mutwillen und allerhand streichen. Hingegen diese, denen der zutritt in zirkel der feinen weiblichen welt offen steht, verfallen gewöhnlich in eine romanhafte sprache. Jedoch auf geist darf man in keinem fall rechnen, ob sie nun in lautes gelächter ausbrechen oder nur zierlich lächeln.

Man erlaube mir noch eine andere zunft anzuführen, in der man sicher mehr geist suchen darf - ich meine die geistlichkeit.[3] So wenig es einerseits zu leugnen ist, dass die glieder dieses standes die beste gelegenheit haben, ihre seelenkräfte auszubilden, so gewiss ist es auch, dass die knechtische subordination, die unter ihnen so gut, wie im militär stattfindet, ihrem verstand fast eben so drückende fesseln anlegt. Die blinde Unterwerfung unter glaubensformulare, die ihnen die schule einprägt, vertritt die stelle eines noviziats für den künftigen pfarrer, der doch in der folge die meinung seines rektors oder seines patrons in untertänigkeit verehren muss, wenn es ihm darum zu tun ist, auf seiner laufbahn vorzurücken. Es gibt wohl keinen auffallenderen kontrast als den sklavisch kriechenden gang eines armen pfarrers und den höfischen anstand eines bischofs. Gerade die tiefe verehrung, die der eine einflösst, und die tiefe verachtung, die der andere auf sich zieht - die sind schuld, dass die verwaltung ihrer beiderseitigen, sonst sehr verschiedenen geschäfte, beim einen wie beim andern, ohne nutzen bleibt.

Eine allgemeinere bemerkung, die mir von Wichtigkeit zu sein scheint, ist diese: dass der charakter eines jeden menschen sich gewissermassen mit nach seiner lebensart bildet. Bei einem manne von kopf mag sich dies oft bloss auf einen gewissen anstrich seines äussern benehmens zurückführen lassen, der jedoch in der masse verschwindet, wenn man dem nachgeht, was ihm eigentümlich ist. An schwachen, gewöhnlichen menschen wird man nie mehr als die züge antreffen, die dem charakter ihrer zunft angehören. Ihre ideen wird man in einem gefäss, dem autorität die weihe gab, dergestalt verwässert finden, dass von dem matten geiste, den die traube ihres Stockes dazu gibt, nichts mehr zu schmecken ist.
Aus diesem grunde sollte der staat, so wie sich mehr aufklärung in ihm verbreitet, immer ernstlicher darauf bedacht sein, unter seinen bürgern nicht solche korporationen zu begünstigen, die sie, schon vermöge der natur der ihnen angewiesenen lebensart und berufsgeschäfte in torheit oder laster  stürzen müssen.

Zu einer zeit, wo die Staaten noch in ihrer kindheit waren, wo die menschheit eben im begriffe stand, sich aus der barbarei herauszuarbeiten, da durften freilich heerführer und priester nur die beiden stärksten triebfedern in der maschine einer rohen Staatsverwaltung, nur furcht und hoffnung in bewegung setzen, und mussten dazu unbeschränkte macht besitzen. So musste aristokratie ganz natürlich die erste aller regierungformen werden. Doch halten streitende interessen sich nicht gar lange das gleichgewicht. Aus dem gewirr ehrgeiziger kämpfe geht schnell eine monarchie und eine hierachie hervor, und beide werden auf ihrem grunde durch lehnverhältnisse noch mehr befestigt. Auf diese art denke ich mir den ursprung von monarchenmacht und priestergewalt, und das erste dämmern von kultur. Nun aber lassen stoffe, die so entzündbar als diese sind, sich nicht sehr lange aufbewahren. Durch kriege von aussen und empörungen von innen macht sich das volk einigermassen luft. Es gewinnt in der verwirrung einige gewalt. Und das nötigt dann seine herrscher ihren druck mit einem anstrich von güte zu übertünchen.

So wie demnach kriege und ackerbau, handel und Wissenschaften den geist des volkes erweitern, so sieht sich der despot gezwungen, die macht, die man vordem durch offenbare gewalt an sich gerissen hatte, nunmehr durch schleichende verderbnis fest zu halten.[4] Und dieser giftige, verborgene krebsschaden wird nun durch schwelgerei und aberglauben, die der wahre bodensatz der ehrsucht sind, sehr schnell verbreitet. Die steife puppe eines hofes wird erst selbst ein schwelgerisches ungeheuer, oder ein raffinierter wollüstling, und dann weiss sie die seuche, die ihr unnatürlicher zustand auch über andere verbreitete, noch zum Werkzeug ihrer tyrannei zu machen.
Der verderbliche purpur ist es, der den fortschritt der kultur in qual verwandelt. Er ist es, der den menschlichen verstand bis zu dem grade verblendet, dass leute von reizbarem gefühl nicht länger zu entscheiden wissen, ob zuwachs an einsicht mehr glück oder mehr elend erzeugt. Indessen weist uns die natur des gifts sehr deutlich auf ein gegenmittel hin. Fürwahr, wenn Rousseau bei seinen forschungen auch nur eine stufe höher getreten, oder wenn sein auge im stande gewesen wäre, durch die neblige atmosfäre, die er mit Widerwillen atmete, hindurchzudringen; gewiss sein rascher geist würde dann zu einer höhe sich aufgeschwungen haben, von welcher er die menschliche volkommenheit im ideal der wahren kultur hätte erblicken können, und er würde nicht mit übereiltem fluge zur nacht der rohen Sinnlichkeit herabgesunken sein.