Kapitel 11 - 14

Kapitel 11

Vita versenkte sich in eine schöpferische Schreibphase Ende Juni 1921 las B.M den ersten Entwurf ihrer Kurzgeschichte »Der Erbe«, in der eine Liebesbeziehung zwischen einem einfachen Mann und einem großen Haus beschrieben wird B.M riet ihr »die alte Haushälterin durch einen alten Butler zu ersetzen, dann gäbe es keine Frau im Buch« Vita folgte ihrem Rat und widmete die Geschichte ihrer Mutter.
The Dragon in Shallow Waters wurde in der »Bestsellerliste« von John O'London's Weekly in der Sparte »Belletristik« (vor D.H Lawrence' neuem Roman Liebende Frauen) auf Platz eins gesetzt. Doch die Lyrik war Vita wichtiger. Sie schrieb an Edward Marsh den einflußreichen Herausgeber von Georgien Poetry, um ihn daran zu erinnern, daß er »in einem unbesonnenen Augenblick etwas davon gemurmelt habe, er wolle die beiliegenden Gedichte Mr Squire mit Blick auf den London Mercury zeigen« Und sie fragte, ob er immer noch die Absicht hätte, das zu tun. Er hatte: Vita wurde regelmäßige Mitarbeiterin des Mercury und Mr Squire und »leider auch Mrs Squire« wurden regelmäßige Besucher von Long Barn. Anfang August lud sie den Dichter John Drinkwater zum Dinner ein und nach Tisch lasen sie sich ihre Gedichte vor (Harold befand sich mit Lionel auf einer Segeltour) Sie erhielt die Fahnen einer neuen Sammlung ihrer Gedichte, »Sind sie gut? Sind sie oberflächlich? Ich weiß es nicht.«) Ben feierte seinen siebten Geburtstag; er »kommt zum erstenmal zum Dinner nach unten, trinkt Champagner und schläft ein bißchen besäuselt ein«.
Das häusliche Leben der Nicolsons schien auf wundersame Weise wiederhergestellt, und auch Vitas Leben als Lyrikerin — sie schrieb im traditionellen, antimodernistischen Stil — war durch rasches und müheloses Arbeiten gekennzeichnet. Doch die interessantesten und persönlichsten Texte, an denen sie in jenem Jahr arbeitete, sind nie veröffentlicht worden.
Einer davon ist ein unvollendetes Stück, genannt »Marriage«, ein Ibsen verpflichtetes, feministisches (aber nicht lesbisches) Drama. Cyril und Sheila Temperley leben auf dem Land; Sheila ist eine begabte Pianistin, die wegen ihrer Heirat die Karriere aufgibt. Sie haben zwei Besucher. Der eine ist eine ganz unerwartet eintreffende sonderbare Frau, die »ihren alten Freund« Cyril besuchen will: ihr wird die Tür gewiesen. Dann erscheint ihr Freund Paul Ives - der Sackville-West-Held, der Reisende, »schlank, braun, unordentlich, launenhaft«, der aus Turkestan zurückkehrt. Sheila gesteht Paul ihre Ruhelosigkeit, und er sagt: »Wir alle können uns unsere eigene Freiheit schaffen, wenn wir bereit sind, als Preis mit Teilen unserer Selbstsucht zu bezahlen«: Freiheit innerhalb der Liebe sei die Lösung Sheila hält dagegen, das sei gegen die Kinder nicht fair; es gebe die Konventionen der Gesellschaft und die des Charakters, »und von den beiden sind es die des Charakters, gegen die man nicht ankämpfen kann«.
Im zweiten Akt faßt Paul in Worte, was Sheila nicht auszusprechen wagt: Sie habe das Verlangen, »ein ganzer, selbständiger Mensch und nicht bloß die Hälfte einer zusammengesetzten Person zu sein«; sie spüre, daß ein Mann, trotz Heirat, er selbst bleibe; er werde nicht vor dem Gesetz ein »verheirateter Mann« wie sie eine »verheiratete Frau«.
Sheila sagt ihm, sie wolle lediglich für eine kurze Zeit ihr eigenes Leben leben; sie werde immer zurückkommen. Doch wenn sie den Wunsch äußern würde, ein Jahr für sich zu haben, würden ihr Gatte und die Welt sie für unvernünftig halten. Die Alternative zur Ehe sei der Ledigenstand, der »für eine Frau, die Kinder möchte, ein Leben ohne Inhalt« sei. Nähme sie sich einfach ihre Freiheit, riskiere sie ihre Kinder zu verlieren.
Sie versucht mit Cyrill, ihrem Gatten, über diese Probleme zu sprechen Er bietet ihr Golf, ein neues Auto, einen gemeinsamen Urlaub an - und ist entsetzt, als sie sagt, sie würde lieber allein gehen, da sie ohnehin immer mit ihm zusammen sei Cyril: »Aber das ist natürlich. Wir sind verheiratet.« Er droht ihr mit Scheidung, dann wird er sentimental »Ich habe nie eine andere Frau als dich geliebt Sheila.« Doch das zweifache Maß mit dem er mißt, ist klar zutage getreten. Er räumt ein daß er eine Einladung zu einer sechsmonatigen Großwildjagd (ohne sie) annehmen würde; und das Wiederauftauchen seiner mysteriösen Damenbekanntschaft macht seine Untreue überdeutlich Sheila ist nicht zornig, sondern erleichtert und verkündet, sie werde am folgenden Tag ins Ausland reisen — so wie Vita mit Violet fortging, als sie von Harolds gelegentlichen Seitensprüngen erfuhr.
Aber den letzten Akt konnte Vita nicht schreiben, weil sie nicht wußte, wie. Ihr unvollendetes Stück ist das Abbild ihrer Beziehung zu Harold wenn sie es auch unterließ, eine Violet-Figur einzuführen, und sie konnte das Stück nicht beenden, weil sie das Problem nicht gelöst hatte »Wir sind nicht bloß Cyril und Sheila Temperley; wir sind jeder Mann und jede Frau, gebunden durch die Ehe.«
Am 18 August erfuhr Vita von Pat Dansey, daß Violet nach England kommen werde. Sie bekam Angst — vor sich selbst und vor Violet. Der Eintrag in ihrem Tagebuch für den 26. August lautet lapidar: »L« — für Luschka, dreimal unterstrichen Zum Teil, um ihr zu entgehen, reiste sie mit Gerald und Dottie Wellesley auf den Kontinent Kurz vor ihrem Aufbruch, am 4. September, konzipierte Vita ihr langes Gedicht, das zu ihrem bekanntesten und dauerhaftesten Werk werden sollte: The Land. Harold notierte an diesem Tag: »Vita hat die Idee, eine Art von englischem Georgikon* (*Georgikon: in der Nachfolge von Vergils Georgien (Der Landbau) [Anm. d. Übers)) zu schreiben. Inspiriert durch eine zufällige Bemerkung von J. G. Squire des Inhalts, es sei doch sonderbar, daß die Leute keine Gedichte über die Arbeit schrieben.«
Etwa eine Woche später sagte er Vita und den Wellesleys Lebewohl, die nach Italien fuhren: er sollte sich später zu ihnen gesellen. Die Ferien selbst schienen ihm nicht bedrohlich, doch beim Abschied von Vita reagierte er überempfindlich, wie auch später bei allen längeren Trennungen. Die Furcht und die Ungewißheit, durch Vitas wiederholtes Verschwinden mit Violet hervorgerufen, hatten ihre bleibenden Spuren hinterlassen »Mir war ganz elend«, schrieb Vita in ihr Tagebuch, »denn H. mußte auf dem halbem Weg zum Bahnhof aus dem Taxi steigen; er ging fort und sah ganz bleich und unglücklich aus Im Zug schrieb ich ihm um ihn ein wenig zu trösten.«
Wenn man mit einem Ehepaar reist, bleibt einem der alltägliche Umgangston einer Beziehung nicht verborgen »Mein Gott, dauernd zanken sie sich«, schrieb Vita bei der Ankunft in Verona von dort fuhr Gerald, der auf Barock versessen war, allein nach Parma; Dottie und Vita reisten mit dem Schiff von Triest nach Split in Dalmatien und Vita machte eine Eroberung: »An Bord fing ein Albanier eine Unterhaltung mit mir an und forderte mich auf mitzukommen und mit ihm in den Bergen Albaniens zu leben Sein Vorschlag führte mich in nicht geringe Versuchung, besonders da der Mann jung, großgewachsen, dunkel und gutaussehend war!«
In Ragusa trafen sie Ozzie Dickinson und saßen »alle drei an den Kais und sahen jungen Männern, die wie Bronzefiguren aussahen, beim Baden zu; das erregte mich außerordentlich.« Dottie und Ozzie badeten, »inmitten von Rudeln haariger Männer. Ich saß am Strand und schmollte.« (Vita hatte nie schwimmen gelernt.) Nachdem Ozzie gegangen war »näherte sich uns ein schüchterner kleiner Mann, lüftete höflich den Fez und erkundigte sich nach unseren Bedingungen. Er war so unterwürfig und zaghaft.. Ich sagte so höflich wie möglich, wir seien bereits vergeben. Wir trennten uns mit dem Ausdruck gegenseitiger Wertschätzung.« Vita schien ängstlich darauf bedacht, ihre Hetero-Sexualität sich und der Welt zu beweisen.
Als das Schiff auf der Rückfahrt nach Italien in Cattaro ankerte, saßen Vita und Dottie an Deck, betrachteten die Sterne über der Bucht und den großen kahlen Berg. Vita war plötzlich aufgeregt, weil »er meinem Berg im Buch aufs Haar glich und ich dachte, wie gewaltig die Kathedrale wohl aussehen würde, die ihn krönte« Bei dem Buch handelte es sich um »Reddin«, in dem sie im Anschluß an die Affäre mit Violet, versuchte, eine persönliche Philosophie zu entwickeln, um hinter den Sinn ihres Lebens zu kommen.
Mit »Reddin« schlug sich Vita jahrelang herum: sie schrieb darüber sowohl einen Roman als auch ein langes Gedicht, doch obgleich Harold beide Fassungen bewunderte, hat nur das Gedicht je das Licht der Welt erblickt.

Hab nie gewußt, woher der Name Reddin stammt.
Sein Klang ertönte lang in meinem Ohr.
Den Menschen ganz entrückt kam er mir vor.
Doch barg er Weisheit, unfehlbar, sanft und mild.[1]

Reddin ist ein alter Bildhauer und Architekt von unermeßlicher Toleranz, Integrität und Unvoreingenommenheit, der seinen undogmatischen Idealen ein Denkmal errichtet — eine Kathedrale auf einer Klippe. In Notizen zur Romanversion, überschrieben »Themen dieses Buches«, schrieb Vita, seine Philosophie laufe darauf hinaus,
»a) daß dies Leben bloß eine Brücke sei, ein Sprungbrett, ein Übergang und darum b) jedermann dazu berechtigt sei, das Beste daraus zu machen, ob durch Kunst Körper oder jede Art von Spaß, daß aber c) das Wichtigste sei dabei nie zu vergessen, wie absolut bedeutungslos das alles sei.«
(Das klingt wie ihr »Nichts ist wichtig« aus dem Roman »The King's Secret«, den sie in der Kindheit schrieb!).) Am Schluß wird die Kathedrale zerstört, als die Dummheit und das Mittelmaß über die Intelligenz triumphieren, doch »das Prinzip kann nicht sterben«.
Im Roman (den sie Mitte August begonnen, während des Herbst-Urlaubs mit den Wellesleys in Hotelzimmern weitergeschrieben hatte und dessen Niederschrift sie im folgenden Juni mitten im Satz abbrach, hat Reddin eine Schar von Schülern, mit der er in einer Gemeinschaft lebt. Die für den Biographen interessantesten darunter sind Chloe und Mark, weil sie Züge von Vita und Harald zu tragen scheinen Chloe ist vitaler und »maskuliner« als Mark. Sie sagt zu ihm, sie könne »lyrische Wollust nicht ertragen«; sie zieht ein »gesundes animalisches Verhalten« vor. Mark ist sanft, liebt ein sorgenfreies Leben und ist »eindeutig neurotisch« Bei ihm, spürte Chloe, »mußte sie ihre maskuline, die beschützende Rolle aufgeben; sie mußte ihm schmeicheln, um sich selbst Freude zu bereiten... er hatte den Mann zu spielen und sie die Frau« — aber sie bedauert, daß sie ihre Rolle um so vieles besser spielt als er die seine.
Um ihn körperlich zu lieben, muß sie sich zusammennehmen, um das »unangenehme Gewicht seines Temperaments«, eine »tödliche Masse«, zu ertragen Obgleich sie ihn liebt und ihn begehrt, »wußte sie in ihrer unstillbaren Ehrlichkeit gleichwohl, daß ihr Gefühl am tiefsten war, wenn sie ihn liebte wie ein Mann eine Frau« - oder, wie es an anderer Stelle im Manuskript heißt, wie eine Mutter ihren Sohn. Am 28 Februar schrieb sie an Harold, daß sie ihn liebe, »wie geborene Mütter ihre Kinder lieben« Vita war keine geborene Mutter, es war Harold, der die mütterlichen, beschirmenden Qualitäten in ihr weckte.
In »Reddin« ist Chloes sinnliche Begierde größer als die Marks: er tritt ihr mit »weit gewöhnlicherem Verlangen« gegenüber. Aber er liebt sie und es ist nicht seine Schuld, daß er »soviel weniger zu geben hat« Sie entdeckt in sich selbst »das Temperament, das durch Liebe ganz und gar zerschmettert wird«, obgleich sie sexuelle Liebe mit dem Verstand als oberflächlich klassifiziert und mit Trunkenheit vergleicht. Sie und Mark sind sich geistig zu ähnlich, zu intellektuell und selbstbewußt, um zu ungekünstelter Liebe fähig zu sein: »Wo war die aufrichtige Umarmung von Liebenden?« Liebe ist Sklaverei, ein »hinterlistiger Bastard«, nicht vertrauenswürdig; ehrliche Begierde ist »eine fröhliche Gefährtin.«
Harold mit seinem kühleren Temperament hätte diesem Urteil zugestimmt Es ist denkbar, daß einige der Vorstellungen in »Reddin« auf ihn zurücksehen, ein Ergebnis seines Wunsches sind, Vitas emotionalen Überschwang zu mäßigen. Die Chloe im Manuskript ärgerte sich über die Versklavung durch die Liebe, fühlte sich indes einsam ohne sie erst recht, wenn sie sich der Lust mit einem anderen ihrer Gefährten hingab. Und Vita konnte den Roman ebensowenig beenden wie das Theaterstück, weil sie die Konflikte nicht lösen konnte.
Am 6 Oktober trafen Dorothy Wellesley und Vita in Rom mit Lord Gerald und Harold zusammen (der sich in Lord Berners Rolls-Royce in Frascati amüsiert hatte). Die Frauen kamen um Mitternacht an. Jemand rüttelte an Harolds Schlafzimmertür - »Meine liebe Viti« In den folgenden Tagen ging man zu viert oder paarweise, einkaufen oder auf Besichtigungstour und traf kurz mit dem Architekten Geoffrey Scott zusammen, dem Vita und Rosamund in Florenz begegnet waren.
Sie reisten weiter nach Venedig. Gereizte Stimmung kam auf. Harolds Tagebuch: »Vita sagt, sie mag die Salute* (* Die Kirche Santa Maria della Salute, deren Kuppel ein Wahrzeichen Venedigs ist (Anm. d. Übers.), was Dottie sehr verärgert. In gespannter Atmosphäre kommen wir zur Piazza, der Dogenpalast erregt Gerrys Mißfallen Vita findet seine Farbe recht hübsch Gerry sagt, er sehe aus wie eine fette deutsche Lady in grober Spitzenunterwäsche, und deutet auf die Salute, um zu zeigen, daß es Leute gebe, die sich besser auf's Bauen verstünden. Dann kehren wir stumm in einer Gondel zurück.«
Weiter nach Wien, »alle ziemlich angespannt« Harold ging mit Gerry »auf eine Sauftour«, bevor er in sein »scheußliches Zimmer« zurückkehrte (Vita, nur ihren »Reddin« im Kopf, bat ihn nicht in das ihre zu kommen.) Die Stimmung; besserte sich, als sie dahinterkamen, wie preiswert alles für Ausländer in Österreich war In einem Brief an ihre Mutter beschrieb Vita das von der Inflation geschüttelte Wien von 10,21: »Man kauft Seidenstrümpfe für 2500 Kronen das Paar — was eigentlich 100 Pfund sind, zur Zeit aber nur 3 Shillings! Es war phantastisch.« Dottie hatte für vier Pfund ein Zigarettenetui erstanden, das eigentlich 2000 Pfund hätte kosten müssen Vita. begriff das Elend, das sich dahinter verbarg:
»Wenn die erste Freude und das Erstaunen darüber abgeklungen sind, daß man für einen englischen Fünfer ein Bündel von 10 000 Kronen bekommt, wird das alles ziemlich schrecklich. Sieht man sich die Leute in den Straßen ein wenig genauer an erkennt man wie notleidend und abgerissen sie sind; und man begreift, daß die Läden in den eleganten Straßen nichts als ein fauler Zauber sind: die ganze Stadt war wie ein stolzer geräumiger Friedhof, voller Hunger und Elend, während zugleich die Straßen und Paläste, von den Habsburgern erbaut, ihre Pracht zur Schau stellen.«
In München, wo Harold Vita einen Mantel kaufte, geriet man nach dem Dinner in einen Streit über Frauen. Harolds Tagebuch: »Vita sagte Gerry und ich hätten uns ein >spöttisches Gehabe< angewöhnt. Sie gab zu, Frauen seien albern, doch führte sie das auf die Jahre der Unterdrückung zurück. Darauf wurden wir alle ziemlich ärgerlich und gingen wütend zu Bett.« Am nächsten Tag gerieten sie in der Gemäldegalerie abermals aneinander. Vita und Dottie wehrten sich dagegen, daß ihre Ehemänner ihnen rieten, sie sollten nicht so laut reden, Dottie erwiderte, sie für ihr Teil sei stolz darauf, eine Engländerin zu sein. Tatsächlich begegnete ihnen nirgendwo nationalistische Feindseligkeit, wie Vita an ihre Mutter schrieb, obgleich das Kriegsende erst drei Jahre zurücklag: »Die Leute sind durch die Bank die Höflichkeit selbst«:

  • »Das erscheint mir höchst ungewöhnlich und nimmt mich weit mehr gegen sie [die Deutschen] ein als der Krieg; es offenbart einen schier unglaublichen Mangel an Stolz und Würde. Hier machen die Leute in den Geschäften sogar ihre Scherze über den geringen Wert der Mark seit dem letzten Krieg«, wie sie ihn nennen; sie scheinen in Kriegen zu denken. Wir kamen hier zur rechten Zeit an als die Mark ihren niedrigsten Stand erreicht hatte, nachdem sie im Lauf einer Woche von 200 auf 70 gefallen war. Die ganze Atmosphäre in der Stadt ist völlig anders als in Wien: sie ist sauber, heiter, blühend und ordentlich. Ich habe eine große Menge Strümpfe für 9d das Paar gekauft.«

Ende Oktober waren sie wieder zu Hause, und B.M. fand, daß ihre Tochter »prächtig aussah, schön, friedfertig, gesund, und so reizend zu den Kindern« sei. Dorothy Wellesley kam B.M ebenfalls besuchen und versicherte ihr Vitas Gefühle für Violet seien »mausetot«  Ein Gedicht, vielleicht für Dottie geschrieben »Full Moon« erschien am Sonntag darauf im Observer (»Sie trug aus Taft korallenrote Hosen, / die jemand ihr aus Isfahan gebracht«).
Das Gedicht entstammte ihrem neuen Gedichtband Orchard and Vineyard, der am 11. November herauskam J. L. Garvin der Herausgeber des Observer heiratete in diesem Dezember; Vita sandte ihm ein überaus generöses Hochzeitsgeschenk einen elektrischen Ofen, der genau das war was er brauchte, wie B.M. versicherte, die sich ihm um Vitas willen beharrlich widmete. Wie der Titel vermuten läßt, enthielt Orchard and Vineyard Gedichte vom Leben in Kent - einige davon wurden in he Land aufgenommen - und Gedichte aus dem Mittelmeerraum Er enthält außerdem Gedichte über Knole und Liebesgedichte an »Eve«: Gedichte der Rebellion, des Hasses und der Bitterkeit gegen die Gesellschaft, die in den schlimmsten Zeiten der Violet-Affäre geschrieben worden waren, Gedichte über Long Barn, Gartengedichte und ein Heimkehr-Gedicht, »Night« Harold gewidmet - dem sie zum Geburtstag in diesem Monat acht Acres von Kent schenkte, zusätzlich zu den dreiunddreißig, die sie bereits besaßen. Ein Leser, der mit dem Hintergrund vertraut ist kann in Orchard und Vineyard die Verwirrung der Gefühle der vorangegangenen Jahre nachvollziehen: doch dem gewöhnlichen Leser des Jahres 1921 fehlte dieser Schlüssel.
In diesem Herbst wurde bekanntgegeben, daß sich Lord Las-Celles, Vitas alter Verehrer, mit Prinzessin Mary, der Tochter von König George V, verlobt habe. »Ich höre, daß der König und die Königin ihn solange bedrängten, bis er seinen Antrag machte, der mit Freuden akzeptiert wurde!« schrieb B.M maliziös in ihr Tagebuch »Vita schreibt, wie glücklich er jetzt wohl sein müsse, nachdem sie ihn immer und immer wieder abgewiesen habe! Und B.M erinnerte sich, wie er sie in Knole in ihrem chinesischen Zimmer »anflehte, Vitas Widerstand zu brechen«.
Für B.M war Knole nun verschlossen, die Nicholsons und ihre Kinder verbrachten Weihnachten bei ihr in Brighton Harold arbeitete an seinem Buch über Tennyson und Vita begann mit einer Geschichte Knoles. B.M war stolz, weil es für Vita nützlich war »daß ich alles in meinen Büchern festgehalten hatte, was ich über Knole und die Sackvilles entdeckt hatte« Knole diente als Schauplatz für einen Film »The Great Adventure« den Vita Harold und die Wellesleys im Januar 1922 sahen; Lady Diana Manners - jetzt Lady Diana Cooper und Vitas glanzvollste Zeitgenossin — wirkte darin mit »Diana wunderschön, aber amateurhaft« notierte Harold.
Sie trafen Aldous Huxley und sie hörten Edith Sitwells Rezitation von Facade. Vita wurde aufgefordert Beiträge für den Weekly Despatch zu liefern, und schrieb weitere Geschichten, um sie zusammen mit »Der Erbe« zu einem Band zu vereinigen. Ihre Mutter zeigte sich durch eine dieser Geschichten, »The Tale of Mr. Peter Brown: Chelsea Justice«, besonders beeindruckt. Es war keine neue Geschichte; sie hatte sie bereits in The New Decameron unter einem anderen Titel veröffentlicht. Das Thema sollte Vita später erneut aufgreifen - die zeitlose Dreierkombination vom Hausfreund, der beide Gatten liebt, aber die Frau stärker als den Mann. Der Ehemann versucht, seine Eifersucht zu unterdrücken, scheitert und nimmt Rache. Es sei merkwürdig, schrieb B.M,, daß Vitas Einbildungskraft sich auf »derart verrückte Gegenstände richtet, ganz im Gegensatz zu dem Eindruck, den sie den Leuten vermittelt. Sie ist so ruhig, so reserviert - reizendes Mädchen.«
Vita und Harold waren fleißig und gesellig, doch in den Augen von B.M nicht gesellig genug In ihrem Manuskript »Buch der Erinnerungen«, in diesem Jahr verfaßt, beurteilt sie ihre dreißigjährige Tochter;

  • »Ihr Teint ist herrlich; auch ihre Augen mit ihrem doppelten Vorhang langer Wimpern. Sie strahlt Würde und Ruhe aus ist nicht im mindesten eingebildet und läßt, da sie ein so ruhiges und zurückgezogenes Leben führt, die meisten Gelegenheiten aus, wo sie doch jedermann von Bedeutung kennen sollte. Sie zu durchschauen, ist sehr schwer. Für mich, die ich sie ziemlich gut kenne, ist sie eine schöne Maske.«

Vita trug »seit der quälenden V.-Affäre« eine noch undurchdringlichere Maske, als ihre Mutter sich träumen ließ Sie glaubte, eines Tages werde sich Vita Hals über Kopf in einen Mann verlieben; »Sie ist oder scheint Harold völlig zugetan, aber sexuell verbindet sie nicht mehr das geringste, was bei einem so jungen und gutaussehenden Paar sonderbar ist. Sie ist auf H. nicht im mindesten eifersüchtig und gestattet ihm sich nach Lust und Laune mit jemand anderem zu amüsieren.« B.M fragte sich, wo Vita in diesem ungewöhnlichen Arrangement wohl bliebe »Und sind ihre Darstellungen von Liebe und Leidenschaft eine Beschreibung ihrer eigenen Gefühle?« B.M wollte nicht, daß Vita noch einmal litt »Sie scheint jetzt zufrieden, aber der Vulkan ist da, bereit, auszubrechen, da bin ich sicher.« Sechzig Jahre später benutzte Vitas italienische Schwiegertochter dasselbe Bild für sie: »wie eine Naturkraft, wie der Vesuv«.
Rosamund Crosvenor kam mit ihrer alten Liebe Reggie Rakes auf Besuch nach Long Barn. Sie die zwei Jahre später Captain Jack Lynch heiraten sollte, vermochte den Vesuv jetzt nicht zum Ausbruch zu bringen.
The Heir wurde veröffentlicht, und in den ersten vierzehn Tagen wurden 1400 Exemplare verkauft: die einzige negative Rezension stammte von Rebecca West. B.M kam zu dem Schluß, Rebecca habe der noch immer sehr unglücklichen Violet einen Gefallen tun wollen. In den Geschichten, die eher als »Füllsel« anzusehen sind hat Vita ihre Lieblingsthemen behandelt: »The Christinas Party«, gewidmet A[prile] (ihr Kosename für Dorothy Wellesley), behandelt die dramatische Rache einer unangepaßten Frau an ihrer spießigen Familie. Der Held von »Patience« ist ein Mann, der mit einer hübschen, langweiligen Frau verheiratet ist und von einem sorglosen wilden Mädchen träumt, mit dem er vor langer Zeit zur Sonne reiste.
Sir Edmund Gosse, Doyen der Schriftsteller, gratulierte ihr zu den Geschichten und schrieb, daß »wir sie im Familienkreis vorgelesen haben« Auch John Galsworthy schrieb (Vor kurzem hatte Vita ihn im PEN-Club getroffen und als »Pedanten mit verkümmerten Flügeln« abgetan.) Soweit es ihre Arbeit zuließ, war sie jetzt viel mit Pat Dansey zusammen, die eine exzentrisch großzügige Strähne gehabt und Vita mit einem Auto beschenkt hatte. Jedoch Dorothy Wellesley war ihre engste Freundin geworden: und um Dotties Ehe stand es nicht zum besten. Die Wochenenden bei den Wellesleys in Sheffield Court nahe Basingston waren angespannt »Schlimm«, schrieb Vita am 1. Juli in ihr Tagebuch, und einen Tag darauf: »Schlimmer.« Gegen Mitte September war Harold ungeduldig geworden: »Ich glaube, Dottie macht einen Fehler, wenn sie versucht, zu einer und derselben Zeit die Distelwolle und die Distel zu sein!«
Vita beendete ihr Buch über Knole and the Sackvilles. Vor dem endgültigen Abschluß schrieb sie an ihren Vetter Eddy Sackville-West: »Sie waren eine niederträchtige Bande und fast alle total verrückt. Du und ich haben ein hübsches Erbe mitbekommen, gegen das wir ankämpfen müssen.« Ihr Freund Michael Sadleir bei Constable lehnte das Buch ab (die Herstellung sei zu kostspielig) Collins bot sie das Buch wegen der dortigen Verärgerung über die Zurücknahme von Challenge nicht an. Schließlich bot ihr Heinemann einen Vorschuß von 150 Pfund: das Buch wurde auch in Amerika angenommen.
Vita war darauf bedacht, B.M.'s unangebrachten öffentlichen Aktivitäten zu ihren Gunsten ein Ende zu machen. Eine Vorwarnung war von Eddie Marsh gekommen, der sechs ihrer Gedichte für Georgien Poetry 1922-23 angenommen, »Leopards in Knole« jedoch abgelehnt hatte, da es »zu versnobt und auch im Ausdruck sehr unbeholfen« sei. Im Juli schrieb Vita an ihre Mutter, es sei »unheilvoll, in der Gesellschaft die Werbetrommel zu rühren«:

  • »Es gibt eine ganz scharfe Trennlinie zwischen dem gesellschaftlichen und dem beruflichen Leben, und auf gar keinen Fall möchte ich als Laienschriftstellerin gebrandmarkt werden Ich habe viel wiedergutzumachen — viele unvorteilhafte Vorteile. Es ist, verstehst du, nicht nur eine Erage mangelnden Selbstvertrauens, sondern auch der Klugheit. Jene Leute, die Ruf einbringen oder zerstören, sind die berufsmäßigen Kritiker. und die gehen natürlicherweise mit einem Vorurteil gegen die Dilettanten ans Werk.«

Vita wollte die falsche Art von Öffentlichkeit vermeiden, wie sie die Gesellschaftsseiten von Vogue und Tatler offerierten »Immer vorausgesetzt, daß mein Schreiben überhaupt einen Wert hat wird es mit der Zeit bekannt werden: und mein Verdienst liegt ganz gewiß nicht darin, daß ich das Talent hätte, jemals >Bestseller< zu schreiben.« B M dachte, sie sei verrückt. Als im November Knole and the Sackvilles erschien, flehte sie sie abermals an: »Wenn du in London mit literarisch interessierten Leuten zusammenkommst... erwähne ihnen gegenüber mein Buch nicht.«
Sie hatte bereits ein neues Buch begonnen; mit Pat Dansey fuhr sie nach Avebury in Wiltshire, um den Hintergrund des Romans zu recherchieren, der den Titel Grey Wethers tragen sollte. Mit Dottie fuhr sie nach Wales. Pat und Dottie begannen einander zu grollen und wetteiferten darin, neue Pflanzen für Vitas Garten anzuschleppen. Vita weckte in fast allen ihrer engen Freundinnen den Wunsch zu besitzen und die Abhängigkeit; sie lernte bald, diese Verbindungen streng zu trennen, was ihr auch viel lieber war.
Einen neuen Freund fand sie 1922 in Clive Bell; er gab Vita einen Roman seiner Schwägerin Virginia Woolf zu lesen. Am 10. November schrieb sie an den »Lieben Mr Bell«: »Ich fing an, Jacobs Raum zu lesen, und fand das Buch interessant und leicht verwirrend, als jemand sich auf das Buch stürzte, es auslieh und mir wegnahm. Doch sagen Sie bitte Mrs. Woolf daß ich durch das wenige, das ich las angeregt wurde - falls ihr nach Ihrer Meinung daran liegen könnte, das von mir zu hören.«[2]
Harold hielt sich wegen der Türkei-Konferenz in Lausanne auf. Vita richtete sich mit Canute und Freya ihren Elchhunden und mit Sven, Derry und Anactoria ihren jungen Welpen, in Long Barn ein. In täglichen Briefen an Harold berichtete sie von ihren Aktivitäten. Am 22 November: »Unter deinem Fenster habe ich ein Beet umgegraben und die Hecke für den neuen Weg bestellt — rote und rosafarbene Dornensträucher, findest Du nicht auch, daß sich das hübsch machen wird?«
Am selben Tag schrieb sie an B.M, Clive Bell habe sie zum Dinner mit Virginia Woolf nach London eingeladen, sie habe ihn jedoch auf später vertröstet, um ihre letzten Tage in Long Barn nicht zu unterbrechen, bevor sie für den Winter nach London ginge. Es gäbe noch so vieles, das sie zu erledigen wünsche. An Harold am 25 November:

  • »Am Eingang gibt es neue Kletterrosen; in meiner Rabatte Unmengen neuer orangefarbener Lilien; viel Dünger und Kompost; ein neues Erdbeerenbeet; neue Rosen in den Ölkrügen: keine Dorothy Perkins mehr; für beide Treppen irische Eiben bestellt; also bleiben jetzt wirklich nur noch die Pappeln, die verpflanzt werden müssen. Hast du keine Sehnsucht nach dem Frühling?«

»Ich werde immer nur dich lieben«, sagte sie Harold in diesem Herbst, »du bist die Liebe meines Lebens - was ich keiner lebenden Seele außer dir je gesagt habe.« - Sie erzählte ihm auch, daß Dottie, als sie in Long Barn weilte, während eines Sturmes »nachts um zwei in meinem Zimmer auftauchte«, jedoch auf der Stelle »energisch in ihr Zimmer zurückgeschickt wurde. Es geht ihr viel besser ...« - aber sie verlangte immer Vita solle mit ihr nach Sherfield kommen »Wenn ich Abneigung signalisiere, gibt es Tränenströme und Zynismen. Meine Güte.« Und Pat Dansey die über Weihnachten nach Brighton eingeladen worden war setzte Vita davon m Kenntnis, daß sie unheilbar krank sei und ihr ihren ganzen Besitz hinterlassen habe. Vita war peinlich berührt und wußte nicht, was sie sagen sollte »Ich glaube wirklich, sie ist der komischste Kauz, dem ich je begegnet bin.« Wie komisch, sollte sie noch entdecken. Als nächstes verkündete Pat die ihr vorausgesagtes Hinscheiden vergessen hatte, sie werde in Südafrika eine Orangenplantage betreiben und schenke Vita den Inhalt ihrer Weinkeller auf Berkeley Castle - »den ganzen Champagner und ein bißchen köstlichen Sauterne«.
Pat immer in enger Verbindung mit Violet, ließ Vita wissen, die zerstörte und zerstörende junge Frau sei Anfang Dezember wieder in London. Harold in Lausanne war entsetzt Vita schickte ihm ein beruhigendes Telegramm und dann diesen Brief:

  • »Liebling, mein einziger Liebling, nicht für eine Million Pfund möchte ich mit V. wieder etwas zu tun haben; ich hasse sie wegen all des Elends, das sie über uns gebracht hat. Sie rief mich an (Ich bitte dich, erzähle ja nur niemandem davon), und ich veranlaßte Dottie als Zeugin im Zimmer zu bleiben, während ich ihr sagte, nichts könne mich dazu bringen, sie zu sehen. Ich wolle niemals mehr etwas mit ihr zu schaffen haben: diese Langeweile und die Lügen und die Streitereien — oh nein, nein, nein.«

Drei Tage darauf belebten sie andere Hoffnungen; sie hatte die kleine Pilar gesehen, die Tochter des spanischen Ehepaares, das in Ebury Street arbeitete, »wie sie splitternackt im dunklen Gang stand, das rote Licht des Ofens auf ihrem kleinen runden Körper, und die Arme um Canutes Hals geschlungen hatte. Sie sah so niedlich aus. Mein Liebling, ich wünschte, sie wäre unsere Tochter Ich liebe dich so.«
Obgleich er über Weihnachten nicht zu Hause hatte sein können, nannte Harold 1922 »das beste Jahr seit 1914« Er erhielt die Fahnen seines Tennyson-Buches, als das Buch veröffentlicht war schrieb er in ein Exemplar für Vita: »Überreicht V. Sackville-West von ihrem Liebsten Harold Nicolson.« »Mit den Fahnen unserer Bücher könnten wir ein Badezimmer tapezieren!« schrieb Vita »B M würde es tun Oh, lieber Gott, verhüte, daß B.M jemals an so etwas denkt Amen.« (B. M. hatte einst in Knole ein Zimmer vollständig mit gebrauchten Briefmarken tapeziert.)
Gegen Ende des Jahres hatte Vita ihren Roman Grey Wethers nahezu vollendet, als The Heir von S.P.B Mais im Daily Express mit Katherine Mansfields Das Gartenfest zusammen besprochen wurde. Mais schrieb, das letztgenannte Buch bewege sich »für die Kürze des Buches« gewitzter, doch das von V. Sackville-West verfüge »über eine robustere Gesundheit« Er war der Wahrheit näher, als er vielleicht wünschte; Katherine Mansfield starb 1923 in Frankreich an Tuberkulose.
Vita hatte ebenfalls nach Kräften an »Reddin« gearbeitet (»Niemand außer mir wird das Buch verstehen«), Knole and the Sackvilles wurde nachgedruckt, und obgleich sie das Buch eine rein kommerziell ausgerichtete Arbeit nannte, trug es ihr eine Flut von Briefen ein, darunter solche von Ahnenforschern, Langweilern, Spinnern, Träumern, Freunden und Fremden. The Diary of the Lady Anne Clifford das das Knole-Buch weiterführte, war in Vorbereitung; Orchard and Vineyard war erschienen. Sie war in Georgian Poetry und vielen Zeitschriften hervorgetreten und in das Komitee des PEN-Clubs gewählt worden. Vita Sackville-West war eine etablierte Schriftstellerin.
Auch der fünfjährige Nigel näherte sich 1922 der Welt der Literatur. Am Weihnachtsabend schrieb er an den Herausgeber der Kinderzeitschrift, Rainbow »Werter Herausgeber, im Januar werde ich Sie besuchen kommen und die Bruin-Jungens auch. Ich möchte an meinem Geburtstag kommen, also erwarten Sie mich.« Vita gefiel besonders die »leicht verhüllte Drohung«, die er seinen Zeilen unterlegte. Nigel belustigte und Ben rührte sie. Am 31.12 schrieb sie an Harold:

  • »Heute sagte ich zu Ben ich sei müde und wolle mich ausruhen Als ich fünf Minuten später in mein Zimmer kam, stand er neben meinem Bett, und Tränen liefen ihm über das Gesicht. Ich fragte: Gütiger Gott, Ben was ist los? Es gab einen Ausbruch. Er barg sein nasses Gesicht an meinen Hals und schluchzte, er könne den Gedanken nicht ertragen, daß ich müde sei, und er sei gekommen, um zu sehen, ob er mir eine Wärmflasche bringen könne Ich nahm ihn in die Arme, worauf er sich abrupt und verärgert umdrehte und sagte, er müsse jetzt Tee trinken gehen.
    Und als ich ins Bett ging, fand ich am Fußende eine wohltemperierte Wärmflasche vor.«

Das aufgeschobene Dinner mit Clive Bell und Virginia Woolf (»Sah sie sehr verrückt aus?« wollte Harold wissen) hatte am 14. Dezember stattgefunden. Über den Abend findet sich in Vitas Tagebuch kein Kommentar. Mrs. Woolf fand an Vita mehr Interesse als diese an ihr und schrieb am 15 Dezember:

  • »Mein Kopf ist zu vernebelt, um etwas zustande zu bringen. Dies ist zum Teil auf das Dinner mit der ansprechend begabten aristokratischen Sackville-West gestern abend bei Clive zurückzuführen. Nicht ganz exakt nach meinem Geschmack — blühend, schnurrbärtig, papageienbunt, mit jener geschmeidigen Ungezwungenheit der Aristokratie, doch ohne den Geist der Künstlerin. Sie schreibt 15 Seiten am Tag - hat ein neues Buch vollendet - verlegt bei Heinemann — kennt jeden — Werde ich sie indes je kennen? Ich werde am Dienstag dort [Ebury Street] speisen.«[3]

Es war Vitas Würde, die Mrs Woolf zuerst faszinierte. Die aristokratische Lebensart, wie sie notierte, war die einer Schauspielerin: »keine falsche Schüchternheit oder Bescheidenheit: bei Tisch fiel eine Perle in ihren Teller — schenkt sie Clive - bittet um Likör -läßt sich nicht in Verlegenheit bringen - bringt es fertig, daß ich mir jungfräulich vorkomme, eingeschüchtert, schulmädchenhaft Doch nach dem Essen verwickelte ich sie in Diskussionen Sie ist ein Grenadier: hart, tüchtig, männlich; Ansatz zum Doppelkinn.«[4] Am 7. Januar 1923 war der Grenadier »die neue Erscheinung Vita« geworden, »die mir jeden zweiten Tag ein Buch schenkt« Das war unaufrichtig: Mrs Woolf hatte brieflich um das Knole-Buch und um Oichard and Vineyard gebeten. Damit begann eine rasche Folge gegenseitiger Einladungen zum Dinner.
Am 9. Januar starb Katherine Mansfield. Für Virginia Woolf war sie sowohl als Kollegin wie auch als Persönlichkeit von beunruhigender Bedeutung gewesen. Lange danach erzählte Mrs. Woolf Vita, daß Katherine Mansfield über eine Eigenschaft verfügt habe »die ich verehrte und brauchte: es war ihre Schärfe, glaube ich und ihr Realitätssinn«.«[5] Ihr Tod im Jahr 1923 hinterließ ein Vakuum, das Vita mehr als hinlänglich ausfüllen sollte.

Kapitel 12

Vita geriet in Virgina Woolfs Bann, betört durch deren Interesse an ihr und die Faszination ihrer Persönlichkeit Bald nachdem sie sich kennengelernt hatten, erfuhr Mrs. Woolf, Vita sei »eine entschiedene Anhängerin Sapphos — und hat, wie Ethel Sands glaubt, möglicherweise ein Auge auf mich geworfen, alt, wie ich bin« (Sie war zehn Jahre älter als Vita.) »Snobistisch, wie ich bin, verlege ich ihre Leidenschaft 500 Jahre zurück, und sie erscheint mir romantisch, wie alter, gelber Wein.«[1]
Im Februar folgte Vita Harolds Wunsch und verbrachte zehn Tage bei ihm in Lausanne Er hatte sie gebeten: »bring Dottie nicht mit, es sei denn, es läßt sich nicht vermeiden... oh bitte komme, Liebling.« Dottie war sehr anhänglich geworden. Man kann unmöglich wissen, welchen Anteil Vitas Einfluß und Anziehung an der Zerrüttung der Wellesley'schen Ehe hatte. Klar ist daß Dottie sich immer mehr an Vita klammerte, je schlechter das Verhältnis zwischen den beiden Ehepartnern wurde. Am 12. Februar schrieb Vita an Harold:

  • »Morgen muß ich nach Sheffield fahren, o, verdammt, verdammt verdammt. Aber der beigefügte Brief [von Dottie] wird dir ein Bild von dem Zustand vermitteln, in dem das gequälte kleine Geschöpf sich befindet. Aber es ist eine große Last, besonders weil ich nicht will, daß die Leute sagen, ich hätte etwas damit zu tun daß es in ihrer Ehe nicht klappte, was sie vermutlich nur allzu gern sagen würden. Ich will da nicht hineingezogen werden, nicht um deinetwillen und nicht um meinetwillen. Von dieser Sorte Ärger haben wir genug gehabt, nicht wahr?«

Vitas Affäre mit Violet war in die Gefilde des höheren Klatsches vorgedrungen. In diesem Jahr erschien Ronald Firbanks The Flower Beneath the Foot in dem Vita, die Firbanks nie begegnet war, als die Ehrenwerte Mrs. Chillywater auftritt, schreibende Ehefrau eines jungen Diplomaten:

  • »Mrs Harold Chillywater, née Victoria Gellyborne Frinton und einzige Erbin von Lord Seafairer auf Sevenelms Kent hatte seit ihrer Heirat >aus Liebe< einen beunruhigenden Hang zur Belletristik entwickelt - ein Hang, dem man seitens des Auswärtigen Amtes mit mißbilligender Nachsicht begegnete. Bis jetzt haben sich ihre Bemühungen (geschrieben unter ihrem Mädchennamen, an den sie der Vollständigkeit halber den ihres Gatten anhängte) auf unheimliche Studien über das Leben der einfachen Leute (von dem sie überhaupt nichts versteht) beschränkt, doch hat man dem Ehrenwerten Harold Chillywater diskret zu verstehen gegeben, der Stil seiner Gattin müsse wirklich, wolle er nicht bis ans Ende seiner Laufbahn in Kairoulla bleiben, weniger viril werden.«

Harold war Ronald Firbanks begegnet: und er sollte ihn später seinerseits als »Lambert Orme« in Sonic People porträtieren. Während sich Vita Sorgen um Dorothy Wellesley machte, erschien Chalenge - ihre damals zurückgezogene Ausgabe der Liebesgeschichte um Julian und Eve — in den Vereinigten Staaten bei Doran, dem Verlag, der auch Knole and the Sackvilles herausgebracht hatte. Es war in Amerika bekannt, daß Challenge in England zurückgezogen worden war, doch über die Gründe wußte man nichts. Neunmalkluge tischten plausible, aber falsche Erklärungen auf. So verkündete der New Yorker Bookman im Juni 1923 triumphierend V. Sackville-Wests Roman habe eine »wirkliche Familie« zum Gegenstand, die er »im allgemeinen und im besonderen behandelt. Diese Familie ist zum Teil die der Verfasserin, und sie war nicht ohne Einfluß.« (Julian heißt im Buch mit Nachnamen Davenant; er ist in revolutionäre Umtriebe verwickelt, und seine Familie verfügt über alte Handelsbeziehungen zu Griechenland und dem Mittleren Osten.) Es seien die englischen Gesetze gegen Schmähschriften gewesen, schrieb der Bookman, welche die Zurückziehung des Buches erzwungen hätten Der Rezensent verglich den Roman mit (Conrads Nostromo und besprach ihn respektvoll.
Vita gab George H. Doran die Anweisung, ein Exemplar an Violet Trefusis zu schicken, der das Buch gewidmet war.
Harolds Tennyson kam im März heraus; am Erscheinungstag war er wieder in England, und er und Vita gingen zu einer echten Bloomsbury Dinnerparty in Gordon Square mit den Woolfs, Duncan Grant, Clive Bell und Lytton Strachey. Es war kein Erfolg. Die Nicolsons als Paar fanden keinen Kontakt zu Bloomsbury als Gruppe »Ich meine«, schrieb Mrs. Woolf »daß wir sie beide für unheilbar stupid hielten. Er ist gutmütig-derb, aber so distanzlos; sie richtet sich nach ihm und hatte, nach Duncans Meinung, keine Chance, selbst etwas zu sagen. Lytton der geschmeidig und elegant wie ein alter Lederhandschuh ist, ließ ihre Steifheit um so deutlicher spürbar werden. Es war ein knochentrockener, unglaublicher Abend.«[2]
Vita, die die öffentliche und organisatorische Seite des literarischen Lebens akzeptiert hatte, mißverstand Virginia Woolf gründlich, als sie sie formal einlud, dem PEN-Club beizutreten; Mrs Woolf lehnte höflich ab (vermutlich lehnte sie ab. weil man einander möglicherweise mit Vornamen hätte anreden müssen) Vita hingegen war im Mai im »Trocadero« Gast beim jährlichen Dinner der Englischen Sektion. Lord Grey of Falloden hatte den Vorsitz, und Vita und der spanische Botschafter erwiderten für die Gäste die Toasts.
Ihre Mutter war zwar durch ihre öffentlichen Erfolge beeindruckt, weniger jedoch von ihren Leistungen als Hausfrau Sie war
verärgert über den Zustand, in welchem Ebury Street 182 zurückblieb, als die Nicolsons für den Sommer nach Long Barn gingen: »Zwei Sofas mit heraushängenden Sprungfedern, Stickereien an Couches ganz verdorben und dicker Schmutz überall. Ich suche nach Entschuldigungen für sie, da sie talentiert ist und emsig schreibt. Long Barn ist ebenfalls in schlechtem Zustand!«
B. M. selbst verkaufte ihr großes Haus in Brighton und zog nach White Lodge ins nahe Roedean. In ihrem Haus in Brighton veranstaltete sie eine siebentägige Versteigerung und entledigte sich des größten Teils von Seerys Möbeln, Schmuck - darunter ein Halsband aus zweiundvierzig Diamanten, das Königin Catherine Parr gehört hatte - und Skulpturen von Rodin und Epstein. Sie schenkte Vita zwölf weitere vollkommene Perlen, die zu denen gehörten, die Seery ihr hinterlassen hatte, so daß Vita jetzt über eine lange, imposante Perlenkette verfügte: sie trug sie tagsüber zu maßgeschneiderten Seidenhemden.
Vitas dritter Roman, Grey Wethers, erschien in England und fand eine gemischte Aufnahme. Das Buch ist der archetypische frühe V. Sackville-West-Roman. Im Mittelpunkt steht Clare, verheiratet mit einem überkultivierten, unverkennbar nicht-maskulinen Mann, die verliebt ist in den hageren, dunklen Zigeunertyp Lovel. »Sie hatte Angst, daß ein Tag kommen würde, an dem sie gezwungen wäre, sich wieder einmal nicht zu belügen: wenn das anständige, gewöhnliche, konventionelle Ich mit einem Schlag aufgehoben wäre.« Vitas Geschichte ist narzißtisch: Sie ist sowohl Clare als auch Lovel, verliebt in beide Hälften ihres Ichs, die im Roman, ineinander verliebt sind   (Im Leben konnte sie nicht so leicht starke, maskuline Männer finden. Sie liebte Harold; in zwei Monaten sollte sie sich zu einem schwachen, kultivierten Mann hingezogen fühlen, den ihre unsentimentale Vitalität reizte.)
Raymond Mortimer, der Grey Wethers in der Nation besprach, lobte das Buch zunächst, bevor er schrieb, daß »alles, was sie schreibt, von der verheerenden Ungeniertheit verdorben wird, mit der sie in eine gewisse Art von leerer Rhetorik verfällt« Das entbehrt nicht der Ironie, weil einer der Kritikpunkte Clares an ihrem Gatten im Roman darin besteht, daß er, obwohl sein Schmerz echt ist  theatralisch ist und »Phrasendrescherei nicht unterlassen kann« In Grey Wether war Vita Harolds Rat gefolgt, ihren Fluchtphantasien freies Spiel zu lassen: Gare und Lovel ergreifen für immer die Flucht, tun das woran Vita und Violet gescheitert waren. In späteren Jahren ließ sich Vita nicht gern an diesen Roman erinnern.
Im Juli 1923 machten Harold und Vita die Art von Ferien, die sie mochten - nur sie beide und fern von allem: eine Fußwanderung. Die Wirklichkeit war möglicherweise weniger romantisch B.M s Tagebuch:
»Harold und Vita kamen in aller Frühe an [in White Lodge] und waren am Verhungern und wollten ein frühes Mittagessen, da sie den ganzen Weg von Steyning bis nach Basingstoke zu Fuß zurücklegen wollen. Heute wollen sie bis Amberley kommen - 12 Meilen .. Das arme Kind hatte seine Brille im Auto vergessen, so daß ich mich auf die Suche nach den beiden Wanderern machte, die ich nach einer halben Stunde bereits in Schweiß gebadet vorfand. Mein Herz schmolz, als ich sah, wie meine arme Vita den Rucksack trug, dessen Lederriemen ihr in die Schultern schnitten.«
Sie sah ein daß Harold, der Gewicht ansetzte, die Bewegung brauchte. »Aber sie keuchte schrecklich, als ich sie fand, das arme Ding Enfin. Ich kehrte in meinen Garten zurück.«
Am letzten Tag des Juli tauchte Geoffrey Scott, den sie im vergangenen Herbst in Rom getroffen hatte, in England auf. Er war in erster Linie gekommen, um Vita zu sehen.
Geoffrey Scott war acht Jahre älter als Vita - großgewachsen, schlank, kurzsichtig, geistreich, ein guter Plauderer. Im Jahr 1909 als Vita und Rosamund ihn mit Cecil Pinsent in Florenz getroffen hatten, waren die beiden jungen Architekten mit Umbauarbeiten an der Berensonschen Villa I Tatti beschäftigt gewesen. Mary Berenson, zwanzig Jahre älter als Geoffrey, hatte sich in ihn verliebt und war sehr bestürzt, als er 1918 Lady Sybil Cutting heiratete, die reiche und schöne Tochter von Lord Desart und Witwe des amerikanischen Diplomaten Bayard Cutting. Lady Sybil lebte mit ihrer Tochter Iris in der nahen Villa Medici.
In der kleinen Künstlerkolonie an der Südseite der Hügel von Fiesole ging es recht inzestuös zu. Lady Sybil hatte eine Liaison mit Bernard Berenson gehabt, Geoffrey hatte sich nach seiner Heirat mit Lady Sybil in Nicky Mariano verliebt, Berensons Bibliothekar und letztes Verhältnis. Als die Nicolsons Geoffrey in Rom während ihrer Ferien mit den Wellesleys getroffen hatten, hatten er und Lady Sybil sich gerade auf Probe getrennt: sie blieb in Florenz in der Villa Medici während er den Posten des Pressesekretärs bei der Britischen Botschaft in Rom annahm.
Im Sommer 1923 waren Nigel und Ben mit »Goggy« ihrer französischen Gouvernante, in der Bretagne, während Vita Geoffrey Scott für eine Woche in den Lake District begleitete. Harold wollte einen Teil des Herbstes in Griechenland verbringen, um für sein neues Buch über Byron zu recherchieren, und es war vereinbart, daß er und Vita sich in Italien treffen und zusammen bei den Scotts in Florenz wohnen sollten.
Der neunjährige Nigel ging im September auf die Vorbereitungsschule Summer Fields in Oxford. Vita ließ ihn ungern dort. Jedoch er schrieb ihr: »Meine allerliebste Mama, mach dir um Himmels willen keine Sorgen, ich bin hier so glücklich wie zu Hause Eigentlich bin ich glücklicher, weil es andere Jungen gibt... zuerst war ich unglücklich, als du weggingst, aber vom nächsten Morgen an bis jetzt liebte ich es.« Vita schickte Nigels Brief an Harold weiter - »bitte, bewahre ihn gut für mich auf« - und schrieb ihm zu ihrem zehnten Hochzeitstag: »Mein allerliebster Schatz, an unserem Hochzeitstag dachte ich an uns und war halb traurig (weil du nicht da warst) und halb glücklich (weil wir einander mehr lieben als alle anderen auf der Welt).«
Sie fuhr vor ihm nach Florenz und kam am 15. Oktober an. Sie lunchte bei B. M., bevor sie abreiste, und B. M. notierte hellsichtig: »Ich hoffe nur daß sie sich dort nicht in G. S. verliebt.« Vitas erster Brief ließ sie aufatmen »Sie schrieb aus Florenz, daß sie mit Geoffrey S. im Mondschein zusammensaß und sich ganz unempfänglich fand. Möge es so bleiben! Pucci ist eilig zurückgekehrt! um sie zu sehen!«
Aber eine Woche später hörte sie wieder von Vita, »der das Unvermeidliche widerfahren war. Oh mein Gott! Möge sie nicht zu
unglücklich sein! Ich werde ihre große Freundin und Vertraute sein. Aber um sie und den armen Harold habe ich Angst.«
Doch wie sehr sie sich auch sorgte diese »normale« Affäre war etwas, das B.M. verstehen konnte und über das zu sprechen Vita keine Hemmungen hatte »Sie sagt, daß sie keinen neuen Skandal heraufbeschwören will. Aber sie sagt, daß sie ihn fürchterlich vermissen wird und es vor Harold verbergen will. Ich bin die einzige, der sie es erzählt hat. Und natürlich kann mein armes Kind mir sein Herz aufschließen; ich bin die Verschwiegenheit selbst und so verständnisvoll.«
Nachdem die Nicolsons Florenz verlassen hatten, schrieben sich Vita und Geoffrey täglich. Er teilte ihr mit er glaube, seine Frau habe begriffen« was geschehen sei, stelle indes keine Fragen »Ich habe versucht, sehr nett zu ihr zu sein, habe ihr vorgelesen und so fort. Meine Liebe, alles, was du berührst, wird schön, und jeder spürt es glaube ich.«
B. M. machte sich Sorgen, weil Vita ihr erzählt hatte, Geoffrey sei »sehr leidenschaftlich« »Sie ist sicher, daß Harold nichts dagegen hat und Lady Sybil lieber sie als eine andere sieht Er [Geoffrey] hat viele Affären gehabt, aber natürlich glauben sie und er, daß diese die einzige und wahre ist. Sie ist nicht seine Geliebte, das hat sie mir versichert.«
Geoffrey wußte alles über Violet »und sagt, seine Liebe werde [Vitas] Ruf wiederherstellen, der in Wirklichkeit bereits wiederhergestellt ist.« (B.M. selbst war in eine Beziehung zu Edwin Lutyens verstrickt, die in den folgenden drei Jahren »gewiß eng genug war, um eine Liebesaffäre zu sein«[3], wie Lutyens Tochter schrieb Vita ging davon aus, daß die beiden ein Liebespaar seien; deshalb hat sie vermutlich nach B.M.'s Tod ein paar von Lutyens Briefen an ihre Mutter vernichtet.)
Vita und Geoffrey sprachen in ihren Briefen davon, es sei notwendig, »das Leben in Ordnung zu bringen«, wenn man einander einen Gefallen erweisen wolle. Pat Dansey war verärgert, daß man sie beiseite geschoben hatte; die arme Dorothy Wellesley wurde noch anhänglicher »Tue, was du in Hinblick auf Dottie für das Beste hältst«, schrieb Geoffrey »Es tut mir schrecklich leid, daß du so schreckliche Dinge hast durchmachen müssen Ich weiß, wovon ich spreche, und verstehe, wie scheußlich das alles ist.« Er bat sie um Sybils willen, nicht zu »sprechen« »Ich hoffe, daß B.M. es nicht herumerzählen wird. Und falls Ozzie [Dickinson] es erfährt, können wir es ebensogut in die Zeitung setzen.«
Lady Sybil, älter als Geoffrey und dreizehn Jahre älter als Vita war nicht so verständnisvoll, wie das Liebespaar angenommen hatte. Sie war außer- sich vor Kummer: »vierundzwanzig Stunden lang schien es so als sei alles vorbei... sie war völlig gebrochen.« Geoffrey wollte seine Ehe nicht zerbrechen lassen: »Wenn meine Ehe darüber in Stücke geht, werden mich Gewissensbisse verfolgen, denn ich werde wissen, daß ihr Leben dann wirklich in Trümmern liegt. Es ist anders als bei Harold, dessen Leben tief in dem deinen wurzelt, der seine Jugend hat seinen Ehrgeiz, seine Arbeit und - andere Dinge.« Vita war fassungslos und schrieb einen Brief (der nach ihren eigenen Worten »hysterisch« war), in dem sie anbot Geoffrey aufzugeben. Geoffrey zeigte den Brief seiner Frau, die kurz vor Weihnachten sehr liebenswürdig an Vita schrieb und sie lediglich darum bat, diskret, zu sein und gelten zu lassen, daß sie Geoffrey noch immer genauso liebe »wie am ersten Tag unserer Ehe«. Ihre Versuche, sich zu einer einsichtigen und toleranten Haltung durchzuringen, waren nicht von Dauer. Nur zehn Tage später gestand Geoffrey Vita verzweifelt, es sei unmöglich, eine (nach seinen Worten) »funktionierende Beziehung« zu jemandem zuhaben, der über Sybils »blinde, quälende Hartnäckigkeit« verfüge.
Wenn sie sich nicht gerade mit einer Entscheidung in Sachen Sybil abquälten, war ihre Beziehung eine sehr literarische. Liebesaffäre Geoffrey Scott hatte 1914 The Architecture of Humanism veröffentlicht und arbeitete an The Portrait of Zélide. In ihren Briefen diskutierten sie seine Arbeit und ihre Gedichte. Vita hatte angefangen, für die Nation Bücher zu besprechen, und sie gewann einen Wettbewerb für das beste Meeres-Sonett, den die amerikanische Poetry Review ausgeschrieben hatte. Das von ihr herausgegebene Diary of Lady Anne Clifford erschien (Lady Anne war die Gattin des dritten Earl of Dorset und Tochter des Earl of Cumberland). Und sie stellte emsig Material für ein langes Gedicht zusammen The Land Sie hatte an Eddie Marsh geschrieben, daß die von ihm geprägte  Formulierung der »kurzen  lyrischen  Schreie«  junger Dichter exakt die »Verärgerung« ausdrücke, »die mich anstachelt, das Experiment eines Bandes mit zusammenhängenden Versen zu versuchen« Als sie am 6. Januar 1924 in Knole war legte sie sich am Nachmittag nieder und begann »zwischen Schlafen und Wachen ein Gedicht über Wälder«.

Hier ist nichts Farbe, alles Form, Gefüge
Gebeine nur von Bäumen Befleckte Birkenrinde.[4]

Geoffrey Scott traf am 10. Januar 1924 in London ein. Am selben Abend speiste Vita mit ihm im Berkeley Hotel. Sie waren beide schüchtern, weil ihre eigentliche Beziehung sich in der Intimität ihrer Briefe ausgedrückt hatte. In ihrem Tagebuch sprach Vita von einem »verwirrenden und nicht sehr realen Abend«. Am nächsten Tag kam Geoffrey zum ersten seiner zahlreichen Besuche nach Knole: Vitas Vater, Harold und die Kinder waren ebenfalls da. B.M. in ihrem Haus außerhalb von Brighton isoliert, machte sich Sorgen. Vita schrieb ihr sie brauche »kein kleines mar [d.h ein Kind von Geoffrey] zu befürchten, da G.S. mich kalt läßt und ich nicht mit ihm >leben< will«: aber »ob ich seiner Leidenschaft widerstehen kann?«
Sehr bald nahm Vita Geoffrey zum Lunch mit zu B.M. Wie alle Bewunderer Vitas (Pat Dansey besuchte B. M. ständig) bemerkte er B.M.'s Vorrangstellung in Vitas Leben und schrieb ihr versöhnliche Briefe »Ich weiß, daß Vita, sobald uns klar wurde, wie tief unsere Freundschaft war, zuerst an Sie schrieb und es Ihnen erzählte, so verspürte denn auch ich den sehnlichen Wunsch, Sie wissen zu lassen, wie ich für Vita empfinde, denn ich kann mir nicht denken, daß Sie mich völlig ablehnen können, wenn Sie mein Gefühl kennen.«
Es war für Vita nicht leicht, den anspruchsvollen Geoffrey in ihr alltägliches Leben zu integrieren, und sie begann sich in ihrer Haut unwohl zu fühlen. Ein Essen mit Bogey Harris war unerquicklich »wegen der Spannung zwischen Aprile [Dorothy Wellesley] und Geoffrey und weil wir Bogeys Neugier kannten etc.« Ozzie Dickinsons Neugier war noch brennender und wurde zwangsläufig von B.M. befriedigt, die zur Diskretion unfähig war.
Harold war bedrückt, weil er sich, offenbar bedingt durch einen Regierungswechsel, im Augenblick im Auswärtigen Amt unwohl fühlte: bei einem Essen, das B.M. am 1. Februar gab sprach er kein Wort »Ich führte es auf G. S. zurück« schrieb seine Schwiegermutter in ihr Tagebuch »Bestenfalls kann er es nicht ertragen, und sein Stolz muß leiden.« Zu Hause begann er nach dem Abendessen einzuschlafen und klagte über seine Gesundheit Vermutlich hatte B. M. mit ihrer Annahme recht: »Ich bin sicher, daß Harold völlig sprachlos und wegen dieses >Flirts< unglücklich ist... und niemand weiß, was sie im nächsten Augenblick anstellen wird.« Vita nahm Geoffrey als ihren Gast zum Dinner des PEN-Clubs mit — »haben viel gelacht« - und ging anschließend mit ihm in die Wohnung Hanover Terrace 8 die er sich gemietet hatte. Am 8. Februar kaufte er ihr einen Ring.
Ihre freudige Erregung machte sie attraktiv - für andere Männer. Nach einer Party bei Mary Hutchinson in Chiswick nahm sie Duff Cooper in ihrem Auto mit und »zu meinem Erstaunen machte er mir eine Liebeserklärung, alles in allem ein sonderbarer Abend.« Am nächsten Tag sandte er ihr einen riesigen Blumenstrauß und schrieb, er sei »als eine Art Bestätigung« gedacht, »um zu zeigen, daß Schwüre um Mitternacht nicht immer falsch sind. Sie waren alle unschuldig, und ich hoffte, daß Sie ihr makelloses Zeugnis akzeptieren werden.«
Mitte Februar kehrte Geoffrey nach Italien zurück, nachdem er mit Vita eine Nacht in Knole verbracht hatte. Sie hatte Grippe und war alles andere als romantisch gestimmt. Der Klatsch, genährt von Ozzie Dickinson und dem Künstler George Plank, B.M. s Nachbar und Vertrauten, nahm von solchen Feinheiten keine Kenntnis. Es sei wieder einmal wie zu Violets Zeiten, klagte B.M.: »Jedermann mißbilligt, daß sie sich mit einem solchen Burschen eingelassen hat. Jeder nennt ihn einen Herumtreiber.«
Vita überstand seine Abreise bemerkenswert gut. Am 22. Februar fuhr sie nach Richmond, um bei den Woolfs zu speisen, »wie gewöhnlich in der Küche« »Virginia köstlich wie eh und je; wie recht sie hat, wenn sie sagt, die Liebe mache jeden zum Langweiler, aber das Aufregende am Leben liege in den >kleinen Schritten näher an die Menschen heran. Vielleicht ist sie dieser Auffassung, weil sie ein Experimentator der Menschlichkeit ist und in ihrem Leben keine grande passion gekannt hat Raymond Mortimer kam mit zu mir und wir unterhielten uns bis um halb zwei.«
Duff Coopers »kleine Schritte« dauerten an und Vita, amüsiert und geschmeichelt, speiste mehrere Male mit ihm im »Ivy« Sie erzählte B.M. davon und auch Geoffrey der überhaupt nicht erfreut war. Dottie erhielt wieder ihren Status als Vitas ständige Begleiterin: in ihren Briefen an Harald hob Vita immer die einseitige Natur dieser Beziehung hervor und untertrieb ihre eigene emotionale Beteiligung.
Kurz nachdem Geoffrey abgereist war hatte Vita mit Lord Berners gespeist, um Lady Ottoline Morrell kennenzulernen, »deren Haar wie üblich herunterfiel und deren Kleider mit Leopardenflecken übersät waren. Ich mochte sie.« Sie und Dottie gingen zum Lunch zu Lady Ottoline nach Garsington: »Möpse Pfauen und Pekinesen: Photoalben; Plauderei — zumeist über Virginia.« Bei einem anderen Essen saß sie neben George Bernard Shaw, und sie mochte ihn nicht; »er saugte an seinen Zähnen« In Ethel Sands Haus begegnete sie Arnold Bennett: »Nach dem Dinner sprach ich mit ihm über zeitgenössische Literatur und Kritik - sein Weitblick ist erfrischend nach den Beschränkungen von Bloomsbury.« Mit einemmal wurde sie gesellig »Aß daheim Gott sei Dank, mit meinem kleinen H.« - ist ein wegen seiner Seltenheit bemerkenswerter Eintrag im Tagebuch.
Pat Dansey war, trotz regelmäßiger Treffen mit Vita, auf jedermann rasend eifersüchtig Am 8. März »gab sie zu verstehen, sie werde sich eine Kugel durch den Kopf jagen und einen Brief hinterlassen, der bei der gerichtlichen Untersuchung zu verlesen sei des Inhalts, ich sei an ihrem Tode schuld, weil ich so unfreundlich zu ihr gewesen sei aber schließlich ließ sie davon ab - und wir trennten uns als Freundinnen, wobei ich mir den Schweiß der Bestürzung von der Stirn wischte«.
Virginia hatte gesagt, die Liebe mache jeden zum Langweiler Geoffrey Scott liebte Vita. Weit fort, in Italien, litten er und seine Frau unter der Anspannung und Ungewißheit. Geoffrey hatte gehofft, daß Vita sich ihm in kürzester Zeit erklären würde. Doch ihre Briefe, so klagte er, seien »unnatürlich zurückhaltend (halbe Seiten, die einen Brief für den nächsten Tag versprechen, den du dann nicht schreibst)«.
Vitas kühleres Verhältnis zu Geoffrey gab Harold das Selbstvertrauen, sich ihr sexuell wieder zu nähern. Am 10. März schrieb er in sein Tagebuch: »Vitanuova.« Sie schrieb in das ihre: »Hadji, Mein Gott!« Das Experiment ist vermutlich nicht oft wiederholt worden, doch Vita erzählte einer erleichterten B.M., daß sie wirklich glaube, daß sie niemand anderen wahnsinnig lieben könne, weil sie Harold so liebe. Sie sagte, daß sie des béguines bekomme, »die zwei oder drei Tage dauern und über die sie leicht hinwegkomme«.
Was Vita an Harold enttäuschte, war das Aufgehen in seiner Arbeit und in Büchern auf Kosten dessen, was sie »Leben« nannte. Ihr Aufgehen in ihrer eigenen Arbeit und in ihrem eigenen Leben konnte ihn oft für gewisse Zeit ausschließen; es war verständlich, daß er ihr seine Aufmerksamkeit nicht bei jeder Gelegenheit zuwandte, wo sie es gern gehabt hätte - doch es verbreiterte die Kluft zwischen ihnen. Long Barn 18. April 1924: »H. hatte heute frei, doch er schenkte Ronnie [Balfour] und mir nicht viel Beachtung da er ganz in  [die Lektüre über] Jane Carlyle vertieft ist. Ich glaube, die Toten bedeuten ihm mehr als die Lebenden. Ronnie und ich machten nach dem Dinner einen Spaziergang im Mondschein, doch er wollte nicht mitkommen. Es ist warm, und die Nachtigallen haben zu singen begonnen.« B.M. machte einen furchtbaren Wirbel, als Vita, Harold und Dottie just in dem Augenblick nach Wales aufbrachen, als sie Vitas Hilfe brauchte, um ihren Londoner Haushalt in Hill Street aufzulösen: sie wollte das Haus verkaufen. Ihr Zorn über diese geringfügige Unannehmlichkeit zog sich über Wochen. Vielleicht hat die lange und schmerzliche Erfahrung mit ihrer Mutter die Behandlung ausgelöst, die Vita anderen Menschen zuteil werden ließ. Der schlecht behandelte Geoffrey zumindest dachte das:
»Du weißt, daß du von Natur aus sehr ausgeglichen bist und durch >Szenen< anderer zu beeinflussen... Und da ich mich solcher Szenen enthalte, wäre es nur fair, mir das hoch anzurechnen, oder?... Vergiß nicht, daß der Druck, uns auseinanderzubringen, stetig und nachhaltig sein wird. Manchmal glaube ich, daß du auf Leute reagierst, je nachdem, wie sie ihre Leidenschaft oder ihren Kummer zur Schau stellen [er nannte Violet, B.M., Dottie, Pat] Ich habe nicht die Absicht, mit ihnen zu wetteifern.«
Zum selben Schluß war Harold schon vor längerem gekommen.

Die Woolfs zogen von Richmond nach Tavistock Square in Bloomsbury und Vita besuchte sie während des Umzugstrubels (Vita fand die Paneele für den neuen Salon, die Duncan Grant und Vanessa Bell bemalt hatten, »unvorstellbar häßlich«.) Sie blieb den Nachmittag über, unterhielt sich mit Virginia - »Bücher und Leben, wie üblich. Es war glaube ich das erste Mal, daß ich längere Zeit mit ihr allein war.« Ein weiterer »kleiner Schritt« hatte stattgefunden.
Währenddessen gab Geoffrey Scott die Hoffnung nicht auf, obwohl der kühle Ton ihrer Briefe ihn verblüffte und ängstigte. Er gab seinen Posten bei der Botschaft in Rom auf »es war bloß ein weiteres Hindernis, das dich von mir trennte« - und plante, sechs Monate im Jahr bei seiner Gattin in Florenz und die restlichen sechs mit Vita in England zu verbringen. Vita hatte noch eine Gnadenfrist von einigen Wochen, während des ganzen Frühjahrs arbeitete sie im Garten von Long Barn und schrieb ihren ersten Artikel über die Gartenarbeit, »Notes on a Late Spring«, für den Evening Standard, ein lyrisch getöntes Stück ohne praktischen Hintergrund. Sie schrieb auch für Vogue und arbeitete weiter an The Land. Im Mai wurde sie von Virginia Woolf gebeten, etwas für die Hogarth Press zu schreiben - ein neuerlicher »kleiner Schritt«.
Im Juni kehrte Geoffrey zurück. Er hätte sogleich merken müssen, woher der Wind wehte. Vita holte ihn am Bahnhof ab und »mußte« darauf sofort zu einem Besuch zu Dottie nach Sherfield eilen. Sie hatte ihm bereits »Grundsätze, die in Long Barn zu beachten sind, geschickt« und deutlich gemacht, daß in Harolds Haus keine Unschicklichkeiten stattfinden dürften. Als B. M. Geoffrey in Long Barn sah, fiel ihr auf, daß er »am ganzen Leib zitterte« und schlecht aussah (B.M. war ihrerseits wieder einmal empört, Lionel hatte sie gebeten, in die Scheidung einzuwilligen, damit er Olive Rubens heiraten könne, »nein zu dieser furchtbaren und ganz überflüssigen Demütigung, daß diese Schlange im Gras meinen Platz in Knole einnimmt.«)
Am gleichen Wochenende kam Virginia Woolf, die Geoffrey vor ein paar Jahren in Florenz begegnet war, mit Vita und Dottie im Auto zum ersten Mal nach Long Barn, »nahm ziemlich verlegen wahr, wie sehr man sie schätzte«, und kam sich »nicht provinziell, doch schlecht angezogen und schlecht ausgerüstet« vor »Am Abend saßen wir in dem langen Raum, und nachdem Harold, der auf dem Kamingitter gesessen hatte und mit dem Kopf gegen die italienische Schutzplatte auf dem Kaminsims gestoßen war schläfrig geworden war, saß Geoffrey bei uns und wurde von Dottie animiert, Geschichten zu meiner Erheiterung zu erzählen Er machte seine Sache sehr gut.«[5] Geoffrey habe, so kam es Virginia vor »das charakteristische Gesicht eines Versagers«; sie spürte, daß er, Vita, Harold und Dottie eine intime und vertraute »Gruppe« waren. Als sie am Sonntag alle gemeinsam in Knole waren, schien Geoffrey ganz unbefangen, schrieb Virginia, »nannte Lord Sackville Lionel, als sei er seit Jahren mit ihm und Vita eng befreundet«.
Sie hatte keine Ahnung, daß es zwischen Vita und Geoffrey eine Liebesbeziehung gab, die vor der jähen Auflösung stand. Geoffrey, im Glauben, Vita werde sich ihm doch noch ganz hingeben, hatte gerade erfahren, daß sie und Harold gemeinsam Ferien in den Dolomiten machen würden. In seinem Schlafzimmer schrieb er ihr in dieser Nacht: »Mein Liebling, ich schreibe dies an meinem Fenster und warte darauf, daß du das deine öffnest und mir durch den Garten einen nächtlichen Gruß zuwinkst.« Sie habe ihn ganz »ihr altes Ich«, am heutigen Abend mit kurzen Worten abgespeist; sie solle ihre Ferien genießen, dann »zurückkommen und alles besser für uns beide einrichten Es liegt alles allein in deinen Händen. Meine Zigeunerin, bewahre meine Liebe, töte nicht sie und mich.« Schmerzlich wurde ihm »das Farcenhafte all der Bemühungen, ein wenig Freiheit zu erlangen« bewußt; nachdem er es geschafft habe, von Italien nach England zu kommen, um mit ihr zusammenzusein, finde er sie »völlig in ihre Welt vertieft« und mitten im Aufbruch — nach Italien.
Daß Vita Geoffrey aufgab, empfand ihre Mutter als Erleichterung. Am Tag, bevor Harold und Vita abfuhren, sagte sie ihnen, daß das Haus in Ebury Street gänzlich ihnen gehören solle — sie wolle das Geld, das sie ihnen geliehen hatte, nicht zurückhaben. Zu seiner Instandhaltung wolle sie ihnen überdies jährlich 500 Pfund zahlen, 200 Pfund jährlich für Bens Schulgebühren und Harolds gesamten Einkommenssteuer-Zuschlag (der erhoben wurde, weil Vitas Einkommen dem seinen zugeschlagen wurde) »Sie sind begeistert, gütiger Himmel.

Kapitel 13
Während des Urlaubs in den Dolomiten im Juli 1924 schrieb Vita beinahe den ganzen Text ihres kurzen Romans Verführer in Ecuador. Aus dem »Tre Croci« in Cadore schrieb sie an Virginia:
»Ich hoffe, niemand hat bis jetzt einen Handschuh fallen lassen oder wird je einen fallen lassen, den ich nicht bereit wäre aufzuheben. Du hast mich gebeten, eine Geschichte für euch zu schreiben. Auf den Gipfeln der Berge und neben grünen Seen schreibe ich sie für euch. Ich verschließe meine Augen vor dem Blau des Enzian, dem Korallenrot des Aronstabes; ich verschließe meine Ohren vor dem Brausen der Flüsse, meine Nase vor den Piniendüften, ich konzentriere mich auf meine Geschichte.«
Doch die wirkliche Herausforderung war nicht die Geschichte, sondern ein Brief von Virginia, die sie ermahnte, keine »intimen«, sondern Briefe von »unpersönlicher Gefühlskälte« zu schreiben Es war schwierig, im Gebirge diesem Prinzip zu folgen:
»Ich habe das Gefühl, als ob der ganze Verstand von reiner körperlicher Energie und Wohlbehagen geschluckt worden wäre Ich bin überzeugt: So muß man fühlen. Ich frage mich, ob du wohl jemals Bloomsbury und die Kultur im Stich lassen und mit mir auf Reisen gehen wirst? Nein, natürlich wirst du das nicht tun. Ich sagte dir einmal, mit dir würde ich lieber nach Spanien gehen als mit jemand anderem, und du sahst verwirrt aus, und ich merkte, daß ich einen Fauxpas begangen hatte - zu persönlich gewesen, gewiß - dennoch bleibt es dabei, ich werde nicht eher richtig zufrieden sein, bis ich dich weggelockt habe.«
Und sie spann ihre Phantasie fort, mit Virginia zu einem Treffen spanischer Zigeuner zu gehen. Virginia könne die Leute, wenn sie wolle, »als Vorlage« betrachten- »sowie du nach meiner Meinung alles betrachtest, menschliche Beziehungen eingeschlossen. Oh ja du magst Leute eher mit dem Kopf als mit dem Herzen - verzeih mir wenn ich mich irre. Natürlich, es muß Ausnahmen geben; es gibt sie immer Aber im allgemeinen stimmt es schon.«[1] Virginia erwiderte, sie habe sich über den »intimen Brief aus den Dolomiten gefreut Er hat mir einigen Schmerz zugefügt - was, woran ich nicht zweifle, die erste Stufe der Vertrautheit ist.«[2] Vita wußte sich auf den »Schmerz« den sie zugefügt haben sollte, keinen Reim zu machen »Oder war es bloß eine deiner Spitzen, auf mich abgefeuert? Meinst du immer, was du sagst, oder sagst du was du meinst? Oder macht es dir einfach bloß Spaß Leute zu narren, die versuchen, ein wenig näherzuschleichen?«[3]
Vita fügte auch Geoffrey eine Menge Schmerz zu, die Frage intimer Beziehungen tauchte hier ebenso auf, weil Vita, nach Geoffreys Meinung, »von Natur weniger offenherzig« war als er. Er sprach über Sex »Verleugne das armselige närrische Ventil nicht zu sehr, das die Natur eingebaut hat.« Es ermutigte ihn daß ihr sein Buch The Portrait of Zélide gefiel, das sie und Harold bei ihrer Rückkehr nach Long Barn lasen. Wie er in einem sehr langen Brief an Vita vom 2. September ausführte, war er nicht imstande, die beiden Vitas in Einklang zu bringen - die eine zärtlich und ermutigend, die andere feindlich und gleichgültig. Sollte er sich ihr gegenüber schlecht benommen haben, sei das nicht seine Schuld (Vita erzählt Virginia später, daß er sie eines Nachts in der Wohnung in Hanover Terrace beinahe erwürgt habe.)  »Lebten wir zusammen, wäre nichts dergleichen passiert. Mein Liebling, ich kann nicht vorgeben, dich auf eine symbolische platonische Weise zu lieben, die Gleichgültigkeit einfach hinnimmt. Du wolltest mich ganz, und ich wollte dich: und das hast du bekommen. Und Vita, du kannst mit der Liebe nicht so umspringen, wie du mit der meinen umgesprungen bist, wahrhaftig, das kannst du nicht.« Er erwartete inzwischen nicht einmal von ihr, Harold zu verlassen, sondern er flehte sie an, ihm die Wahrheit über ihre Gefühle zu sagen Er speiste mehrere Male mit einer argwöhnischen, aber immer wißbegierigen B.M. — und wurde immer elender und bedrückter.
Am 15 September fuhr Vita zum ersten Mal nach Monk's House, Rodmell dem spartanischen Landhaus der Woolfs (kein Badezimmer, keine Innentoilette, kein Telephon) Sie brachte das Manuskript von Verführer in Ecuador mit. Virginia sagte, es gefalle ihr: »Ich bin sicher, daß diese Arbeit weitaus interessanter ist (zumindest für mich) als die bisherigen. Ich bin sehr froh, daß wir sie veröffentlichen werden, und außerordentlich stolz und wegen meiner kindischen, verwirrten Zuneigung zu dir wirklich gerührt, daß du sie mir widmen möchtest.«[4]
Das Buch ging in die Druckerei, und Geoffrey kehrte nach Italien zurück, weniger fordernd, doch noch immer unfähig, die Hoffnung aufzugeben. Er grämte sich, da ihre Briefe wieder kürzer wurden und weniger häufig kamen »Dein zukünftiger Biograph«, schrieb er ihr, »der die Poststempel deiner Briefe — und deren Inhalt - während des Sommers 1924 überprüft, wird zu dem Schluß gelangen, daß du den angeblichen Kesselflicker [Vitas Kosename für ihn] kein bißchen liebgehabt hast. Würde dein Geist das übelnehmen? Meiner schon.« Doch lediglich seine Briefe an sie sind erhalten.
Verführer in Ecuador ist kurz und ironisch: Sowohl die Fabel als auch das Genre sind phantastisch. Der Held Arthur Lomax setzt eine farbige Brille auf, die Welt präsentiert sich ihm verändert, und er ist dadurch von dem »allzu realistischen Glanz« der Sonne abgeschirmt. Unter Aufgabe des gesunden Menschenverstandes wird er leichtgläubig in die Phantasien anderer Leute verwickelt. Jeder Mitreisende auf der Kreuzfahrt nach Ägypten, die er unternimmt, ist in einem irrationalen persönlichen Mythos befangen, der ihn oder sie beschäftigt und dem Leben einen Sinn gibt. So gibt es, zum Beispiel, keinen Empfänger für die langen Briefe, die Miss Whitaker an eine Adresse in Ecuador richtet. Als er des Mordes angeklagt wird, macht Lomax die Erfahrung, »welch eine erbärmliche Waffe die Wahrheit ist« - die individuelle Phantasie erscheint als einzige überzeugende Verteidigung.
Vita zog Mythomanen in besonderem Maße an und fühlte sich ebenso zu ihnen hingezogen: Violet, Dottie und Pat (erst kürzlich hatte sie Vita erzählt, sie werde ihr ein Aktienpaket der Morning Post schenken, das sie zum Direktor machen werde; die Aktien existierten gar nicht) Vita selbst lebte mit phantastischen Spielarten des eigenen Ich - Julian, ihr Ich als »spanische Zigeunerin« und das Ich, das für immer Herrin auf Knole war. Sie bewältigte ihre Geschichte mit leichter Hand und Witz.
Bloomsbury hieß Vitas neue Schreibweise gut »Sie bilden sich ein, dich entdeckt zu haben«, erzählte ihr Harold, der Raymond Mortimer und Clive Bell getroffen hatte - »und können von nichts anderem sprechen.« Der Spectator lobte das Buch verständnisvoll »als eine gut geschriebene, phantastische conte in der Bloomsbury-Manier« Eddy Sackville-West fürchtete, seine Cousine könne auf die andere Seite gezogen werden, und hoffte, sie sei nicht zur Bloomsbury-Mentalität konvertiert »Ich mag sie alle (besonders Mrs. Woolf)« schrieb er an Vita, »aller ihren Verstandeskräften mißtraue ich gründlich. Sie haben entsetzliche Angst davor, sich zu einer Aussage zu bekennen. Ich verabscheue die Art, in der Mrs. Woolf mir das Buch empfahl, so als wolle sie sagen: >Nun hat auch ihre Cousine endlich den Pfad der Tugend eingeschlagen!«
Es zeigte sich, daß Vita in einigen Kreisen Bloomsbury überstrahlte. Verführer in Ecuador erschien im folgenden Jahr in den Vereinigten Staaten und wurde in derselben Ausgabe der Literaturbeilage der New York Evening Post rezensiert, wie Virginia Woolf' s Mrs. Dalloway. Betrachtet man die persönliche und berufliche Beziehung zwischen den beiden Frauen, ist es wichtig, sich folgendes klarzumachen: Obgleich Virginia Woolf Vita nie für eine große Schriftstellerin hielt und obwohl Vita Virginias intellektuelle und künstlerische Überlegenheit immer anerkannte, war der normale Leser zu beider Lebzeiten ganz anderer Ansicht Vita war ganz einfach erfolgreicher. Der Verführer wurde oben auf der Seite rezensiert, versehen mit einer melancholischen Zeichnung der Verfasserin. Die Kritik von Joseph Collins schloß: »Es ist eine amüsante Geschichte, gut erzählt, die den Leser nach einstündiger Lektüre mehr dazu anregt, über den Wert dessen, was er als Realität ansieht, zu reflektieren, als viele andere Romane das vermögen.« Mrs Dalloway. weiter unten rezensiert, erfuhr durch Walter Yust eine kühlere Aufnahme; als Roman »mangle dem Buch die Qualität der illusionären Kraft, die den Tag verwandeln kann... in ein Leben, das kostbarer ist als das jeder Figur, die durch das Buch tappt... der Tag ist zuweilen trübselig und glanzlos unter einem Schleier von Worten und (sensibel erfaßte?) Details.«
Leute, die Vitas nüchterne »gregorianische« Lyrik bewunderten, waren verblüfft. »Verführer in Ecuador war ein Spaß«, schrieb Vita an Eddie Marsh, »was hat Sie daran so verwirrt?« Geoffrey Scott war ablehnend. Er meinte, das Buch sei unsicher und für Vitas Verhältnisse zu gekünstelt: »Virginia hat sich ihre eigene, sehr persönliche Methode zur Wahrnehmung der Erscheinungen geschaffen. Dein unmittelbares instinktives Auffassungsvermögen ist, denke ich, dem ihren diametral entgegengesetzt und steht, wie ich meinen möchte, dem von [D.H.] Lawrence au fond näher.« Er schrieb ihr, sie sei in der Lage, etwas zu schreiben, »das mehr Dauerhaftigkeit besitzen wird als die Gescheitheit von Bloomsbury. In fast allen deinen Büchern steckt eine gewisse Sperrigkeit, die mehr Realität umfaßt als jeder Aufwand an neumodischer Psychologie und Stilisierung.«
In Wirklichkeit war das auch Vitas Meinung. Die »gewisse Sperrigkeit«, die sie manchmal als ihre Stärke, manchmal als ihre Schwäche empfand, ging in The Land ein. Proben davon, die sie ihren Briefen beilegte, unterzog Geoffrey eingehender Kritik und gab Ratschläge. Für ihn war es »unser Gedicht, so wie Zélide unser Buch ist... Ich möchte dir den Rat geben, es als Ganzes nicht eher zu veröffentlichen [die veröffentlichte Auszüge des Gedichts in Zeitschriften] bis es letzte Gestalt angenommen und seinen letzten Glanz erfahren hat, denn sehr wahrscheinlich ist es dieses Gedicht, durch das du letzten Endes bestehen wirst: du verschießt sonst dein Pulver.«
Er wußte, daß die Bloomsbury-Mentalität eine Bedrohung seines Einflusses auf Vita bedeutete. Eine größere Bedrohung lauerte im Dezember auf sie. Vita fuhr für zwei Tage nach Paris, um einer Versteigerung übriggebliebener Objekte aus Seerys Wohnung in der Rue Laffitte beizuwohnen. Sie sollte bei dem amerikanischen Rechtsanwalt Walter Berry in der Rue de Varennes wohnen. Nach ihrer Ankunft schrieb sie voller Schrecken an Harold Berry, habe für sie eine Dinnerparty arrangiert, an der auch Violet Trefusis teilnehmen solle »Oh mein Gott. Was soll ich machen? Ich kann Walter B. nicht sagen, daß diese Vorstellung mich krank macht.« Harold war entsetzt »Oh, mein Liebling, sei vorsichtig. Du bist immer so schwankend und so schwach. Und sie ist ein solcher Teufel der Zerstörung. Was ist Walter doch für ein alter Dummkopf!« Am gleichen Tag schrieb er ein zweites Mal: »Ihr bloßer Name bringt das ganze schmerzliche Unglück jener Monate wieder zurück: den Zweifel, die Kränkung und die Einsamkeit. Ich glaube, sie ist die einzige Person, die mir angst macht.«
Doch Vita kam unversehrt wieder: zurück zu Harold und einer kühlen Bloomsbury-Gruppe die trotz des Verführers ihre Zweifel an Vita aufrechterhielt. Sie speiste am 19. Dezember mit den Woolfs und beleidigte, folgt man Virginia Roger Frys Quäkertum: »& sie hat die Angewohnheit, kritiklos über Kunst zu reden ihr Lob zu verteilen, die in ihren Kreisen durchgehen mag doch nicht bei uns.« Es war ein weiterer »dorniger« Abend, bis Clive Bell auftauchte und sich »der Aufgabe widmete, den lieben alten, begriffsstutzigen, aristokratischen, leidenschaftlichen Grenadier Vita zu versöhnen«[5]
Zwar teilte Virginia die Skepsis ihres Kreises bezüglich Vitas schriftstellerischer und intellektueller Fähigkeiten, doch als Frau faszinierte sie Virginia, die Vita durch die farbige Brille ihrer Phantasie neu erfand. In einem im Plauderton geschriebenen Brief an Jacques Raverat in Frankreich schilderte sie Vita als Aristokratin und als Romanschreiberin »doch was wirklich Beachtung verdient, sind, wenn ich mich dieser derben Ausdrucksweise bedienen darf, ihre Beine«:
»Oh, sie sind exquisit- führen wie schlanke Säulen hinauf zu ihrem Leib, dem eines brustlosen Kürassiers (dennoch hat sie zwei Kinder), doch alles an ihr ist jungfräulich, ungezügelt, adlig; und warum sie schreibt - was sie mit vollendeter Kompetenz und einer Feder aus Erz tut — ist mir rätselhaft. Wäre ich sie, ich würde lediglich schreiten, zwölf Elchhunde im Gefolge, durch meine mir angestammten Wälder.«[6]
Und Vita schritt in der Tat. Leonard Woolf schrieb später, er hatte gedacht, »schreiten« sei etwas, das Leute nur in Romanen täten. Das sei zu einer Zeit gewesen, als er Vita noch nicht gesehen habe. Er beschrieb sie als »buchstäblich — und wie wenige Menschen sind je etwas buchstäblich - in der Blüte des Lebens, ein Tier auf dem Gipfel seiner Kraft, eine wunderschöne Blume in voller Blüte«:
»Wenn man an einem Hochsommernachmittag mit Vita durch London fuhr - sie war eine gute, aber ziemlich unorthodoxe Fahrerin — und hörte, wie sie einen aggressiven Taxifahrer zurechtwies, auch wenn sie im Unrecht war. konnte man einen Ton in ihrer Stimme klingen hören, den die Sackvilles und Buckhursts vor sechshundert Jahren in Kent oder sogar in der Normandie noch dreihundert Jahre früher ihren Leibeigenen gegenüber angeschlagen hatten. Sie gehörte tatsächlich zu einer Welt, die völlig anders war als die unsere.«[7]
Vita schenkte ihrer Mutter Vertrauen. Sie erzählte B.M. von der Homosexualität Eddy Sackville-Wests; sie erzählte ihr, wie sie sich - während der Violet-Phase - als »Julian« verkleidet hatte, »um ein Muster zu haben«; sie erzählte, wie ausdauernd Geoffrey war und wie kühl ihr Gefühl für ihn. Geoffrey wurde von ihr genarrt »Jedoch nach einem besitzergreifenden Liebhaber zu verlangen«, beklagte er sich, »und alles zu tun, um ihm zu zeigen, daß er nichts >besitzt< ist nicht nur verwerflich, es ist idiotisch.« Es war ein verwerfliches, idiotisches Muster, das Vita mehrere Jahre lang mit verschiedenen Leuten wiederholen sollte.
Anfang April 1925 fuhren sie, Harold und der elfjährige Ben nach Italien. In Venedig stieß Geoffrey zu ihnen, und er und Vita gingen zusammen durch die Stadt. Außerhalb Englands gefiel er Vita besser. Harold und Ben verbrachten ruhige Morgen miteinander (der eine schrieb ein Buch über Swinburne der andere sein Tagebuch); darauf trafen sie in der Regel zum Lunch mit den beiden anderen auf der Piazza San Marco zusammen.
Vita erzählte B.M. wie anhänglich Geoffrey gewesen sei »doch sie würde nie, weder ihn noch jemand anderen, mit Ausnahme von Harold, heiraten« Vielleicht war hier wieder einmal der Punkt erreicht, da Vita sich danach sehnte, daß Harold in eigener Sache tatkräftiger handelte. Sie erzählte ihrer Mutter, daß er »sich zu sehr in seiner Schale verschließt«, daß er »sich um zu wenige Menschen kümmert« Dem sollte bald abgeholfen werden, durch eine wichtige neue Freundschaft mit Raymond Mortimer sollte er aus seiner emotionalen Flauheit gerissen werden.
Vita verbrachte, ganz nach ihrem Herzen, einen ländlichen und abgeschiedenen Frühling und Sommer in Long Barn In The Land schrieb sie:

Ich begriff sie nicht, die menschliche Natur.
Aber diese reinen Dinge, das Evangelium des Jahrs.
Belehrten mich: ich glaub dem Einfachen nur.

Lutyens kam zu Besuch und gestaltete den holländischen Garten auf der unteren Terrasse für sie. Sie erzählte Virginia: »Ich kann nicht schreiben, also ziehe ich Küken auf.« Am letzten Wochenende im Mai wurden Harold und Vita vom Herzog und der Herzogin von Marlborough nach Blenheim eingeladen Dort fand eine Haus-Party für zwanzig Personen statt, und beim Dinner saß Vita zwischen Winston Churchill - »ich liebe Winston« - und einem »Wissenschaftler namens Lindemann [später Lord Cherwell] der absolut sensationell ist«.
Dies waren die Gesellschaftskreise, in welchen sich ihre Tochter nach B.M.'s Meinung bewegen sollte. Sie beschloß, die Bezahlung eines »richtigen Gärtners« für Long Barn zu übernehmen, damit Vita »durch das Gärtnern in dieser Hitze nicht völlig ausgelaugt« würde; sie hatte Vita gerade eine Ladung farbenfroher einjähriger Pflanzen gebracht — auf die Vita leicht hätte verzichten können - und sah zu, wie sie in aller Eile eingepflanzt wurden, weil »sie nach London fahren muß um mit Virginia Wolff [sie!] zu dinieren und Foster [sie!] zu treffen, der dieses zauberhafte Buch Passage to India* (*Edward Morgan Förster (1879-1870) Auf der Suche nach Indien, 1904 Anm. d. Übers.] geschrieben hat« (Ein weiteres mißlungenes Bloomsbury-Dinner: Forster lobte Edith Sitwell und sprach kein Wort mit Vita, »die verletzt, bescheiden, stumm wie ein kurz abgefertigtes Schulmädchen dasaß«[8])
Ende Mai erfuhr Vita von Geoffrey, daß seine Frau Sybil die Scheidung wolle Während er sich in London herumtrieb, hatte sie bei dem amerikanischen Literaten Percy Lubbock Trost gefunden und wollte ihn heiraten. Das war eine höchst unerwartete Wendung »Sie sagt: >Du hast ja Vita, also wird's dir an nichts fehlen.< (Die Ironie dieses >hast<)« Es bestand unter Umständen die Gefahr, daß man Vita zum Scheidungsprozeß vorladen würde, doch sollte Harold noch nichts erfahren, schrieb Geoffrey »Ich habe das Gefühl, nirgendwohin zu gehören« — er mußte die Villa Medici verlassen. Ob er auf Vita zählen könne? »Oh meine Liebe, du wirst den Kesselflicker nicht im Stich lassen, nicht wahr?« Er wollte nach England kommen, und er würde arm sein, da er von Sybils Geld gelebt hatte.
Vita erzählte Harold von dieser neuen Krise und veranlaßte ihn an Geoffrey zu schreiben und ihn zu bitten, fernzubleiben Harold belohnte das Vertrauen, das Vita ihm entgegengebracht hatte, indem er sich ihr seinerseits anvertraute Aus seiner Freundschaft mit Raymond Mortimer war eine Liebesaffäre geworden. Dankbar schrieb er ihr am 2. Juli 1925:
»Mein Liebling — letzte Nacht warst du so reizend zu mir. Sei dir bitte im klaren darüber, daß es nicht wichtig ist - doch immerhin wichtig genug, um sich von einem Gefühl zu einem Verhältnis zu mausern — und das schließt auf meiner Seite die Gefahr des Betruges ein, wenn es verhüllt wird. Mir ist eine schwere Last von der Seele gefallen Liebling — ich habe einfach keine Lust, bei dir in ein falsches Licht zu geraten und jetzt ist das alles in Ordnung- mein Engel.«
Der verzweifelte, mit Selbstmord drohende Geoffrey wohnte bei B.M. (die seine Fahrkarte bezahlt hatte). Als Vita kam um die Situation mit ihrer Mutter zu besprechen, stellte B.M. Geoffrey mit Lutyens auf die gleiche Stufe, »der so hartnäckig an mir klebt, ganz gleich, wie gern ich ihn habe.« Zusätzlich fügte es sich, daß Lionel wieder um die Scheidung bat und davon sprach, Baron Bildt und Lutyens mit hineinzuziehen. Gleichermaßen von Schwierigkeiten bedrängt, kamen Mutter und Tochter sich sogar näher. In diesem Sommer schrieb Vita ihrer Mutter einen Brief, der ihrer Solidarität Ausdruck gab und in einer Liebeserklärung gipfelte:
»Ich fühle, daß ich dich noch nie zuvor so vollständig für mich hatte... aber als ich dich heute in deinem Salon sah, so wunderschön, so anmutig, so huldvoll, so reich an Menschlichkeit, so warmherzig, so großmütig, hatte ich plötzlich das Gefühl, dich tausendmal besser zu kennen, und zugleich war mir als sehe ich dich zum ersten Mal - ich kann es nicht beschreiben - aber ich betete dich einfach an und wußte, daß ich für dich sterben könnte - das ist alles, was ich sagen kann.«
Über die Jahre gab es viele Leute, die Vita gegenüber ebenfalls dieses Gefühl hatten: es - war eine Anbetung, die sie unbewußt einforderte. Für sie war die Persönlichkeit ihrer Mutter, schrieb sie, »wie eine große warme Sonne, die mein ganzes Leben bestrahlte — eine Inspiration und ein Ideal. Ich verstehe McNeds [Lutyens'] Gefühle sehr gut.«
Im Spätsommer 1925 fühlte Virginia Woolf sich nicht gut, sie litt unter Kopfschmerzen und Erschöpfung. Die Faszination, die Vita auf sie ausübte, wuchs in Briefen — »Ich versuche, dich für mich zu erfinden«, wie sie am 7. September schrieb. Zwei Wochen zuvor hatte »ich eine vollkommen romantische und zweifellos irrige Vision von dir - in einem großen Bottich in Kent stampftest du Hopfenblüten — splitternackt, braun wie ein Satyr und sehr schön. Erzähle mir nicht, daß dies eine Sinnestäuschung ist.«[9] Vita, die ein wenig über Virginias gefährliche Depressionen Bescheid wußte, schrieb ihr aufmunternd: »Du bist eine sehr, sehr ungewöhnliche Person. Du bist immer unterwegs zu einem Ziel.«[10]
Ende September fragte das Auswärtige Amt bei Harold an, ob er darauf eingerichtet sei als Botschaftsrat nach Teheran oder Peking zu gehen. Er lehnte ab: »Ben braucht ständig jemanden, der sich um ihn kümmert, entweder V. oder mich, wenn er nicht entgleisen soll« und das dauernde Hin und Her würde Vita zu sehr belasten. Doch änderte er seine Ansicht. Seine Karriere stand auf dem Spiel: »Es ist wirklich der Wendepunkt, und wenn ich ihn verpasse, werde ich aus dem Rennen sein.« Er sagte Vita, er werde den Posten in Teheran annehmen »Sie ist ziemlich bestürzt.« In Sheffield beugte sich die aus Dottie den Nicolsons und Raymond Mortimer bestehende partie carré über Landkarten von Persien »Wie quälend das alles ist«, schrieb Vita in ihr Tagebuch.
Es war keine Frage, daß sie auf der Stelle mit Harold fortgehen würde. Doch sie war erregt - weil sie so bald nach Persien gehen würde? Weil sie bald allein sein würde? 30 September 1925: »Allein Ein guter Tag. Ging mit Barnes [der neue Gärtner] durch den Garten. Schrieb 71 Zeilen — Georgica [The Land] Ein Rekord, glaube ich. Sehr warm: verhangen. Wunderbar, allein zu sein. Erörterte mit Hadji nach dem Dinner seine mangelnde Spontaneität. Wünschte, ich hätte fortlaufend Tagebuch geführt Werde es in Zukunft tun (Ich glaube nicht.) Das Leben ist mit einemmal so ungemein aufregend.«
Der nächste Tag war ihr Hochzeitstag — »Beide so erfreut darüber«.
In The Portrait of Zélide hatte Geoffrey Scott geschrieben:
«Man darf mit einiger Sicherheit behaupten, daß der Hang zum Briefeschreiben mehr Liebende einander entfremdet als sie vereinigt hat. Das Wesen, das durch die Feder freigesetzt wird, ist ein wenig abgesetzt und oft auf ironische Weise verschieden von jener anderen Persönlichkeit des Handelns und Sprechens. Es sind also bei einer Korrespondenz unter Liebenden vier Elemente im Spiel — statt zweier müssen vier Egos unter einen Hut gebracht werden Und aufgrund dieses grausamen mathematischen Gesetzes werden die wechselseitigen Möglichkeiten sich zu kränken, kalkulierbar multipliziert.«
Er schrieb über Benjamin Constant und Zélide: Er dachte an sich und Vita. Doch traf das was er schrieb, auf Harold und Vita nur zum Teil zu. Zwar war das »durch die Feder freigesetzte« Wesen für Harold und Vita, wie Geoffrey schrieb, von »jener anderen Persönlichkeit des Handelns und Sprechens« ganz verschieden, doch hatte es eine ausschließlich positive Funktion. Der leibhaftige Harold war, wie Vita sagte, nicht emotional, er war reserviert und hatte eine starke Abneigung, seine Gefühle zu zeigen. Vita war oft in der Stimmung, sich zurückzuziehen Aber in ihren Briefen war der eine der Geliebte des anderen.
In ihren Briefen wandte sich jeder von ihnen an das eigentliche Ich des anderen, und dort erlebten sie ihre Ehe am eindringlichsten. Sie gaben ihren Neigungen und Bedürfnissen Ausdruck Menschen, die sexuell aneinander gebunden sind, haben nicht so viel zu sagen. Ihre Ehe im Briefwechsel war deren platonisches Ideal, an das beide glaubten. Falls dies ein instinktiver psychologischer Kunstgriff war, die Lockerheit ihrer Vereinigung im Zaum zu halten, war es ein erfolgreicher - so erfolgreich, daß er ein Eigenleben zu führen begann. Je inniger sie sich auf dem Papier trafen, desto abgesonderter konnten sie im Alltag leben. Was als einigender Prozeß begann, legitimierte ihre Getrenntheit.
Vita schickte in die Städte, die Harold auf seinem langen Weg nach Persien passierte Briefe voraus; und sie schenkte ihm eine St. Christophorus-Medaille. Auch der achtjährige Nigel schickte einen Brief voraus: »Es muß lustig sein, Long Barn für zwei Jahre zu verlassen, du wirst vergessen, wie es aussieht Aber es wird hübsch sein, nach Hause zu kommen und den Garten voll von schönen Blumen zu finden, und dein Zimmer wird eine >fete de fluers< [sie!] sein, arrangiert von Mama die Rosen im Haar haben wird.«
Harold reiste am 4 November ab und an diesem Abend schrieb ihm Vita: »Du hast keine Ahnung, keine Vorstellung davon, wie sehr ich dich liebe. Ich wünschte, ich wäre mit dir gegangen und hätte mich um alles andere den Teufel geschert. Ich empfinde ganz stark, daß ich dir gehöre.«
Und am nächsten Tag:
»Es zeigt einem bloß, Hadji, wie sehr oberflächlich alle béguins sind, wenn man sie auf den Prüfstein wirklicher Liebe legt - der Liebe fürs Leben -. selbst wenn die beguins vielleicht erregender und zwingender sind, zumindest scheinbar), solange sie dauern. Liebling, es ist sehr sonderbar, nicht wahr? weil es nicht das Körperliche ist, das der Liebe gewöhnlich diese leidenschaftliche Qualität verleiht. Und ich hege keine Eifersucht gegen dich - ich, die ich schrecklich, mörderisch eifersüchtig bin.«
Und am Tag danach: »Es ist mir gleich, mit wem du schläfst, solange ich nur dein Herz behalte!« Vier Tage nach der Abreise übertrug sie säuberlich einen Text in ihr Manuskriptbuch, ein neues Gedicht über die zerbrechliche Sicherheit ihres häuslichen Glücks:

Manchmal, wenn Nacht sich in den Wäldern ballt
Und wir im Haus, der Sicherheit aus Stein.
Lesen, ein wenig sprechen, wieder lesen
Über das Leben aus zweiter Hand, über Kleinigkeiten,
Zufrieden sind, für kurze Zeit befreit
Von Ängsten und Gefahren, die ganz verschwunden
Oder ganz verborgen sind — ertönt manchmal ein Schuß.
Unversehens, grell; nichts sonst Nichts folgt.
Nichts folgt für uns, nur das jähe Krachen.
Das Schweigen brechend, gefolgt von neuem Schweigen,
Nicht wert ein Wort; unwichtig und alltäglich.
Ein Schuß im Dunkel von unsichtbarer Hand
Auf ein unbekanntes Leben; traf oder fehlte er sein Ziel?
Brachte er Tod? Oder Wunden? Trieb er vielleicht zur Flucht
Vor einer jähen Drohung, die leicht sich wiederholt
Oder endet ein für allemal? Doch weiter lesen wir.
Denn er galt ja nicht uns wir waren nicht das Ziel.
Nicht dein Herz und nicht meines, nicht dieses Mal mein Freund.[11]

Den ganzen Herbst hindurch hielt sie Harold auf dem laufenden über das, was Nigel gesagt und getan hatte, über die größeren Verbesserungen im Garten, die sie gemeinsam geplant hatten. Sie pflanzte Einfassungen aus Buchsbaum und ließ den Steinpfad neu in Fischgrätenmuster pflastern (Barnes, dessen Lohn von B.M. bezahlt wurde, machte diese Projekte möglich.) Sie bestellte Eiben, »die zuerst komisch aussehen werden, die aber, wenn die Mars zu Asche geworden sind, Omnibusse voller Touristen aus London anlocken werden« In der letzten Novemberwoche hatte sie rund um den Teich »große Felder von japanischer Iris« und im Gras Türkenbundlilien und rote Anemonen gepflanzt: um den Schwertlilien einen Hintergrund zu geben, bestellte sie rosafarbenen Geißbart »Weißt du, ich glaube wirklich, ich könnte für unbegrenzte Zeit ganz allein leben, völlig zufrieden - wenn ich nicht mit dir lebte, was ich vorziehe. Ich schätze, für mein Alter [sie war 33 Jahre alt] ist der Gedanke sehr ausgefallen, aber vollkommen ernst gemeint.« Sie schrieb ihm von den Störungen ihrer Einsamkeit —von Geoffrey, zum Beispiel, der sie anrief, um ihr zu sagen, er sei nicht mehr bei Sinnen, werde nach Mexiko gehen, werde sich umbringen Er hatte  angefangen,  sich  mit Dorothy Warren zu  trösten,  einer Nichte von Lady Ottolines Gatten Philip, die eine Gemäldegalerie in Brook betrieb: und Dorothy Warren begann, sehr zu Vitas Irritation, in Geoffreys und in ihrem eigenen Interesse Vitas Gesellschaft zu suchen. Am 12. November schrieb sie Vita einen langen, doppelseitigen Brief, in dem sie ihrer Sorge um Geoffrey Ausdruck gab:
»Er ist unbeschreiblich deprimiert und zerschmettert gewesen Ich habe ihn sehr oft gesehen... Ich habe nie Gelegenheit gehabt, dir zu sagen, wie ich für dich empfinde. Du erscheinst mir ganz wunderbar und vollkommen schön. Ich weiß, daß du für Geoffrey unendlich mehr tun kannst als jedes andere menschliche Wesen... Armer Geoffrey er hat keine stärkenden männlichen Reserven oder Hypokrisien.«
Geoffrey, der Vita aus dem Scheidungsfall heraushalten wollte, mußte, um die Scheidung von Sybil zu erlangen, einen falschen Beweis für seinen Ehebruch präsentieren. Vita schrieb Harold: »Er trat mit einer flachsblonden Lady auf, die er überhaupt nicht mochte und die ihn eine verdammte Menge Geld kostete Ich sagte, er solle Sybil die Rechnung schicken, doch das lehnte er ab.« Harald mutmaßte, daß Vita durch dieses Durcheinander mehr geängstigt wurde, als sie zugab »Liebling, es tut mir so leid um dich wegen Geoffrey. Mit Tray [Raymond Mortimer] würde es mir genauso ergehen, wenn ich spürte, daß er um meinetwillen überschnappte. Aber ich glaube, daß Geoffrey einer der Wirrköpfe auf der Welt ist, die mit derselben makabren Freude ihr Unglück genießen wie der Hypochonder die Krankheit.«
Virginia Woolfs Gesundheitszustand war noch immer heikel; Vitas Besuche dauerten nie länger als eine halbe Stunde Am 27. November schrieb Virginia in ihr Tagebuch: »Vita ist zweimal bei mir gewesen. Sie ist dazu verdammt, nach Persien zu gehen; & mir mißfiel dieser Gedanke so sehr... daß ich daraus schließe, daß ich sie ernsthaft gern habe.« Das Beste an ihren immer wiederkehrenden Krankheiten sei, glaubte sie, daß »sie die Erde zwischen den Wurzeln lockern. Sie bewirken Veränderungen Menschen drücken ihre Zuneigung aus.«
Sie schloß sich enger an Vita an und diese an sie. Anfang Dezember teilte sie Vita mit der Arzt erlaube ihr keine Ausflüge; schüchtern deutete sie an, sie könne vielleicht für einen oder zwei Tage nach Long Barn kommen. Zwei Tage zuvor hatte sie in ihrem Tagebuch geschrieben, wenn sie Vita nicht jetzt, bevor sie nach Persien abreiste, sehe, werde es zu spät sein - »denn der Augenblick der Intimität wird bis zum nächsten Sommer verflogen sein«.[12]
Am 17. Dezember kam Virginia, ohne Leonard, nach Long Barn. An den beiden vorangegangenen Tagen hatte Vita Geoffrey zu Gast gehabt - »sehr gegen meinen Willen« - und sie brachte ihn mit dem Auto zurück nach London und nahm Virginia auf dem Heimweg mit. Sie verbrachten einen »friedlichen Abend«, wie sie in ihrem Tagebuch schrieb. Später in derselben Nacht schrieb sie an Harold: »Virginia ist eine exquisite Gefährtin, und ich liebe sie wie einen Schatz. Bis zum Lunch muß sie im Bett bleiben, da sie noch längst nicht gesund ist und sie hat viele Übungen zu machen. Bitte glaube nicht, daß
a) ich mich in Virginia verlieben werde
b) Virginia sich in mich verlieben wird
c) Leonard sich in mich verlieben wird
d) ich mich in Leonard verlieben werde,
denn dem ist nicht so. Ich weiß nur, daß mein törichter Hadji sich sagen wird: >Allons, bon!< wenn er hört, daß V. hier ist, und >Ca y est< und so fort.. Ich vermisse dich schrecklich. Ich vermisse dich besonders, weil Virginia so sehr lieb und verständnisvoll über dich gesprochen hat.«
Am nächsten Tag einem Freitag, gingen sie spazieren, in Sevenoaks einkaufen und unterhielten sich; und am Abend kam der »Augenblick der Intimität«, den Virginia sich ausgemalt hatte, in Vitas Wohnzimmer, Virginia auf dem Sofa am Kamin liegend Vita schrieb: »Sprach mit ihr bis drei Ihr früh - Kein friedlicher Abend.«
Virginias Erfahrungen mit körperlicher Liebe waren begrenzt. Sie teilte mit Leonard kein sexuelles Leben. Sie war klug, kritisch, ironisch, sogar boshaft — und doch so nervös, phantasievoll kindlich, daß selbst ein Kuß oder eine liebkosende Hand ihr vielleicht aufregend erschienen: »Sexuell war ich immer ängstlich«, sollte sie später schreiben »Meine Angst vor wirklichem Leben hat mich immer in einem Nonnenkloster festgehalten.« Später erzählte sie, Ethel Smyth Clive Bell und Vita hätten sie einen »Fisch« genannt: »Und ich erwiderte (ich denke oft daran, während ich ihre Hände halte und beim Berühren eines männlichen oder weiblichen Körpers köstliches Vergnügen empfinde): Aber was ich von euch will, ist Illusion - die Welt tanzen machen.«
Am nächsten Tag kam Leonard, um seine Frau abzuholen, und Vita fuhr mit ihnen nach London »Wir haben uns in diesen zwei Tagen im Handumdrehen befreundet. Ich liebe sie aber ich könnte mich nicht in sie verlieben, also brauchst du nicht nervös werden!« schrieb Vita an Harold. Bezeichnenderweise distanzierte sich Virginia von dem, was geschah, indem sie es in ihrem Tagebuch analysierte. Am 21 Dezember:
»Die Lesbierinnen lieben Frauen: ihre Freundschaft ist nie frei von Erotik. Ich habe sie gern und bin gern mit ihr zusammen und habe den Glanz gern, den sie ausstrahlt - sie verbreitet einen Schein wie von Kerzen, wenn sie klunker- und perlenbehangen in Sevenoaks im Laden des Krämers umherstöckelt. Das ist das Geheimnis des Zaubers, nehme ich an. Mich jedenfalls fand sie unglaublich schäbig gekleidet.«
Virginia fragte sich, wie das alles auf sie wirke: »Sehr geteilt«, war die Antwort.
»Da ist ihre Reife und ihre Vollbusigkeit; da ist die Tatsache, daß sie mit vollen Segeln die hohe See befährt, wo ich Küstenschiffahrt betreibe; ich meine ihre Fähigkeit, in jeder Gesellschaft das Wort zu führen, ihr Land zu vertreten, Chatsworth zu besuchen und über Silber, Dienerschaft und Chows zu gebieten: da ist ihre Mutterschaft (obwohl sie ein bißchen kalt zu ihren Jungen ist), kurz, die Tatsache, daß sie (was ich nie gewesen bin) eine wirkliche Frau ist.«
Was »Verstand und Scharfblick« betraf, fühlte Virginia sich überlegen »Aber darüber ist sie sich klar, und so verschwendet sie an mich jene mütterliche Fürsorge, die, aus irgendeinem Grund, das ist, was ich mir immer am meisten von jedem gewünscht habe. Was Leonard mir gibt und Nessa mir gibt und Vita mir auf unbeholfenere und äußerliche Art zu geben versucht.«
Vita wurde eingeladen, am 2. Weihnachtsfeiertag in Charleston mit den Woolfs und den Bells zu speisen; sie hatte Virginias Schwester Vanessa bislang erst einmal getroffen und war nervös. Harold schilderte sie das Essen als »Hausmannskost und hohe Gespräche. Ich mag Virginias Schwester schrecklich gern... Virginia liebt deinen Mar. Sie tut es wirklich. Es ist eine Seelenfreundschaft. Sehr gut für mich und auch gut für sie.«
Dottie Wellesley war wie vorauszusehen, wenig begeistert (Virginia glaubte später Vita habe »Dottie ursprünglich, ich glaube, in erster Linie um meinetwillen« verlassen.[13]) Harold nahm es gelassen, sprach jedoch eine unüberhörbare Warnung aus: »Ich bin wegen Virginia nicht wirklich beunruhigt und glaube, daß ihr wahrscheinlich sehr gut füreinander seid. Ich habe nur das Gefühl, daß du im Umgang mit Ehepaaren nicht gerade la main heureuse hast.« Das war eine Untertreibung: Selbst wenn man die Wellesleys außer acht läßt, hatte Vita zugelassen, daß Geoffrey sein Leben ruinierte und seine Ehe sinnlos aufgab.
Vita und die Kinder verbrachten den Neujahrstag wie gewöhnlich in Sherfield mit Dottie und ihren Kindern. Raymond Mortimer Clive Bell und Leigh Ashton (der am Victoria and Albert Museum tätig war) waren auch da. Die Silversterparty geriet außer Kontrolle. Einige waren betrunken »Tray war offen gestanden, sternhagelvoll, und Clive führte lockere Reden«, wie Vita Harold den Abend beschrieb:
»Stell dir mein Entsetzen vor, als er [Clive] plötzlich sagte: Möchte doch wissen, ob ich den Mut habe, Vita eine sehr indiskrete Frage zu stellen.< Und ich in meiner Unschuld und nicht auf der Hut, sagte ja er solle nur fragen, und er kam damit heraus: >Bist du je mit Virginia ins Bett gegangen?<; aber ich denke, mein »niemals« überzeugte ihn und jeden anderen von der Wahrheit. Du magst daraus ersehen, welcher Art die Konversation war!«
»Ich hoffe, Clives Version unterscheidet sich nicht wesentlich von meiner«, schrieb Vita an Virginia »Und unterschied sich deine Version von der meinen? Leider nein.«[14]
Dorothy Warren, die in Geoffrey verliebt war wollte Vita jetzt dauernd besuchen, um darüber zu reden. Geoffrey erkannte, daß es vernünftig wäre, sie zu heiraten, doch er liebte Vita immer noch und wollte sie ebenfalls dauernd besuchen, um darüber zu reden. Dorothy Warren liebte Vita und wollte... Es war alles sehr zeitraubend Vita kehrte nach Hause zurück, um Long Barn zu schließen und alle Dinge zusammenzusuchen, die sie mit nach Persien nehmen wollte. Harold hatte sie gebeten, Lampenschirme, Aschenbecher, ein Teeservice und andere englische Annehmlichkeiten mitzubringen, denn das Haus auf dem Gelände der Britischen Gesandtschaft war ziemlich karg ausgestattet. Es gab nur ein Trockenklosett (»Mar wird das hassen«) und ein winziges Badezimmer, »beheizbar mit einem Ofen ad hoc. Von Long Barn schrieb sie an Virginia:  »Bitte, in all diesem Wirrwarr des Lebens bleibe du weiterhin ein strahlender und beständiger Stern. Bloß ein paar Dinge bleiben als Leuchttürme: Dichtung und du und Einsamkeit. Du siehst, ich bin überaus sentimental. Hast du das erwartet?«[15] Sie verabschiedete sich von ihrem Wohnzimmer und ihrem Schreibtisch, auf dem die Rodin-Büste, ihr marmornes Tintenfaß und eine Riechschale nach Knole'schem Rezept standen. Sie verabschiedete sich von ihrem winterlichen Garten mit einem flüchtigen Blick durch die Terrassentür neben der an Pflöcken die Hundeleinen und ihre schmutzstarrenden Gartenhandschuhe hingen. Sie sagte dem ländlichen England Lebewohl:  Am 9. Januar überreichte sie die Preise auf einem Kostümball in der Club Hall von Sevenoaks. Sie sagte B.M. in White Lodge Lebewohl, »in ihrem alten Flanellnachthemd und  einem Gewirr von wollenen Schultertüchern«; sie verabschiedete sich von Virginia, die Angst vor Vitas Abreise hatte und erregte, vernarrte Briefe an das »Liebste Wesen« schrieb. Virginia war wieder krank, und ihr Eisenbett stand abermals im Salon: sie unterhielten sich in der Dämmerung Auch Vita war erregt: »Alles in allem finde ich das Leben berauschend«, schrieb sie an Virginia, »es ist nicht weniger Schmerz als Vergnügen — und an dem hat Virginia keinen geringen Anteil.«
Ihr halbgepacktes Reisegepäck war in Knole wo Eddy als mutmaßlicher Erbe von Vitas Vater gerade eine eigene Wohnung bekommen hatte.
»Sachen über das ganze Zimmer verstreut Und der plappernde Eddy während ich mich zu erinnern suche, was ich einzupacken habe »Kennst du Tom Eliot?< »Nein - Kodak-Filme, Aspirin, Pelzhandschuhe, Zahnpulvern »Sind die Holzschnitte in Schwermut der Liebe* (*The   Anatomy of Melancholy von Robert Burton  (1577-1640) erschien erstmals 1621 [Anm. d. Übers.]) nicht wunderschön?< »Nein, Eddie, ich finde sie ganz schrecklich -Tu meine Reitstiefel nicht in den Koffer, an Bord reitet man nicht.< »Soll ich mein Wohnzimmer rosa oder gelb streichen lassend Und so weiter...
Wo ist Virginias stilles Zimmer?... Eines Tages werde ich schreiben und dir erzählen, was alles du mir bedeutest. Soll ich?« Sie ließ Virginia das fast vollendete Manuskript von The Land zur Lektüre da; Heinemann, nicht die Hogarth Press, würde das Buch herausbringen. Dann nahmen Vita und Raymond Ben und Nigel — der »arme kleine Niggs«, der seinem Bruder in die Schule folgen sollte - als Abschiedsgeschenk mit in eine Zirkusvorstellung, bei Clive gab es eine letzte Party, und am Morgen danach, am 20. Januar verließ ihr Zug Victoria Station.

Kapitel 14

Vita war unterwegs, doch sie war nicht allein: Dorothy Wellesley begleitete sie. Vita schrieb Virginia während der Zugfahrt und am folgenden Tag nochmals auf dem Weg von Paris nach Mailand:
»Ich bin reduziert auf ein Wesen, das sich nach Virginia sehnt. In den schlaflosen, alptraumhaften Nachtstunden entwarf ich einen wunderschönen Brief an dich, und er ist ganz verschwunden. Ich vermisse dich einfach, auf eine ganz schlichte, verzweifelte kreatürliche Art... Es ist unglaublich, wie wichtig du mir geworden bist, Ich schätze, daß du an Leute gewöhnt bist, die diese Dinge sagen, Ich verfluche dich, verderbte Kreatur: ich werde dich nicht dazu bringen, mich noch mehr zu lieben, indem ich mich so verplappere, Doch, o, meine Liebe, ich kann mich dir gegenüber nicht klug und distanzierend verhalten: dafür liebe ich dich zu sehr, Das ist nur allzu wahr, Du hast keine Ahnung, wie gut ich mir Leute vom Leibe halten kann, die ich nicht liebe, Darin habe ich's zu einer wahren Meisterschaft gebracht, Aber du hast meine Schutzwälle durchbrochen und im Grunde habe ich nichts dagegen.«[1]
Sie schrieb einen weiteren Brief aus Triest und einen vom Schiff von Triest nach Kairo, wo sie und Dottie Ronald Balfour trafen (Virginias lange, liebevolle, forschende Antworten sind in ihren veröffentlichten Letters* nachzulesen. Virginia Woolf Letters Gesammelte Briefe Bd 1-3 erscheinen voraussichtlich ab 1995 im S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main [Anm. d. Übersetz.) In Kairo entschloß sich Vita, einen Hut zu kaufen: sie würde ihn in Teheran zur Krönung des Schahs brauchen Dorothy Wellesley beschrieb den Kauf in Far Have I Travelled:
»Es machte sie wütend, daß sie einen Hut haben mußte. Ronnie und ich standen draußen. Schließlich erschien sie eine Art schwarzen Hut auf dem Kopf, an den sie einen der größten Smaragde gesteckt hatte, den ich je sah. Die Wirkung war unglaublich. Jemand sagte: >Sie sieht aus wie die Kaiserin Zenobia.< Ihre Würde war durch nichts zu erschüttern: zumindest schien es so. Nur die anderen lachten.«
Am 29 Januar schrieb sie aus Luxor an Virginia: »Die einzige Art, mit Ägypten fertig zu werden, besteht für mich darin — wie Molly MacCarthy es mit Weihnachten machte - alphabetisch vorzugehen« Und sie spulte eine Liste ab die mit »Amon Amerikaner, Alabaster« begann und bis zu »Xerxes Xenophon Yogurt, Zauber (meine eigene Verzauberung)« reichte »Machen dich dünne Seidengewänder und Sonnenbräune neidisch? Nein, du armes Ding, du ziehst dein altes, nebliges Bloomsbury und deine Londoner Squares vor. Der Wunsch, Virginia zu rauben, überkommt mich — sie zu rauben, mitzunehmen und in die Sonne zu stellen, zwischen all die Dinge, die ich in alphabetischer Reihenfolge aufgezählt habe.«
Sie beschrieb Virginia ihren Besuch im Tal der Könige:
»Wenn menschliche Wesen halb so aufregend auf dich wirken wie Dinge der Natur auf mich, dann verstehe ich in der Tat warum du gern in London lebst. Ich kann nicht erklären, warum sie diese berauschende Eigenschaft haben. Ich verstehe vollkommen, warum menschliche Wesen sie haben... Und merke dir — ich mache mir so viele Sorgen um die wenigen Menschen, die mir etwas bedeuten (Um Virginia? Weiß Gott, ja, um Virginia.)«[2]
Während ihrer Flitterwochen hatte ihr Sonnenstich sie und Harold daran gehindert, das Tal der Könige zu besuchen, jetzt bedauerte sie das und schrieb ihm, es sei »eines der eindrucksvollsten Dinge, die ich je gesehen habe; es ist haargenau Eliots wüstes Land.«* (* T.S Eliot Das wüste Land: erschienen 1923 in der Hogarth Press, dt. 1972 Anm. d. Übers.) Und sie hatten Karnak bei Mondschein gesehen. Dottie sei, so schrieb sie ihm, »die beste Reisegefährtin, die man sich denken kann, weil sie so leicht zu entzücken ist: sie sagt jedesmal >Sieh doch nur!<, wenn sie einen Esel sieht. Das ist die richtige Einstellung.« Sie versicherte ihm, für den letzten Teil ihrer Reise nach Persien, der bitterkalt zu werden versprach, sei sie bestens gerüstet: Sie habe einen Pelzmantel, eine Pelzkappe, »eine Jaeger-Decke und einen flauschigen Jaegerschlafsack... drei Thermosflaschen .. und auch eine riesige Taschenflasche mit Dotz' bestem Cognac« Auch die Holzfigur der Heiligen Barbara, Haralds erstes Geschenk an sie, hatte sie bei sich.
Doch vorher machten sie und Dottie noch einen Abstecher nach Indien Sie durchfuhren den Suez-Kanal, »mit Sicherheit der abscheulichste Platz der Welt«, und überquerten den Indischen Ozean. In Bombay wurden sie von McNed - Edwin Lutyens —empfangen, der an seinem Neu-Delhi-Projekt arbeitete. »Bombay, ein entsetzlicher Ort«, schrieb Vita in ihr Tagebuch Indien besaß für keine der beiden Frauen etwas Zauberhaftes. In Agra meinte Dottie, ihr Hotel sei voll von Schlangen: in der Nacht schlich sie entsetzt in Vitas Zimmer, aus dem sie wie gewöhnlich unverzüglich wieder in das ihre expediert wurde - schrieb Vita jedenfalls an Harold. Dottie fuhr von Indien aus nach Hause; Vita reiste allein weiter und nahm in Karatschi ein Schiff durch den Persischen Golf. Für sie war das Reisen relativ einfach; als Gattin eines Diplomaten kümmerten sich bei jedem größeren Zwischenaufenthalt Angestellte der Britischen Botschaft um sie.
Auf dem Schiff schrieb sie einen desillusionierten Brief an ihren Vater: »Indien ist ein abscheulich schmutziges bedint Land, und es macht mir nichts aus, wenn ich es nie wiedersehe. Die Hindus sind eine schmutzige, kriecherische Bande; die Ägypter konnte ich täglich um mich haben.« Sie hatte einen verstauchten Knöchel, einen entzündeten Hals, eine Magenverstimmung und fühlte sich ziemlich einsam. Sie las Proust, studierte ihre persische Grammatik und begann mit der Niederschrift eines neuen Buches Sie hatte bereits beschlossen, über diese Reise eine Reiseerzählung zu schreiben;    '
aber sie beneidete Virginia um die fiebrige Erregung, mit der diese an ihrem neuen Roman arbeitete, und gestand sich ein, daß nur das Schreiben schöner Literatur jenen besonderen Reiz vermittelte, als »dirigiere man ein Orchester oder modelliere in Ton. Ein Gefühl, einer Sache wirklich Gestalt zu geben.«
Sie schrieb Virginia ein wenig befangen, in deren Stil, um ihre wechselseitigen Erkundungen des Partners fortzusetzen. Über Indien schrieb sie, der Tadsch Mahal habe ihr gefallen, ein »reines und heftiges lyrisches Gedicht. Und überall Schmutz Schmutz, Schmutz.« Sie wußte, daß Virginia sie intellektuell und künstlerisch in die Tasche stecken konnte: »Ich weiß nicht, ob ich nach der Lektüre der Bücher von Virginia Woolf deprimiert oder ermutigt sein sollte. Deprimiert deshalb, weil ich nie imstande wäre, so zu schreiben, oder ermutigt, weil jemand es kann.«[3] Vom Schiff schrieb sie:
»Du hast nun einmal (Oh ja ich weiß, ich sagte, ich würde auf der Fahrt durch den Persischen Golf über Virginia schreiben) das mot juste, mehr als jeder moderne Schriftsteller, den ich kenne. Als einzigen Nebenbuhler würde ich in diesem Punkt Max [Beerbohm] ins Feld führen. Ich frage mich, ob es dich viel Mühe oder Nachdenken kostet oder ob es dir entspringt wie die jungfräuliche Athene dem Haupt des Zeus? Ich glaube nicht, daß es dich viel Mühe kostet, verflixt noch mal! Weil du es auch in deinen Briefen hast, für welche du gewiß keinen Entwurf gemacht hast...
Das Sonderbare ist, daß du der einzige Mensch bist, den ich richtig kenne, der sich von den vulgäreren, fröhlicheren Dingen des Lebens fernhält Und ich frage mich, ob du dabei verlierst oder gewinnst. Ich stelle mir vor daß du gewinnst - du Virginia - weil du so veranlagt bist und einen ausreichenden Fonds an Reizmitteln in dir selbst hast... Du wirst denken, daß ich fortwährend versuche, dich von deinem Sockel herunterzuziehen, aber wirklich, dort oben liebe ich dich am meisten Es wäre bloß ein großer Spaß, dich zu verpflanzen, den Sockel und dich, bloß einmal.. Gute Nacht, liebe und entrückte Virginia.«[4]
Ende Februar kam Vita im Irak an. In Bagdad wohnte sie hei Gertrude Bell, dieser bemerkenswerten Frau, die Arabistin, Historikerin, Alpinistin, Archäologin und politische Beraterin der irakischen Regierung war und zu dieser Zeit gerade die Gründung eines Nationalmuseums in Bagdad abschloß. Miss Bell gab ein Essen für Vita, führte sie durch die Basare und nahm sie mit zum Tee beim König des Irak — »ein bezaubernder, stattlicher, romantisch wirkender Mann, der schlecht Französisch spricht und unendlich einsam aussieht«, schrieb Vita in ihr Tagebuch. Sie war Gertrude Bell schon früher begegnet, doch jetzt war sie von ihr weit stärker beeindruckt, »an dem ihr angemessenen Ort in ihrem Haus mit dem Büro in der Stadt, ihrem weißen Pony in einer Ecke des Gartens, ihren arabischen Dienern, ihren englischen Büchern, ihren babylonischen Tonscherben auf dem Kaminsims ihrer langen schmalen Nase und ihrer unwiderstehlichen Vitalität« (Sie starb nur vier Monate nach Vitas Besuch im Alter von achtundfünfzig Jahren.)
In Bagdad erwarteten Vita Briefe von Virginia, und sie antwortete ihr: »Der Satz, daß du mich vermißt, brennt wie eine kleine warme Kohle in meinem Herzen. Oh ich vermisse dich so sehr.. das ist schmerzlich, doch auch ein wenig angenehm, wenn du weißt, was ich meine... es tut gut ein so lebhaftes und dauerhaftes Gefühl für jemanden in sich zu spüren. Es ist ein Zeichen von Vitalität (Ich wollte kein Wortspiel machen.)«[5]
Vita erzählte Miss Bell, daß sie sich als Geschenk für Harold einen Saluki-Hund wünsche. Nachdem sie einen Telephonanruf getätigt hatte, ging Miss Bell in ihr Büro. Dann begannen, wie Vita ihrem Vater schrieb »Scharen von Arabern zu erscheinen, die Salukis an der Leine führten. Und als Gertrude zum Lunch heimkam, war es eine richtige Meute geworden, an verschiedenen Pfosten der Veranda angebunden. Und alles meine Schuld. Und sie sind alle noch hier, zur Ansicht.« Vita wollte sie alle haben: auf Anraten Miss Bells entschied sie sich für eine junge, gelbe Hündin namens Zur-cha (Sie erwies sich als unrettbar blöde und war der einzige wirklich enttäuschende Hund, den die Nicholsons je besaßen.!
Vita reiste mit der Trans-Desert-Mail (einem Autokonvoi)! durch Kurdistan nach Persien. Während der Nacht verfolgten berittene Banditen den Konvoi; es war ein wirkliches Abenteuer von der Art wie Vita es sich immer erträumt hatte »Ich war beinahe traurig, als ich die Lichter von Kermanschah vor uns auftauchen sah.« Dort, am 1. März, wartete Harold auf sie in einem »Zustand schrecklicher Ungeduld Angst und Aufregung« Er sah die Scheinwerfer und dann das Auto und dann »meine Viti mit einer kleinen Pelzkappe«, den Saluki auf den Knien »Ungestüme Erregung.«
Die fünfhundert Meilen von Kermanschah nach Teheran legten sie gemeinsam zurück; sie beschrieb ihr Vergnügen ihrem Vater:
»Man fährt durch endlose Ebenen, umgeben von Amphitheatern schneebedeckter Berge, liebliche braune Ebenen und Herden, die an den Hängen grasen; und dann überquert man das Bollwerk der Berge auf höchst aufregenden Pässen und überschaut vom höchsten Punkt (10 000 Fuß hoch) Zentralasien, in der einen Richtung zum Himalaja, in der anderen nach China blickend. Natürlich liegt der große Zauber dieses Fleckens in der völligen Wildheit und Abwesenheit der Zivilisation; man spürt, so wie es heute ist, war es während der letzten tausend Jahre, und genauso muß es gewesen sein, als Marco Polo über diese Route reiste.«
Sie erreichten Teheran und »Hadjis kleines Haus« am 5. März bei strahlendem Sonnenschein.
Vita schrieb, im Jahre 1926 sei Teheran »eine schmutzige Stadt mit schlechten Straßen, Abfallhaufen und streunenden Hunden« gewesen, »verrückte kleine Kutschen mit verhärmten Pferden: ein paar protzige Gebäude und schäbige Häuser, kurz vor dem Einstürzen«.[6] Die Stadt lag noch immer innerhalb ihrer alten Befestigungsanlagen aus Lehm; einst begann unmittelbar hinter dem Stadttor aus blauen und gelben Ziegeln die Wildnis »Wir ernähren uns von Rebhühnern, Melonen Granatapfelmarmelade und Schi-ras-Wein.«
Vitas Vorurteile gegen das diplomatische Leben wurden bestätigt, obgleich sie Besuche machte, Festessen gab oder ihnen beiwohnte, wie schon in Konstantinopel: sie überreichte sogar die Preise bei einem Hockeyturnier »Ich mag die Diplomatie nicht, obgleich mir Persien gefällt«, schrieb sie ihrem Vater »An Sonntagen unternehmen wir Erkundungsfahrten aufs Land.« Es war Frühling in Persien: auf den Hügeln und in den Feldern vor der Stadt fanden sie und Harold Goldwurz, Königskerzen, roten und purpurnen Mohn, scharlachroten Hahnenfuß, blühende persische Iris, wilde Mandeln Glyzinen und in abgelesenen Nischen Flieder und Rosen. In der Wüste hinter Dosehau Tapeh fanden sie am 26. März kleine purpurne Anemonen, und zwei Tage später sahen sie weiße und gelbe Tulpen und junge Gazellen.
Sie beschrieb Virginia die Geburstagsfeier des Schahs: »Also, um 8.15 fährt ein riesiges gelbes Automobil vor: Harold in Uniform und Goldbesatz, kleines Schwert, das zwischen seine Beine gerät; Vita spöttisch, aber mit Smaragden bedeckt« — und »ganz wunderbar« aussehend, dachte Harold. Am 19. März schrieb er an Clive Bell: »Oh Vita in Persien! Clive ich versichere dir, es ist ein wunderschöner Anblick. Majestätisch und gelassen bewegt sie ihre langen schlanken Beine: majestätisch und gelassen nimmt sie die unverhohlene Bewunderung der persischen Notabeln entgegen — und nach dem Dinner geht sie mit leisem Ächzen ins Bett.«[7] An manchen Abenden arbeitete Vita lange, korrigierte die Fahnen von The Land und machte Ergänzungen. In Teheran schrieb sie am 23. März die Schlußzeilen, in denen die Dichterin von der anderen Seite der Welt ihr heimatliches Kent beschwor:

Der Mond, der Stern, leuchtend über meinem englischen Weald*
Zu dieser Stund, und ich bin nicht da, sie zu grüßen.
(*The Weald: Hügellandschaft im Südosten Englands [Anm. d. Übers.]

Vita half Lady Lorraine, Gattin des britischen Gesandten in Teheran, den Gulestan-Palast für die Krönung von Schah Reza Khan herzurichten und zu dekorieren. Der Palast befand sich in einem jammervollen Zustand, »eine Mischung aus Glanz und Schmutz, wie ein riesiger Ramschverkauf« Sie zog eine Schürze an, mischte in der Großen Halle Farben und fragte sich, wie wohl das persische Wort für »Pointillismus« laute. In einem ihrer langen Briefe an Virginia schrieb sie, daß sie sich gegen ihren Willen immer mehr zurückzöge und besorgt sei wegen dieser Neigung; sie verfüge nicht über Virginias Geschick in bezug auf Menschen: »Und das ist vielleicht einer der Gründe, warum mir Frauen lieber sind als Männer (sogar platonisch), sie können mehr Mühen ertragen und sind geschickter in der Kunst Freundschaften eine Form zu geben; es ist ihre Aufgabe; Männer sind zu verderbt und faul.«
Ihr und Harold wurde das Vergnügen zuteil, die Schätze des persischen Reiches besichtigen zu dürfen. Auch das schilderte sie Virginia:
»Ich bin blind. Geblendet von Diamanten. Ich bin in Aladins Höhle gewesen. Säcke von Smaragden wurden vor unseren Augen ausgeleert. Säckeweise Perlen Buchstäblich. Beim Fortgehen schüttelten wir uns die Perlen aus den Schuhen.
Schnüre mit ungeschliffenen Smaragden Schwertscheiden, überzogen mit kostbaren Steinen. Große Priesterkronen. All dies in einem schmutzigen Raum mit schmuddeligen teetrinkenden Persern. Es war wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht, ausgestattet von den Sitwells. Reiner Tagtraum Oh, warum warst du nicht dabei?«[8]
Verglichen damit, war die Krönung selbst »Amateurtheater« Raymond Mortimer, der Harold sehr vermißt hatte, kam Ende März zu ihnen auf Besuch: und im April fuhren die drei für ein paar Tage nach Isfahan - »Flieder, Iris und blaue Ziegel«, wie Vita in ihr Tagebuch schrieb. Dort stieß Gladwyn Jebb zu ihnen, damals ein junger Sekretär an der Teheraner Gesandtschaft. Gern sah Vita den Teppichknüpfern bei der Arbeit zu »Ich hatte gedacht, meine Freiheit zu gewinnen, indem ich mich mit meinen Wurzeln ausriß, und hier war ich bereits in Liebe zu Persien verstrickt.«[9]
Raymond erzählte ihnen, er schreibe an einem Roman über Sodomie (Falls das zutraf, hat er ihn nie veröffentlicht.) Vita sagte, berichtete Harold Clive am 1. Mai sie habe »einen solchen Roman bereits geschrieben« und das Manuskript sei »in den Tresorräumen der London County and Westminster Bank in Sevenoaks deponiert. Ich soll ihn als ihr literarischer Nachlaßverwalter nach ihrem Tod publizieren.«
Dies ist beinahe der einzige belegte Hinweis Vitas auf ihr Manuskript von 1920 wenn er sich denn darauf bezog; darüber hinaus der einzige belegte Hinweis, wenngleich spaßig gemeint, daß Vita das Buch nach ihrem Tod veröffentlicht sehen wollte. Es ist unmöglich, etwas Verläßliches über ihre Absichten zu sagen. Doch ist die Tatsache, daß sie das Manuskript nie vernichtete, bezeichnend; sie schrieb in dem Manuskript, sie glaube, daß ihre Erfahrungen für andere Menschen hilfreich sein könnten, und sie lieferte Hintergrundmaterial, das sie selbst nicht brauchte, das aber den Schluß nahelegt, daß sie künftige Leser im Blick hatte. Der einzige andere und weniger aussagekräftige Hinweis auf das Manuskript findet sich in einem Brief, den sie am 17. September 1926 an Virginia schrieb; sie entschuldigte sich, daß sie einen alten Umschlag benutze, weil »der kleine, dicke Schlüssel, den ich verloren habe, nicht nur meinen Ruf, sondern auch mein Schreibpapier unter Verschluß hält«  (Das Manuskript wurde in einem kleinen geschnitzten Schrank ohne Schloß gefunden.) Der Hinweis auf den Banktresor war vermutlich eine falsche Spur oder ein Spaß, und Harold nahm es gelassen: »Das Ganze hat gewiß einen femininen Anstrich - ich ein ältlicher Witwer, zweifellos Botschafter, gewiß ein K.C.M.G.* lasse stellvertretend die Schimpfkanonaden der Kritiker über mich ergehen.« (* K.C.M.C.: Knight Commander of the St. Michael and St George (hoher britischer Orden; [Anm. d. Übers.].) Zwar überlebte er Vita,  doch er wurde nie Botschafter, und die Kritik wegen der Veröffentlichung des Manuskriptes hatte ihr Sohn Nigel zu tragen.
Am 5. Mai waren sie in Rescht nahe dem Kaspischen Meer. Vitas Aufenthalt war zu Ende. Sie würde nach Rußland abreisen und von dort den langen Heimweg antreten. Harold erschütterte der Abschied zutiefst. Nachdem sie fort war brach er zusammen und weinte. Raymond war machtlos und konnte ihm nicht helfen, da er selber durch diesen Beweis von Liebe und Schmerz erschüttert war. In langen Briefen, die Harold an Vita in den folgenden Tagen schrieb, schilderte er ihr jede Nuance seines Kummers, seiner Niedergeschlagenheit, seiner allmählichen Erholung und die genaue Beschaffenheit seiner Gefühle für sie.
Der Ausdruck von Liebe kann gehemmt und eigennützig sein, selbst wenn die Liebe aufrichtig ist. In seinen Briefen an Vita (so wie in den ihren an ihn) lagen Gefühl und »Literatur« dicht beieinander. Die Worte machten das Gefühl erträglich: das Gefühl schürte die Worte. Harold war ein besessener und talentierter Chronist. Für solche Leute stellt sich zuweilen ein Gefühl oder eine Handlung, die sie in Worte gefaßte haben, wie eine Erfahrung dar, die sie gemacht haben. Darauf ist der Eindruck des Theatralischen und Vorsätzlichen zurückzuführen, den eine fortgesetzte Lektüre seiner Briefe möglicherweise vermittelt:
»Meine einzige geliebte Viti, als ich die Schlafzimmertür in Rescht hinter mir geschlossen hatte, stand ich einen Augenblick lang auf dem Treppenabsatz ganz schwindlig vor Qual, und das ganze Haus schwankte und wackelte hin und her. Ich hielt mich mit größter Anstrengung davon zurück, wieder in dein Zimmer zu stürzen — wo ich deinen lieben Kopf in Tränen gebeugt gefunden hätte... Ich ging die Treppe hinab in den Garten.«
Es ist ziemlich klar, daß Harold sich vorstellte, seine Tagebücher und Briefe eines Tages im Druck und anderen Augen zugänglich gemacht zu sehen. Am 17. Juni 1926 merkte er in seinem Tagebuch mit heiterer Ironie an: »Oh, mein zukünftiger Biograph! Wenn du dieses mein Tagebuch liest, sage nicht: >Welch ein leeres Leben! < Wirf lieber einen Blick auf meine Briefe an Viti, die ein vollständigeres Bild meiner edlen und nimmermüden Anstrengungen auf den Feldern des Lebens und der Literatur vermitteln.«
Vita stellte solche Überlegungen erst viel später an. Auch sie war durch die Trennung aufgewühlt, doch mehr durch seinen als durch ihren Schmerz Sie gelobte ihm:
»Wir werden einander nicht mehr verlassen. Jedermann sonst kann geopfert werden, doch es ist niemand auf der Welt, der mir mehr bedeutet als du... Es ist die Zärtlichkeit, die ich für dich empfinde, die so schmerzt; Liebe ist etwas viel Grausameres; Zärtlichkeit dagegen ist so beschützend. Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß du vielleicht weinen wirst. Liebling die Mars müßten verrückt sein zu glauben, sie konnten jemals ohne den anderen auskommen... Glücklicher Tray [Raymond] der bei dir sein kann.«
»Das war eine sonderbare Heimreise«, schrieb Vita später, »sie begann mit persönlicher Trübsal, zeigte in der Mitte intensives unpersönliches Interesse und endete in einer reinen Farce.«
Bis Moskau reiste sie mit dem persischen General Hassan Arfa und seiner englischen Gattin Hilda: ihr Zug sauste durch den Kaukasus, und vom Fenster aus sah Vita Mohn, Flachs und Borretsch in »weiten blauen Flächen« In Moskau - Stalins Moskau - wurde sie von zwei riesigen, mit Union Jacks geschmückten Autos abgeholt und in rasendem Tempo zur Britischen Botschaft gefahren. Ihre Eindrücke waren begrenzt, doch niederdrückend; sie schrieb an Harold:
»Jedermann scheint von Angst erfüllt, er könne belauscht werden; jedermann sieht verschreckt und furchtsam aus. Alle Leute auf der Dinner Party in der Botschaft sagten zu mir einer nach dem anderen und nicht, weil ich sie dazu genötigt hätte: > Wissen Sie, das Leben ist schrecklich hier. Man weiß nie, wer als nächster verschwindet.< An den Straßenecken sieht man offensichtlich verzweifelte Leute stehen oder sitzen; keine Bettler... Und doch sagen sie, es sei unvergleichlich besser als vor einem oder zwei Jahren!«
Vita hatte sich vorgenommen, in Warschau Station zu machen und die Potockis zu besuchen, die jetzt in beschränkteren Umständen lebten; ihr Schloß, in dem sie 1909 gewohnt hatte, war dem Erdboden gleichgemacht. Im Nachtzug nach Polen mußte sie ein Schlafwagenabteil mit vier russischen Männern teilen - »Wenn das bei der Demokratie herauskommt, bin ich jederzeit mit der Tyrannei zufrieden.« Als sie sich der Grenze näherten, kam die Nachricht, in Warschau sei Revolution: Unmittelbar hinter der Grenze, in Bialystok hielt der Zug und alle Reisenden mußten aussteigen Vita, eine Gruppe von Deutschen, ein Russe und zwei Österreicher schafften es, einen Personenzug nach Graceivo an der deutschen Grenze zu erwischen, wo man auf einen Zug nach Berlin vier Stunden warten mußte. Die kleine Schar fand ein Cafe:
»Es war alles sehr slawisch. Wir zehn saßen an einem langen, schmalen Tisch wie beim Abendmahl. Wir waren alle müde und trübsinnig. Dann tauchte wie durch Zauberhand eine Flasche Wodka auf. Die Zungen lösten sich... Einer der Deutschen beugte sich über den Tisch und sagte plötzlich zu mir: >Ich bin mit Singer-Nähmaschinen mehr als hunderttausend Kilometer durch die Mandschurei gereist.<«
Dann trank eine Frau sechs Gläser Wodka und begann zu tanzen; ein polnischer Offizier spielte Csardas auf einem Klavier: die Kon­versation fand in Russisch, Polnisch. Deutsch. Englisch und Chinesisch statt. Vita gab ihre persischen Eindrücke zum besten. »Irgend jemand spielte >An der schönen blauen Donau< auf dem Klavier, und die zwei Österreicher liebten sich vor aller Augen.« Endlich kam der Zug.
All dies schrieb Vita im Hotel »Kaiserhof« in Berlin auf den Rück­seiten der Fahnen von The Land. »Ich glaube, ich muß eine eiserne Konstitution haben, denn ich bin wirklich nicht sehr müde.«
Der männlich-weiblichen Hauptperson V. Sackville-West stand noch ein weiteres kleines Abenteuer bevor. Als der Zug nach Holland in Reitheim hielt, stieg ein blonder junger deutscher Offizier zu: Vita döste in ihrem »JaegerSchlafsack«. Der Offizier sagte, »die Vorsehung habe ihre Hand im Spiel, und ich müsse ihn heiraten«:
»Also erklärte ich ihm, daß ich bereits verheiratet sei und er fortge­hen müsse. Aber er wollte nicht gehen, fiel auf die Knie, zerraufte sich das Haar und nannte mich >Mein Schatz, meine Seele<... wäre ich eine solche Person gewesen, wäre ich gewiß nach Amsterdam gefahren, um ihn zu treffen, wie er vorschlug. All das um sechs Uhr morgens, während draußen der Regen niederströmte und ich mich noch nicht einmal gepudert hatte — was mir peinlich bewußt wurde.«
»Ich weiß, es hört sich an wie eine Verführer in Ecuador-Ge­schichte«, schrieb sie Harold im Zug, »aber ich schwöre, daß es nicht so ist. «Es sei ein Jammer gewesen, schrieb sie, daß Tray [Ray­mond] nicht an ihrer Stelle gewesen sei, »denn es war solch eine Verschwendung«.
Am nächsten Tag, dem 16. Mai, wurde sie von Dottie an der Victoria Station abgeholt und mit ihrem Rolls-Royce in Dotties Woh­nung in Mount Street gebracht, »wo ich eine Flasche Champagner praktisch in einem Zug leerte und in einen tierischen Schlaf fiel«.