Kapitel 15 - 17

Kapitel 15

Vita fuhr unverzüglich nach Oxford, um die Kinder in Summer Fields zu besuchen - »Ich liebe sie beide« - und machte bei dieser Gelegenheit dem Poet Laureate, Robert Bridges, einen Besuch; sie brachte ihm Nachricht von seiner Tochter Elizabeth Damisch, die mit einem Perser verheiratet war und die Vita in Te­heran getroffen hatte. »Der Laureate entsprang einem Rhododendronbusch, um das Tor zu öffnen. Er ist sehr schön und sieht aus wie Tennyson - Schlapphut, karierter Schal, ein Norfolkjackett, ein Frackhemd (gestärkt), graue Flanellhosen, rosa Stricksocken, leichte Halbschuhe. Langes weißes Haar, weißer Bart; lange Ober­schenkel; schöne Hände. Der Inbegriff eines Viktorianers.« Als sie einen Besuch in Knole machte, stellte sie fest, daß Eddy, »in schwarzen Samt gekleidet einhertrippelnd«, den Turm, in dem er wohnte, in einer sehr outré Art neu ausstaffiert hatte. »Ich habe nichts gegen Homosexualität, aber ich hasse Dekadenz«, schrieb Vita an Harold. »Und überall in Knole breitet sich häßlicher üppi­ger Schwamm aus... ich glaube nicht, daß Dada das sehr behagt.« In Long Barn gab es sieben neue Elchhund-Welpen und vier neue Kätzchen, und als Vita eine Woche wieder daheim war, warf ihr Spaniel Pippin fünf Junge. Der Garten stand in voller Frühlingsblüte. »Dein neuer Pappelweg steht in vollem Saft. Der Wald ist eine Pracht von Primeln, Anemonen, Tulpen, Azaleen. Iris, Schlüs­selblumen... Im Apfelgarten wachsen jede Menge Iris und Lupi­nen. Der Rasen ist vollkommen... Die Rosen sind wundervoll be­schnitten; der Flieder ist unter Blüten begraben. Desgleichen dein Geißblatt an der Tür des großen Zimmers.« Lediglich der Tennisplatz war »eine Katastrophe«. Sie hatte »solche Sehnsucht nach Hadji, der hier sein sollte und es nicht ist«. Horne, ihr alter Butler, machte sich Sorgen wegen ihrer Einsamkeit. »Wenn er wüßte, wie unendlich ich die Einsamkeit den klatschenden, schreienden, nachäffenden Fatzken vorziehe, die London zu bieten hat! Ein Abend mit Ozzie ist so schlimm wie eine ganze clique.« Sie beab­sichtigte, »sehr exzentrisch und distinguiert zu sein und nie jeman­den zu besuchen... Aber die Exzentrizität ist leichter zu erwerben als die Vornehmheit. Das Exzentrische liegt einem im Blut.«
Der »Schock des Wiedersehens nach der Abwesenheit«, wie Vita es nannte, und die spielerische Intimität ihrer Briefe machten das erste Treffen mit Virginia ein wenig verlegen und gezwungen. Die Enttäuschung verflog, als Vita zwei Tage in Rodmell verbrachte. Virginia teilte ihrer Schwester Vanessa mit, Leonard sei im Begriff, nach London zu fahren — »Mehr sage ich nicht; da Vita dich verdrießt, da Liebe dich verdrießt... Trotzdem, die Juninächte sind lang und warm; die Rosen stehen in Blüte; und der Garten ist voll von Lust und von Bienen, die sich auf den Spargelbeeten vermi­schen.« Vanessa erwiderte: »Übermittle meine untertänigsten Grüße an Vita, die mich wie ein arabisches Vollblut behandelt, das aus einem Augenwinkel auf ein langohriges Muli blickt.«[1] (Tat­sächlich war Vita sehr darum bemüht, Vanessa zur Freundin zu ge­winnen; es war Vanessa, die auf Distanz hielt.) Vita schrieb am 13. Juni aus Rodmell an Harold;

  • »Ich bin, wie du ersehen kannst [aus dem Briefkopf], bei Virginia. Sie sitzt mir gegenüber, stickt eine Rose, einen schwarzen Spitzen­fächer, eine Streichholzschachtel und vier Spielkarten auf einen malvenfarbenen Stramin, nach einem Entwurf ihrer Schwester, und von Zeit zu Zeit sagt sie; >Du hast genug geschrieben, laß uns jetzt über Beischlaf reden<; wenn dieser Brief also aus den Fugen ge­rät, ist es ihre Schuld und nicht die meine.«

Die Woolfs hatten in Monk's House gerade ein Badezimmer und eine Toilette installieren lassen, da Mrs. Dalloway sich recht gut verkaufte, was Vita freute. Die Woolfs freuten sich ebenfalls; wie Vita schrieb, »rannten sie alle beide von Zeit zu Zeit nach oben und zogen aus lauter Spaß an der Spülung, kamen wieder herunter und sagten; >Es hat gut funktioniert, hast du gehört?<« Virginia sagte (und Vita teilte es ihm anzüglich mit), Harold solle die diplomati­sche Laufbahn aufgeben und sich in England einen Posten suchen. Das Wochenende vertiefte ihre Intimität mit Virginia, und bei ei­nem weiteren Treffen in Sherfield wiederholten sich Clive Bells In­diskretionen; »Clive brüllte, daß es jeder hörte; Bin ich schon mit Virginia im Bett gewesen? Falls nicht, werde ich es in naher Zu­kunft sein? Falls nicht, werde ich meine Aufmerksamkeit darauf richten, denn es ist hohe Zeit, daß V. sich verliebt (armer Clive, wenn er wüßte!).« Vita beschrieb einen Ballettabend, den sie mit Virginia besuchte;

  • »Sie trug ein neues Kleid. Es war wirklich höchst sonderbar, oran­gefarben und schwarz, mit einem dazu passenden Hut — eine Art Zylinder aus Stroh mit zwei orangefarbenen Federn wie die Flügel von Merkur — doch so merkwürdig es auch war, es stand ihr auf eine kuriose Weise und erfreute Virginia, weil es nicht den geringsten Zweifel geben konnte, wo vorn und wo hinten war.«

Als sie aus dem Theater kamen und zum Haymarket gingen, frö­stelte Virginia, nicht vor Kälte, sondern vor Aufregung. »Ich konnte sie vom Theater überhaupt nicht wegbekommen, und wir schritten auf und ab, den dunkelblauen Himmel über uns inmitten gutge­kleideter Leute, die sich unterhielten, und alles war ganz so wie in Mrs. Dalloway...«; so sehr, daß Virginia Angst bekam und Vita sie zum Kaffee ins Restaurant »Eiffelturm« brachte.
Zwei Tage später waren sie abermals im »Eiffelturm« und spei­sten, bevor sie Facade von den Sitwells anhören gingen. Sie unter­hielten sich so lange, daß sie zu spät kamen. »Aber weißt du, Hadji, ich bin ganz sicher, daß sich heute in fünfzig Jahren kein Mensch mehr an die Schwindeleien der Sitwells erinnern wird, oder nicht mehr als an George Robey.« (Vita war nicht im Einklang mit ihrer Zeit.) Sie machte sich daran, eine Parodie auf Facade zu schrei­ben — »Hast du in deiner Nation ein paar funkelnde und witzige Verse über die Sitwells gelesen? Hinter dem Pseudonym verbirgt sich dein Mar«, teilte sie Harold mit.
Im Juli kam B.M. nach Long Barn. Sie hatte sich mit nahezu all ihren Freunden zerstritten, war in einem sehr schlechten Gesund­heitszustand und brauchte ständige Aufmerksamkeit. Sie hatte Diabetes. Dickdarmentzündung. ein vergrößertes Herz und einen beginnenden grauen Star. Vita hatte Harold versprochen, ihn im Oktober abermals in Persien zu besuchen; diese Aussicht machte B.M. vollends elend, und Vita teilte Harold mit, sie könne nicht kommen. Harold akzeptierte ihren Entschluß; in gewisser Weise war es weniger schmerzlich, Vita nicht zu sehen als nur während ei­nes kurzen Besuches. Einen neuerlichen »Trennungsschmerz wie in Rescht« konnte er nicht ertragen.
Doch er war verletzt — so wie er gekränkt war als Vita ihm schrieb, sie habe The Land nicht ihm, sondern Dorothy Wellesley gewidmet. Vita schlug vor, an ihrer Stelle solle Raymond nach Te­heran fahren. »Das will ich nicht«, erwiderte Harold. »Ich glaube wirklich, daß es einen zu großen Skandal verursachen könnte.« Nichtsdestoweniger fand er Trost in einer Schwärmerei für den jun­gen Patrick Buchan Hepburn, der krank und pflegebedürftig von der Botschaft in Konstantinopel gekommen war. Er schrieb Vita viel über seine Vorzüge, zum Teil vermutlich, um sie zu necken und zu provozieren. Was ihm Sorgen bereitete, war, daß es vielleicht nicht B.M. sei, die Vita in England zurückhielt, sondern ihre Bin­dung an Virginia. Ihre »Entschuldigungen« gemahnten ihn an die Zeit mit Violet. Er sorgte sich auch um Virginias willen, da er um ihre seelische Instabilität wußte. »Es ist, als ob man neben einem Benzinkanister rauchte.«
An einem gewittrigen Nachmittag ging Vita mit Virginia nach Kew Gardens, und die Woolfs nahmen eines von Pippins Jungen zu sich und nannten es Pinker. Halb Bloomsbury kam zu einem sommerli­chen Wochenende nach Long Barn; »Ich werde Clive den Gastgeber spielen lassen. Ich habe ihn und Mary [Hutchinson] nebeneinander einquartiert, dann können sie, wenn sie wollen, die ganze Nacht vö­geln — was sie offenbar tun. Ich mag sie schrecklich gern - sie hat die angenehmsten Manieren, die man sich vorstellen kann, und das ge­fällt mir. Die leibhaftige Liebenswürdigkeit der Alten Welt.« Am 17. August schrieb sie Harold einen langen ernsten Brief wegen seiner Befürchtung, sie könne mit Virginia die Violet-Situation wiederholen.

»Was du bei Violet nie begriffen hast;

  • a) daß es eine Verrücktheit war der ich nie wieder fähig sein würde; so etwas passiert nur einmal und sengt die Fähigkeit zu ei­ner solchen Empfindung aus einem heraus;
  • b) daß du mich zu jedem Zeitpunkt hättest zurückholen können, aber es aus irgendeinem erstaunlichen Grunde nicht wolltest. Ich habe dich angebettelt, ich wollte doch gerettet werden, aber du wolltest nicht die Hand nach mir ausstrecken.«

(Das war unfair. Harold streckte unentwegt seine Hand nach ihr aus. Aber sie hätte etwas mehr gebraucht als eine ausgestreckte Hand.)

  • »Du erwähnst Virginia; das ist einfach lachhaft. Ich liebe Virginia - und wer täte das nicht? Aber wirklich, mein Liebster, Liebe zu Virginia ist eine völlig andere Sache, eine geistige Sache, wenn du willst, eine intellektuelle, und sie flößt einem ein Gefühl von Zärt­lichkeit ein, das wohl seinen Grund in ihrer komischen Mischung aus Härte und Weichheit hat — die Härte ihres Verstandes und ihr Schrecken davor, wieder geistesgestört zu werden.«

Vita hatte »eine Todesangst davor, körperliche Empfindungen in ihr wachzurufen, eben wegen der Geisteskrankheit«;

  • »Du verstehst, ich weiß nicht, welche Wirkung es haben würde; es ist ein Feuer, mit dem ich nicht spielen möchte. Ich habe zuviel wirkliche Zuneigung und Achtung für sie. Außerdem hat sie nie mit jemanden zusammengelebt, außer mit Leonard, was ein schrecklicher Mißgriff war und sehr bald aufgegeben wurde. Das ist alles folglich eine unbekannte Größe ... Du siehst also, daß ich sehr klug bin - obgleich ich wahrscheinlich weniger klug wäre, wenn ich stärker in Versuchung geführt würde, was zumindest aufrichtig ist... Ich habe mit ihr geschlafen (zweimal), aber das ist auch alles. So, und jetzt weißt du die ganze Geschichte, und ich hoffe, ich habe dich nicht schockiert.«

Des weiteren versuchte sie ihn zu beruhigen, indem sie ihre Briefe mit Familienneuigkeiten füllte. Ben, inzwischen zwölf Jahre alt, war ein sehr guter Tennisspieler geworden; »Ich verehre ihn heiß.« Nigel verletzte sich den Kopf an einem Kübel auf der Terrasse — »Blut lief auf die Türschwelle hinunter, und seine jämmerlichen kleinen wei­ßen Tennisschuhe waren mit Blut bespritzt. Aber, du lieber Gott, was war er für ein tapferes Kind! denn er versuchte zu lachen und sagte; >Bin ich tot, Mama?<« Vita war so entzückt von ihm, daß sie ihm gern verzieh, daß er die Pässe mit Butter eingeschmiert hatte. (Sie schickte sie, zusammen mit Dottie und deren beiden Kindern, für eine Woche in die Normandie.) Harold bemerkte in einem seiner Briefe, er sei überrascht, daß ihre Söhne so »normal« seien; »Ich hätte gedacht, die Mars würden Homosexuelle werden und nicht so etwas Ähnliches wie Mitglieder in einem Tennisclub.« Vita war nicht so sicher. »Liebling, für Ben befürchte ich das Schlimmste. Sein Trieb, sich herauszuputzen, ist schrecklich feminin.«
Sie war nicht traurig, als die Jungen in die Schule zurückkehrten.
Allein. Ein ganz außergewöhnliches Gefühl!« Sie korrigierte die Fahnen von Passenger to Teheran. Am 30. September erschien The Land mit einem von George Plank gestalteten Einband. Es war zu einem Werk von 2500 Zeilen ange­wachsen, doch wirkte ein so umfangreiches Gedicht nicht ab­schreckend auf eine Generation, die mit langen Gedichten aufge­wachsen war — mit Hardys Die Dynasten, zum Beispiel, oder den Balladen von John Masefield. Robert Bridges' Das Testament der Schönheit, erschienen drei Jahre nach The Land, erfreute sich ei­nes noch größeren Erfolges und erreichte im ersten Jahr vierzehn Auflagen; doch bis 1971 verkaufte sich The Land stetig, und allein in England wurden bis dahin 100 000 Exemplare verkauft.
»Den Kreislauf sing ich meines ländlichen Jahrs«, beginnt es, und die Dichterin tut genau das und beschreibt in regelmäßigen Jamben. Jahreszeit für Jahreszeit, die Rituale und Pflichten des bäuerlichen Lebens. Die Ich-Form erleichtert den Zugang zu einer sonst vielleicht unpersönlichen Auflistung dessen, was sie in dem Gedicht die »klassische Einförmigkeit« des bäuerlichen Kreislaufs nennt, »das sanfte, immerwährende Epos der Ackerkrume«.
Das Gedicht ist nicht darauf angelegt, aufregend zu sein. »So setzt mein Wandrer gemessen Fuß vor Fuß, erzählt von einem bäurisch-plumpen Leben« — und bietet Stoff zur Parodie von Seiten der Zyniker. Experimentatoren und Modernisten. Harold hatte die Par­allele zu Vergils Georgien schon immer gesehen, doch Vita erzählte Richard Church 194O;
»Ich hatte nie eine Zeile der Georgica gelesen, weder in Latein, das ich nicht gelernt habe, noch in einer Übersetzung, bis ich The Land zur Hälfte fertiggestellt hatte, ich zeigte ein Stück davon einem Freund, der darauf sagte; >Aber du ahmst ja die Georgica nach.< Ich bestritt indigniert und wahrheitsgemäß, irgend etwas nachzuah­men ... Darauf gab er mir Lord Burgheleres Übersetzung und die Loeb-Edition der Georgica, und ich sah zu meinem Entsetzen, daß mein Gedicht als eine Fälschung oder Nachahmung erscheinen mußte.
Es war keine Fälschung. Es war auch keine Nachahmung.«[2]
Vita hatte sich vorgenommen, die jahrhundertealten Gebräuche und Arbeitsabläufe und die Landschaft von Kent zu dokumentieren, die gerade in den zwanziger Jahren durch die Mechanisierung einer Veränderung unterworfen wurden. Ihre Quellen waren nicht nur ihre eigenen täglichen Beobachtungen, sondern auch land­wirtschaftliche Enzyklopädien, alte Gedichte und Abhandlungen über Landbau. In ihr bewußt archaisches Vers-Vokabular nahm sie nicht nur noch benutzte ländliche Worte, alte Orts- und Flurna­men des Weald auf, sondern auch Worte, die bereits nicht mehr ge­bräuchlich waren. (Von diesen wurde das Wort »undern«. was »am Nachmittag« bedeutet, Bestandteil ihrer Privatsprache mit Virginia.)
In dieser Dichtung von Dung und Mergel und Acker und Plage — klassische georgianische Verse, Lyrik in Gummistiefeln — zeichnete sie den bäuerlichen Jahreslauf des Weald auf; Imkern. Jagd, Schafschur, Säen. Jäten und Ernten, Handwerkern. Dreschen, Pflügen, Apfelweinkeltern und Hopfenpflücken — ihr Leben lang hatte sie sich jedes Jahr an den wüsten Lagern der Hopfenpflücker erfreut, die

Aus Londons Elendsvierteln jährlich fallen ein in Kent,
Das Land erweckend mit rauhem Cockney-Akzent.

Sie schrieb mit Liebe (»Die ländliche Welt, ich habe sie tief ins Herz geschlossen«) und mit Leidenschaft (»Wer nie den Frühling sah, ist blind, ist tot«). Zusätzlich werden die detaillierten Beschreibungen von Abläufen durch lyrische Passagen, die oft unabhängige Ge­dichte sind, unterbrochen; die beste Lyrik findet sich in diesen Ab­schnitten, hier verfügt sie über symbolische Kraft und verrät indi­viduelles Vorstellungsvermögen, wie in dem Bild von einem Feld von Kaiserkronen;

Düster und fremdartig, die nattergefleckte Blume,
In stumpfem Purpur geschweift, ägyptischen Mädchen gleich.
Zwischen Ginster lagernd, die Einöde fleckend
Mit fremder Farbe, matt, dunkel und bizarr.
Gefährlich auch, wenn vielleicht ein Mädchen heimlich naht.
Ein ägyptisches Mädchen mit uraltem, bestrickendem Zauber,
Das ein Netz auswirft. Glieder und Herzen umschlingend.
Gefangenschaft, sanft und zuwider, ein engmaschiges Netz...

Und vor dem Feld englischer Kaiserkronen weich ich zurück.
Bevor es zu spät ist, bevor ich vergesse
Das Kirschenweiß in den Wäldern und die milchigen Wolken
Und die Kiebitze, die frei hoch überm Pfluge schrein.

Es gibt noch mehr persönliche Anspielungen; da »Kesselflicker« der Spitzname für Geoffrey Scott war, las er die Zeilen

Der Kesselflicker mit seinem kleinen Karren.
Hausieren geht er mit seinem Zinngeschirr.

als an ihn gerichtet. Der berühmteste Text aus The Land, der sich am Ende ihres Lebens auf so bewegende Weise auf die Dichterin selbst zu beziehen schien, war in Wirklichkeit für Dorothy Wellesley geschrieben;

Sie schreitet durch die Schönheit, die sie weckte.
Zwischen Apfelblüten und des Wassers Saum,
Über des Teppichs Muster, das buntgescheckte —
Jede Blume ihr Sohn, ihre Tochter jeder Baum.

J.C. Squire war der erste, der The Land im Observer schmeichel­haft rezensierte. »Ich weiß, daß Squire ein alberner alter Esel ist und all das, aber sei's drum... Was soll ich jetzt schreiben? Mein Kopf ist von Gedichten prall. Ich will ein weiteres langes Gedicht schreiben. Ich will mich in die englische Literatur hineinschreiben. So oder anders.« Sogleich entwarf sie ein »Pendant zu The Land mit dem Titel The Garden« und begann am selben Tag mit der Ar­beit. »Es wird viel mehr darinstecken als das bloße Gärtnern — alle meine Meinungen und Zweifel.«
Sie ließ das Projekt fallen — um es fast zehn Jahre später wieder aufzunehmen. In diesem Herbst nahmen B.M.'s Krankheit und ihre Wutanfälle Tage und Wochen ihrer Zeit in Anspruch. »Sie weint die ganze Zeit. Sie sagt, sie wolle sterben. Es ist unaussprech­lich schmerzlich.« Dottie meinte, daß B.M. in erster Linie an »Gewissensqualen« leide, weil »man nicht mit so völlig falschen Wert­vorstellungen durchs Leben gehen kann, ohne am Ende dafür zu bezahlen«.
Vita verordnete sich einen Schnellkurs in englischer Literatur des 19. Jahrhunderts. Sie kam zu dem Schluß, »die Brontes müssen im wirklichen Leben unerträglich gewesen sein, und von der ganzen Sippe wäre es vermutlich nur Branwell gewesen, mit dem man Mitleid gehabt hätte«. Charlotte Brontes Briefe an Ellen Nussey »lassen sehr wenig Zweifel daran, in welche Richtung Charlottes Neigungen wirklich gingen. Es ist eine andere Sache, ob sie es wußte oder nicht. Aber es sind, schlicht und einfach Liebesbriefe.« Wordsworth' Prelude brachte sie in Rage; »Ich hasse Wordsworth, den alten Tugendbold. Langeweiler und seine abgestandenen Mo­ralpredigten — buh! bäh! Er macht mich ganz wild, wie D. H. Law­rence.«
Sie wußte, warum; »Je mehr ich lese, desto mehr gelange ich zu der Überzeugung, daß ich in einem Zeitalter hätte leben sollen, in dem Ernsthaftigkeit und edles Denken Widerhall fanden... Nicht, daß es mir gefiele; und es gefällt mir um so weniger, als ich in mir selbst den natürlichen Hang zu eben dieser aufgeplusterten Ernst­haftigkeit erkenne; also versah ich, da uns an anderen mißfällt, was uns bei uns selbst mit Argwohn erfüllt, meinen Wordsworth mit wütenden Kommentaren und schleuderte meinen Arnold* durchs Zimmer. (*Arnold. Matthew; 1822-1888. Dichter, Essayist und Kulturkritiker. Berühmt wurde seine These, Dichtung sei die Krink des Lebens Anm. d. Übers.). »Jetzt habe ich mir Jane Austen vorgenommen.« Aber Jane Austens »eher klammheimliche humoristische Seiten­hiebe« befriedigten sie nicht. »Im Grunde weiß ich nicht, was ich von Literatur verlange; ich halte es nicht mit der Misthaufen-Ver­zweiflung Eliots.«
Sie versuchte, ihre Gedanken für die Vorlesung auszuarbeiten, die sie am 27. Oktober vor der Roval Society of Literature, unter dem Vorsitz von Gosse, halten sollte; ihr Thema war; »Einige Ten­denzen moderner englischer Lyrik«. Virginia saß in der hintersten Reihe, »mich angrinsend, ironisch, émue«.. schrieb sie an Harold. (Beide Nicolsons waren in diesem Jahr als Mitglieder in die RSL aufgenommen worden.) Virginia war ironischer, als Vita dachte; in ihrem Tagebuch schrieb sie; »Sie trug ihre Rede mit düsterer, ge­drückter Stimme vor, wie ein Schuljunge; das blasierte, schöne Ge­sicht einer Dame der Gesellschaft leuchtete am Ende des schreck­lich verräucherten Saales unter einem schwarzen Hut hervor, es wirkte sehr adlig & wie ein Bild unter Glas in einer Gemäldegale­rie.« Virginia empfand die zur Schau gestellte Würde der Royal So­ciety lächerlich und hielt Vita für »zu unwissend, um es zu bemer­ken«.[3]
Abermals kam sie nach Long Barn für eine Nacht, die Vita in ih­rem Tagebuch mit einem (!) versah, und sie trafen sich fast täglich, wenn Vita in London war. Vita schrieb Harold, Virginia sei an »Ge­fühlsstürme nicht gewöhnt« und habe Angst vor ihrer Reise nach Persien, die für Februar 1927 geplant war. Die beiden Frauen hatten in ihrer Beziehung eine neue Phase der Nähe erreicht. »Öffentli­chen« Briefen, die Leonard zu Gesicht bekommen durfte, legte Vita private an Virginia bei. Sie las über Aphra Behn, die unkonventio­nelle Dramatikerin des 17. Jahrhunderts, von der es hieß, sie habe sich als erste Frau ihren Lebensunterhalt durch Schreiben verdient. In einem ihrer privaten Briefe berichtete sie Virginia, daß »mich eine Lektion bei Mrs. A.B. in eine anmaßende lüsterne Per­son verwandelt. Nicht mehr als Mrs. A.B. finde ich Gefallen an der Keuschheit oder heiße sie gut.«[4]
Aber Virginia ging es nicht gut, und sie war darauf bedacht, sich selbst zu schützen; »Aber verstehst du denn nicht, West, du Eselin, daß du meiner eines Tages überdrüssig werden wirst (ich bin viel älter) und ich darum meine kleinen Vorsichtsmaßnahmen treffen muß? Darum lege ich den Schwerpunkt auf >aufschreiben<, anstatt auf >fühlen<. Aber Eselin West weiß, daß sie mehr Brustwehren nie­dergerissen hat als jeder andere.« Und sie drehte den Spieß um und umriß haargenau die Entfremdung, die unnachgiebige Mitte der Dunkelheit in Vitas Persönlichkeit;

  • »Und gibt es nicht etwas Undeutliches in dir? Es ist etwas in dir, das nicht schwingt; es könnte Absicht sein — das ließest du nicht zu; doch ich sehe es im Verkehr mit anderen Menschen« ebenso wie mir gegenüber; etwas Reserviertes, Gedämpftes — Gott weiß, was es ist... nebenbei, es findet sich auch in deinen Büchern. Das, was ich zentrale Transparenz nennen möchte — manchmal mißlingt es dir auch dort. Ich will dir darüber in Long Barn einen Vortrag hal­ten.«[5]

(Virginia, die der Erfolg von The Land erfreut und auch ein wenig neidisch gemacht hatte, konnte das Werk als Dichtung nie son­derlich ernst nehmen.) Ihr Brief erregte Vita über die Maßen, wenn­gleich er schloß; »Die Blumen sind gekommen und sind bewunderungswürdig, düster, gequält, leidenschaftlich, wie du.« Vita erkannte, daß er die Wahrheit enthielt, wie sie Harold schrieb;

  • »Verdammtes Weib, sie hat den Finger genau auf den wunden Punkt gelegt. Es ist da etwas Gedämpftes. Was ist es. Hadji? Etwas, das nicht schwingt, das nicht lebendig wird... Es macht alles, was ich tue (d.h. schreibe), ein wenig unwirklich; wirkt, als sei es von außerhalb gemacht. Es ist genau das, was mich als Schriftstellerin verdirbt, als Lyrikerin zerstört. Doch wie konnte V. dahinterkom­men? Ich habe es nie jemandem eingestanden, kaum mir selbst. Das ist es, was auch meine menschlichen Beziehungen verdirbt, doch das stört mich weniger.«

Es war bitter für Vita, sich trotz ihres großen Erfolges — The Land erlebte bereits eine Neuauflage - mit ihren Schwächen konfrontiert zu sehen. Die »gewisse Sperrigkeit«, die Geoffrey Scott als ihre Stärke angesehen hatte, erschien Virginia bloß als ein Hindernis. Vita drückte ihre Selbstzweifel in dem Gedicht »Year's End« aus, das sie in diesem Herbst schrieb; sie vergleicht darin den Dichter mit einem Kaufmann, der Bilanz zieht;

Wenn all der Handel, das Geschäft mit Träumen,
Das Münzenwechseln, das Krämertreiben,
Bände füllt, die meine Regale säumen.
Am Ende ohne Überdruß soll bleiben.
Sollt ich nicht besser schließen und das Lager räumen?[6]

Virginia wollte über den Tod sprechen. Während sie an Die Fahrt zum Leuchtturm schrieb, dachte sie sich den Tod als »große Erre­gung«, als etwas Aktives. Doch der Tod sei »die einzige Erfahrung, die sie nie beschreiben werde«, sagte sie zu Vita, die in einer Samtjacke und rotgestreifter Seidenbluse zu ihren Füßen saß. während Virginia die berühmten Perlen »zu Haufen großer schimmernder Eier« zusammenballte. So schrieb Virginia in ihrem Tagebuch. Vita schilderte Harold den Nachmittag so;
Liebling, ich weiß, daß Virginia sterben wird, und das wird ganz schrecklich sein (ich meine nicht hier, übers Wochenende; aber sie wird jung sterben). Ich ging gestern nach Tavistock Square, sie saß in der Abenddämmerung beim Schein des Kaminfeuers, und ich saß auf dem Fußboden, wie ich es immer tue, und sie fuhr mir durchs Haar, wie sie's immer tut... und dann sagte sie, du würdest dich nächsten Sommer über sie ärgern, weil sie dir im Weg sein werde. Aber ich sagte, nein, das würdest du nicht... Ich liebe sie wirklich innig. Nicht >verliebt< — einfach Liebe — Verehrung und Hingabe.«
Während des nächsten Wochenendes in Long Barn sagte Virginia zu Vita; »Jetzt, da du die Frage der Technik geklärt hast, wirf deine Technik in die Luft und laß sie auf dem Pflaster zerschellen.« Vita konnte es nicht; doch sie begann, »Reddin« als Gedicht neu zu schreiben.
1926 war ein reiches Jahr gewesen. Da war die persische Erfah­rung; ihre intensive Freundschaft mit Virginia; die Veröffentlichung von The Land und Passenger to Teheran, verbunden mit ei­ner Erschütterung ihres Glaubens an ihre literarischen und menschlichen Qualitäten; und das ganze Jahr hindurch ein Dialog mit Harold über das Wesen der Beziehung, die sie untereinander und zu anderen hatten. Raymond Mortimer, beeindruckt von der Kraft der Nicolson'schen »offenen« Ehe, hatte nach Vitas Abreise aus Persien zu Harold gesagt, er halte ihre Beziehung für ein Ideal, das für alle Ehepaare Geltung haben sollte. Vita wußte, daß es nicht so einfach war;

  • »Trays Theorie ist so weit ganz gut und schön. Doch übersieht er das Faktum, daß die zwei Menschen, die diese sonderbare spirituell-mystisch-praktische Einheit erreichen sollen, sich mit sehr spe­ziellen Charaktereigenschaften auf den Weg machen müssen, d. h. es ist leicht gesagt, das Ideale sei >Ehe mit Liaisons<. Aber wenn du eine andere Frau liebst und ich einen anderen Mann, würden wir beide oder einer von uns eine natürliche sexuelle Erfüllung finden, die unserer eigenen Beziehung unweigerlich etwas rauben würde. Tatsache ist, daß die Liaisons, auf die du und ich uns einlassen, von ganz anderer Qualität sind als das natürliche Verhältnis, das wir zueinander haben, und dieses nicht beeinträchtigen.«

Ihrer Meinung nach wäre es für »gewöhnliche Leute« gefährlich, und auf keinen Fall könne man Gefühlsbeziehungen in Gesetze fas­sen; »Entweder du liebst oder du liebst nicht, das ist alles.« Am Tag nach Weihnachten 1926, als sie mit Grippe zu Bett lag, ging sie noch weiter in ihrer Abneigung gegen jeden regulierenden Eingriff in Be­ziehungen. Abgesehen von der Tatsache, daß »die Diener kündigen würden«, stellte sie ihm die Frage, was überhaupt bei einer Ehe der springende Punkt sei. (Sie und die Kinder waren in Knole; vielleicht hatte der Kompromiß, den ihr Vater in seinem Zusammenle­ben mit Olive Rubens demonstrierte, ihre Stimmung beeinflußt.)

  • »Verstehst du, wenn die Mars einfach zusammengelebt hätten, würden sie noch genauso zusammenleben, genauso glücklich sein. und es würde an ihrer Leidenschaft für den Garten oder an ihrem Interesse für die Kinder nichts ändern. Das ganze System der Ehe ist falsch ... Ehe sollte zumindest auf eine freiwillige Grundlage ge­stellt werden; und kein Stigma, falls du eine weniger klaustrophobische Form der Verbindung vorziehst. Denn die jetzige Form ist klaustrophobisch.«

Es seien nur sehr intelligente Leute (wie sie selbst), die es schafften, daß die Ehe funktioniere - und Intelligenz allein würde nicht aus­reichen, »wenn nicht unsere charakterlichen Schwächen zufälliger­weise so gut zueinander passen würde«, wie es der Fall ist« - und sie brauchten beide gleichermaßen persönliche Freiheit. Sie kam immer wieder auf denselben Punkt zurück. »Aber natürlich liegt das wirkliche Geheimnis darin, daß wir einander lieben. Am Ende kommt man immer auf diese schlichten menschlichen Dinge zu­rück, und >Intelligenz< wird zum alten Eisen geworfen.«
Auch an Virginia schrieb sie zu Weihnachten. »Ich bin im Bett und beobachte den Feuerschein an der Zimmerdecke und höre die Uhr schlagen und denke daran, wie herrlich es sein wird, wenn du herkommst.« Daß Virginia nach Knole kam, war für sie von unge­heurer Wichtigkeit, bevor sie ihren verschobenen Besuch in Persien machte. »Mein Bett ist mindestens neun Fuß breit, und ich komme mir vor wie die Prinzessin auf der Erbse — nur daß keine Erbse da ist. Es ist ein Himmelbett, ganz wie ich es mag. Komm und sieh selbst.[6]
Mitte Januar 1927 kam Virginia nach Knole. »Gestern haben wir das ganze Haus durchstreift«, schrieb Vita am 19. an Harold. »und als wir die Rolladen hochzogen, war sie entzückt. Sie und Dada kommen prächtig miteinander aus.« Virginias Einbildungskraft wurde durch Knole entflammt, wenngleich sie der Massigkeit, der unangemessen »selbstbewußten Schönheit« kritisch gegenüber­stand und »den allgemeinen Mangel an Eleganz bei der Einrichtung« beklagte. Ihr gefiel, wie »Vita in ihrem türkischen Gewand durch die Galerie schritt, von ihren kleinen Jungen begleitet, wie ein großes Segelschiff vor ihnen herziehend — eine Art mütterlicher Symbolfigur vornehmen englischen Lebens«. Sie sah zu, wie der von Pferden gezogene Wagen Holz aus dem Park herbeischaffte, das für die großen Kamine zersägt wurde. »Was empfindest du da­bei?« fragte sie Vita. »Sie sagte, für sie sei das etwas, das schon seit Hunderten von Jahren so sei.« Alle Jahrhunderte liefen in Knole zu­sammen, »und so gelangen wir ganz bequem zu den Tagen Eliza­beth'«.[8]
Gegen Ende Januar ging The Land in die dritte Auflage. Eddie Marsh hatte Vita gesagt, seiner Meinung nach sei sie »die beste le­bende Dichterin unter 80« — folglich war sie mit fast niemandem bis auf Hardy und Bridges zu vergleichen.* (* Thomas Hardy war 1927 siebenundachtzig. Robert Bridges dreiundachtzig Jahre alt [Anm. d. Über.]) Vita faßte neuen Mut und ließ ihre Hoffnungen und ihren Ehrgeiz wieder aufleben. Sie fing an zu hoffen, The Land werde vielleicht den Hawthornden-Preis gewinnen; drei Mitglieder aus dem Gremium der Preisrichter hatten ihr gegenüber bereits ihrer Begeisterung Ausdruck gegeben.
Sie reiste zum zweiten Mal nach Persien, zusammen mit Leigh Ashton, Gladwyn Jebbs Schwester Marjorie — und, in letzter Minute, Dorothy Wellesley, die in ihren Erinnerungen schrieb, daß Vita »plötzlich in mein Wohnzimmer in Mount Street kam. Es war an ei­nem Donnerstag. Willst du am Montag mit nach Persien kom­men?« >Natürlich.<«
Vita verbrachte ihren letzten Morgen bei Virginia und schrieb ihr vor der Abreise aus Ebury Street; »Geliebte Virginia, ein letztes Le­bewohl, bevor ich gehe. Ich glaube in tausend Stücke zerrissen zu sein — es ist mörderisch — ich kann dir nicht sagen, wie ich es hasse, dich zu verlassen — ich glaube, ich kann es wirklich nicht — du bist so wichtig für mich geworden. Sei bedankt für all das Glück, das du mir schenkst.« Als Postskriptum kritzelte sie; »Nimm >Honig<, wenn du schreibst. Liebling, bitte, liebe mich auch weiterhin. Ich bin so unglücklich. Vergiß mich nicht.«[9] Und im Zug schrieb sie, sie erinnere sich an Virginia; »Du standest da in deiner blauen Schürze und winktest — oh, verdammt Virginia, ich wünschte, ich liebte dich nicht so sehr. Nein, ich wünsche es nicht.«
Sie schrieb, daß sie während ihrer Abwesenheit hart arbeiten werde. »Es ist absolut wahr, daß du intellektuell mehr Einfluß auf mich gehabt hast als irgendein anderer, und allein schon deswegen liebe ich dich... Du willst doch, daß ich gut schreibe, nicht wahr? Und ich hasse es, schlecht zu schreiben — und daß ich in der Vergan­genheit so schlecht geschrieben habe.«[10]
Virginia selbst geriet unversehens in eine Krise zwischen dem Liebespaar Clive Bell und Mary Hutchinson, die sie so aufzehrte, daß sie sich Vita nur noch »als fern, schön und ruhig« vorstellen konnte. Als einen »Leuchtturm in reinen Gewässern«. (Ihr Roman Die Fahrt zum Leuchtturm erschien einen Tag nach Vitas Rückkehr aus Persien.)
Nachdem Vita ihr geschrieben hatte, sie wolle versuchen, gut zu schreiben, wiederholte sie in ihrem Antwortbrief ihre These von Vita als »einer wirklichen Frau« und sich selbst als »Eunuch«; »Hier in meiner Höhle sehe ich viele Dinge, die ihr strahlenden Schönheiten durch das Licht eures eigenen Glanzes unsichtbar macht.« Ja. sie hatte es gern, wenn Vita gut schrieb;

  • »Für dich, mit deinem Gefühl für Tradition und all diese Worte — wenngleich ein Geschenk der Götter — liegt die Gefahr darin, daß du dem zu sorglos zum Leben verhilfst... Ich will sagen, daß es in deinem Inneren merkwürdigere, tiefere, unbequemere Gedanken gibt, als du sie bis jetzt hast hervorkommen lassen. Trotzdem, du wirst den Hawthornden bekommen, o ja. und ich werde ein wenig neidisch, stolz und entrüstet sein.«[11]

Vita war kaum eine Woche in Teheran, als sie erfuhr, daß The Land tatsächlich den Hawthornden-Preis gewonnen hatte.
Zuvor waren sie und ihre Reisegefährten durch Moskau gekom­men, wo bei einem Dinner in der Britischen Botschaft auch Denys Trefusis zu den Gästen gehörte; und sie schilderte Virginia die Stadt Moskau — »der ganze Verkehr verläuft hin und her über den zuge­frorenen Fluß, als wäre er eine Straße; und überall Pferdeschlitten und Kutscher, in Stroh eingepackt«. So bereicherte sie, wie schon in Knole, Virginias Einbildungskraft mit Szenen und Bildern, die spä­ter in Orlando Gestalt annehmen sollten. Während Vita fort war, konzipierte Virginia nicht exakt den Orlando, sondern ein Projekt, das sie »The Jessamy Brides« nannte; »Lesbisches soll angedeutet werden. Der vorherrschende Ton soll satirisch sein — Satire und Wildheit. Die Damen sollen Konstantinopel im Blick haben... Meine eigene lyrische Ader soll satirisch beleuchtet werden.« Sie wollte, sagte sie, »schreibend eine Eskapade unternehmen«. Und an Vita, ihren »lieben Schatz«, schrieb sie; »Ich liege im Bett und denke mir Geschichten über dich aus.«
»Ich bin über diese vertrauten Berge gekommen und überquerte diese vertraute Ebene«. schrieb Vita bei ihrer Ankunft in Teheran« »und von Anfang an war mir so, als wäre ich nie fortgewesen.«[12] Doch Ende Februar schrieb Vita in ihr Tagebuch, sie sei den ganzen Monat lang niedergedrückt gewesen »wegen 1) der Unfähigkeit zu schreiben, 2) der Furcht, daß Hadji im diplomatischen Dienst bleibt. Das Auswärtige Amt sagt, daß er im September für ein wei­teres Jahr herkommen muß. Gott steh uns bei! Ich hatte erwartet, ihn wegen des Exils und der gesellschaftlichen Verpflichtungen verärgert vorzufinden, doch genau das Gegenteil ist der Fall.« Ihre langen Briefe an Virginia waren voll von ihrer Unzufriedenheit mit ihrer eigenen Unausgefülltheit und Harolds Neigung zum diploma­tischen Leben. »Ich kann es nicht ertragen, ein drittes Jahr auf diese öde Weise zuzubringen. Doch Harold baut im Geist emsig am Empire. Es wird eine enorme Geschicklichkeit nötig sein, ihn da­von abzubringen.«[13]
Sie schrieb Virginia, in diesem Punkt verhalte sie sich Harold ge­genüber »klugerweise ruhig«. Doch ihr Schweigen war grollend. Er wußte genau, was sie dachte. Am 12. März schrieb er in sein Tage­buch; »Wachte am Morgen mit der Überzeugung auf, daß ich den diplomatischen Dienst hinschmeißen werde.« Er bemühte sich so­gleich bei der Anglo-Persischen Öl-Gesellschaft um einen Posten.
Vita war außer sich vor Freude, und eine Woche darauf brachen sie zu einem Abenteuer auf, das sie als den Höhepunkt ihrer Reise betrachtete; eine zwölftägige Exkursion (mit Harold, Gladwyn Jebb, Gopley Amory von der Amerikanischen Botschaft und Lionel Smith aus Bagdad) über die Bakhtiari-Berge von Schalamsar zu den Ölfeldern auf der anderen Seite. Dorothy Wellesley. die am rau­hen Lagerleben keinen Gefallen fand, kehrte um. Barbara, die höl­zerne Heilige, begleitete Vita und wurde jeden Abend ausgepackt und in Vitas Zelt aufgestellt. Aus Schalamsar schrieb Vita an Virgi­nia; »Liebling, ich schreibe dir einen Brief aus Isfahan; ich war ziemlich überreizt und übermüdet und hatte Sehnsucht nach dir. Im Garten von Isfahan stand der Neumond über den Pappeln... und versank wie jener Mond, den wir auf unserem Spaziergang in Long Barn sahen (der Abend, an dem du dich so scheußlich be­nahmst).« Vita war traurig, »dachte an Menschen, die aus meinem Leben gegangen waren... Oh, wärst du doch bloß hier. Ich bin al­lein mit vier Männern.«[14] Das Wiedersehen mit Denys hatte sie an Violet erinnert, die Abenteuer geschätzt hatte.
Es gab Augenblicke tiefer Enttäuschung über den Ausflug. Am 8. April schrieb Vita in einem schlammigen Wald bei Shalil in ihr Tagebuch, sie hätten »einander gestanden, daß sie alle den Ausflug haßten«. Harold war am meisten deprimiert; »Ein schreckliches Gefühl der Verzweiflung überkommt mich. Ich sage, daß ich die Bakhtiari-Berge verabscheue und wünschte, ich wäre nie herge­kommen. V. ist ein Engel der Tröstung.« An diesem Abend bekam er im feuchten Lager einen »Wutanfall, der durch einen plötzlichen Abscheu vor Vitas Reisetasche hervorgerufen wurde«. Und dann erregte sich Vita über Lionel Smith, der ihr erzählte, er glaube, Gertrude Bell habe Selbstmord begangen, weil sie um ihre Krankheit wußte.
Mit dem Wetter besserte sich ihre Stimmung. Für die schönsten Blumen war es ein wenig zu früh im Jahr, doch die tiefblauen Trau­benhyazinthen standen in Blüte, und Vita sammelte Knollen klei­ner dunkler Iris. Sie plante ein zweites persisches Reisebuch über diese Expedition, für das sie ihre eigenen Photographien verwen­den wollte. Das Buch, das einige ihrer besten Prosastücke enthält und ihrer Leidenschaft für die ursprüngliche Natur Ausdruck gibt, erhielt den Titel Zwölf Tage in den Bakhtiari-Bergen und war Harold gewidmet. Es ist interessant, was sie darin über die damals aufstrebende Öl-Industrie zu sagen hat, besonders wenn man es im Licht von Persiens (Irans) späterer Entwicklung zum Ölstaat liest. Sie schrieb über die Frage künftigen gesellschaftlichen Fortschritts — »und unser imaginärer Schah konnte sich glücklich schätzen, wenn er diese Aufgabe lebend überstünde. Denn er hatte halsstar­rige Gegner; die Tradition, nationale Besonderheiten und — in Persien nicht zu unterschätzen — die Priesterschaft.« Fünfzig Jahre später sollte sich zeigen, daß sie recht gehabt hatte.
Doch 1927 sah sie das Land als ein »potentielles Paradies« und den Weg zu den Ölfeldern auf der anderen Seite als einen Übergang vom Paradies in eine »Hölle der Zivilisation«. Als sie dort war, wa­ren etwa 100 Öltürme auf einer Fläche von fünfzig Quadratmeilen in Betrieb. Dieses große Vorkommen wurde erst seit zehn Jahren ausgebeutet, wenngleich Vita schrieb, daß die eingeborenen Bakhtiari, vertraut mit der Flüssigkeit, die auf der Oberfläche ihrer Pfüt­zen schwamm, immer um einige ihrer Verwendungsmöglichkeiten gewußt hätten.
Aus Persepolis schrieb Vita an Virginia;

  • »Innerhalb der letzten Woche habe ich am Steuer eines Autos in Persien mehr als tausend Meilen zurückgelegt. Ich bin schmutzig, sonnenverbrannt, nun ja... die Ansicht, daß man der Zivilisation entfliehen könne, ist ein Irrtum; im Gegenteil, denn von morgens bis abends denkt man nur an folgendes; Haben wir die Eier lange genug gekocht? Haben wir genügend Brom dabei? Wer hat heute morgen das Geschirr abgewaschen, denn ich hab's nicht getan? Wer hat den Büchsenöffner verstaut, denn wenn es niemand getan hat, ist er weg?«[15]

Virginia ihrerseits beklagte sich, daß Vita in ihren Briefen keine Kosenamen gebrauche — wenn Vita in der persischen Morgendäm­merung erwachte, sagte sie Virginias Namen.
In Abadan erkundigte sich Harold bei der Geschäftsleitung der APOC nach einem Posten; er bekam keinen, und so schied er auch nicht aus dem diplomatischen Dienst aus. Doch er kam mit nach Hause auf Urlaub, und er und Vita reisten über Damaskus, Beirut, Alexandria und Marseille und erreichten London am 5. Mai. Ray­mond Mortimer und Dottie Wellesley holten sie in Folkstone ab.

Kapitel 16

Seine Heimkehr in ein blühendes Long Barn überwältigte Harold derartig, daß er sich ganz elend fühlte. Vita stürzte sich wieder in ihre Gartenarbeit und traf sich mit Virginia, die Vita »un­verändert« fand, »obwohl ich sagen möchte, daß eine Beziehung sich von Tag zu Tag verändert«. Die beiden fuhren am 18. Mai nach Oxford und übernachteten im »Claredon«-Hotel. Virginia hatte vor den Studentinnen von St. Hugh ein Referat zu halten. Ihrer Schwester Vanessa beschrieb sie Vita in St. Hugh als »sehr eindrucksvoll; wie ein Weidenbaum; so elegant mit ihren lan­gen weißen Beinen und scharlachroter schleife; doch ziemlich un­passend, als sie sich beim Dinner tatsächlich genötigt fühlt, ihre Strümpfe herunterzustreifen und ihre Beine wegen der Mücken mit Salbe einzureiben - das gefällt mir an der Aristokratie. Ich mag die Beine; ich mag die Mückenstiche; ich mag die vollendete Arroganz und die Realitätsferne in ihren Köpfen...«
Und sie führt an. wie Vita, ganz nebenbei, einen seidenen Morgen­mantel für fünf Pfund kauft, beim Lunch die Füllung aus einer Sahnetorte herauslöffelt und den Rest auf dem Teller läßt, wie sie Gepäckträgern zuviel Trinkgeld gibt, alles »sehr großzügig, sinn­lich und absurd«;
»Außerdem hat sie ein goldenes Herz und einen Verstand, der, wenn auch langsam, hartnäckig arbeitet; und sie hat ihre hellsich­tigen Augenblicke — Doch genug - Du wirst nie dem Zauber einer deiner Geschlechtsgenossinnen erliegen — Welch ein unfruchtbarer Garten muß die Welt für dich sein! Welch eine Avenue mit Stein­pflaster und Eisengeländern!«[1]
Virginia schrieb dies an dem Tag, als die Nicolsons zum ersten Mal dem südafrikanischen Dichter Roy Campbell begegneten; sie tra­fen ihn und seine Frau Mary auf dem Postamt in Weald, wo die Campbells ein Haus gemietet hatten. Vita hatte im Jahr zuvor Campbells langes Gedicht The Flaming Terrapin gelesen und es Virginia mit der Bemerkung geschickt, es sei »eine wilde, unausge­glichene Arbeit, stellenweise beinahe lächerlich, streckenweise bei­nahe großartig«.- Vita war geneigt, sich mit ihren neuen Nachbarn anzufreunden. Roy Campbell war sechsundzwanzig Jahre alt und seine attraktive, aufsässige Gattin Mary, eine der zahlreichen schö­nen Töchter von Dr. Garman aus Birmingham, zwei Jahre älter. Sie waren vor kurzem aus Südafrika gekommen, wo er Redakteur der Zeitschrift Voorslag gewesen war, seine Stellung jedoch wegen seiner Ansichten zur Rassenfrage, aus denen er keinen Hehl machte, verloren hatte. Jetzt versuchte er sich, aufgrund des Erfolges von Terrapin in England als Schriftsteller zu etablieren. Die ­Campbells hatten zwei kleine Töchter und hatten, abgesehen von den zwanzig Pfund, die sie monatlich von Roys Familie bekamen, kein Geld.
Am 23. Mai begann Vita mit der Niederschrift ihres Buches Zwölf Tage in den Bakhtiari-Bergen und die Campbells kamen zum ersten Mal zum Dinner. Virginia fühlte sich nicht wohl, und als Vita sie besuchte, fand sie sie »unglaublich hübsch und zerbrechlich auf zwei Sesseln unter einem goldenen Cape«. Es war schwer zu sagen, wie krank sie wirklich war. »Virginia brillant, daran ist man ge­wöhnt; aber Virginia niedergeworfen ist anders und überraschend liebenswert. Lieber Clive. für deine Schwägerin würde ich bis ans Ende der Welt geiten«, schrieb Vita an Clive Bell.[3]
Vita war in der Stimmung, für etwas oder jemanden »bis ans Ende der Welt zu geiten«. Für einen teil des Sommers bezogen Freunde Nigels und Bens Cottage in Long Barn, und die hartnäckige Ethel Smyth kam für eine Nacht nach Long Barn, um den Nachtigallen zu lauschen. Mary Campbell kam vorbei, ebenso Roy Campbell, der Harold die Geschichte seines unsteten Lebens erzählte — »ein zweiter Rimbaud«, dachte Harold. Vita begann eine Beschreibung des Lebens der literarischen Abenteurerin Aphra Behn; und als sie an einem Sonntag Mitte Juni in Sheffield war, schrieb sie provozierend und verantwortungslos an Virginia;
»Weißt du, was ich tun würde, wenn du nicht ein Mensch wärst, mit dem man ziemlich streng umgehen muß? Ich würde morgen nacht um zehn Uhr heimlich meinen Wagen aus der Garage holen, gegen halb zwölf in Rodmell sein... ich würde Kiesel an dein Fenster wer­fen, dann würdest du herunterkommen und mich einlassen; ich würde bis fünf Uhr bleiben und um halb sieben wieder hier sein. Aber weil du nun mal so bist, wie du bist, kann ich's nicht; mehr als ein Jammer.«
Sie hatte Virginia gerade Challenge geliehen, ihren Roman über Ju­lian und Eve/Violet. »Vielleicht habe ich mir damals die Hörner abgestoßen. Doch ich glaube nicht, daß diese Triebkraft mich ver­lassen hat; und für eine andere Virginia würde ich in der Nacht nach Sussex fliegen.«[4] In einer anderen Notiz schrieb Vita in die­sem Sommer; »Mein armer Liebling. Ich hasse diese verdammten Kopfschmerzen, die du kriegst. Ich wünschte, du wärst robust.«
Aber Virginia war nicht robust. Sie hatte Challenge gelesen, als Vitas Brief aus Sheffield kam und erkannt, daß der Brief selbst eine Herausforderung war — »wärst du doch bloß nicht so ältlich und kränklich«, sagte er im Grunde, »dann würden wir zusammen den Tag verbringen«. Doch für die Art von Eskapade, nach der es Vita verlangte, war Virginia nicht zu haben, wenngleich sie nach Erhalt des Briefes gekabelt hatte; »Dann komm.«[5]
Virginia fühlte sich kräftig genug, um mit Leonard und Harold der Verleihung des Hawthornden-Preises an Vita beizuwohnen, die am 16. Juni stattfand. Vita trug einen schwarzen mexikanischen Hut und einen geknoteten roten Schlips; sie hielt keine Dankes­rede. Anschließend, als die Woolfs und die Nicholsons zu »Gunter« Eis essen gingen, äußerte sich Virginia verächtlich über die ganze Veranstaltung. Sie hielt sie für »eine entsetzliche Bloßstellung« un­serer selbst, »all diese plappernden Schriftsteller... Der ganze Lite­raturbetrieb wurde unendlich widerwärtig.« Es träfen sich, schrieb sie in ihrem Tagebuch, »die dumpfe langweilige Mittelklasse der Schreiber«, nicht die Elite. »Nachts weinte Vita«.[6] zweifellos wegen Virginias ambivalenter Einstellung zu ihrem Erfolg.
Edith Sitwell ging in der Presse mit The Land und der Preisver­leihung hart ins Gericht. Vita war getroffen und klagte gegenüber Virginia, Edith sage, es sei das schlechteste Gedicht in englischer Sprache; »Ich bin nun wirklich nicht eitel, doch ich will gehenkt werden, wenn es so schlecht ist!«[7] Virginia erwiderte. The Land müsse »sich verkaufen wie schmelzender Schnee«, und zu Edith Sitwell (Virginia kannte und mochte sie); »Ich glaube, daß du es dir vermutlich nicht vorstellen kannst, wie schwer es für sie, die na­türliche Innovatorin, ist, dir gegenüber, der natürlichen Traditiona­listin, fair zu sein.« Vita sei durch den Hawthornden, den bedeu­tendsten Preis, »geteert«; außerdem »verkaufen sich deine Bücher und ihre nicht - alles gute Gründe für eine Sitwell, in der Öffent­lichkeit Feuer zu speien«.[8] Vita hielt es für wahrscheinlicher, daß es Ediths Rache wegen der Parodie auf Facade war, die sie geschrie­ben hatte. So jedenfalls äußerte sie sich gegenüber Wilfred Meynell und fügte hinzu; »Bitte, bitte, lesen Sie keinen meiner Romane... sie sind die eitlen Unbedachtheiten der Jugend, und ich mag nicht an sie denken.«[9] Für sie gründete sich jetzt ihr guter Ruf auf The Land.
Ende Juni verbrachte Harold mit Raymond Mortimer eine Woche in Paris, wo er für den Sommer als Hauslehrer der Jungen einen stillen jungen Mann namens Couve de Murville (den späteren französi­schen Premierminister) engagierte. Währenddessen nahm Vita Virginia wieder mit nach Kew und dann in ein Restaurant, wo sie »große Mengen Chianti tranken, zum Tavistock [Square] zurück­kehrten, im Kellergeschoß saßen und weiterplauderten«. Die Campbells kamen erneut zum Dinner nach Long Barn, zusammen mit Eddy Sackville-West und David Garnett*. (* David Garnett (1892-1981). Schriftsteller, locker mit der »Bloomsbury« -Gruppe verbun­den. Sein Roman Lady into Fox (1922 dt. Meine Frau, die Füchsin. 1923) bekam 1923 den Hawthornden-Preis (Anm. d. Übers.)).
Am 20. Juni herrschte eine totale Sonnenfinsternis - seit 200 Jahren die erste, die in Eng­land zu selten war. Besonders Vita war an den Nachthimmeln inter­essiert; sie hatte von ihrem Vater einen Hang zur Astronomie geerbt. Die Nicolsons, die Woolfs, Quentin Bell und Eddy reisten mit dem Nachtzug von London nach Richmond im nördlichen Yorkshire, wo um 3.30 Uhr Kutschen bereitstanden, um die Zuschauer nach Bar­don Fell, dem besten Aussichtspunkt, zu bringen.
Im Zug schliefen die Nicolsons, Harold den Kopf auf Vitas Knie gebettet; sie »sah aus wie die schlafende Sappho von Leighton*; so rumpelten wir durch die Midlands...« (* Frederick Leighton (1830 -1896) englischer Maler [Anm. d. Übers.]) schrieb Virginia in ihr Tage­buch. Auf den Yorkshire-Hügeln war es eisig kalt vor der Morgen­dämmerung, und die Sonnenfinsternis erwies sich als ein wenig enttäuschend. Vita fuhr mit Dottie zurück, die auch nach Yorkshire gefahren war. und wurde im Zug von Depressionen überwältigt. »Hasse die Midlands, denke an Persien und breche in Tränen aus. A[prile] entsetzt.«
Während eines Wochenendes mit Virginia in Long Barn Anfang Juli — als Virginia ihr die »Geschichte von den Motten« erzählte und »darüber sprach, verrückt zu werden« - schrieb Vita die symboli­sche Bemerkung »Eröffnung« in ihr Tagebuch. Virginia beschreibt diesen Besuch ausführlicher;

  • »Welche Opulenz und Freizügigkeit, überall Blumen, Butler, Silber, Hunde, Biskuits. Wein, heißes Wasser, Kaminfeuer, italienische Ka­binette. Perserteppiche. Bücher... Vita sehr prächtig in ihrem braunen Samtumhang mit den geräumigen Tischen. Perlenhals­band & mit leichtem Flaum überzogenen Wangen... Ich mochte auch Harold. Er ist ein ungekünstelter, kindlicher Mann mit gerin­gen Fähigkeiten zur Langeweile.«

Vita erschien ihr sehr freimütig und ungezwungen, immer ein er­freulicher Anblick »& das Bild eines Schiffes heraufbeschwörend, das gegen die Wellen ankämpft, stattlich, prächtig, alle Segel ge­setzt & das goldene Sonnenlicht bescheint sie«.
Aber trotzdem zog Virginia Vitas Dichtung und sogar ihre Intelli­genz in Zweifel. »Niemals erobert sie Neuland. Sie greift auf, was die Flut ihr vor die Füße spült. Zum Beispiel folgt sie mit instinkti­vem Gefühl all der ererbten Tradition. Häuser zu möblieren, so daß ihres anmutig, leuchtend, prächtig ist, doch ohne Neuigkeit oder Abenteuer.« (Die Produkte der »Omega« -Werkstätten waren nichts für Vita. In der Innenarchitektur lief ihr Geschmack, durch ihre Kindheit in Knole geprägt, auf sechzehntes Jahrhundert, edwardianisch durchsetzt, hinaus.) Virginia fuhr mit Raymond Mortimer nach London zurück und unterhielt sich mit ihm über ihre Gastge­ber. »Sie hat den edelsten Charakter, sagte er... Ihnen fehlt bloß, was wir haben - eine scharfe Kante, eine unschätzbare Überempfindlichkeit. Intensität, für die ich alle Sonnen & alle Monde der Welt nicht eintauschen würde.«[10]
Vita   war in  ihrer  Ruhelosigkeit  bereits  von Virginia   abge­schweift, da sie ihre sexuelle Vitalität nicht zufriedenstellte. Doch an diesem Wochenende hatte sie ihr alles über ihren Seitensprung erzählt. Vielleicht war die »Eröffnung« - einer neuen Phase - da­durch bewirkt worden, daß sie zu Virginia von ihren natürlichen Bedürfnissen sprach.  Virginia empfand bei diesem Geständnis spöttische Eifersucht; bei anderen Episoden sollte das nicht anders sein. »Sei nur ein vorsichtiger Delphin, wenn du deine Luftsprünge machst, sonst könntest du Virginias sanfte Tiefen hakenbewehrt vorfinden«; Luftsprünge in Ebury Street um vier Uhr morgens, »ich bin nicht so sicher«.[11] Kurz vor ihrer Fahrt nach Yorkshire hatte Vita mit Mary Hutchinson, Olive Bells Freundin, eine Nacht in Ebury Street verbracht. Am 28. Juni hatte Mary an Vita geschrie­ben; »Ich vergaß einen Perlenohrring auf dem Tisch neben deinem Bett. Ich erinnere mich genau, wohin ich ihn gelegt habe - auf die Ecke neben dir. Würdest du so nett sein und ihn mir rasch schicken? Hast du zwischen den Dornen und Blumenblättern geschla­fen?« Vita wies Virginia nicht zurück; doch Virginia war nicht nur gefährlich verwundbar, sie war auch unfähig zu natürlichem Ver­langen, und sie war nicht jung. Lange nach dem Wochenende in Long Barn schrieb ihr Vita; »Es war alles sehr gut, weißt du, aber diese Augenblicke des Glücks sind außerordentlich ärgerlich - und warum versteifst du dich so gut darauf, soviel von dir selbst zurück­zuhalten?... Es macht mir Spaß, dich eifersüchtig zu machen, mein Liebling (und ich werde darin fortfahren), aber es wäre lä­cherlich, wenn du es wärst.«[11]
Ihre Freundschaft hielt an; sie besuchten zusammen den Zoo, und Vita gab Virginia Fahrunterricht in Regent's Park. Die Woolfs hatten sich von den Honoraren von Die Fahrt zum Leuchtturm ge­rade ihr erstes Auto gekauft. Die Eifersucht verringerte Virginias Liebe zu Vita nicht, sondern verstärkte sie; mit uncharakteristi­scher Aufdringlichkeit suchte sie nach Vorwänden, um allein nach Long Barn zu kommen; in ihren häufigen Liebesbriefen benutzte sie die sexuelle Bildersprache von Kindern; sie bat Vita, »Herzaller­liebste« nicht ins Ausland zu reisen. »Bleibe in England. Liebe Vir­ginia. Nimm sie in deine Arme.« Sie war jetzt sogar auf Dorothy Wellesley eifersüchtig und beklagte sich selbstironisch bei Vanessa, daß der »arme Billy« - sie selbst — »weder das eine noch das andere ist, weder ein Mann noch eine Frau, was also soll er machen?« Vita hingegen wurde frostig, wenn Virginia sie mit ihrem neuen Vereh­rer aufzog — Philip Morrell, der ihr eine Liebeserklärung gemacht hatte. »Ich will damit nicht behelligt werden. Das ist mein Ernst«, sagte Vita zu Virginia. Während sie bei anderen jede Form tyranni­scher Liebe haßte und verabscheute, war sie selbst überaus besitz­ergreifend.
In den Sommerferien kamen die Jungen nach Hause, und mit Vitas gewohntem Leben war es vorbei. »Wie soll man da schreiben? Jeden Augenblick geht die Tür auf. >Wo ist meine Hängematte?< >Dürfen wir Tennis spielen?< >Was sollen wir jetzt machen?<« Verstockt versuchte sie ein Gedicht zu schreiben, »Solitude«. Sie kümmerte sich auch um die Planung ihres »Hawthornden« (was Weißdornholz bedeutet) — ein Stück Land, das mit Bäu­men (nicht mit Weißdorn, sondern mit Haselnußbäumen und Pappeln) bepflanzt werden sollte — zur Feier ihres Preises. Gegen Ende August beendete sie Aphra Behn, brachte das Manuskript zur Post und fühlte sich »frei wie eine Lerche«; »Frei für Lektüre, frei für den Garten, frei zum Nachdenken und um nett zu meinen Kin­dern zu sein. Ein wahnsinniges Gefühl — aber schon regen sich neue Kräfte in mir, 24 Stunden, nachdem Aphra beendet ist. Ich verflu­che diese Kraft und danke Gott dafür.«
Vitas Tagebuch, Freitag, 2. September 1927; »Am Morgen ließ M.C. nach mir schicken. Brachte sie zum Bahnhof.« »Warum hast du mich kommen lassen?« fragte Vita Mary Campbell, die für eine Nacht nach London fuhr. »weil ich dich so sehr brauchte. Mehr ist nicht zu sagen«, war Marys Antwort. Es war die Aufforderung zu einer Liebesaffäre und eine Antwort auf Vitas Ruhelosigkeit und Überschuß an Energie.
Von da an trafen sie sich fast jeden Tag, gewöhnlich abends, und gingen auf Feldwegen und im Wald spazieren. Mary zeichnete ihre Affäre in einem beredten Liebes-Tagebuch auf, das die Vielschichtigkeit ihrer Beziehung und Marys tiefe Abhängigkeit und Lei­denschaft belegt. Mit Roy, der depressiv und kränklich war, nicht arbeiten konnte und viel trank, machte sie eine schwierige Phase durch. Mary hatte schon früher Trost bei einer Frau gefunden, und nach Vita würde es eine andere sein. Berühmt war die Geschichte, daß Roy nachdem Mary sich allzu überschwenglich der Schönheit einer früheren Geliebten erinnert hatte, sie aus dem Fenster ihres Schlafzimmers über einer Londoner Straße hielt. (Vita schrieb über diese Geschichte ein Gedicht, das unveröffentlicht blieb, »Interior«, und vermerkte darunter; »Dies war die Geschichte, die Mary Campbell mir über Roy erzählte.«)
Mary Campbell liebte ihren Dichtergatten, doch das Leben mit ihm war unsicher, von materieller Armut geprägt und oft erschreckend. Sie selbst war dunkel und knabenhaft; sie malte, spielte Gi­tarre und trug romantische Kleider - Samtumhänge und Hosen in Schwarz und Rot. Augustus John, Roys Zechkumpan, nannte sie den »Kleinen Lord Fauntleroy«.* (* Little Lord Fauntleroy ist der Held des gleichnamigen Kinderbuches (dt.; Der kleine Lord  von Frances Hodgson Bennett. erschienen 1886 [Anm. d. Übers.]) Kindlich wie sie war, fand sie in Vita mehr als eine Geliebte. Sie nannte sie ihre St. Anna, ihre Deme­ter, Geliebte, Mutter, »alles an Frauen, das ich am meisten brauche und liebe«; »Manchmal bist du wie eine Mutter für mich. Niemand kann die Zartheit einer Geliebten ermessen, die sich plötzlich dazu herabläßt, mütterlich zu sein. Es ist ein köstlicher Augenblick, wenn sich Stimme und Hände der Mutter in die der Geliebten ver­wandeln.« Diese Verschmelzung von Mutter und Geliebter rührte auch in Vita an eine stets vorhandende Saite. Kurz nach Beginn der Affäre schrieb sie an ihre eigene schwierige Mutter; »Du hast abso­lut keine Vorstellung, wie sehr ich dich liebe und bewundere - lieb­ste, liebste B.M. - ohnegleichen und zärtlich. Ich erzählte Mary Campbell von dir; sie sagte; »Welch eine tiefe Leidenschaft du für deine Mutter empfinden mußt.< Ich war verblüfft über diese Fest­stellung und sagte bloß; Ja.«
Sie nahm Mary mit nach Knole und küßte sie in dem Schlafzimmer, das noch immer das ihre war; in ihrem alten Wohnzimmer in
Knole lasen sie zusammen Shakespeares Sonette. Sie und Mary liebten sich auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer in Long Barn, wo Virginia sich ihr endgültig mit »kleinen Schritten« genähert hatte. Als Nigel Grippe hatte und sie sich um ihn kümmern mußte, ging sie das beträchtliche Risiko ein, mit Mary zu schlafen, während der fiebernde Zehnjährige in einem kleinen Nebengelaß lag. »Wunder­schöne dunstige Mondscheinnächte«.
Als die Jungen zur Schule zurückkehrten, zogen die Campbells in »Babies Cottage« in Long Barn. Roy Campbell war erfreut, denn man wohnte mietfrei; er konnte die Nicolsons gut leiden und war dankbar, ihre Bibliothek benutzen zu dürfen. Mary freute sich, weil sie Vita näher war.
Außerdem stellte sich eine neue Freundin ein — die junge Schau­spielerin Valerie Taylor, eine Freundin von Clive, die einmal bis ein Uhr nachts blieb und Vita ihre Liebesprobleme anvertraute; ein an­deres Mal blieb sie bis drei Uhr 30, nachdem sie sich während des Tages als Lord Byron verkleidet hatte. »Wir sprachen über H[arold], der ein Stück über Byron schrieb, in dem sie auftreten wollte.« Auch Dottie und Virginia sah Vita regelmäßig; diese bei­den waren ein unbehagliches Bündnis eingegangen, da Dottie Geld in die Hogarth Press investiert hatte, um für die Woolfs eine Reihe »Hogarth Living Poets« herauszugeben. »Lady G. Wellesley hat mich gekauft«, meinte Virginia. Aber »euch beiden werde ich nicht gehören oder einer von euch, falls zwei von uns einer gehören. Kurz gesagt; Falls Dottie die deine ist, bin ich es nicht.«[13] Virginia brü­tete über dem Buch, aus dem Orlando hervorgehen sollte. Am 20. September hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben; »Jedenfalls werde ich hier eines Tages, wie in einem großen historischen Ge­mälde, die Umrisse aller meiner Freunde skizzieren ... Vita soll Or­lando sein, ein junger Edelmann... und das BHd soll der Wahrheit entsprechen, aber phantastisch sein.« Vita erfuhr von dem Projekt am 10. Oktober;

  • »Aber hör zu; Angenommen, Orlando erweist sich als Vita; und al­les ist wie bei dir, die Begierden deines Fleisches und der Reiz deines Denkens (Herz hast du keines, du, die sich mit [Mary] Campbell auf Feldwegen herumtreibt) — angenommen, es fände sich eine Art Abglanz von Wirklichkeit, der meinen Figuren gelegentlich anhaf­tet... Wird es dich stören?«

Vita störte es überhaupt nicht;

  • »Mein Gott. Virginia, wenn ich jemals durch etwas aufgeregt und erschreckt worden bin, dann durch die Aussicht, in die Gestalt von Orlando hineinversetzt zu werden. Welch ein Spaß für dich; welch ein Spaß für mich. Versteil doch, zu jeder Rache, die du nehmen willst, wirst du leicht Gelegenheit haben. Ja, fang an, wirf deinen Pfannkuchen in die Luft, bräune ihn hübsch von beiden Seiten, be­träufle ihn mit Gognac und serviere ihn heiß. Du hast mein voll­kommenes Einverständnis.«

Sie verlangte lediglich, Virginia solle das Buch ihrem »Opfer« wid­men. Sie fuhr fort — denn ihre Beziehung zu Virginia war plötzlich von ihrem alten Zauber überflutet:

  • »Und welch einen schönen Brief du mir schriebst, Campbell hin, Campbell her. (Wie geschmeichelt sie sich wohl fühlen würde, wenn sie es wüßte. Aber sie weiß es nicht und wird es nicht wissen.)... Wie recht ich doch hatte... mich dir in Richmond aufzudrängen und den Weg zu bahnen für die Explosion, die hier in meinem Zimmer und auf meinem Sofa geschah, als du dich so schändlich benahmst und mich für immer gewannst.«

Die Herbstnächte seien herrlich, schrieb sie; sie selbst sei »gütig, unternehmend und liebevoll«; »doch wie lange wird es wohl dauern, bevor ich ausbreche? Ich würde niemals ausbrechen, wenn ich dich hier hätte, doch du läßt mich unbehütet. Nun, nichts davon hat etwas zu bedeuten, also glaube nicht, daß es das tut. Ich bin Virginias braves Hündchen, reagiere auf einen freundlichen Klaps und wedele mit dem Schwanz.«[14]
Vita war bereits ausgebrochen. Dennoch hatte die Vorstellung, in Virginias Buch Orlando zu sein, ihre Einbildungskraft tief bewegt. Ebenso wie die Virginias, wenn ihre Phantasien Gestalt annehmen sollten. In ihrem geheimen Leben mit Mary wurde Vita mit einem­mal »Orlando«.
Ein paar Tage später wurde sie auf weniger angenehme Weise beunruhigt. »Der schlag trifft«, schrieb sie am 14. Oktober. Nach­dem Harold sechs Monate im Auswärtigen Amt in London gewesen war, wurde er nach Berlin beordert; in zehn Tagen sollte er aufbre­chen. Dazu kam, daß ihre leidenschaftliche Beziehung zu Mary auf dem Höhepunkt war und eine vernarrte Valerie Taylor sie weiterhin besuchen kam. Ihre emotionale Anspannung und ihre reale Furcht vor Harolds Abreise entluden sich dramatisch. Bei einer Autofahrt mit Valerie am 17. Oktober wurde sie plötzlich von Halbblindheit und einer, wie sie schrieb, lähmenden Neuralgie befallen. Harold schrieb in seinem Tagebuch über seine Niedergeschlagenheit we­gen der Versetzung nach Berlin und von seiner Besorgnis über Vitas Zustand. Auf diese Seite seines Tagebuchs hat sie geschrieben; »Liebling, wie sehr ich dich liebe!« (Gelegentlich tauschten sie ihre Tagebücher aus.)
Am Tag seiner Abreise schrieb Harold an Vita;

  • »Kleines, sei nicht zornig über mich, weil ich so hartnäckig und selbstsüchtig bin. Sie [die Diplomatie] ist Othellos Beruf- und so sehr er mich auch nie­derdrückt und verwirrt, spüre ich, daß ich ohne ihn nicht eine Tasse Tee, sondern ein großer Krug voll lauwarmer Milch werden würde.« Aus Berlin schrieb er, er würde sich, gäbe er seine diploma­tische Laufbahn »bloß aus emotionalen Gründen auf«, wie ein »Wurm fühlen«, der unwürdig sei — »einer der wenigen ernsten und männlichen Seiten meines Charakters«.

Vita hätte gut daran getan, dafür Verständnis zu haben, aber sie hatte es nicht. Nachdem sie sich von ihm verabschiedet hatte, ging sie in Dotties Wohnung und weinte. Auch Virginia war voll Mitge­fühl, doch sie konnte an nichts anderes denken als an Orlando. Worüber sie und Violet zu streiten pflegten, wollte sie von Vita wis­sen, und worüber sie mit Lord Lascelles geplaudert habe? (Er sei immer sehr schweigsam gewesen, erwiderte Vita, »also kamen wir nicht sehr weit«. Doch er hatte schöne Hände.) Vita übersetzte die Passagen, die Virginia für das Buch in französischer Sprache wünschte - und unterzeichnete ihre Übersetzungen mit »Or­lando«. Die beiden fuhren nach Knole, um obskure Familienphotos als mögliche Illustrationen herauszusuchen, und nach London zu einem Photographen, wo von »Orlando« in seiner weiblichen Verkörperung ein Photo im Stil von Lely* aufgenommen wurde. (* Sir Peter Lely (eigent. Pieter van der Fues) (1618-1680). engl. Maler [Anm. d. Übers.]) »Ich fühlte mich elend«. schrieb Vita an Harold, »in einen unzureichen­den Fetzen rosa Satin gekleidet, nachdem ich meine Kleider abge­legt hatte - aber V. war entzückt und schlüpfte immer wieder unter das schwarze Tuch der Kamera, um sich an der Wirkung zu ergöt­zen.«
Vitas Tagebuch. Samstag, 5. November 1927; »Ein sehr schöner, sonniger Tag; ein brauner, blauer, purpurner Tag. Ging am Morgen mit Mary spazieren ... Roy rief an, um zu sagen, daß er über Nacht in London bleiben werde. Ich schrieb an meinem Vortrag für Ox­ford [den sie in St. Hugh's halten sollte], während Mary am Abend Schallplatten hörte. Wir speisten zusammen. Ein sehr glücklicher Tag.« Doch Mary sei, wie Vita in derselben Nacht an Harold schrieb, wegen Roy »in ziemlicher Aufregung«, denn er hatte Augustus John in London getroffen, was »immer bedeutet, daß er sich betrinken und die nächsten vierzehn Tage krank sein wird«.
Am nächsten Tag holten Vita und Mary Roy vom Zug ab. In der Abenddämmerung ging Vita hinaus, um »einen Fasan zu schießen«, und begegnete den beiden Campbells; Roy sagte Vita auf den Kopf zu, daß er um sie und Mary wisse. Alle drei gingen in Vitas Wohnzimmer zurück. Roy verkündete, er schlafe mit Dorothy War­ren. »Er ging ganz freundschaftlich fort« dann kam Mary zurück und sagte, er sei völlig verändert.«

Vitas Tagebuch. 7. November;

  • »Ein gräßlicher Tag. Roy hat Mary praktisch die ganze Nacht mit Drohungen über Mord, Selbstmord etc. wach gehalten. Schrieb weiter an meinem Oxford-Vortrag, unglücklich über ihr fortwäh­rendes Eindringen, um mir zu erzählen, wie R. sich verändert habe etc. Wir schickten Mr. Burnett zu ihm. In einer regnerischen Dämmerung ging ich mit M. ins Dorf, um Bier für ihn zu holen. Nach dem Dinner konnte ich es nicht länger ertragen, ging zum Cottage hinüber und sprach mit ihm. Sie, armes Kind, ganz betäubt und todmüde. Rief in völligem Elend bei A[prile] an.«

Vita teilte Harold mit, Roy sei »in der letzten Nacht mit einem Mes­ser auf sie [Mary] losgegangen«, nannte jedoch nicht den Grund. Diese Streitigkeiten und Gewalttätigkeiten setzten sich tagelang fort. »Ist Mar in diesen Tagen nicht wundervoll allein gewesen? Nicht eine Seele«, schrieb sie einschmeichelnd an Harold nach Ber­lin. Ihr Tagebuch, 9. Oktober; »Unsere Kisten aus Teheran einge­troffen. Fing an, sie im großen Zimmer auszupacken, als Clive und sein Bruder, Valerie und Virginia nach dem Lunch ankamen. Nahm sie später mit nach Knole. Sehr kalt, fröstelig. Kurz vor dem Lunch kam Roy, um zu sagen, daß sie sich scheiden lassen würden. Ich sagte ihm, er solle nicht albern sein.« Nachdem die Besucher fort waren, ging sie zum Cottage und fand Roy ruhiger. »Er kam nach dem Dinner herunter und unterhielt sich mit mir, bis Mary sich uns anschloß. Trafen gewisse Abmachungen; fühlte mich viel besser.« Roy hatte Vita einen großzügigen Brief geschickt, den er auf einem aus einem Schreibheft herausgerissenen Blatt geschrieben hatte;
»Ich bin der Versuche müde, dich zu hassen, und ich begreife, daß es keine Möglichkeit gibt, dir weil zu tun (wie ich es gern getan hätte), ohne zugleich uns allen weil zu tun. Ich nehme keinen An­stoß an irgendeiner deiner persönlichen Eigenarten, und bevor ich etwas wußte, mochte ich dich sehr. Diese ganze Bitterkeit meiner­seits ist auf unsere entsprechenden Standorte in dem Wirrwarr zu­rückzuführen. Ich bin weitaus wütender auf M.«
Er und Vita, schrieb Roy, könnten »einen ruhigen Gemütszustand erreichen, wenn wir uns klarmachen, daß wir einander keinen blei­benden Schaden zugefügt haben; und ich will diesen Gemütszu­stand so rasch als möglich erreichen, weil dies die absolute Hölle ist.«
Vita pflichtete ihm bei, wie die Gedichte, die sie in den folgenden Wochen schrieb, beweisen. Sie hegte starke kameradschaftliche Gefühle für ihn, genauso wie einst für Denys Trefusis; das zeigt das sechste Sonett der ersten Folge von Gedichten, die sie in den folgen­den Wochen an Mary richtete;

Wir kannten beide deine Schönheit, und es erfreute
Uns beide im Verborgnen deine Leidenschaft;
Aus diesem Grunde fliehen wir uns heute.
Die wir uns labten an der Quelle deiner Kraft.
Ist das ein Grund? Wär's besser nicht, man träfe sich
Gemeinsam in der Liebe, die uns einst verbunden.
Um so ein neues Band zu finden, über dich.
Das fester ist, weil wir's in dir allein gefunden?[15]

Aber die Hölle ging weiter, nicht nur wegen der Eifersucht, sondern auch, weil Mary gegen die einengenden »Abmachungen« rebellierte, auf die Roy und Vita sich geeinigt hatten. Sie überhäufte Vita mit verzweifelten Liebesbeteuerungen, schrieb ihr auf Seiten, die sie aus Rechnungsbüchern und Schreibheften herausgerissen hatte;

  • »Kommt die Nacht nie wieder, in der ich Stunden in deinen Armen verbringen kann, in der ich spüren kann, wie du, einer riesi­gen Schutzheiligen gleich, mich überall umhüllst, und ich ganz nackt bin, bis auf einen Schleier deiner rosenblättrigen Küsse?« Sie warf Vita vor, daß sie gesagt habe, der Preis ihrer Liebe sei zu hoch. »Liebling, wie oft haben wir Wochen unglaublichen Glücks er­lebt... und ich bereue es in keinem Augenblick, ja, wenn ich am meisten leide, erscheint es mir um so mehr der Mühe wert.«

Roys unglücklicher Zustand war das einzige, was Mary bedauerte. Wenn Vitas Bindung der ihren an Intensität nicht entspreche, sei Vita »schuldig« und Mary »eine schwache Närrin, die von dir an der Nase herumgeführt wurde«.
Vita war »schuldig«, weil sie Marys Verlangen nachgegeben und sich in sie verliebt hatte, ohne an den gefährlichen emotionalen Aufruhr zu denken, den sie vielleicht auslösen würde. Angesichts des sich selbst entwickelnden und beinahe literarischen Dramas, das sich entspann, fühlte sie sich in zunehmendem Maße unbehag­lich;

Zwischen zwei Dichtern, du, eine hurtige Maus,
Geschäftig mit einem neuen satirischen Vers.
Mit Gift geschrieben, von Haus zu Haus,
doch glaub ich, dein Interesse ist pervers.[16]

Zusätzliche Schwierigkeiten kamen von Dorothy Warren, die am Rande von Vitas Affären allzeit auf der Lauer lag; sie, die zuerst Geoffrey Scotts, dann Roys Geliebte war, bat Vita, sie zu besuchen. Vita ging nicht; statt dessen suchte sie Virginia auf und vertraute ihr die ganze entsetzliche Geschichte und ihre Nebenhandlungen an. Virginia war streng (»Ich hasse es. wenn man mich langweilt«), kritisch, ein wenig angewidert und — wie sie später einräumte — ei­fersüchtig. Sie sagte Vita, sie mache ein Mischmasch aus ihrem Le­ben und verpfusche ihre gesamte Beziehungen. Vita blieben nur Tränen. Sie schrieb Harold;

  • »Ich hatte das Gefühl, auf der ganzen Linie versagt zu haben. Ich wollte zu dir kommen.

Harold antwortete besänftigend, der einzige wirkliche Prüfstein seien »gewachsene Beziehungen«, nicht zufällige, die auf Leiden­schaft basierten. »Ich glaube sehr wohl, daß du ein wirkliches Ta­lent zu dauerhaften Beziehungen hast« — und er zählte die Bezie­hungen zu ihren Eltern, zu Dottie, Raymond und zu ihm und den Kindern auf. Vita war nicht getröstet. Sie wußte, daß er es ihr zu leicht machte, und sie kannte ihre eigenen Verhaltensmuster;

  • »Sieh mal, ich habe immer das Gefühl, daß ich noch niemals einen Menschen ganz und gar glücklich gemacht habe. Du wirst sagen, du seist dieser Mensch. Aber selbst dir habe ich ein paar verdammt scheußliche Dinge angetan, dans le temps — die unvereinbar sind mit jedem Ideal von Treue oder Liebe, Liebling. Wie du siehst, bin ich darüber niemals wirklich hinweggekommen, es hat Narben bei mir hinterlassen. Und doch weiß ich, daß ich dich liebe, wie wenige Menschen lieben.«

Was Dottie betrifft,

  • »so hast du keine Ahnung, wie unglücklich ich Dotz gemacht habe. Nein, Liebling, dein Mar ist dazu bestimmt, alles durcheinanderzubringen. Weder das eine noch das andere, nicht genug Charakter, um entweder enthaltsam oder ausschweifend zu sein. Das Resultat ist ein einziges Durcheinander und niemand ist zufrieden.«

Harold schrieb, ihre Bestimmung, alles durcheinanderzubrin­gen, käme daher, weil ihre »zweitrangigen Affären dazu neigen, in Tränen zu enden... Du bist sorglos und unvorsichtig. Du gerätst in eine Situation und kannst nicht zurück wie eine Maus in einer die­ser Fallen, deren Stacheln nach innen zeigen.« Er sei immer »ein wenig nervös«. wenn er von solchen zweitrangigen Dingen höre - »von Mary Campbell und dergleichen. Oh, bitte Mar, verstricke dich nicht in diese Sache.« Sein Rat war vernünftig und seine Ein­schätzung richtig. Aber sie steckte bereits im Durcheinander.
Es fand eine weitere Sitzung für Orlando statt, diesmal mit Vanessa Bell und Duncan Grant als Photographen. Virginia las laut die Nachrufe aus der Times vor »und spickte sie mit ihren Kommentaren, was uns zum Lachen brachte und das Photo verdarb«. Vita besuchte mit ihrer Schwiegermutter und Harolds un­verheiratetem Bruder Freddy eine Aufführung des Kaufmanns von Venedig, die von der Schule der Jungen in Oxford veranstaltet wurde (Nigel hatte als Nerissa einen »tollen Erfolg«.). Drei Tage später war sie abermals in Oxford, weil Ben sich die Mandeln ent­fernen lassen mußte. Sie blieb zwei Tage bei ihm.
Eine ihrer »zweitrangigen Affären« fand zeitweilig von selbst eine Lösung; Valerie Taylor und Raymond Mortimer verliebten sich ineinander und dachten ernsthaft an Heirat. »Er darf mit ihr schlafen«, teilte Vita Harold mit. »aber ich habe ihm nicht erzählt, daß sie in der folgenden Nacht mit mir schlafen wollte - in Oxford - ich tat's nicht, doch es lag nicht an ihr. Im ganzen genom­men, habe ich eher eine Collage denn eine Ehe gefördert.« (Freilich war die »Collage« kurzlebig.)
Am Abend des 1. Dezember schrieb Vita, allein in Long Barn, in ei­nem wahren Ausbruch kreativer Energie nicht weniger als elf So­nette über sich und Mary Campbell, bevor sie am nächsten Morgen nach London fuhr, um Valerie spielen zu sehen, schrieb sie zwei weitere. Am 5. Dezember, einem Tag, den Mary mit ihr verbracht hatte, entstanden drei weitere. Nachdem sie die ersten elf Gedichte vollendet hatte, schrieb sie an Harold; »Unglücklicherweise sind sie so b.s. [die Nicolsonsche Chiffre für >homosexuell<; von >backstairs<, daß man sie unmöglich drucken kann. Aber ich spüre, daß sie als eine Art Katharsis für so viele aufgestaute Gefühle dienen. Vielleicht werde ich sie dir eines Tages zeigen. Ich bin nicht ganz sicher.«
Da Vita in Kürze Harold in Berlin besuchen wollte, bat er sie, die Sonette mitzubringen. »Oh, wie ich hoffe, daß sie nicht in einem Durcheinander steckt — mein Gott! mein Gott! Man schreibt nicht in einer Nacht zehn [sie!] Sonette, wenn man nicht in der Klemme steckt.« Tatsächlich bedeutete das Herausschleudern aller sech­zehn Sonette für Vita eine Wiedergewinnung ihrer Selbstbeherr­schung; es waren Abrechnungen. Jetzt war sie auch imstande, of­fen mit Harold über das Geschehene zu sprechen. »Keine Gedichte mehr. Keine Sonette. Ja, natürlich gerät sie in die Klemme, wenn er fortgeht. Sogar, bevor er geht. Aber es bleibt alles im Rahmen. Nichts, worüber er sich sorgen müßte.«
Das Gerüst des Alltagslebens hält Menschen in Zeiten emotiona­ler Umbrüche aufrecht. Der »Hawthornden« wurde zur rechten Zeit gepflanzt, und in Long Barn wurde eine Zentralheizung einge­baut. Vita war über das dadurch verursachte Chaos verärgert — »Und, mein Gott, wie Arbeiter stinken. Das ganze Haus riecht nach ihnen. Wie ich das Proletariat hasse«, schrieb sie mit der schnoddri­gen Arroganz einer reichen Frau, die uns heute so grausam in den Ohren klingt. Das Haus in Ebury Street wurde verkauft; die Möbel, die allesamt B.M. gehörten, sollten Vita und Harold bekommen.
Vita war eine sehr tüchtige Geschäftsfrau; sie verwaltete ihr Geld, ihr Land und ihre Pächter gut und überlegt. Dies war eine Fa­cette ihres Wesens, die Virginia faszinierte, und es war ein Feld, auf dem sie Harold gegenüber fast eine moralisch überlegene Position behauptete; er war nicht nur ärmer, sondern chronisch verschwen­derisch. Warum er so abgebrannt sei, fragte sie ihn am Ende des Jahres. »Der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, wie du das machst — zwar zweigst du jährlich 400 Pfund für die Schule der Jungen ab, aber schließlich habe ich nicht mehr als du und muß viel mehr davon bestreiten.« (Sie unterhielt Long Barn; Harold be­hielt sein Gehalt.) »Das ist kein Vorwurf, bloß ein Rätsel. Ich liebe dich.«
Am 14. Dezember fuhr sie für eine Woche nach Berlin - nach ei­ner ungestümen Forderung Mary Hutchinsons, ihren letzten Abend mit ihr zu verbringen; »Ich werde dich um Mitternacht überall tref­fen - sag mir, wo.« In Berlin verfolgten sie die Briefe Mary Campbells an »meine Rose, meine liebe Mutter«; Mary hatte während ei­ner Autofahrt durch London mit Roy und Dorothy Warren Streit gehabt; «Du hättest mich in deinem Auto am Piccadilly Circus sit­zen lassen sollen, hilflos und in Tränen.«
Der Besuch in Berlin bekräftigte lediglich Vitas Abneigung gegen das diplomatische Leben. »Sehr bedrückt, als ich ihn an diesem unangenehmen Ort zurückließ«, schrieb sie, als sie wieder abreiste, um Weihnachten mit den Kindern in Knole zu verbringen. Nach­dem sie fort war, vertraute Harold seine Eindrücke der treu ergebe­nen Dorothy Wellesley an;
»Vita schien in ziemlich guter Verfassung, als sie hier war. Natür­lich hat es einen Wirrwarr gegeben - aber ich glaube nicht, daß er ernsterer Natur war. Aber wie lästig diese Dinge sind - sie machen einen so unfroh. Ich warnte sie, mußt du wissen, aber sie hat mich nur verspottet. Ihr fehlt die Gabe der Voraussicht. Von Vorsicht als Eigenschaft halte ich nicht viel... Aber zu dem opheliaähnlichen Leichtsinn, dem mein Liebling frönt, läßt sich wenig sagen. Es ist ihr Optimismus, verstehst du, Dotz - sie weigert sich einfach zu glauben, daß die Dinge am Ende vielleicht schlecht ausgehen könnten — eine Art, sich treiben zu lassen.«
Man könnte hinzufügen, daß ihr Verhalten auch eine Folge ihrer »Nichts ist wichtig« -Philosophie war und der Vorstellung, körperli­che Liebe sei unwiderstehlich, doch kurzlebig, ein Fieber, von dem man sich rasch erhole. Als »ehrlich sinnlicher Mensch«, wie sie sich nannte, unterließ sie es, die Tatsache zu berücksichtigen, daß die Menschen, die sich in sie verliebten, der Affäre eine weitaus grö­ßere Bedeutung beimaßen und zuweilen bereit waren, die Stabili­tät ihrer Leben für das auf's Spiel zu setzen, was sie für eine große Liebe hielten. Am Anfang einer Affäre forderte sie die totale Zu­wendung; sie zog Personen an (und wurde von ihnen angezogen), die wesensmäßig dazu neigten, sich zeitweise einer solchen Liebe
hinzugeben - »Verrückte«, wie Harold und sie später diese Men­schen nannten. Unabhängige Frauen oder solche, die wie sie in erster Linie an einem Abenteuer interessiert waren (wie Mary Hut­chinson), hatten für sie wenig Reiz. Harold schloß seinen Brief an Dottie; »Aber sie ist nun mal so. Wir können es nicht ändern. Alles, was wir tun können, ist, sehr lieb zu unserer Ophelia zu sein — und zu versuchen, sie an den Gefühlen vorbeizusteuern. Aber sie sind schon eine kuriose Familie, diese Sackville-Wests.«

Kapitel 17

Vitas Vater war wie schon ihr Großvater, mit den Jahren immer einsamer und introvertierter geworden. Anfang 1928 er­krankte er. Eine Grippe zog eine Herzbeutelentzündung nach sich. Thomas Horder, königlicher Leibarzt, wurde gerufen. Harold aus Berlin herbeigeholt. Olive Rubens, Vita und Harold schlugen ihr Lager in Lionels Wohnzimmer auf, um nachts in seiner Nähe zu sein. Er starb am 28. Januar kurz nach Mitternacht, im Alter von einundsechzig Jahren. Sein Leichnam wurde in einem Bleisarg in der Kapelle von Knole beigesetzt. Harold schrieb eine Würdigung für die Times.
Während seiner Krankheit hatte Vita in T.P.'s Weeckly eine unge­schminkte Kritik von The Land aus der Feder von Rebecca West ge­lesen; der Beitrag führte aus, das Gedicht, drücke konventionelle Gefühle mit literarischer Anmut aus und sei das Werk einer Auto­rin, »die gewohnt ist, schöne Verse zu lesen... keine Zeile daran ist schwach, doch keine weist individuelle Schönheit auf.« Virginia, der bewußt war, wie tief Vita unter dem Verlust ihres Vaters leiden würde, schrieb ihr darum zwei Tage vor seinem Tod; »Ich habe The Land gelesen... einige Verse, denke ich, sehr gut«; was wie ein ge­wöhnliches Lob klingt, war der tröstlichste Kommentar, den sie ab­geben konnte.
Virginia begriff, daß der Verlust Dadas für Vita auch den Verlust Knoles bedeutete. Es ging jetzt auf Lionels jüngeren Bruder, Vitas Onkel Charlie, über und dann auf Charlies Sohn Eddy. Drei Tage lang, bis zum Begräbnis, gehörte Knole zum ersten und zum letzten Mal uneingeschränkt Vita. Sie traf Vorbereitungen, sie stand dem Haushalt vor, sie gab Anweisungen. Was diese drei Tage für sie be­deuteten, beschrieb sie später in einem Brief an Ben, als er in Eton war und sich für unfähig hielt, sich einzufügen. Sie selbst und Ben, schrieb sie ihm, besäßen beide »die Sackvill'sche Schwäche der Unentschlossenheit und Introvertiertheit«  und hätten — wie sie einst an Eddy schrieb - »die falsche Einstellung zum Leben«. Doch sie lernte, daß man diese Schwäche besiegen konnte; »Es hat mit Großpapas Tod und den drei oder vier Tagen zu tun in denen ich Knole zu führen hatte und jede Entscheidung treffen mußte... Aber ich mußte es tun, und es hat in der Tat einen Wendepunkt in meinem Leben bedeutet. Wirklich, meine geistigen Muskeln wuch­sen überraschend, und seitdem bin ich nie mehr ganz dieselbe ge­wesen.« Sie habe das Gefühl, schrieb sie Ben, »daß du und ich viel Mitgefühl füreinander haben und daß wir einander darum auf ei­ner merkwürdig vertraulichen Ebene verstehen (oder verstehen könnten), zu der Niggs und Papa vielleicht nie Zugang haben, weil sie Menschen sind, denen es von Natur aus gegeben ist, mit dem Le­ben zurechtzukommen«. Vita teilte die Familie in »Lager« ein; sie selbst und Ben, Harold und Nigel.
Aufgrund ihrer zweifelhaften Stellung blieb Olive Rubens der Beerdigung fern. Auch Lady Sackville erschien nicht. Unter den zahlreichen Kondolenzbriefen war auch ein zartfühlendes Schrei­ben von Violet an Vita; »Ich weiß, welch eine makellose Kamerad­schaft euch verbunden hat, und als Kind staunte ich oft eifersüch­tig über euer gemeinsames Schweigen, das, was ich damals nicht wußte, von einem vollkommenen gegenseitigen Einverständnis herrührte.«
Als alles vorüber war, notierte Vita am 11. Februar in ihrem Tage­buch; »Reticulata und Anemona blanda blühen.« Roy Campbell erholte sich von einer Blinddarmoperation; Mary verbrachte Tage und Nächte mit Vita, die vier weitere Sonette, diesmal in elegischen Tönen, für sie schrieb. Vita fuhr abermals nach Berlin, und Roy war darauf bedacht, das Cottage so rasch als möglich zu räumen. Vita schrieb darüber hinaus Abschiedsverse für ihren Vater und Ge­dichte über ihre Verwandtschaft mit ihm. »Heredity«, das sich mit ihm befaßt, findet sich in ihren Collected Poems; in der Manuskriptfassung fügte sie eine Schlußstrophe über Ben hinzu. Welche Charaktereigenschaften hatte die Familie?

Ist's die Stärke, ist's die Schwäche.
Die uns zusammenflicht?
Gott, ich habe sie wiedergesehen
In meines Sohnes Gesicht.

Es war schmerzhaft, nach Knole zurückzukehren, um Canute zu holen, den Elchhund, den sie ihrem Vater geschenkt hatte; noch schmerzhafter war es, durch seine persönlichen Besitztümer zu ge­hen;
»Von draußen, im Sonnenschein, sah Knole besonders schön aus; doch drinnen düster, da alle Rolläden runtergelassen und alles mit Schonbezügen bedeckt war, die an Leichentücher erinnerten, wel­che ich wirklich vorziehe, denn ich mag's nicht, wenn alles gleich aussieht. Habe irgendwie das Gefühl, als hätte ich jetzt das Eis ge­brochen und könnte hierhergehen, obgleich ich künftig niemals ohne triftigen Grund hierhergehen werde.«
Sie hatte ihrem Vetter großmütig geschrieben; »Lieber Eddy, jetzt ist Knole für dich, was es für mich immer war; doch ich weiß, daß du es ebenso liebst wie ich.« Sie wußte zuverlässig, daß dies nicht der Fall war; Harold malte sie aus, daß, »falls weder Charlie noch Eddy Knole haben wollten, ich auf der Stelle bereit wäre, es ihnen aus den Händen zu nehmen«. Und, halb verzweifelt, halb scher­zend; »Ich will Knole... Ich habe eine Idee; Wollen wir es nicht ei­nes Tages erobern? ... Ich habe Dadas Revolver an mich genom­men. Und die Patronen.« Sie verabscheute Onkel Charlies zweite Frau. Anne, eine Amerikanerin, und haßte den Gedanken, daß sie jetzt Schloßherrin war. Anne war der Hauptgrund, warum Vita sich von Knole fernhielt.
Gegen Ende Februar war sie bei Harold in Berlin und wohnte mit ihm in der Wohnung, die er in der Brückenallee 24 bezogen hatte. Sie kam an, wie Harold Virginia berichtete, mit einem Schluckauf, die Brillengläser von einem alten Pfeifenreiniger zu­sammengehalten und 200 Zigaretten, die sie unter Berufung auf ihren Diplomatenpaß durch den Zoll geschmuggelt hatte. Sie selbst schrieb an Virginia;

  • »Dies ist ein abscheulicher Ort ganz bestimmt; und meine Gefühle wären, wenn ich ihnen freien Lauf ließe, nichts als Rebellion und Verzweiflung — bloß Zorn und Tränen — und sie werden durch das Gefühl kompliziert, daß ich Harolds wegen Berlin nicht hassen darf, d. h, weil sich dahinter Kritik an ihm verbirgt und ein Groll und ich es nicht ertragen kann, einen Gedanken zu hegen, der ein schlechtes Licht auf ihn wirft - übrigens glaube ich, daß er nichts dafür kann - und mit diesen beiden Gefühlen zugleich zu leben ist sehr schwierig.«

Harold wollte nach wie vor Botschafter werden - »aber kannst du dir deine arme Vita als Gattin eines Botschafters vorstellen? Ich kann's nicht — und die Aussicht erfüllt mich mit Abscheu. Das Schicksal spielt einem wirklich böse Streiche - wenn man nichts anderes will als gärtnern, schreiben und mit Potto [Virginia] re­den ... Armer Orlando.«[1]
Harold beschrieb Clive Bell einen frösteligen Spaziergang durch den Tiergarten, mit einer Vita, die, vor Kälte mit den Zähnen klap­pernd, zischte; »Welch ein abscheulicher Ort!«
»Und was soll ich sagen? »Eine Ehefrau«, sollte ich sagen, »sollte ih­ren Gatten in seiner Karriere nicht nur unterstützen, sondern er­mutigen.« Das sage ich nicht, sondern; »Liebling, du weißt, daß ich ohne meine Arbeit unglücklich wäre.« »Unsinn«, erwidert sie. Und dann kommt ein Brief von Virginia, in dem steht, daß sie sich fast schämt, eine Freundin zu haben, die mit einem Mann verheiratet ist, der Botschafter werden will (wohlgemerkt, nicht »möchte«).[2]
Virginia unterstützte Vita auch weiterhin in ihrem Feldzug, Harold zur Aufgabe der diplomatischen Laufbahn zu überreden. In ihrer Beziehung zu ihrem eigenen Ehemann verhielt sie sich ganz an­ders; sie konnte die herkömmliche Ehefrau überzeugend spielen, begleitete Leonard zu politischen Versammlungen in entfernten und glanzlosen Städten und unterminierte niemals seine Karriere oder das Bild, das er von sich selbst hatte. Aber schließlich schätzte sie Leonard, den sie liebte, viel höher ein als Harold, den sie bloß um Vitas willen zu mögen lernte.
Vitas Egoismus in bezug auf Harolds Karriere bestand nicht so sehr darin, daß sie abgesehen von kurzen Besuchen, daheim­blieb, wenngleich dieses Verhalten für die Frau eines Diplomaten ungewöhnlich war. (Aber 1928 gab es nicht viele Diplomatenfrauen, die wie Vita selbst Karriere machten.) Es war vielmehr ihre Geringschätzung des von ihm gewählten Berufes — in dem er Ge­schicklichkeit und Begabung bewiesen hatte und erfolgreich gewe­sen war — wenn er auch wenig von seinen Fähigkeiten und Erfolgen hermachte und diesen Aspekt seiner Persönlichkeit abwertete. Trotz ihrer Dementis schloß jede Kritik an seiner Arbeit unweiger­lich die Kritik an ihm ein, der sie sich ausgesucht hatte.
In Berlin hatte Harold vor kurzem die Bekanntschaft von Frede­rick und Margaret Voigt gemacht; Er war Journalist und Historiker, sie schrieb unter ihrem Mädchennamen Margaret Goldsmith und war als literarische Agentin englischsprachiger Autoren in Deutschland tätig. Vita traf die Voigts gleich zu Anfang ihres Besu­ches und fing an, regelmäßig mit Margaret zu speisen und ins Kino zu gehen. Am 8. März kam Margaret in die Brückenallee, um Vita aus ihrem Roman, an dem sie gerade schrieb, vorzulesen; am 9. März, Vitas Geburtstag, waren sie, ihr Gatte und Sinclair Lewis Gäste beim Dinner; am 10. März

  • »kam Margaret Voigt [sie!] mor­gens und berichtete von Folgen, die ich hätte voraussehen können«.

Gelangweilt, unglücklich, krank vor Heimweh, hätte Vita das möglicherweise »voraussehen« können, aber sie traf keine Vorsichtsmaßnahmen. Wie gewöhnlich verstrickte sie sich viel zu tief. Sie sagte Dinge, die sie vergessen würde; nicht dagegen Margaret. »>Ich liebe dich auf jede mögliche Weise, wie man einander nur lie­ben kann, vergiß das nicht<, sagtest du (du standest neben dem Divan in der Brückenallee) und meine Liebe, ich trage diese Worte in meinem Herzen, denke jeden Tag und jede Nacht an sie« — so schrieb Margaret an Vita nach deren Rückkehr nach England.
Vita schrieb an Virginia und fragte, ob Margaret sich um die Übersetzungsrechte ihrer Bücher in Deutschland kümmern sollte; »Sie ist außerordentlich nett, energisch und intelligent und zufällig eine Busenfreundin von mir, obgleich ich sie nicht empfehlen würde, wenn ich nicht sicher wäre, daß du mit ihr gut bedient wärst!«[3] Virginia roch sofort den Braten; im übrigen wurden ihre Bücher in Deutschland bereits vom Insel Verlag verlegt. Wegen Vi­tas neuem Projekt - einer Übersetzung Rilkes ins Englische - fuh­ren Vita und Margaret nach Leipzig zum Insel Verlag. (Harold war um diese Zeit von einem jungen Amerikaner, Bobby Sharpe, ganz in Anspruch genommen.) Vita und Harold reisten zusammen nach Kopenhagen, wo sie beide einen Vortrag hielten — laut Vita war Ha­rold »höchst brillant und amüsant« — und anschließend zurück nach Berlin, um Vitas Abreise vorzubereiten.
Ihren letzten Abend verbrachte sie mit Margaret Voigt, die sie auch zur Bahn brachte. (Harold hatte ein dienstliches Dinner, und beide haßten sie Abschiede auf Bahnhöfen.) Man plante, daß Mar­garet bald nach England kommen solle; in der Nacht der Abreise schrieb Margaret an Vita; »Es gibt nichts darüber zu sagen - mit Worten — was der heutige Tag bedeutet hat... Ich habe nie gewußt, daß es ein solches Eins-Sein, solche Nähe gibt... Gute Nacht, mein Liebling, wann, o wann werde ich in deinen Armen schlafen, bis der Morgen heraufdämmert? May.«
Vita überquerte den Kanal, aus den Armen einer Frau in die der nächsten. Mary Campbell hatte ihr jeden Tag geschrieben und Vita ihr (aber Mary war von Louise Genoux, Vitas französischer Zofe, standhaft des Hauses verwiesen worden, als sie, um sich Vita näher zu fühlen, einen Morgen in Vitas Wohnzimmer hatte verbringen wollen). Sie und Roy standen kurz vor einer Trennung auf Probe, und sie machte wohldurchdachte Pläne, die erste Nacht nach Vitas Rückkehr am 20. März mit ihr in London zu verbringen. Als Ort ih­res Wiedersehens hatte sie das Foyer des Capitol Picture House in Haymarket gewählt. Vita erfüllte ihren Wunsch. »Meine Einzige, ich spüre noch immer die Wärme deiner Arme. Ich brenne noch im­mer von der Liebe der letzten Nacht«, schrieb Mary am 2. April.
In Long Barn standen die Knollen, die Vita aus Persien mitge­bracht hatte, in Blüte; und Dorothy Wellesley kaufte ein wunderschönes neues Haus, Penns-in-the-Rocks in Vithyham. Sussex. Vitas Jungen kamen über Ostern nach Hause, und sie beklagte sich bei Harold, daß Ben, inzwischen vierzehn, ihr in den Ohren liege, er habe nichts zu tun. Es müsse am modernen Leben liegen, sagte Vita zu Ben, daß jedermann die fixe Idee habe, »er müsse durch ir­gendwas unterhalten werden«. Nigel wollte ihr beweisen, daß er sich allein beschäftigen könne;

  • »Niggs, der diese Unterhaltung mitangehört hatte, machte sich mittendrin aus dem Staub. Er ging Golf spielen. Ich beobachtete ihn durch das Fenster. Seine Hosen rutschten. Er legte den Ball sehr sorgfältig auf den Erdhaufen. Dann sprach er den Ball sehr um­ständlich an; doch er rollte vom Haufen herunter, und er mußte ihn noch einmal aufsetzen. Das passierte viermal. Darauf führte er ei­nen wuchtigen Schlag, verfehlte den Ball ganz und gar und kippte vornüber.«

Seit Lord Sackvilles Tod stand Ärger mit B.M. ins Haus, die den Winter im Hotel »Metropol« in Brighton verbrachte. Sie fürchtete, ihren Anteil als Ehefrau nicht zu bekommen, und steigerte sich in einen Zustand von Paranoia. (Erst nach langem Zögern hatte sie darauf verzichtet, Testamentsvollstreckerin des ihr entfremdeten Gatten zu werden.) Am Morgen des 18. April war Vita in London bei Pembertons, den Familienanwälten, um die Frage des Nachlas­ses ihres Vaters zu erörtern. Unerwartet erschien ihre Mutter in der Kanzlei und machte eine unerhörte Szene. »Gib mir deine Perlen«, schrie sie Vita an. »zwölf davon gehören mir, und ich will sehen, wie viele davon du ausgetauscht hast, du Diebin!« Eine Flut von Schimpfwörtern ergoß sich über Vita. »Sie benahm sich wie eine Verrückte, schrie >Diebin< und >Lügnerin< und drohte mir mit der Faust, daß ich dachte, sie werde mich schlagen.« Die Anwesenheit der beiden Anwälte vermochte den Sturm von Schmähungen nicht zu unterdrücken. Als sie anfing, ihren toten Gatten zu beschimpfen, verließ Vita das Zimmer. Schließlich zog sich Lady Sackville in ihren Rolls-Royce zurück, schickte jedoch ihren Sekretär hinein, um Vita mitteiten zu lassen, sie müsse mit ihr zu einem Juwelier ge­hen, um zwölf Perlen aus ihrer Halskette herauslösen zu lassen.
Vita ging zum Wagen hinaus und schnitt auf der Stelle, mitten auf der Straße, ihre Kette in zwei Teile. Das stellte ihre Mutter nicht zufrieden - sie verlangte die Rückgabe aller Juwelen, die sie Vita je geschenkt habe; Vita solle sie ihr ins »Savoy« bringen, sie durch ei­nen Kellner zu ihr hinaufschicken »und wie eine Dienerin draußen vor der Tür warten, während sie die Steine überprüfte, um zu se­hen, wie viele ich ihr gestohlen hatte, während sie krank war«. Sie schrie Vita durch das Wagenfenster an, sie hasse sie und wünsche ihr den Tod, bis Vita ein Taxi stoppte und entkam.
Völlig vernichtet machte sich Vita auf, um eine Verabredung zum Lunch mit Raymond Mortimer einzuhalten, der sie mit einer hal­ben Flasche Champagner tröstete. Anschließend ging sie zu Virgi­nia, die sie besänftigte und den vernünftigen Vorschlag machte, in den Zoo zu gehen. Später begleitete sie Vita zu den BBC-Studios, wo Vita die erste Rundfunksendung ihres Lebens machte - die Er­eignisse des Tages waren kaum eine gute Vorbereitung gewesen. Danach gingen die beiden den Strand hinunter und tranken im »Charing Gross«-Hotel Kaffee; »dann setzte ich mich in meinen Zug und kam heim - zerrüttet, doch voller Zustimmung für Virginias Überlegung, das Leben sei nicht ereignislos«. Daheim wartete Mary Campbell.
Lady Sackville hatte Vita die Juwelen vor fünfzehn Jahren zur Hochzeit geschenkt. Das Geld der Familie wurde von Treuhändern verwaltet, und B.M. war nicht in der Lage, Vita ihre Jahreszinsen wegzunehmen. Aber Vita beschloß, in Zukunft von ihrer Mutter keine Geschenke oder Geldzuwendungen mehr anzunehmen. An je­nem Nachmittag im Zoo war sie nach Virginias Bericht »sehr tapfer & wild & warf ihren Kopf hin und her... & sagte, sie sei frei und un­gebunden & wolle sich ihr Geld durch Schreiben selber verdienen«.[4]
Nachdem Vita den Schock über das Benehmen ihrer Mutter überwunden hatte, beschrieb sie Harold den Ablauf dieser frühen Live-Aufnahmen im Rundfunk — von denen sie in der folgenden Woche eine weitere machte;

  • »Man bringt dich in ein Studio, welches ein großer und luxuriös ausgestatteter Raum ist; dort steht ein dick gepolsterter Tisch, und darüber hängt an zwei Drähten von der Decke herab ein kleiner weißer Kasten. Überall sind drohende Aufschriften angebracht; >nicht husten — Sie werden Millionen Leute taub machen<. »nicht mit dem Manuskript rascheln< und >Wenden Sie sich nicht an den Ansager und fragen ihn, wie es war, wenn Sie fertig sind ... Für je­manden, der noch nie zu so vielen oder wenigen Leuten gesprochen hat, ist es sehr komisch. Und dann verstummst du, und es tritt ein furchtbar grausames Schweigen ein, als ob du komplett versagt hättest... und dann hörst du den Ansager sagen; »hier ist London. Wetterbericht und Nachrichten«, und du schleichst dich weg.«

Die Jungen seien perfekte Rundfunkhörer, schrieb sie ihm; »Sie stellten das Gerät auf den Küchentisch und saßen mit allen bedints drumherum« (das heißt mit der Dienerschaft, die jetzt aus Mrs. Staples, der Köchin, George Hörne, dem Butler, Elsie, dem Haus­mädchen, und der Französin Louise bestand).
Harold reagierte wütend auf die Geschichte von Lady Sackvilles Tobsuchtsanfall; er war um so wütender, als er hörte, daß B.M. so weit gegangen war, sich beim Außenministerium telephonisch nach der Höhe seines Gehaltes zu erkundigen. Vita war über die Vehemenz gerührt, mit der er sie in Schutz nahm — »Alles, was an Femininem in mir steckte, sprach darauf an. (Es mag sehr tief ver­borgen sein, doch ist es gleichwohl da.)« Doch sie konnte die Vor­stellung nicht ertragen, daß jemand gegen ihre Mutter ihre Partei ergriff. Sie wußte, daß B.M. »sich irgendwo in ihrem sonderbaren Herzen sehr einsam fühlen muß. Ich wünschte, ich könnte hinge­hen und ihre Partei gegen uns ergreifen.« Was immer ihre Mutter tat, Vita würde sie immer lieben.
Nachdem die Krise vorüber oder in der Schwebe war, hörte Ha­rold auf, Vita von Berlin aus anzurufen, wie er es getan hatte. Es nahm ihn zu sehr mit; »Du sagtest >Gute Nacht, lieber Hadji< und legtest fünfhundert Meilen zwischen uns. Und dann Niggs Geki­cher! Weißt du, es war nicht bloß ein Gekicher, das ich hörte, son­dern das unverwechselbare Kichern meines lieben Niggs. Es tat mir in der Seele weh — und als ich den Hörer auflegte und wieder in Berlin war, fühlte ich, daß mir die Tränen kamen.« Sie kamen überein, das Telephon nur in Notfällen zu benutzen, schließlich schrieben sie einander wie immer, wenn sie getrennt waren, täglich.
Auch Vita und Margaret Voigt schrieben einander täglich. Eine Woche nach dem Auftritt mit B.M. kam Margaret in London an. (Ihr Mann arbeitete für den Manchester Guardian.) Sie hatte ge­dacht, sie werde bei Vita in Long Barn wohnen, doch statt dessen hatte Vita dafür gesorgt, daß sie Vanessa Bells Wohnung am Gor­don Square 37 benutzen konnte. Dieses Arrangement hatte Virginia getroffen (Vanessa war in Cassis), die gegen Margarets »vulgäre, aufdringliche, primitive, ungehobelte« amerikanische Stimme am Telephon eine tiefe Abneigung hatte. »Das ist eine der Wirkungen der Eifersucht«[5], gab sie zu; und sie kam nach Long Barn, um für Orlando von Vita eine Aufnahme in ländlicher Kleidung zu ma­chen (die letzte in der illustrierten Ausgabe); dann nahm sie Vita mit nach London zu Lenare, um »Orlando« in einem viktorianischen Kleid photographieren zu lassen.
Margaret Voigt kam für ein Wochenende nach Long Barn, und wie alle Geliebten Vitas, nahm man  sie mit, um  Knole anzu­schauen — nunmehr von außen. Danach entschwand Vita mit Dorothy Wellesley, um deren neues Haus zu besichtigen, anstatt mit Margaret nach London zurückzufahren — diese war verletzt, inter­pretierte Vitas Entschluß jedoch bezeichnenderweise so; »Du bist so treu, deine Treue ist wie eine Flamme in meinem Herzen... viel­leicht weil du um ihretwillen für immer Unterhalt zahlst — in Form von Kraft, Unterwerfung, teilweiser Hingabe - an die Lieben, Lei­denschaften, Freundschaften oder Bindungen, die ihrerseits viel­leicht ein wenig von ihrer Bedeutung eingebüßt haben.« Sie hatte recht. Zum Teil, weil sie sich für die Feuer verantwortlich fühlte, die sie entzündet hatte; zum Teil, weil sie es nicht leiden konnte, wenn jemand, der sie liebte, damit aufhörte, und zum Teil, weil Vita, wie Margaret mutmaßte, aus schlichter Treue Menschen nicht fallen­ließ (Geoffrey Scott ausgenommen.) Mit den Jahren wuchs Vitas Liste emotionaler »Pensionärinnen« und mit ihr ihre Korrespon­denz und ihr Zeitaufwand. Nahezu alle Frauen, die Vita geliebt hatte, sagten; »Ich war nicht wie die anderen«; und sie hatten inso­fern recht, als sich Vita in ihrer intensiv erotischen, einfühlsamen Konzentration auf den geliebten Menschen sich jedem auf eine andere Weise rückhaltlos hingab. Oder besser gesagt; sie schenkte ih­nen rückhaltlos einen Teil ihrer selbst — und niemals jenen Teil, der Harold und dem Heim gehörte, nie mehr nach Violet.
Margaret Voigt sollte ziemlich bald auch eine emotionale Pensio­närin werden. Bereits eine Woche nach ihrer Ankunft teilte Vita Ha­rold mit, daß »sie mir auf die Nerven geht«, was in Deutschland funktioniert hatte, versagte hier. Vita hatte ihre beguins und »ech­ten Gefühle«, wie sie Harold schrieb, »aber sie sind mit meinen Ge­fühlen für dich nicht zu vergleichen... Ich vergesse Menschen sehr schnell, wenn ich von ihnen fort bin. Ich trenne mich von ihnen in heftiger >Abschiedsstimmung<« — von der sie aus Erfahrung wußte, daß sie rasch schwand (doch sie wurde aus der Erfahrung nicht klug und änderte ihr Verhalten nicht).
Die einzige Hoffnung, schrieb Vita, bestehe darin, »sein Leben in seinem Inneren zu führen, um in hohem Maße frei und unabhängig zu sein« (sie arbeitete wieder an ihrem »Reddin«-Gedicht); »doch dann erheben sich die irrationalen Leidenschaften und führen den Verstand an der Nase herum«.
Jemand, der im Begriff stand, sie zu verlassen, war Mary Camp­bell. Roy war bereits nach Martigues in Südfrankreich abgereist, und Mary, obwohl noch immer leidenschaftlich in Vita verliebt, hatte sich für ihre Ehe entschieden und wollte ihm folgen. Vita brachte Mary zum Zug, dann holte sie Margaret von einem anderen Zug ab und nahm sie mit nach Long Barn. Mary schrieb Vita wei­terhin; sie brauchte die ständige Versicherung, daß Vita sich um sie sorgte, weil es schwierig war, mit Roy wieder eheliche Beziehungen aufzunehmen; zuweilen bat sie Vita, Geld zu schicken (was diese tat), da sie bitter arm waren. Die beiden Campbell-Mädchen waren in der Obhut einer Frau im Dorf Weald zurückgeblieben, und Vitas und Marys Trennung wurde durch das Wissen gemildert, daß Mary bald zurückkommen werde, um die Mädchen zu holen. Sie kam im Juni, doch ihr kurzer Besuch änderte nichts, und Vita lud sie nicht zum Bleiben ein.
In diesem Sommer schloß Vita eine neue literarische Freund­schaft - mit dem jungen Cyrill Conolly.* (*Cyril Conolly; 1903-1974). Literaturkritiker The Sundy Times und Essayist. Gab von 1939 bis 1950 die einflußreiche Literaturzeitschrift Horizon heraus. Veröffentlichte unter dem Pseudonym «Palinurus« 1944 The Uniquie Grave (Das Grab ohne Frieden) (Anm. d. Übers.)
Er schrieb ihr einen acht­seitigen Brief, »der von Dichtung handelte« und in dem er darum bat, »nicht als ein Neo-Bloomsbury-Mann betrachtet zu werden«. Eddy Sackville-West warnte Vita vor ihm; »Er ist sehr klug, aber ein Schnorrer und ein schrecklicher Unruhestifter; und um so ge­fährlicher, weil er weiß, wie er sich einschmeicheln kann.» (In je­nem Sommer begegnete Harold ihm in Berlin - »Wie der junge Beethoven mit kleinen Fehlern«.) Im Juni verbrachte Conolly zwei Nächte in Long Barn, und danach schrieb er Vita einen außeror­dentlich langen Brief über »den Wert des Exils, des Heimwehs und der Obskurität als literarische Stimulantia« und über ihr »federn­des, unpersönliches Gedicht« The Land, seine Qualitäten und Mängel; darüber, was am Romantizismus, der Religion und dem Schreiben von Virginia Woolf falsch sei. »Wir wollen eine berühmte literarische Kontroverse haben.« Er mochte Vita.
Am Tag nach seiner Abreise unterwarf sie sich einer, wie sie es nannte, Folter-Prozedur. Nach Einbruch der Dunkelheit fuhr sie nach Knole und schlenderte durch den Garten. (Onkel Charlie hatte ihr einen Hauptschlüsse! gegeben, den sie als kostbaren Schatz hütete.) Sie hatte den Garten ganz für sich, so daß »ich sehr gut der einzige lebende Mensch auf der Welt hätte sein können - und nicht in der heutigen Welt, wohlgemerkt, sondern in einer Welt, die mindestens dreihundert Jahre zurücklag... Lieber Hadji, es ist vielleicht verrückt, aber es gibt eine Art Nabelschnur, die mich mit Knole verbindet.« Harold antwortete mitfühlend, wandte aber ein, er sei froh, daß Knole nicht ihr gehöre, »denn das wäre eine Last für Hadji, der es nicht mag, den Prinzgemahl zu spielen«. Seine ei­gene Familie konnte es an Größe und Glanz in ihren Augen mit der ihren nicht aufnehmen, wie er wußte.
Vita ging allein durch den dunklen Garten, sie nahm Margaret nicht mit. Die beiden hatten sich in Long Barn ihre phantastische Liebeswelt geschaffen (in welcher Margaret den »Kleinbauern« und Vita die Aristokratin spielte; für Margaret — wie auch für spätere Geliebte — war Vita »David«). Margaret wollte wie ein Kind von Vita abhängig sein, genauso wie Mary Campbell. »Niemals bin ich mehr dein Kind gewesen als heute abend«, schrieb sie; und »Liebling, meine Liebste, ich wünschte, ich wäre drei Jahre alt und könnte in deine Arme kriechen und einfach dortbleiben, während du die Regie über mein Leben übernimmst.«
Gegen Ende Juni war Vita vier Tage lang ganz allein in Long Barn, sprach mit niemandem außerhalb des Hauses und »fühlte sich infolgedessen ganz anders«. Sie versuchte, Zwölf Tage in den Bakhtiari-Bergen abzuschließen. Margaret erkannte das Menete­kel und schrieb am 3. Juli; »Unsere Beziehung hat — äußerlich — eine ganz andere Form angenommen, als ich dachte. Ich habe mir nicht vorgestellt, daß wir so wenig zusammensein würden, daß un­sere äußeren Leben so wenig miteinander verschmelzen würden, sonst hätte ich mich niemals zu der Haltung verführen lassen, so sehr auf dich zu bauen, mich so abhängig zu machen.« Margaret war sehr gütig, stolz und würdevoll. Sie half Vita weiterhin bei ih­ren Rilke-Übersetzungen, und Vita überredete Harold, ein Vorwort zu Margarets Biographie Friedrichs des Großen zu schreiben. An­fang September teilte Vita Harold mit, Margaret sei »charakterlich ein Pfundsmädchen« und es gebe »keine Mißverständnisse oder falschen Einstellungen«.
Inzwischen von Leidenschaften nicht mehr berührt, half Vita Dottie bei der Gestaltung ihres neuen Gartens, erneuerte ihre Einwände gegen Harolds Posten in Berlin, »diese schmutzige, schmutzige Stadt«, und belebte wieder ihren, ein wenig veränderten, vertrauten Umgang mit Virginia, die am 7. Juli einen, wie sie sagte, »guten, ziemlich glücklichen Besuch« in Long Barn machte;
»Es interessiert mich, wie in einer Freundschaft die Formationen zersetzt werden; wie man unbewußt in ein anderes Verhältnis glei­tet; Dinge leichter nimmt; so gut wie kaum noch an Kleidung oder etwas anderem Anstoß nimmt; sie kaum als erregende Atmosphäre empfindet, was indes auch eine Einbuße an >Prickel< bedeutet; doch ist dieses Gefühl gesünder, vielleicht tiefer. Liege bei den Johannisbeerbüschen und halte Vita einen Vortrag über ihr wetter­wendisches Verhalten, zum Beispiel den Campbells gegenüber.«[6]
Dieses Mal weinte Vita nicht; Virginia war »absolut bezaubernd«, schrieb sie Harold. Vita hatte gerade eine Geschichte beendet, die sie im Manuskript »A history« nannte (sie wurde unter dem Titel »Liberty« 1930 in Harpers's Bazaar veröffentlicht) und die eine Fußnote zur Affäre mit Mary Campbell darstellt. Sie handelt von zwei Liebenden, die durch den Edelmut des gekränkten Ehemanns so gedemütigt und beschämt werden, daß sie beschließen, sich zu trennen. In der Geschichte ist die Bindung zwischen dem Gatten und dem Liebhaber - dessen Name »David« ist - beinahe ebenso stark wie die zwischen den Liebenden oder wie die zwischen Gatten und Ehefrau. Der Ehemann erschießt sich, weil er unfähig ist, seine Eifersucht zu überwinden und seine eigenen Ideale von persönli­cher Freiheit auszuleben. Der erste Teil der Geschichte folgt Schritt für Schritt, der Geschichte von Vita und den Campbells. Roy Campbell, wenn er auch in den schlimmsten Zeiten mit Selbstmord drohte, erschoß sich nicht; doch Vita sagte immer, sie verstehe sei­nen Standpunkt und hätte in seiner Lage ebenso heftig reagiert. Übersteigerte Emotionen zogen sie immer an.