Kapitel 18
Immer mehr verwirrte sich für B.M. die Realität. Über Ozzie Dickinson verbreitete sie das verrückte Gerücht. Vita habe vor. sich von Harold scheiden zu lassen und Eddy zu heiraten, um Knole zurückzubekommen. »Der Tag wird kommen, an dem wir sie vielleicht unter irgendeine Art von Aufsicht werden stellen müssen«, meinte Harold. Mitte August 1928 überfiel B. M. die Bewohner von Knole, um einzuheimsen, was nach ihrer Meinung ihr Eigentum war; kühl wies sie Vita an, all ihre Juwelen und anderen Wertgegenstände nach Knole zu bringen, damit sie sie inspizieren könne. »Vergiß nicht, daß ich, soweit ich mich erinnern kann, niemals eine Schenkungsurkunde unterzeichnet habe.«
Vita wurde bereits wieder von den Jungen geplagt, die die Sommerferien zu Hause verbrachten. Sie, die immerfort geschäftig war, konnte die natürliche Ziellosigkeit der Jungen nicht begreifen — »sie lungern einfach herum und wissen nichts mit sich anzufangen und gähnen. Sobald sie mich sehen, rennen sie hinter mir her, ganz einfach, weil sie nichts anderes zu tun haben... Sie lesen nie. Sie tun buchstäblich nichts!«
Sie löste das Problem, indem sie eine junge Frau namens Audrey Bosquet engagierte, die von allen bald »Boski« genannt wurde; sie wohnte fortan im »Babies' Cottage«, um sich während der Ferien um die Jungen zu kümmern und Vita in der übrigen Zeit für ein Jahresgehalt von 225 Pfund als Sekretärin zur Verfügung zu stehen. Harold mißfiel die Idee mit Boski. Mit dem lieben Worten erinnerte er Vita an B. M.. die »dachte, indem sie alles aus dem Weg räumte, das ihren Egoismus hemmte, völlige Unabhängigkeit zu erlangen; und sie fand sich allein in der Wüste wieder.« Sein Mar solle sich nicht sagen; »Ich hätte meinen Frieden, wenn die Leute sich bloß nicht einmischten«, sondern; »Wenn ich es nicht schaffe, meine bitteren Pillen besser zu schlucken, werde ich am Ende eine Nervenkranke werden.« (»Bittere Pillen« standen für »Dinge, die wir nicht tun wollen«.)
»Oh, mein Liebling, mein Liebling — wie wäre es doch gut, wenn du deinem Schreiben ein bißchen mehr und deinem Leben ein bißchen weniger Verschrobenheit angedeihen ließest. Ich wünsche sehr, ich könnte der Närrin habhaft werden (war es Violet?), die dir eingeredet hat, Verantwortlichkeiten seien mitnichten Trittsteine in einem Sumpf, sondern Dinge, denen man ausweichen und derer man sich schämen müsse.«
Was die »Bitteren Pillen« anging, war Vita im Prinzip mit ihm einig. Doch ihm würde es nicht gefallen, hielt sie dagegen, wenn man ihm sagte, er müsse für vier Monate im Jahr die ganze Verantwortung für zwei Kinder übernehmen; »Ich möchte gern sehen, wie du das versuchst; am Ende der ersten Woche würdest du schreien.«
»Angenommen, jemand - sagen wir Eddy - erzählte dir, er habe auf zwei Jungen aufzupassen und das sei zuviel des Guten, dann würdest du ihm sofort zustimmen. Du weißt, daß du's tun würdest. Es würde dir nie in den Sinn kommen zu sagen, er sei verrückt. Warum ist es dann für mich etwas anderes? Es liegt am Geschlecht, schätze ich. Nun, ich verstehe nicht, was das für einen Unterschied machen soll.«
Kurz bevor sie mit den Jungen in die Ferien zu Harold in Deutschland aufbrach, begann ein literarischer Streit. Im Juni hatte Vita den Roman Lady Chatterley gelesen, der in Italien veröffentlicht worden war; »Als Ganzes gesehen ist es kein gutes Buch, obgleich es einige gute Passagen enthält; doch nie habe ich in irgendeiner Sprache solche Schilderungen von Sinnlichkeit gelesen ... Alle anderen Bücher sind in diesem Punkt verlogen.« Zwei Wochen später las sie in der Nation Leonard Woolf's Rezension von Radclyffe Halls lesbischem Roman Quell der Einsamkeit* und berichtete Harold; »Es ist ein vollkommen ernsthafter Versuch, ein ganz freimütiges und absolut unpornographisches Buch über b.s. [Homosexualität] zu schreiben. (*Radclyffe Hall (1886-1943) veröffentlichte zunächst Lyrik und 1924 ihren ersten Roman. The Well of Loneliness erschien 1928 (dt. 1929) der Roman wurde in England als besonders gefährlich und sittenverderbend« verboten [Anm. d. Übers.])
Es ist ein Jammer, daß es, wenngleich ernst gemeint und nicht sentimental, kein Kunstwerk ist. Das schreibt er [Leonard].« Vita wollte den Roman nach Deutschland mitbringen; Cyril Conolly und Raymond waren bereits bei Harold, und sie wollte sehr gern mit ihnen darüber diskutieren. »Natürlich reizt es mich sehr, dasselbe zu versuchen... Weißt du, wenn man über b.s. schreiben darf, verdoppelt sich mit einem Schlag das Gebiet der Belletristik.«
Doch wie es schien, sollte man letztlich doch nicht »über b.s. schreiben« dürfen. Während Vita in Deutschland war, wurde Quell der Einsamkeit verboten. Leonard Woolf und E.M. Forster begannen, Unterschriften zu sammeln, um gegen das Verbot zu protestieren — »nicht die deine«, schrieb Virginia an Vita, »denn deine Neigungen sind allzu gut bekannt.« Vita antwortete ihr aus Potsdam, während Ben und Nigel im See schwammen; »Über Quell der Einsamkeit bin ich sehr empört. Nicht aufgrund meiner, wie du sie nennst, Neigungen; nicht, weil ich den Roman für ein gutes Buch halte; sondern wirklich aus prinzipiellen Gründen ... Persönlich möchte ich meine Nationalität gern verleugnen, als eine Geste; aber ich möchte keine Deutsche werden, wenn ich auch gestern abend eine Revue besuchte, in der zwei hinreißende junge Frauen ein freizügiges lesbisches Lied sangen.«[1]
Später im Jahr, am 1. November, nahm Vita an einem Treffen im Atelier des Architekten Glough Wiliams-Ellis teil, auf dem über die Verteidigung des Buches diskutiert wurde. Laut Virginia sprach George Bernard Shaw sehr amüsant; ansonsten war die Gesellschaft »eine schäbige Bande«, in der ihr Vita erschien »wie eine Lampe oder eine Fackel inmitten all dieser Kleinbürger; ein Tribut an die gute Erziehung der Sackvilles. denn, unbesorgt um ihre Kleidung, erscheint sie zwischen ihnen... wie ein Laternenpfahl, gerade und leuchtend.«[2]
In der Verhandlung im November befand Sir Charles Biron das Buch sei obszön. »Ich hoffe, sie legen Berufung ein«, schrieb Vita. »Ich hoffe, daß es einen Aufstand gibt.« Radclyffe Hall legte Berufung ein; Vita ging zur Verhandlung, »aber es war sehr öde so daß ich wegging und Einkäufe machte« und zum Tee zu Mary Hutchinson ging. Die Berufung wurde abgewiesen. (* In der Berufungsverhandlung sagte der Generalstaatsanwalt; Mag auch das Buch zu 99% einwandfrei sei, so kann doch eine einzige Stelle sein Verbot als obszönes Werk rechtfertigen. - [Anm. d. Übers.]) Später schrieb Radclyffe Hall, die Vita im Gerichtssaal erkannt hatte, an Vita! c/o Mrs. Leonard Woolf. Tavistoek Square 52 und beklagte sich über die Art, in der man ihren Fall verhandelt habe — und deutlicher, über die gewaltigen Unkosten, die ihr entstanden seien.
Vorher hatten Vita und Virginia ihren viel diskutierten und lange geplanten gemeinsamen Urlaub gemacht. Mitte September war Vita aus Deutschland zurückgekehrt — »Lilium auratum blüht noch« — und hatte Ben, den »armen, kleinen Jungen«, nach Eton gebracht, wo er mit dem Besuch der Public School begann. Am 24. September brachen sie und Virginia für sechs Tage nach Frankreich auf.
Virginia, die sich nach dieser Reise so sehr gesehnt hatte, war ängstlich. Im Gegensatz zu Vita war sie fast nie für länger als eine Nacht von ihrem Mann getrennt gewesen. Sie bekannte in ihrem Tagebuch, die Vorstellung, eine Woche lang mit Vita allein zu sein, »beunruhige« sie; sie könnten »einander durchschauen«.
Vita schrieb fünf Seiten von einem unveröffentlichten »Tagebuch einer Reise nach Frankreich mit Virginia Woolf im Jahr 1928«. Es ist unvollendet und ziemlich banal. Es vermittelt im wesentlichen den Eindruck, daß Virginia gereizt war, weil sie nichts von Leonard hörte, und Vita sich Sorgen machte, Virginia könne sich zu sehr anstrengen. Oberflächlich betrachtet, war es eine bescheidene, unspektakuläre, kleine Reise - sie kehrten sogar einen Tag früher als geplant nach Hause zurück. Mehr hätte Virginia bei ihrer Konstitution nicht bewältigen können. Ihren ersten Abend verbrachten sie in Paris, tranken Kaffee in der Brasserie Lutétia in der Rue de Sèvres und schrieben auf den herausgerissenen Vorsatzblättern ihrer Bücher an ihre Ehemänner. Virginia gestand Vita, »sie und Leonard hätten am Morgen einen kleinen, plötzlichen Streit über ihre gemeinsame Reise gehabt«.
Am nächsten Tag fuhren sie nach Saulieu, wo ein Jahrmarkt stattfand und Virginia ein grünes Cordjackett für Leonard kaufte. Dann saßen sie in einem Feld und schrieben abermals an ihre Ehemänner. Vita genoß es mehr als Virginia. Vita an Harold; »Liebling, es ist sehr schön; ich fühle mich erheitert und verantwortungslos. Ich kann nach Herzenslust über Leben und Literatur reden - und es amüsiert mich, daß ich plötzlich mit Virginia mitten in Burgund bin.« Virginia an Leonard; »Ich glaube nicht, daß ich es ertragen könnte, länger als eine Woche von dir getrennt zu sein, weil ich dir so vieles zu sagen habe, was ich Vita nicht sagen kann - obwohl sie mitfühlender und intelligenter ist, als du glaubst.« Am Tag darauf, als sie in Vitas Zimmer frühstückten, gerieten sie in »einen hitzigen Streit über Männer und Frauen«. Virginia war »merkwürdigerweise feministisch«, schrieb Vita, die ihrerseits immer bestritt, eine Feministin zu sein, obgleich ihr tägliches Verhalten —im häuslichen Bereich, in ihrer Arbeit, gegenüber der Bürokratie, die darauf bestand, sie »Mrs. Harold Nicolson« zu titulieren - sie Lügen strafte. Virginia, schrieb Vita, mißfalle »an den Männern die Besitzgier und die Liebe zur Herrschaft. Tatsächlich mißfällt ihr die Eigenschaft der Männlichkeit. Sagt, daß Frauen ihre Einbildungskraft durch ihre Anmut und Lebenskunst stimulieren.«
Gleichwohl haßte Virginia das Wort »Feministin«, von dem sie in Drei Guineen sagt, es sei »ein bösartiges und verderbtes Wort, das zu seiner Zeit viel Unheil angerichtet hat«. Diese Zeit, hoffte sie, sei vorüber und Männer und Frauen würden gemeinsam gegen die Tyrannei kämpfen. Gleichwohl blieb der »patriarchalische Zustand« ihr Hauptgegner. Vita lehnte das Etikett »Feministin« aus demselben Grund ab, doch mit Sicherheit verwarf sie nie die »Männlichkeit«, die ein zu starker und wertvoller Bestandteil ihrer eigenen Veranlagung war, als daß sie das hätte wünschen können. In Erloschenes Feuer stellte Vita Feminismus auf eine vollkommen negative Weise dar — indem sie das hektische, klaustrophobische, durchtriebene Ritual, das eine Braut vor ihrer Hochzeit umgibt, beschrieb, das Ritual, mit dem man sich um die Braut sorgt, damit sie ihrerseits später »einen Mann umsorgt«.
In Avallon erwarteten Vita Briefe von Harold; Virginia war aufgeregt, weil keine Nachricht von Leonard da war, und schließlich sandte sie ihm ein Telegramm. Virginias Einstellung zur männlichen Vorherrschaft, welche sie so beredt verdammte, erwies sich in der Praxis als überaus fragwürdig.
In dieser Nacht tobte ein heftiges Gewitter. Vita ging in Virginias Zimmer, weil sie dachte, Virginia werde sich womöglich furchten; »Wir sprachen eine Stunde lang über Wissenschaft und Religion — und über das höchste Prinzip — und dann, als das Gewitter vorüber war, verließ ich sie und ging wieder schlafen.« Fünf Jahre später sollte sie Virginia fragen, ob sie sich an diese bedeutungsvolle Nacht erinnere — »als ich durch den dunklen Flur in dein Zimmer kam und wir dalagen und darüber sprachen, ob wir uns fürchteten oder nicht? Das ist die richtige Gelegenheit, bei der die Dinge, die ich dir sagen will — und nur dir — gesagt werden sollten.«[3] Nach Virginias Tod schrieb Vita, in jener Nacht seien durch nackte Angst in Virginia »die Quellen spirituellen Entsetzens«[4] freigelegt worden. Es wirkte bis zum nächsten Tag nach, als sie Vézelay erreichten und beide wieder nach Hause schrieben. Vita erzählte Harold, welche Beschützerinstinkte Virginia in ihr wachrufe; »Die Kombination dieses glänzenden Verstandes und dieses zerbrechlichen Körpers ist sehr liebenswert - so unabhängig in allen geistigen, so abhängig ist sie in allen praktischen Dingen.«
Ihre letzte Nacht, verbrachten sie in Offranville in der Normandie im Haus von Ethel Sands und Nan Hudson; Virginia las ihren unschicklichen Bericht über »Old Bloomsbury« vor, und die »beiden alten Jungfrauen entrüsteten sich mit entsetztem Entzücken«. Vita hatte das Gefühl, daß sie Virginia zum ersten Mal verstand; »Sie hat ein liebes und kindliches Wesen, von dem ihr Intellekt völlig getrennt ist. Aber das würde natürlich niemand glauben, außer Leonard und Vanessa.«
Rückblickend erschien die Ferienreise Virginias als eine Leistung und als ein großer Erfolg; so sah es auch Vita, die an Virginia schrieb; »Ich war sehr glücklich. Du auch?... Jedenfalls bin ich als ein anderer Mensch zurückgekehrt. Diesen ganzen Sommer über war ich nervös wie eine Katze - aufspringend, träumend, grübelnd -jetzt bin ich wieder ganz kraftvoll und entschlossen und erneut gierig nach Leben. Und alles verdanke ich dir glaube ich... Ich segne dich für all das, was du mir gewesen bist.«***420.18.[5]***
Vita wurde sich von neuem der Bedeutung ihrer Freundschaft mit Virginia bewußt; bald nach ihrer Rückkehr las sie Virginias an sie gerichtete Briefe durch und ließ sie, die intimsten Passagen ausgenommen, von Boski tippen. Dieses Bewußtsein stand in engem Zusammenhang mit der Veröffentlichung von Orlando.
Untereinander hatten sie gescherzt, ihre Freundschaft könne womöglich für immer zerbrechen, wenn Vita Orlando schließlich lesen würde. Sie las das Buch nicht im Manuskript; eine Woche nach ihrer Rückkehr aus Burgund. am 11. Oktober, traf mit der Morgenpost ein Vorausexemplar in Long Barn ein. Vita las den ganzen Tag mit zunehmender Erregung und Ungläubigkeit und nahm sich kaum Zeit, an Harold zu schreiben, weil sie »in einem solchen Aufruhr der Erregung und Verwirrung [sei], daß ich kaum weiß, wo (oder wer!!) ich bin... Teile meiner selbst bringt es zum Lachen, andere zum Weinen; als Ganzes verblüfft und verwundert es mich... In Nicholas Greene wirst du Gosse wiedererkennen und in der Großfürstin Henriette Lord Lascelles! Nun, ich weiß nicht — mir scheint es ein Buch zu sein, das in der englischen Literatur einzigartig ist... Ich fühle mich unendlich geehrt, der Pflock zu sein, an dem es aufgehängt ist, und sehr demütig. Oh, ich möchte wissen, was Hadji davon hält!«
An diesem Abend schrieb sie nach beendeter Lektüre einen langen euphorischen, ehrfürchtigen Brief an Virginia. Darin spricht sie davon, Virginia habe eine neue Form von Narzißmus erfunden — denn Vita stellte fest, sie sei »in Orlando verliebt. Das ist eine Komplikation, die ich nicht vorausgesehen hatte.«[6]
In Wahrheit war Vitas indirekter Narzißmus — die Faszination, welche die Widerspiegelung ihrer maskulinen Seite für sie hatte — nicht neu. Aber Virginia hatte nicht bloß Vita »neu erfunden«; sie hatte ihr eigenes Kunstwerk geschaffen, indem sie Vitas Mythen und Phantasien über sich selbst und Knole mit mehr Geist und Zauber verewigte, als Vita das hätte tun können. Virginia Woolfs Triumph mit Orlando bestand darin, daß sie auf der »öffentlichen« Ebene Erfolg hatte und dabei doch ein ganz intimes Buch geschrieben hatte — »den längsten und bezauberndsten Liebesbrief in der Literatur«, wie Nigel Nicolson gesagt hat.[7]
Dort entsteht Knole wieder, ungenannt, doch mit seinen heraldischen Leoparden, großen Steinmauern, den Delphinen und Meerjungfrauen auf dem Fries des Ballsaals, dem Hirschpark. Gobelins, Silbergeschirr und dem Karren, der vom Park Holz zum Haus bringt. Es gibt Hinweise, die jeder, der Vita gut kannte, verstand, und andere — wie »der Tümmler in einer Fischhandlung« - über die nur Vita und Virginia Bescheid wußten.
Orlando ist eine Phantasmagorie von Bildern und Ereignissen und Phantasien aus Vitas Leben und Persönlichkeit, die sich über drei Jahrhunderte erstreckt. Orlando ist ein junger Mann aus großem Haus zur Zeit von Elizabeth I, der mit flotter jugendlicher Feder Dramen schreibt, wie Vita es einst getan hatte. Die herrliche russische Prinzessin, in die sich Orlando verliebt, als beide auf der zugefrorenen Themse schlittschuhlaufen und die ihn betrügt, ist Violet Trefusis. »Jour de ma vie«. Ihr verschlüsseltes Zeichen für Flucht, ist das Sackvillsche Motto. The Land wird zu »Die Eiche«, Orlandos opus magnum. Lord Lascelles tritt als Transvestit auf und macht als Großfürstin eine groteske Figur. Orlando — die Jahrhunderte fliegen vorbei — wird unter König Charles Botschafter in Konstantinopel; er heiratet Rosina Pepita (»Tänzerin, Vater unbekannt«) und fällt in tiefe Bewußtlosigkeit — aus der er nicht als der junge Mann, der er war, sondern als eine schöne junge Frau erwacht, die mit ihrem Saluki-Hund ins England des 18. Jahrhunderts zurückkehrt, zu Canute, ihrem Elchhund, Pippin, dem Spaniel, und ihrem großen Haus.
»So verschieden die Geschlechter auch sind«, schrieb Virginia hier, »sie mischen sich. In jedem Menschen vollzieht sich ein Schwanken zwischen dem einen Geschlecht und dem anderen, und oft bewahrt nur die Kleidung das männliche oder weibliche Aussehen.« Orlando hat sich gleichermaßen der Liebe beider Geschlechter erfreut. Doch nun ist sie eine Frau, die sich im Zeitalter Königin Victorias in den Seefahrer Marmaduke Bonthrop Shelmerdine verliebt, der für Harald steht; und in ihrer entzückten Liebe zueinander entdecken sie;
»Du bist ein Weib. Shel!« rief sie.
»Du bist ein Mann, Orlando!« rief er.
Und doch dachte sie als sie ihn liebte; »>Ich bin ein Weib... bin endlich ein wirkliches Weib.< Und sie dankte Bonthrop aus tiefstem Herzen dafür, ihr diesen seltenen und unerwarteten Genuß verschafft zu haben.« Und Orlando bringt einen Sohn zur Welt. Diese kurze bizarre Passage umreißt vielleicht, so getreu wie irgend möglich, die Art und Weise, in der Vitas und Harolds Wesensarten miteinander in Verbindung standen.
»Bist du ganz gewiß, nicht ein Mann zu sein?« fragte er sie dann wohl besorgt, und sie antwortete wie ein Echo; »Ist es möglich, daß du nicht ein Weib bist?« Und dann mußten sie wohl ohne weitere Umstände die Probe darauf machen. Denn ein jedes war immer so überrascht von der Schnelligkeit des Mitgefühls und Verständnisses des anderen, und es war für ein jedes von ihnen eine solche Offenbarung, daß eine Frau so duldsam sein konnte und doch so unumwunden in ihrem Reden wie ein Mann und ein Mann so sonderbar und doch so feinfühlig wie eine Frau.
Orlando gibt, auch Vitas Zweifeln Ausdruck (und denen anderer), wie denn eine Verbindung wie die ihre zu definieren sei. »Gewiß, sie war verheiratet; aber wenn der Ehemann immerzu ums Kap Horn segelte, war das Verheiratetsein? Wenn man ihn gern hatte, war das Verheiratetsein? Wenn man doch auch andere Menschen gern hatte, war das Verheiratetsein? Und schließlich, wenn man noch immer und mehr als alles andere auf der Welt zu dichten wünschte, war das Verheiratetsein?«
Das Buch endet am »heutigen Tag« — am 11. Oktober 1928, dem Tag der Veröffentlichung, dem nämlichen Tag, an dem Vita es las und mit Orlando eine Königin in dem großen Haus willkommen hieß, wie man einst Königin Elizabeth auf Knole willkommen geheißen hatte. Orlando sagt zu ihr; »Der tote Lord, mein Vater, wird Euch hineingeleiten.«
Orlando flößte Vita sogar Trost über den Verlust ihres Vaters ein. Denn im Buch gab Virginia Vita zurück an Knole und Knole zurück an Vita, für immer. »Ich habe das unbestimmte Gefühl, daß Knole um Orlando weiß und sich freut«, schrieb Vita an Harold und unterzeichnete mit Orlando«.
Im letzten Abschnitt entsteigt Harold, in der Gestalt des Marmaduke Bonthrop Shelmerdine, einem Flugzeug; über seinem Kopf kreist ein wilder Vogel. »Sie ist es!« rief Orlando. >Die Wildgans.<« Das verwirrte Vita; »Je mehr ich darüber nachsinne, desto schwächer erscheint mir der Schluß.« Harold vertraute sie an; »Ich kann einfach nicht begreifen, was sie damit meinte. Wofür steht die Wildgans? Ruhm? Liebe? Tod? Heirat? Offensichtlich hat ein Mensch mit V.'s Intellekt irgendeine Absicht verfolgt, aber welche? Die Symbolik erschließt sich nicht.«
Vita hatte einen nüchternen Verstand. Virginia Woolf verfolgte, wie man von ihr selbst weiß, ohne Zweifel immer eine Absicht, wenn sie sich eines Mittels bediente, das anderen Menschen als »Symbolik« erschien. Die Wildgans taucht indessen schon früher im Buch auf; sie kreist über Orlandos Kopf, als diese in ihr großes Haus zurückfährt. Wenn sie denn gedeutet werden soll, so könnte man in ihr vielleicht das zweite namenlose Etwas sehen, das Vita, nach Knole, am meisten ersehnte. Nicht Ruhm oder Liebe, sondern Schöpferkraft oder Größe — die wahre Kunst des Ausdrucks und Fühlens, die ihr nie ganz gelang — jenes Element, das, wie Virginia ahnte, Vitas Schreiben fehlte. In Orlando wollte Virginia, voller Zärtlichkeit und Spott, Vita alles schenken. Vitas anderer Einwand gegen Orlando, den sie nur Harold anvertraute (»und dies mußt du ganz für dich behalten und darfst weder Eddy noch jemand anderem davon erzählen«), war, die »allgemeine Schlußfolgerung« sei »überhaupt nicht überzeugend«. Dadurch, daß Virginia Orlando heiraten und ein Kind bekommen ließ, habe sie den Ausgang in Unordnung gebracht. »Heirat und Mutterschaft würden Orlando als Figur entweder verändern oder zerstören; sie tun keines von beiden.« Vita selbst war durch Heirat und Mutterschaft, verändert worden; sie war enttäuscht, daß Orlando, die Inkarnation ihres unversehrten Ich, nicht auf sich selbst gestellt blieb. Aber Orlando war Virginias Buch; und Vita als ein »wirkliches Weib«, ihren Orlando-Eigenschaften zum Trotz, war wichtig für die jungfräuliche, kinderlose Virginia.
Man machte keinen Versuch, das Vorbild für Orlando zu verheimlichen, eher im Gegenteil. Drei der acht Photographien der Erstausgabe zeigen Vita. Das eine, ein angebliches Lely-Porträt, »in Draperien aus rosa Satin«, das Virginia so entzückt hatte, ist untertitelt »Orlando bei ihrer Rückkehr nach England«. Auf dem von Lenare aufgenommenen Photo — »Orlando um das Jahr 1840« — posiert Vita in einem karierten Wollrock, einem orientalischen Schal und einem Gartenhut und sieht nicht im mindesten nach 1840 aus; auf dem Photo »Orlando heute« steht Vita mit ihren zwei Hunden in hohem Gras neben einem Gatter mit fünf Stangen und ist alltäglich in Rock, Bluse und Weste gekleidet, wiederum unverwechselbar sie selbst.
Raymond Mortimer, der Orlando im Bookman besprach, schrieb, es sei »kein Geheimnis, daß Orlando ein Porträt von Mrs. Harold Nicolson ist« die unter ihrem Mädchennamen V. Sackville-West schreibt«. Amerikanische Zeitungen griffen das sofort auf. Die Londoner Daily Mail überschrieb ihre Rezension; »Eine phantastische Biographie; Mrs. H. Nicolson und Orlando. 300 Jahre als Mann und Frau.« Ende November faßte der Daily Chronicle die Wirkung von Orlando zusammen; »In Bloomsbury ist das Buch ein Spaß, in Mayfair eine Notwendigkeit und in Amerika ein Klassiker.«
Vita stellte aus den Meldungen ein Sammelalbum zusammen, als handele es sich bei Orlando um ihr eigenes Buch. Für Virginias Karriere bedeutete es einen Wendepunkt. Leonard Woolf hat geschrieben, daß »die Hogarth Press in den ersten sechs Monaten 8104 Exemplare verkaufte, mehr als das Doppelte von Die Fahrt zum Leuchtturm« und daß »Harcourt, Brace in den ersten sechs Monaten 13031 Exemplare verkaufte... Das hatte sofort Auswirkungen auf Virginias Einnahmen als Schriftstellerin.«[8]
Harold erkannte den Kernpunkt von Orlando und was das Buch für Vita bedeutete; er schrieb ihr, es sei »ein Buch, in dem du und Knole für immer identifiziert seid, ein Buch, das diese Identität bis in die Zeit nach unserem Tod bewahren wird. Das ist ein tiefes Geheimnis, das sich aus diesem Buch vermutlich nur uns beiden erschließt; Virginia dürfte es nicht begriffen haben.« Virginia begriff es. Doch es fiel Harold schwer zu glauben, daß jemand anderer seine »private« Vita kannte. Mary Campbell, die ebenfalls ihre »private« Vita hatte, las Orlando und schrieb aus Frankreich;
»Ich hasse die Vorstellung, daß du, der du selbst gegenüber Menschen, die du am besten kennst, so verschlossen und geheimnisvoll und stolz bist, plötzlich so nackt präsentiert wirst und jedermann über dich lesen kann... Vita. Liebling, für mich bist du in solchem Maße Orlando gewesen, daß mir gar nichts anderes übrigbleibt, als das Buch vollkommen zu verstehen und zu lieben... Ungeachtet des leichten Spotts, der in Virginias Stimme immer mitschwingt, der Analyse etc.. ist Orlando von jemandem geschrieben, der dich offenkundig liebt... Erinnerst du dich noch, wie wir uns ausmalten, du wärest der junge Orlando?«
Es gebe einen wichtigen Aspekt von Vitas Persönlichkeit, der im Buch überhaupt nicht zur Sprache komme, schrieb Mary. »Er wird lediglich durch das Wort »genußsüchtig angedeutet.« Was Mary meinte, war die Tatsache, daß »Orlando zu vorsichtig, zu unerotisch, zu gelassen ist, um dir wirklich zu gleichen. Denn wenn ich dann daran denke, wie er mir erschien, ist er ganz anders als bei Virginia. Ah! ein ganzes Buch über Orlando, ohne ihre tiefe, feurige Sinnlichkeit zu erwähnen — diese sonderbare Mischung aus Feuer und Schwermut, Hitze und Kälte — das kommt mir ein wenig bläßlich vor.«
In diesem Herbst kam Mary kurz nach England zurück, um Vita zu besuchen. »Virginia hat recht, Liebling«, schrieb sie traurig aus Paris auf ihrem Rückweg zu Roy in die Provence. »Ich wünschte, es wäre nicht so, aber nie hast du in der Liebe dich selbst aufgegeben.«
Jemand, der über Orlando entsetzt war, war Vitas Mutter. Sie verunstaltete ihr Exemplar des Buches, entstellte es durch Randbemerkungen, Unterstreichungen und Ausrufungszeichen. Auf das Vorsatzblatt klebte sie ein Zeitungsphoto von Virginia — der sie bislang Respekt entgegengebracht hatte — und schrieb daneben; »Das schreckliche Gesicht einer Verrückten, beseelt von dem erfolgreichen, wahnsinnigen Verlangen, Leute auseinanderzubringen, die einander etwas bedeuten. Ich verabscheue diese Frau, weil sie meine Vita verändert und mir weggenommen hat.« (Vita und B.M. hatten sich seit der Auseinandersetzung wegen der Perlen nicht mehr gesehen.) Bei Harolds Schwester, Gwen, warb sie um Unterstützung; »Gwen fürchtet, daß Harold aus dem Amt entlassen wird, weil er die Veröffentlichung dieses Buches zugelassen hat.«
B.M. schickte jedermann Briefe; Sie schrieb an Mrs. Belloc Lowndes, an die sie sich vor der geplanten Veröffentlichung von Challenge gewandt hatte; an »Mr. Gossip« (Alan Parsons) von der Morning Post und bat ihn, das Buch in seiner Kolumne nicht zu erwähnen; sie schrieb an ihren alten Freund »Garve«, J.L. Garvin, Herausgeber des Observer, und bat ihn, eine Rezension des Buches in seinem Blatt zu unterbinden. In ihrem Brief listete sie Garvin alle zweideutigen sexuellen Anspielungen in Orlando auf und versäumte nicht, die Seitenzahlen anzugeben. Sie zitierte Virginias Formulierung; »Wenn man liebt, streift man die Unterröcke ab«, und bemerkte dazu; »Alles das ist so unanständig und wird in erster Linie auf die Mittelklassen schockierend wirken ... Und der arme Lord Carnock [Harolds Vater, der kurz darauf starb] ist entsetzt, desgleichen seine Gattin und ich selbst; ich habe meine Augen abwenden müssen... Ich habe Jahre hindurch für mich behalten, was Harold und Vita wirklich sind, wie ich leider bekennen muß. Und das Buch macht es jetzt doppelt schlimm und bietet unzüchtigem Klatsch Nahrung.« Garvin gab das Buch zur Rezension an J. C. Squire. Vitas Förderer in ihrer Vor-Bloomsbury-Zeit. Unter der Überschrift »Prose-de-Société« bezeichnete er Orlando als eine »hübsche Bagatelle... Aber ich glaube, daß es selbst in seiner Art nicht erstklassig ist.« Nach seinem Geschmack war es in seiner Konzeption »frivol und unausgewogen«. Er konnte nicht umhin, zu erwähnen, daß Vita als Modell für die Illustrationen Modell gestanden hatte und daß das Buch ihr gewidmet war.
B. M. war mit ihren Bemühungen noch nicht am Ende. Sie setzte das Gerücht in Umlauf, Vita habe das Buch selbst geschrieben; sie scheute die Mühe nicht, in Buchläden Orlando unter Stapeln andrer Bücher zu verstecken. Kurz, sie tat alles, um sicherzustellen, daß der legitime Erfolg von Orlando mehr ein succès de scandale wurde, als er es hätte sein müssen. Sie schrieb auch an Mr. Chute, Bens Lehrer in Eton, um ihm mitzuteilen, Bens Eltern kämen nicht miteinander aus und Ben habe ein unglückliches Familienleben.
Virginia schenkte Vita das prächtig gebundene Manuskript von Orlando; es fand »sogleich seinen Platz unter meinen Besitztümern, die ich am höchsten schätze«. Vita fuhr mit Virginia nach Cambridge, wo diese vor Studentinnen ihren Vortrag über »Frauen und Literatur« hielt — einen von zwei Vorträgen, die später unter dem Titel Ein Zimmer für sich allein veröffentlicht wurden, ein schmales, wundervolles Buch, aus dem sich die ganze Bedeutung ihrer feministisch-humanitären Gefühlswelt erschließen läßt. Darin werden einige der Themen Orlandos variiert; Der Künstler, führt Virginia aus, muß auf gewisse Weise androgyn sein, wenn er groß sein will. Sie sprach auch über Freundschaften zwischen Frauen und deren unerforschtes revolutionäres Potential; Wenn Frauen aufhören, um die Gunst der Männer zu rivalisieren, und anfangen, einander zu mögen, eröffnet sich eine neue Welt.
Auch Vita erschloß sich eine neue Welt. Am 6. Dezember hielt sie vor dem National Trust eine Rede; »Ich spreche gern in der Öffentlichkeit... es erregt mich.« Die größere Öffentlichkeit, die sich durch das neue Medium des Rundfunks herstellte, wurde ihr in zunehmendem Maße eröffnet. Es hatte in diesem Jahr mit einer Reihe von Vorträgen über moderne Dichtung begonnen; für jeden erhielt sie fünfzehn Guineen — für 1928 ein stattliches Honorar. Sie zeigte für den Rundfunk ein großes Talent; doch der Weg zum Erfolg wurde ihr durch eine bedeutsame neue Freundschaft geebnet,
Kapitel 19
Immer noch traf Vita Margaret Goldsmith Voigt regelmäßig, und die beiden korrespondierten täglich; Margaret, noch immer verliebt, stellte keine Forderungen. »Du schuldest mir nichts, bis auf das, was sich von selbst gibt«, schrieb sie Vita am 20. November 1928. »Mein Liebling, verstehst du? Es kann nicht die Rede davon sein, daß du mir emotionale Unterhaltszahlungen leistest.«
Vitas große neue Freundin wurde Hilda Matheson, Leiterin der Abteilung Unterhaltung bei der BBC. Hilda war Schottin, vier Jahre älter als Vita. hübsch, blauäugig, die Tochter eines presbyterianischen Geistlichen. Sie hatte als »Heim-Studentin« in Oxford Geschichte studiert und während des Ersten Weltkrieges in Rom für den britischen Nachrichtendienst gearbeitet, bevor sie zur BBC kam, war sie Nancy Astors politische Sekretärin gewesen. Hilda war eine Persönlichkeit von großen Fähigkeiten und ausgeprägter Vornehmheit, doch ihre vorherrschende Charaktereigenschaft war Ergebenheit; sie machte im Hintergrund die Arbeit, für die andere die Lorbeeren ernteten. Den jüngeren Rundfunkleuten in den ersten BBC-Studios in Savoy Hill erschien sie als alter Drachen. Vita schrieb nach Hildas Tod; »Bei ihr mußte ich immer an ein stämmiges Pony denken«[1]; ihr Kosename für Hilda war »Stoker«.
Sie und Vita hatten sich Anfang des Jahres getroffen, um über die Vortragsreihe über Lyrik zu sprechen. Im Oktober schrieb Hilda abermals an die »Liebe Mrs. Nicolson« und erwähnte taktvoll, wie gut ihr Zwölf Tage in den Bakhtiari-Bergen gefallen hätte — deren Erscheinen von Orlando ein wenig überschattet worden war. Anfang Dezember kam sie mit Hugh Walpole nach Long Barn, um über eine Diskussion zu sprechen, die Hugh und Vita im Rundfunk über das Thema »Die moderne Frau« führen wollten. Nach diesem Besuch schrieb Vita über Hilda an Harold; »Ich halte sie fast für einen Engel der Selbstlosigkeit — oder, besser, des Un-Egoismus — und sie liebt alle ländlichen Dinge, was immer mein Herz gewinnt. Sie ist eine wirkliche Freundin geworden.« Harold. erfahren genug, zwischen den Zeiten zu lesen, schrieb am 13. Dezember; »Hadji ist wegen Miss Mathison [sic!] ziemlich besorgt.«
Am 10. Dezember fand die Diskussion zwischen Hugh Walpole und Vita über die moderne Frau statt. In der Mitte bekam Vita Lampenfieber; »Da war Hildas hübsches, aufmunterndes Lächeln; aber da war auch das Mikrophon.« Hugh sprang für sie ein, und niemand schien etwas zu bemerken. Später schüttete sie Harold ihr Herz aus und vertraute ihm alles an, was sie gern in das Mikrophon gesagt hätte; »Frauen können nicht Karriere und normales Leben verbinden... Sie lieben zu sehr; sie lassen zu, daß die Liebe alles andere überlagert. Männer tun das nicht. Oder, anders gesagt, die Männer sorgen dafür, daß Menschen, die lieben, sich unterwerfen.« Sie selbst, sagte sie, liebe ihn zu sehr. Er sei ihr wichtiger als alles andere.
»Aber Liebling, ich bin kein guter Ehepartner für dich« — schrieb sie und vermied das Wort Ehefrau — »Männer und Frauen, die einander heiraten, sollten jeweils positiv und negativ sein — sich ergänzende Elemente. Aber wenn zwei positive Menschen wie wir heiraten, wird daraus ein Kompromiß, der für keinen von beiden wirklich befriedigend ist. Aber ich liebe dich, ich kann es mir nie abgewöhnen, dich zu lieben; was also ist zu tun?«
Diese Gedanken fanden erst zwei Jahre später öffentlich Ausdruck, als sie begann, Erloschenes Feuer zu schreiben. In diesem Roman, den sie über einen Menschen schrieb, der gemäß seiner eigenen Überzeugung lebt, heißt es; »Die meisten Menschen machen den Fehler, sich in ihrem Leben zu verzetteln, womit sie niemandem einen Gefallen tun, am wenigsten sich selbst. Der Kompromiß ist der wahre Ausdruck der Verneinung.« Doch der Kompromiß machte das Zusammenleben der Nicolsons möglich. »Ich kann es mir niemals abgewöhnen, dich zu lieben«, schrieb ihm Vita; in Erloschenes Feuer bezeichnet sie die Liebe ihrer Heldin zu ihrem Mann »als eine gerade schwarze Linie... die quer durch ihr Leben lief. Sie hatte ihr weh getan, sie hatte ihr Schaden zugefügt und sie klein gemacht, aber es war ihr unmöglich gewesen, davon loszukommen.«
Männer, hatte sie Harold geschrieben, sorgten dafür, »daß Menschen, die lieben, sich unterwerfen«; in Erloschenes Feuer heißt es von dem Ehemann, »er würde sein freies, abwechslungsreiches und männliches Leben fortsetzen, ohne daß ein Ring an seinem Finger oder ein anderer Name die in seinem Zustand eingetretene Änderung anzeigte. Wenn er sich aber getrieben fühlte, nach Hause zu kommen, mußte sie dasein, mußte gleich ihr Buch, ihre Zeitung oder ihren Brief beiseite legen... Man konnte in einer Welt voll so fester, tiefeingewurzelter Begriffe nicht annehmen, daß sie gleiche Rechte hatte.«
Vita beendete den Brief an Harold — in dem im Keim so viel von Erloschenes Feuer angelegt ist — indem sie wiederholte, daß Harold sie nie hätte heiraten dürfen. »Ich empfinde meine Unzulänglichkeit aufs bitterste. Wozu tauge ich für dich? Zu nichts. Welch ein Durcheinander.«
Zu diesem Durcheinander gehörte nun auch Hilda Matheson. Harolds Warnruf kam zu spät. Nach der frustrierenden Radio-Diskussion hatte Vita in Hildas Haus, Sumner Place 31 in South Kensington, übernachtet...Am Morgen fühlte Hilda sich nicht wohl und ging nicht zum Dienst; ihre Liebesaffäre begann.
Für berufstätige Frauen wie Hilda Matheson, die einem kultivierten, aber weltfremden Milieu entstammten und die von ihren bescheidenen Gehältern lebten, war eine reiche, berühmte, begabte Frau wie Vita Sackville-West eine aufregende und glanzvolle Erscheinung. Intim mit ihr befreundet zu sein, war nicht nur berauschend, sondern schmeichelhaft, wenn nicht gar märchenhaft. Vita ihrerseits, der das Wissen um den Eindruck, den sie machte, Selbstbestätigung verschaffte, erwiderte die Liebe leidenschaftlich.
»Wenn irgend etwas mich davor bewahren kann, die Art von verknöcherter Person zu werden, an die ich mit Schrecken denke, wirst du es sein und das, was geschieht«, schrieb Hilda an dem Tag an Vita, an dem diese ihren langen, oben zitierten Brief an Harold schrieb. Im ganzen genommen fühlte sich Hilda in Vitas Kreis unbehaglich — besonders »wenn die Atmosphäre stark aufgeladen ist, weil Dottie zugegen ist — fürchte ich mich, dich anzuschauen«. (Auch Virginia äußerte sich in diesem Dezember über Dottie und ihre »nörgelnde, anstrengende Art«; Vita schien Dottie »übertrieben sanft und freundlich« zu behandeln. Margaret Voigt hätte gesagt. Vita zahle ihr Unterhalt.)
Vita war leidenschaftlich in Hilda verliebt — auf ihre jähe, unkontrollierte, besitzergreifende Art. Bis Weihnachten hatte sie Hilda bereits fünfzig Briefe geschrieben, die sich, wie ihren Freundschaften und ihrer Arbeit, auch der Liebe vollständig hingab; sie schrieb nach Berlin an Vita (die dort mit den Jungen bei Harold das Weihnachtsfest verbrachte);
»Liebste — alles, was du mir geschenkt hast — auch die körperliche Seite davon — scheint mir Leben in seiner allerhöchsten Ausprägung zu sein — es vermischt sich für mich mit allen schicklichen Gedanken oder Gefühlen, die ich habe oder je hatte — im Grunde mit allem, was wahr und schön ist und in gutem Ruf steht. Und doch denke ich, daß einige Leute es als schändlich und unmoralisch ansehen könnten.«
Hilda hatte sich niemals so tief mit einem Menschen eingelassen. Sie hatte keine Affären mit Männern gehabt — 1928 waren Frauen wie sie oft zu klug, zu seriös oder zu ehrgeizig für die berufstätigen Männer der Mittelklasse, die sie sonst vielleicht geheiratet hätten - viele echte Freundschaften mit Frauen und eine, wie sie es nannte, kurze körperliche Beziehung zu einer weiteren Frau; doch die lag mehr als drei Jahre zurück.
Hilda schrieb Vita so häufig, daß Vita, in Verlegenheit gebracht, die Post in die Brückenallee abfangen mußte. Doch Hilda schickte ihre Briefe oft »Expreß«, so daß sie zu unpassenden Zeiten, zum Beispiel während des Dinners, zugestellt wurden. Vita mußte Hilda ermahnen, Diskretion zu wahren; Hilda war indes so stolz und glücklich, daß sie es der ganzen Welt erzählen wollte. Sie teilte das Haus in Sumner Place mit zwei anderen alleinlebenden Frauen, der Historikerin Marjorie Graves und mit Dorothy Spencer, die »eine lästerliche Zunge hat, angereichert durch eine klassische Erziehung; und deren Vergangenheit (wie ich mutmaße) ein Kapitel für sich ist«. Beide wußten, was geschehen war. Vita bat Hilda, vorsichtig zu sein — Harolds, der Jungen und der öffentlichen Meinung wegen. Widerstrebend akzeptierte sie Vitas Argumente.
»Aber ich sehe ein, daß du recht hast — daß die homosexuelle Liebe an sich schwieriger ist und viel mehr Klugheit und Vernunft erfordert. Vielleicht ist das der Grund, warum sie bei Männern gewöhnlich so schlecht zu funktionieren scheint — vielleicht behandeln sie solche Dinge weniger vernünftig... Für mich ist es sehr natürlich und unumgänglich, dich so zu lieben, wie ich es tue — auf jede Weise - aber es wäre falsch, wenn ich's nicht täte.«
Eine von Hildas Freundinnen war Janet Vaughan. (Die Wissenschaftlerin. Tochter von Virginia Woolfs erster Liebe« Madge Symons — Vorbild für die »Sally« in Mrs. Dalloway — wurde später Dame Janet Vaughan und Rektorin des Somerville College in Oxford.) Hilda erzählte Janet vier Stunden lang von Vita, und Janet war »sehr vernünftig und einfühlsam... Von ihr erfuhr ich, daß nicht nur Bloomsbury über dich und mich spricht — was sie gewiß gern tun — sondern auch die BBC.« Das war das letzte, was Vita zu hören wünschte. Sie war nie im geringsten darauf aus gewesen, öffentlich als Lesbierin bekannt zu werden. Sie war nicht nur in herkömmlicher Weise auf ihren—und Harolds— »guten Ruf« bedacht, sondern die Geheimhaltung ihrer Affären vermittelte ihr den Reiz des Abenteuers, den sie brauchte.
Hilda ihrerseits entdeckte, daß »gewisse Arten von Männern alle Freundschaften zwischen Frauen mit Entsetzen und Mißtrauen betrachten und zu dem Schluß kommen, sie seien alle von der Art, die sie als unmoralisch ansehen — weil offenbar Tausende von Beziehungen — wie solche, die ich in der Vergangenheit hatte — vielleicht in Ursprung oder Anlage homosexuell sind, ohne daß sie jemals vollständigen Ausdruck finden oder jene Gestalt annehmen, welche diesen verschrobenen Gentlemen verdächtig erscheint«. Sie schrieb sehr scharfsinnig über Vitas Charakter und Probleme; »Ich vermute, es ist... ein experimentierendes Interesse und ein Interesse an dem Spiel, Tricks anzuwenden und zu warten, was passiert, das dich in die, wie du sagst, Klemme bringt — besonders wenn du dich ein wenig langweilst. Ich beklage mich über keine deiner Neigungen, mein Engel. Ich nehme dich, wie du bist.« Menschen, die so kompliziert und gefühlsstark waren wie Vita, mußten Betätigungsfelder finden, meinte Hilda, »und wenn sie keines haben, das sie wollen oder mögen, müssen sie sich mit Schatten oder Surrogaten oder Ersatzhandlungen begnügen. Ist es nicht so?«
Es war in der Tat so. Nicht immer zufriedenstellend, wie Hilda mutmaßte, »aber besser als ein Vakuum«.
Zurück zum Problem der Geheimhaltung; »Man ist ganz zerrissen zwischen einem Haß auf die Verstellung, einem Groll, daß es überhaupt Anlaß zur Verstellung gibt, und dem Instinkt, sein schönes Geheimnis vor dem lüsternen Blick der Leute zu verbergen, die Böses denken. Ich würde Orlando mit Freuden heiraten — sei nicht albern — weißt du eigentlich, daß ich über alle Anlagen zur Hausfrau verfüge?« Diese befriedigte sie. Indem sie Long Barn an den Wochenenden mit Beschlag belegte, wenn Vita in Berlin war. Von dort schrieb sie am 18. Januar 1929, vermutlich als Antwort auf eine weniger romantische Bemerkung Vitas; »Ich bin nicht damit einverstanden, daß die körperliche Seite der einzige zauberhafte Teil der Liebe sei — ich glaube nicht, daß das bei uns so ist.«
Am Tag, bevor sie diesen Brief schrieb, kamen Virginia und Leonard Woolf in Berlin an, um die Nicolsons zu besuchen, einen Tag später gefolgt von Duncan Grant, Vanessa Bell und ihrem Sohn Quentin. Die Gruppe wohnte im Hotel »Prinz Albrecht«. Vita hatte sich nach Virginias Besuch gesehnt — »weil du dir wirklich nicht vorstellen kannst, wie elend ich mich hier fühle«, gleichwohl hatte sie mit großem Vergnügen den »Sodomiten-Ball« besucht; viele von ihnen waren angezogen wie Frauen, doch ich bilde mir ein, daß ich das einzige echte Fabrikat im Raum war... es gibt in Berlin sicherlich sehr merkwürdige Dinge zu sehen, und ich glaube, daß Potto [Virginia] Spaß daran haben wird.«[2]
Aber dieser Besuch machte niemandem sehr viel Spaß. Harold war sehr beschäftigt, sowohl, was seine Arbeit, als auch, was seinen eigenen Freundeskreis betraf, und er war verärgert, als die Woolfs sich sträubten, an zwei Mittagessen teilzunehmen, die er für sie arrangiert hatte. Die Gruppe war zu groß und in sich zu verschieden, als daß es viele Dinge hätte geben können, die ihnen allen zusammen Spaß machten (auch Eddy war in Berlin); Vanessa sah nicht ein, warum sie alle überhaupt soviel Zeit mit den Nicolsons verbringen sollten.
Seine Folgen überschatteten diesen Besuch zusätzlich. Virginia reagierte übertrieben auf ein Schlafmittel, das ihr Vanessa während der Kanalüberquerung verabreicht hatte, und war viele Wochen krank. Vita schrieb an sie, daß »deine kleinen zittrigen Bleistiftbriefe mir das Herz zerreißen ... Berlin hat dir das angetan — der Dämon.« Sie hatte inzwischen den Dramatiker Pirandello kennengelernt, der sie mit einer rothaarigen Photographin, Frau Riess, bekannt machte; sie zeigte Vita »Photographien von Josephine Baker, nackt bis zur Taille — sehr schön — und andere anstößige Photographien, die ich nicht beschreiben möchte... Sie verursachte mir eine ziemliche Gänsehaut.«
Verärgert über Virginias fortgesetzte Kränklichkeit, schrieb sie; »Weißt du, was es, wie ich glaube, war abgesehen von der Grippe? unterdrückte Geilheit. Basta. Erinnerst du dich an deine Eingeständnisse, als der Scheinwerfer sich drehte?« (Während des Besuches waren Vita und Virginia zusammen auf dem Funkturm gewesen; »V. höchst indiskret«, hatte Vita in ihr Tagebuch geschrieben.) Und sie bat Virginia, dafür zu sorgen, daß Leonard mit der nächsten Sendung ihr nicht einen Roman mit dem Titel Belated Adventure nach Berlin schicke, den sie für die Nation besprechen sollte — »weil es darin teilweise um mich geht und ich es unmöglich machen kann«.[3] (Belated Adventure, Margaret Goldsmiths zweiter Roman, enthielt ein paar Seitenhiebe gegen die »Salonlöwen« von Bloomsbury und eine Charakterstudie von Vita »als Hester Drummond«.)
Bevor Vita nach England zurückkehrte, entflohen sie und Harold für ein paar Tage nach Italien. Es war bitterkalt in Rapallo, doch »die Bummler waren übersprudelnd glücklich«, schrieb Vita an Virginia. Hilda Matheson wurde instruiert, die Umschläge ihrer Briefe nach Rapallo mit der Schreibmaschine zu schreiben; Harold wußte nicht um die Tiefe und das Ausmaß dieser Beziehung, und Vita wollte nicht, daß er es erfuhr. Sie waren vollkommen zufrieden miteinander, wanderten und schrieben.
Vita hatte eine Idee für einen Roman gehabt — »und ich werde ihn in diesem Sommer schreiben und ein Vermögen verdienen. Das wird ein Spaß, und ich hoffe, jedermann wird ernsthaft verärgert sein.«[4] Dieses Buch sollte Schloß Chevron werden, die romantische Geschichte ihrer Liebe zu Knole, leichtfertig begonnen, vielleicht eine Ergänzung zu Orlando. Es sollte ihr kommerziell erfolgreichstes Buch werden. Im Augenblick war sie mit Harold glücklich; »Jeden Morgen, wenn ich noch köstlich schlummernd in einem riesigen letto matrimoniale (aber allein) liege, werde ich von nebenan durch das Klappern hochgezogener Jalousien geweckt, und dann stürmt eine Gestalt in einem kanariengelben Schlafanzug in mein Zimmer«, um ihre Jalousien für den Sonnenaufgang über dem See zu öffnen.
Nach Rapallo schreckte sie die Aussicht mehr denn je, daß Harold in Berlin blieb. »Du würdest Leonard auch nicht gern in ähnlichen Umständen wissen? Nein, natürlich nicht«, schrieb sie an Virginia. »Long Barn. Virginia, mein eigenes Zimmer. Pippin. England — und mein Harold allein in Berlin, ich hasse es... Ich wäre so glücklich zurückzukommen und von ganzem Herzen froh, wenn er doch nur auch mitkommen könnte.«[5]
Vitas in England zurückgelassene Freundinnen hatten in ihrer Einsamkeit Verbindung miteinander aufgenommen. Dottie Wellesley an Hilda; »Ich möchte Sie so gern sehen. Mit Ihnen sprechen. Aber ist das eine gute Idee? Ich möchte nicht, daß einer den andern unabsichtlich verletzt. Ich weiß, daß wir das absichtlich nicht tun würden. Ich bin viel allein gewesen, seit Vita fort ist.«
»Liebling«, schrieb Hilda an Vita, nachdem sie Dottie getroffen hatte, »woher stammt eigentlich die Legende, daß du Leuten gegenüber so distanziert seist? Ich bemerkte, daß Margaret Goldsmith sie aufgebracht hat und Dottie sie ernst zu nehmen schien.«
Hilda, in ihrer Stellung als augenblickliche Geliebte, nahm diese Legende nicht ernst. Vitas grundlegendes Gefühl für Harold erkannte sie an. (»Um verheiratet zu sein, ist er ganz und gar der richtige Mensch für dich — in mancherlei Hinsicht«!) und sie erfuhr mehr über Vitas »Zwickmühlen«, als diese ihr einen Brief schickte, den sie von Mary Campbell erhalten hatte. Zum ersten Mal begann Hilda sich zu fragen, ob sie selbst nicht auch bloß eine weitere »Zwickmühle« Vitas war.
Dottie sah auch Virginia und beklagte sich bei ihr über Vitas Kälte. Dann machte Dottie eine Szene« als sich herausstellte, daß dieses Mal Hilda dazu ausersehen war, Vita in Folkestone vom Schiff abzuholen. Hilda, Dottie und Virginia — doch zumeist Hilda — nahmen in diesem Frühjahr den größten Teil von Vitas Zeit in Anspruch.
Sie arbeitete sowohl an einem kleinen Buch über den Dichter Andrew Marvell* (* Andrew Marvell (1621-1678). bedeutender Vertreter der »Metaphysical Poetry. Vitas Buch erschien 1929 bei Faber [Anm. d. Übers.]) als auch an ihrem Roman. Als im Sommer der Poet. Laureate Robert Bridges starb, war Vita unter denen, die ernsthaft für die Nachfolge vorgeschlagen wurden. (Edith Sitwells Vorschlag war weniger ernst gemeint. Miss Sackville-West, sagte sie, »hatte, wäre da nicht ein Makel an ihrem Schicksal, einer der Herren der Schöpfung sein können«.) Es war natürlich The Land, das ihr dieses Prestige verschafft hatte; es war ein auf allen Ebenen berühmtes Gedicht geworden. Vita rezitierte es von der Kanzel in der Savoy-Kapelle, und die General Bus Company verwendete sieben Zeiten daraus als Überschrift auf einem Plakat, das das Land im Frühling anpries.
Die einzige Quelle des Ärgers war immer noch B. M., der es gelungen war, Vitas alten Verehrer Kenneth Campbell so gegen Vita einzunehmen, daß er sein Amt als Treuhänder des Familienvermögens niederlegte. Vita wetterte, die Zivilisation sei in einem armseligen Zustand, »wenn 85% der Leute der Meinung seien, Tray [Raymond] müsse der ewigen Verdammnis überantwortet und Kenneth als ehrbarer Bürger betrachtet werden«. Lady Sackville kaufte noch ein weiteres Haus - eine große Villa auf einem fünf Acres großen Grundstück in Crown End Lane, nahe Streatham Common, in den Außenbezirken Süd-Londons. Sie forderte das Mobiliar zurück, das sie Harold für seine Wohnung in Berlin überlassen hatte.
Harold war nicht bei bester Gesundheit und wieder bereit, darüber nachzudenken, ob er den diplomatischen Dienst quittieren sollte. Virginia hatte vorgeschlagen, er solle sich als Kandidat von Labour um einen Sitz im Unterhaus bewerben. »Ha!Ha!hi!hi!« schrieb er an Vita. »Aber ich habe kein Geld und bin kein Labour-Mann — und überhaupt. Aber ich sollte darüber nachdenken und es mit dir besprechen.« Mittlerweile hatte Hilda ihre Bereitschaft erklärt, sowohl Harold als auch Vita regelmäßige Aufträge der BBC zu verschaffen. Hilda selbst, das »stämmige Pony«, wurde in Long Barn bei den Arbeiten eingespannt — Auslichten von Gebüsch. Unkrautjäten; außerdem half sie Vita bei der Errichtung eines Vogelhauses für die Wellensittiche Vitas neuer fixer Idee. Dorothy Wellesley fuhr fort, Hilda zu umwerben, lud sie in ihre Wohnung in Mount Street ein, empfing sie in ihrem Schlafzimmer und fing intime Unterhaltungen an.
Vitas Freundschaft mit Virginia wurde durch ihre, wie Vita es nannte, »lustigen kleinen Expeditionen« fortgeführt — nach Hampstead, um Keats' Haus zu besichtigen oder die alten römischen Bäder hinter dem Strand zu besuchen. Vita hielt Virginia über ihre Arbeit an dem Roman auf dem laufenden; die Hogarth Press würde Schloß Chevron herausbringen. »Das Buch ist voll von Aristokraten. Wird dir das gefallen? Ich glaube, daß es allein schon aus snobistischen Gründen sehr erfolgreich werden dürfte. Ich hoffe es, denn Leonards Angebot war sehr stattlich — und ich möchte die Press ungern ruinieren.«[6] Und ein paar Wochen später; »Ich versuche mich genau daran zu erinnern, wie es in dem Bus roch, der einen 1908 immer am Bahnhof abholte... Der Eindruck von Verschwendung und Extravaganz, der einen in dem Augenblick überkam, da man durch die Türen des Hauses trat. Die Scharen von Bedienten; die Namen der Leute auf kleinen Schildern an den Türen ihrer Schlafzimmer; schläfrige Hausmädchen, die nach dem Dinner in den Fluren warteten.« Vita war erst siebenunddreißig, doch die Welt ihrer Kindheit war bereits eine verlorene Welt — »weitaus lebendiger als viele Dinge, die seitdem geschehen sind«, schrieb sie
Virginia, »aber wird sie jemand anderem noch etwas zu sagen haben? Trotzdem bleibe ich an der Arbeit.«[7]
Mitte Juni 1929 kam Harold für kurze Zeit nach Hause, denn er sollte in der BBC mit Vita über die »Ehe« diskutieren. »Über Sex werden wir wohl kaum etwas sagen dürfen, schätze ich«, schrieb er ihr. »Wir können des längeren über die Konflikte sprechen, die auftauchen, wenn Mann und Frau berufstätig sind. Das wird sicher lustig.« Im Anschluß an eine Dinner Party in Dotties Haus gingen sie ihr Manuskript noch einmal durch; auch die zuständige Redakteurin war dabei. Hilda — die sich wie immer in diesem Zirkel von unbefangenen Vertrauten wie »ein Emporkömmling und Eindringling« vorkam und Vita nicht nahe kommen konnte.
Die Rundfunkdiskussion wurde als Erfolg betrachtet. Harold betonte, daß die Ehe ein lebendiger Organismus sei. »eine Pflanze und nicht ein Möbelstück. Sie wächst; sie verändert sich; sie entwickelt sich.« Vita wandte sich gegen die Neigung der meisten Männer, »sich selbst als die Pflanze und die Frauen als den Nährboden zu betrachten«; die Männer bildeten sich ein, daß die Ehe zu ihrem Wachstum beitragen müsse — auf Kosten der Lebenskraft der Frauen. Dieser Zustand, sagte sie in ihrem längsten Beitrag, sei schlecht für beide Geschlechter, weil »er die Männer lehrt, dominierend und rücksichtslos zu sein, und die Frauen lehrt, schüchtern zu sein. Das, was ihr feminin nennt.« Harold hielt dagegen und wagte sich auf gefährlicheres Terrain. Er kam auf den anlagebedingten Unterschied zwischen Mann und Frau zu sprechen — so »tief und deutlich«, das er »von Formen sexueller Abweichung nur oberflächlich berührt wird« — und sagte, nach seiner Meinung sei »die männlichste Frau unendlich femininer als der unmännlichste Mann«. Vita widersprach ihm, als er behauptete, die Arbeit eines Mannes sei eine Notwendigkeit, die Karriere einer Frau ein Luxus. Und als er sie fragte, ob sie nicht mit ihm darin übereinstimme, daß die »Freuden der Mutterschaft« ein ausreichender Ersatz seien, erwiderte sie; »Nein, dazu sage ich nachdrücklich nein.« Sie war auch ganz und gar nicht der Ansicht, daß es immer die Frau sein solle, »die ihre eigenen Interessen der Pflicht unterordnet«. Sie waren sich einig, daß eine Frau die männlichen Qualitäten wie Vernunft, Toleranz und Unpersönlichkeit und ein Mann »die weiblichen wie Zartheit, Einfühlsamkeit und Intuition verfeinern« sollen.[8]
Nachdem er nach Berlin zurückgekehrt war, schrieb sie ihm, was ihre eigene Ehe ihr bedeute;
»Du bist mir teurer, als irgend jemand es je gewesen ist oder jemals sein könnte. Wenn du sterben würdest, würde ich mich umbringen, sobald ich Vorsorge für die Jungen getroffen hätte. Ich könnte ohne dich nicht leben. Jedesmal, wenn ich dich bei mir habe, wirst du mir teurer. Ich kann mir nicht denken, daß jemand eine Liebe empfinden kann, die ausschließlicher, zärtlicher und reiner ist als die meine zu dir. Sie ist völlig losgelöst von körperlicher Liebe — Sex — wie man heute sagt. Ich halte sie für unsterblich.«
»Körperliches Verlangen, schrieb sie, »ist das irreführendste aller menschlichen Gefühle. Ich fühle ganz einfach; du bist ich und ich bin du — was du meintest, als du beim Abschied sagtest, daß >du mein einsames Ich geworden< seist.«
Mitte Juli fuhren Vita und Hilda Matheson zusammen in die Ferien ins Val d'Isere in den Savoyen. Hilda hatte den Ort ausgesucht; sie hatte bereits vorher mit anderen Freundinnen im Haus des Pfarrers gewohnt. Eine dieser Freundinnen, Janet Vaughan, verplapperte sich bei Virginia, die auf diese Weise erfuhr, daß die Reise lange geplant worden sei. Vita hatte sich Mühe gegeben, Virginias Gefühle zu schonen, indem sie ihre Abreise bis zum letzten Augenblick geheimhielt und dann verkündete, es sei ein spontaner Entschluß. Virginia war verärgert, verwirrt und eifersüchtig. »Warum stört es mich? Wie sehr trifft es mich?« Hilda Matheson erschien ihr als eine unwürdige Rivalin;
»Eine dieser Tatsachen ist, daß diese Hildas ein chronischer Fall sind; & da diese nicht verschwinden wird & ohne Anhang ist, könnte sie zu einem Dauerfall werden. Und da ich nun mal der intellektuelle Snob bin, der ich bin, hasse ich es, auch nur entfernt mit Hilda in Verbindung gebracht zu werden. Ihr ernstes, ehrgeiziges, sachkundiges, hölzernes Gesicht erscheint vor mir. Unterstützung suchend bei der schwerwiegenden Frage, wen man im Rundfunk bringen kann. Ein merkwürdiger Zug Vitas — ihre Leidenschaft für die ernsten Mittelklasse-Intellektuellen, wie trist & langweilig sie sein mögen. Und warum schreibe ich dies auf? Ich habe es noch nicht einmal Leonard erzählt.«[9]
Mehr als drei Jahre später überkam Virginia in der Erinnerung immer noch ein »Anfall wütender Eifersucht«, wenn sie daran dachte, daß »du in jenem Sommer in Hilda verliebt warst, als ihr zusammen in die Alpen fuhrt! weil du gesagt hast, du seist nicht verliebt. Warst du es? ... Erinnerst du dich an dein Geständnis oder besser deine Rechtfertigung in meiner Hütte [ihre Gartenhütte in Rodmell]? Und du warst damals nicht schuldig, nicht wahr? Du hast es geschworen.«[10] Vita mußte Virginia anlügen. Im Val d'Isere unternahmen sie und Hilda elfstündige Bergwanderungen mit Rucksäcken, ausgehend von ihrem Standort, dem Haus des Pfarrers — das sie mit seiner Kuh Marquise teilten, »die dazu neigte, einem den Weg zu versperren«. Vita sammelte Pflanzen und sandte sie an ihren Gärtner in Long Barn. Hilda war praktisch veranlagt, konnte »aus Aprikosenmarmelade und Schnee einen Pudding machen« und Karten lesen.
1929 gab es dort wenige Straßen; der Col d'Isere war nur zu Fuß zu erreichen, ebenso wie der Col de la Vanoise, wo sie in 2440 Meter Höhe in einer Schutzhütte wohnten. Von dort schrieb Vita begeistert an Harold über weitere Blumen, »viel besser als in den Dolomiten« — sie hatten Steinrosen, Alpenrosen, fünf verschiedene Arten von Enzian, Alpenglöckchen, Feuernelken, Cenisia, Anemonen, Nelkenwurz, Leimkraut, Fingerkraut, Schafgarbe und »unsere eigene kleine Vanilla orchis« gesehen.
In Berlin hatte Harold ein Angebot der Beaverbrook Press* für einen Posten beim Londoner Evening Standard zu 3000 Pfund jährlich bekommen. (* Max Aitken, der spätere Lord Beaverbrook (1879 -1964) war ein konservativer Politiker und »Pressezar«, der einen beträchtlichen Teil der britischen Presse beherrschte [Anm. d. Übers.]).Er schrieb an Vita und an Leonard Woolf wegen ihrer Meinung. Vita, die sich noch in den Bergen aufhielt, war von diesem Gedanken entzückt; sie verabredete mit Harold ein Treffen in Karlsruhe am 1. August, um das Angebot zu erörtern, und trennte sich in Genf von Hilda. Auf einer Autofahrt durch das Moseltal kamen Vita und Harold überein, daß er den diplomatischen Dienst verlassen und den Posten annehmen sollte; Bei ihrer Rückkehr nach London trug Vita einen Brief Haralds an Lord Beaverbrook bei sich.
Sie war außer sich vor Freude; Harold hatte Bedenken, nicht nur wegen der Aufgabe des diplomatischen Dienstes, sondern auch wegen seiner Verbindung mit Beaverbrook. Zurück in Berlin, vertraute er seinem Tagebuch seine Furcht an. »bevorstehende Veränderungen im Dienst würden mir vielleicht eine Chance eröffnen, wenn es zu spät ist... Ich wäre lieber Gesandter in Athen als ein Arbeitstier unter Lord Beaverbrook.« Er war überhaupt nicht begeistert; er war niedergeschlagen und besorgt.
Sobald Vita wieder in England war, schaute sie sich für Harold nach einer Wohnung in London um — Bloomsbury wäre ihr am liebsten gewesen. Doch im August ereigneten sich Dinge, die dazu beitrugen, ihre Begeisterung zum Erlöschen zu bringen. Eddy Sackville-West — »aufwendig herausgeputzt» mit einem goldenen Armreif an einem Handgelenk und zwei riesigen Ringen« - kam zum Dinner nach Long Barn und erzählte ihr, die Gobelins aus der Kapelle von Knole seien an das Museum in Boston verkauft worden. »Ich weiß nicht, wieviel sie dafür bekommen haben. Es kam im Radio in den Nachrichten, komisch... Wie auch immer, ich werde nie wieder nach Knole gehen; oder vielleicht noch einmal, bevor ich sterbe.«
Danach bekam sie einen schweren Hexenschuß und hatte tagelang Schmerzen. (Hilda kam, um sich um sie zu kümmern.) Während sie noch das Bett hüten mußte, erfuhr sie, daß Geoffrey Scott in New York plötzlich an einer Lungenentzündung gestorben war. Kurz bevor er nach Frankreich ging, hatte sie ihn in London auf der Straße getroffen und ihn »sehr stark gealtert und unrasiert« gefunden. Sie war über seinen Tod bestürzt. »Wie furchtbar, so zu sterben, in einem ausländischen Krankenhaus, weit weg von allen Freunden... Ich wünschte, ich hätte wieder mit ihm Freundschaft schließen können. Ich habe immer gedacht, es würde eines Tages so weit kommen.« Ein paar Tage später erfuhr sie von Pat Dansey, daß auch Denys Trefusis tot sei. Seine Ehe mit Violet existierte nur noch auf dem Papier; sie hätten sich in Kürze getrennt, hätte seine tödliche Tuberkulose ihre Scheidung nicht überflüssig gemacht. Violet kümmerte sich nicht um ihren kranken Mann und besuchte ihn während der letzten Wochen selten.
Endlich begannen die Jungen Vita mehr Vergnügen zu bereiten. Schwärmerisch schrieb sie an Harold, sie sei in ihren hübschen fünfzehnjährigen Ben »verliebt«; an Nigel hob sie weiterhin seine komischen Seiten hervor. Sie schilderte seine Bemühungen. Schmetterlinge zu fangen, mit »einem zerrissenen Netz, einem zerbeulten Topf mit Löchern und einem Handbuch«; »Er fängt an, läßt erst das eine, dann das andere Ding fallen. Dann jagt er wild hinter einem Insekt her und fällt platt auf die Nase. Wenn er wirklich etwas fängt, entwischt es ihm sofort. Er sollte wirklich zum Film gehen.«
Die Ferien der Jungen wurden durch Vitas Mutter gestört. Ende August lud sie ihre Enkelsöhne in ihr neues Haus in Streatham ein (Vita wollte sie immer noch nicht sehen) und hatte nichts Besseres zu tun, als ihre jugendlichen Ohren mit bösartigem Klatsch zu füllen. Sie erzählte ihnen, Vita habe ihr Silber gestohlen; Virginia - die von beiden Jungen geliebt wurde — sei eine niederträchtige Frau, die die Ursache für die Entzweiung zwischen ihr und Vita sei; daß sie sich schrecklich einschränken müsse, damit Nigel ebenso wie Ben nach Eton gehen könne; daß Vita in Berlin bei ihrem Vater sein sollte. Sie fragte Ben, ob er schon verliebt gewesen sei, und erzählte ihnen, wie ihr Großvater sie mit Olive Rubens betrogen habe.
Die Jungen kehrten ziemlich schockiert nach Hause zurück und erzählten Vita alles. Vita war wütend, doch sie wußte, daß es vielleicht noch schlimmer gewesen war. »Ich fing an, mir schreckliche Sorgen zu machen, was sie gesagt haben könnte!« Doch als sie die Jungen nach dem schlimmsten fragte, was »Großmama« gesagt hatte, erklärten sie, es seien nach ihrer Meinung die Worte gewesen, daß man Vita zusammen mit ihrem Vater hätte »ins Grab legen« sollen.
An diesem Abend führte Vita ein »langes Gespräch« mit ihren Söhnen über B.M.'s Probleme und verbrachte am folgenden Tag »einen glücklichen Tag allein mit den Jungen«. Als Harold von diesem Zwischenfall erfuhr, schrieb er, daß es nicht damit getan sei, sie verrückt zu nennen; »Sie ist nicht verrückt, sie ist einfach böse.«
Kapitel 20
Kurz nach ihrer Rückkehr von dem Treffen mit Harold, bei dem sie das Beaverbrook-Angebot erörtert hatten, hatte Vita eine Sammlung von Gedichten, die sie King's Daughter nannte, an Leonard Woolf und die Hogarth Press gesandt. Die Gedichte waren von einer Art, die es ihr notwendig erscheinen ließ, sich mit Harold darüber zu verständigen.
»Ich werde sie dir zeigen müssen, ehe sie veröffentlicht werden. Es ist nicht die Frage, ob sie gut oder schlecht sind, die mich beunruhigt... aber du mußt wissen, daß es Liebesgedichte sind und obendrein ausschließlich artifiziell - ich meine, sehr artifiziell, die meisten davon eher 17. Jahrhundert, und obgleich ich zunächst dachte, diese Tatsache (daß sie nichts als »literarisch« sind, meine ich) sei ziemlich eindeutig, ist mir doch seitdem in den Sinn gekommen, die Leute könnten sie für lesbische Gedichte halten. Das würde mir nicht behagen, weder um meinetwillen noch um deinetwillen ... Ich möchte, bitte, eine ehrliche Meinung.«
Harold erwiderte, auf keinen Fall solle sie die Gedichte veröffentlichen, bevor er sie gelesen habe. Nach der Lektüre schrieb er; »Ich möchte nicht so tun, meine Süße, als ob mir dein kleines Buch gefiele.« Er machte seine Einwände an den Gedichten selbst fest, nicht an ihren lesbischen Implikationen. »Ich mache mir wirklich weiter keine Gedanken darüber, was die Leute zu ihren sapphischen Anklängen sagen, doch bin ich ernstlich um deinen Ruf besorgt und finde, offen gesagt, daß keines dieser Gedichte gut genug ist, um veröffentlicht zu werden. Oder, anders gesagt, gut genug für eine Veröffentlichung, die deinem gegenwärtigen Ruf entspräche.« Er bat sie, das Buch zurückzuziehen.
Vita war betroffen. Auf Einwände, die sich gegen den lesbischen Inhalt der Gedichte richteten, war sie vorbereitet gewesen, »doch ich hatte nicht erwartet, daß du sagen würdest, sie seien ausgesprochen schlecht«. (Keiner von beiden war ganz ehrlich; Vitas Liebesgedichte waren von ihr nie als bloße literarische Übungen geschrieben worden; und Harold kann seinen Widerwillen gegen den Inhalt durchaus, auch vor sich selbst, als literarisches Urteil getarnt haben.) Die Gedichte seien bereits gedruckt, bekannte Vita, und Virginia halte sie für gut.
In Wirklichkeit hatte Virginia gesagt; »Zum Teufel mit Harold. Und warum solltest du der Kritik eines Diplomaten irgendeine Bedeutung beimessen?« Am 4. September, einem glühendheißen Tag, machten die Woolf's und Vita in Ashdown Forest ein Picknick »und lagen im Gras und sprachen über King's Daughter«. Virginia fand, Vita sei so bemerkenswert ruhig und zurückhaltend gewesen, wie es »ein weniger empfindlicher Dichter nie war. Aber kann denn ein wirklicher Dichter unempfindlich sein?« Sie fand Vita an diesem Tag »beinahe wie immer; schreitend; Seidenstrümpfe; Hemd & Rock; prächtig; unbefangen; abwesend«. Zurück in Long Barn, sprach sie »ausgiebig & gelassen« mit dem Ferienlehrer der Jungen und stritt langatmig mit Ben darüber, ob Nigel (»der auf seinem Fahrrad zwischen den Blumenbeeten herumkurvte), nicht besser ins Haus gehen und sich die Füße waschen solle.[1]
Ein paar Tage danach kehrte Harold nach Hause zurück, um die Verhandlungen über seine neue Stellung zu einem Abschluß zu bringen. Am ersten Sonntag nach seiner Rückkehr schrieb Vita in ihrem Tagebuch; »Heute nichts anderes getan als mit Hadji und den Jungen geplaudert. Die Jungen badeten beinahe den ganzen Nachmittag. Glühende Hitze.« (Die Nicolsons hatten in Long Barn gerade ein Schwimmbecken bauen lassen.) Und Vita besprach mit Harold die Veröffentlichung von Kings Doughter, die bevorstand. Die darin enthaltenen Gedichte wurden während ihrer Affäre mit Mary Campbell geschrieben, doch nahm sie aus ihrer langen Sonett-Folge nur drei Gedichte in das Buch auf. Die meisten Verse des Buches sind leichtgewichtig und oberflächlich, manieriert, idyllisch und haben einen Hauch von Kinderliedern; und sie nahm ein viel früheres Gedicht auf, »Full-Moon«. Das einzige neue Gedicht von einiger Qualität ist »The Greater Cats«, ein Stück im Stil von Yeats, das dieser selbst bewunderte;
Die größeren Katzen mit goldenen Augen
Starrn durch die Gitterstäbe hinaus.
Wenn Harold in Long Barn war, erlitt das vertraute Verhältnis zwischen Vita und Virginia notwendigerweise Einbußen. »Es ist immer kompliziert, wenn er heimkommt«, wie Vita ihr sagte; sie einigte sich zuerst mit ihm und dann, so gut es ging, mit Virginia. In jenem Herbst 1929 hatte ihre Freundschaft eine elegische Note. Vita besprach Ein Zimmer für sich allein im Rundfunk, und Virginia schrieb im Anschluß daran; »Als deine Stimme sagte; >Virginia Woolf<, glaubte ich einen Trompetenstoß zu hören, der mich zu Tränen rührte; aber ich meinte zu hören, wie du ein Lachen unterdrücktest. Es ist ein kurioses Gefühl, zu hören, wenn man vor 50 Millionen alten Ladies in Surbiton von einer gelobt wird, mit der man den Tag anbrechen sah und der Nachtigall gelauscht hat.«[2]
Vita hatte einen bösen Traum über Virginia gehabt; sie hatte geträumt, Leonard und Virginia seien nie wirklich verheiratet gewesen und hätten beschlossen, es sei höchste Zeit, die Zeremonie nachzuholen. »So hattet ihr denn eine prächtige Hochzeit. Du warst in eine Art mittelalterliches Gewand aus Goldstoff gekleidet und trugst einen langen Schleier... Du hattest mich nicht zur Hochzeit eingeladen. Also stand ich in der Menge und sah dich an Leonards Arm vorübergehen.« Aus Gründen, die nicht schwer zu erraten seien, schrieb Vita, habe dieser Traum sie traurig gemacht und sie sei weinend aufgewacht.
Sie wußte, daß jetzt, da Harold für immer zu Hause sein würde, große Veränderungen bevorstanden. »Auf jeden Fall scheinen sich alle Arten verschiedener Landschaften zu öffnen, wohin ich auch schaue.« Diesen Brief an Virginia unterschrieb sie mit »Orlando« und fügte ein Postskriptum hinzu; »Die Tatsache, daß ich dich nicht sehe, verhindert es, daß ich diese Tage zu den glücklichsten meines Lebens zähle.«[3] Aber die Intensität ihrer Freundschaft überdauerte diese Brüche und Veränderungen nicht.
Auch Hilda Matheson mußte sich mit dem zweiten Platz begnügen; sie hatte recht mit der Annahme, daß, wenn Harold und Vita erst einmal eine Wohnung in London haben würden, »du wohl kaum noch nach Sumner Place kommen und bei mir sein wirst«. Sie wurde nie sehr weit weggeschoben, denn sie und Vita sahen sich regelmäßig, wenn Vita in die BBC kam, um ihre wöchentliche Literaturkritik aufzunehmen. Hilda wurde nach und nach eine treue Freundin aller Nicolsons. Sie wurde in die Pläne und Gespräche der Familie einbezogen. Mit Hilda zusammen fand Vita die Wohnung — King's Bench Walk 4 in Temple. Wahrend Harold in Berlin seine Sachen packte und sich von seinen Kollegen verabschiedete, bestellte Vita Klempner, Elektriker, Dekorateure und entdeckte, zusammen mit Boski, ihrer Sekretärin, die Freuden von Woolworth; »Es ist das betörendste Geschäft. Wir kauften Mausefallen, Staubwedel, Kasserollen, einen Zinnteller für Henry [Harolds Hund], Korkuntersetzer für Gläser, gläserne Handtuchhalter... Wassergläser, einen Hammer, Nägel — o, ich weiß nicht, wie viele Sachen — es war ein Riesenspaß.« Sie kaufte für die Wohnung auch ein Gemälde von Duncan Grant*. (* Maler und Innenarchitekt, Mitglied der Bloomsbury-Gruppe. Eng befreundet mit Virginia und Leonard Woolf [Anm. d. Übers.). Hilda Matheson brachte auch Virginia zum Rundfunk, und sie sprach dort über Beau Brummell**. (** George B. (1778-1840). Urbild des Dandy. Gefeierter Modeheld der Londoner Gesellschaft. Freund des Prinzen von Wales (Anm. d. Übers.). Aber Virginia — die spürte, daß Hilda, wie sie geargwöhnt hatte, ein »Dauerzustand« zu werden begann — fuhr fort, sie zu verachten und lehnte ihre Vorschläge, den Brummell-Beitrag zu veröffentlichen, ab. Danach »ergoß sie ihre Wut wie heiße Lava über Vita«;
»Und dann brachte ich ihre Freundinnen aufs Tapet, Vitas Freunde & sagte, daß hier, in ihrer Zweitklassigkeit, der Anfang meiner Entfremdung liege. Ich kann es nicht leiden, wenn es heißt; >Vitas große Freundinnen — Dottie, Hilda und Virginia. Ich verabscheue die zweitklassige Schulmädchenatmosphäre. Die meiste Zeit saß sie stumm da & sagte bloß, ich hätte recht. Harold hätte dasselbe gesagt. Man muß der Sache Einhalt gebieten. Sie kann nicht aufhören, wenn sie mal was angefangen bat.«[4]
Virginia vermochte immer noch, Vita aus dem Gleichgewicht zu bringen, wenn sie sie in diesem Punkt kritisierte. Sie gab ihr das schon von früher bekannte Gefühl, ihr Leben sei ein Fehlschlag und sie selbst nicht dazu in der Lage, auch nur eine unverdorbene Beziehung zu unterhalten. »Was soll ich dagegen machen, Virginia?« Ihre »Fehler«, behauptete Vita, seien »alberne oberflächliche Dinge«, doch ihre Liebe zu Virginia sei »absolut echt, lebendig und unwandelbar«.
Auch ihr eigenes Wesen schien unwandelbar. Sie nahm Virginias Kritik demütig hin, sowie sie in der Regel auch Harolds Vorhaltungen akzeptierte. Doch in einem Manuskriptbuch finden sich drei schroffe Zeiten;
Du besiegst mich mit Worten, doch ich weiß.
Daß mein Leben in einer Höhle überlebt, wohin die Vögel
Deiner Seele niemals fliegen.
Ein Widerhall, ob unbewußt oder nicht, jener Worte, die Virginia ihr zwei Jahre vorher geschrieben hatte; »hier in meiner Höhle sehe ich viele Dinge, die strahlende Schönheiten wie du durch das Licht deines Glanzes unsichtbar machen.«
Das Ende des Jahres 1920, brachte Vita eine zerbrechliche Aussöhnung mit ihrer Mutter. Sie hatten nur über B.M.'s Sekretär miteinander verkehrt, der in Long Barn gewesen war und seiner Chefin berichtet hatte, daß Harold »mit einem schreiend gelben Pullover ohne Kragen bekleidet war. Eine seiner H[omosexuellen]-Kostümierungen!!!« (wie sie in ihrem Tagebuch schrieb). B.M. hatte auch einen Bericht von George Plank bekommen, der Vita in Dotties Haus getroffen hatte. »Er glaubt, daß sie sich jetzt sehr wichtig nimmt — sich nationale Bedeutung beimißt, weil sie im Rundfunk so erfolgreich ist. Er glaubt, wie auch ich, daß sie sich geistig vor Harold fürchtet, und sie braucht seine Unterstützung für ihr Schreiben. Für ihre King's Daughter hat sie bestimmt nicht so gute Kritiken bekommen wie für The Land, dieses wunderbare Land.« Der Inhalt von Kings Daughter hatte keinen Skandal ausgelöst, doch Harold hatte mit seiner Ansicht recht behalten, daß die Verehrer von The Land an diesem neuen Band nichts Besonderes finden würden. Auch Vitas Andrew Marvell erschien im Herbst; eine kurze Monographie, die erste in der renommierten Faber-Reihe »Dichter über Dichter«. (Als zweiter Band erschien T. S. Eliots »Dante«.)
Zur Wiedervereinigung mit B.M. kam es, nachdem Vita, widerstrebend und schmerzlich bewegt, nach Knole gefahren war, um an der Hochzeit von Eddys Schwester Diana mit Lord Romilly teilzunehmen. Sie verbrachte einen »fürchterlichen Nachmittag« und wurde nur durch die Freundlichkeit der älteren Bediensteten getröstet, die verstanden, wie ihr zumute war. Am 7. Dezember schrieb B.M. in ihr Tagebuch; »Vita schrieb mir über die Hochzeit von Diana und Lord Romilly und über ihre Gefühle in der Kapelle von Knole; ich verstehe das. Sie schrieb sehr lieb.«
Am Weihnachtsabend führ Vita mit den Kindern nach Streatham; sie nahm auch einen Teil des Familiensilbers mit, das sie nach Meinung B.M.'s gestohlen hatte. Nach fast zwei Jahren sahen sie sich zum ersten Mal. Beide waren vorsichtig und darauf bedacht, Distanz zu halten. B.M. beschrieb ihr Zusammentreffen — wobei sie zugleich eine Frau beschrieb, ihre Tochter, die nun über die erste Jugendblüte hinaus und des Zaubers und des Glanzes beraubt war, den sie in den Augen ihrer Verehrer besaß;
»Sie umarmte mich und sagte; Oh, Mama! Und ich küßte sie und sagte wie in alten Zeiten; Mauvaise, kleine Mar. Sie sah sehr prächtig aus, trotz des bedauerlichen Bartanfluges. Doch sie hatte eine schöne Farbe, und ihr Haar war wunderbar gewellt. Um die Hüften ist sie rund geworden, und sie sieht exakt so aus, als sei sie enceinte; so sah sie nicht einmal aus, als Nigel unterwegs war.«
Gegen Ende Februar 1930 war »der fürchterliche Alptraum« (B. M.) ihrer Entfremdung von Vita vorüber. Sie gab Vita die umstrittenen Perlen zurück, und Vita akzeptierte sie ebenso, wie sie B.M. akzeptierte.
B.M. war von dem modernen Wunder des Rundfunks nicht beeindruckt, noch nicht einmal durch den neuen Ruhm ihrer Tochter als Radiostar. Nach ihrer Ansicht ließ der Rundfunk die Stimmen »so fett« klingen. Vitas Bekanntheitsgrad, den sie Hilda Matheson verdankte, gewann ihr neue Freunde und Verehrer und erregte einigen Unwillen. In einem Artikel über »die Gefahren eines Mikrophon-Monopols« ließ der Manchester Guardian höflich durchblicken, man gestehe Vita zuviel Sendezeit zu; »Es ist kaum fair gegen irgend jemanden und gewiß höchst unfair gegen Miss Sackville-West, mit der Aufgabe betraut zu sein, von Januar bis Dezember den ganzen Bereich der erzählenden Literatur für ein gewaltiges und vielfältiges Publikum kritisch zu sichten.« Virginia blieb, trotz aller Abneigung gegen Hilda, eine Stütze. Nachdem Vita und Harold im Frühling über »Glück« im Radio diskutiert hatten, schrieb sie an Vita; »Wie, um alles in der Welt, hast du dir die Kunst zu eigen gemacht, subtil, gründlich, humorvoll, schalkhaft, scheu, satirisch, gefühlvoll, vertraulich, gewöhnlich, umgänglich, feierlich, vernünftig, poetisch und ein lieber, alter schäbiger Schäferhund zu sein — im Radio?«"'
Am 4. März, dem Tag, an dem Vita Schloß Chevron fertigstellte, erfuhren sie, daß Westwood, das an Long Barn grenzende Gehöft, von Geflügelzüchtern gekauft werden sollte. Den Nicolsons mißfiel der Gedanke an eine uneingeschränkte Sicht auf Hühnerställe, und sie dachten daran, das Angebot zu überbieten, um sich die vier in Frage kommenden Felder zu sichern. Oder war der Augenblick gekommen, Long Barn zu verkaufen und umzuziehen? Das war Harolds Meinung. Sie hatten die Möglichkeiten, die Haus und Garten boten, ausgeschöpft. Vita war unschlüssig; »Long Barn ist sehr hübsch und nett.«
Als sie am 3. April bei Dorothy Wellesley in Penns-in-the-Rocks war, erzählte ihr Dotties Gutsverwalter, daß ein Anwesen bei dem Dorf Sissinghurst, etwa zwanzig Meiten östlich von Long Barn und mehr im Inneren von Kent, zum Verkauf stehe. Am nächsten Tag fuhren Vita, Dottie und Nigel hin, um es in Augenschein zu nehmen. »War vor Liebe überwältigt«, schrieb Vita in ihr Tagebuch. Ihre Liebesbeziehung mit Sissinghurst sollte bis an ihr Lebensende dauern.
Am folgenden Tag fuhr sie mit Harold und Ben nach Sissinghurst. »Hadji angetan, aber vorsichtig.« Am Sonntag fuhren sie, ohne die Kinder, abermals hin. »Plötzlich gelangten wir in die Allee mit den Nußbäumen, und die Sache war entschieden«. schrieb Harold in sein Tagebuch. »In diesem Augenblick beschlossen wir zu kaufen.« Das Wetter war trübe, so daß sie die Szenerie nicht sehen konnten. Als sie Harolds Mutter mit nach Sissinghurst nahmen, regnete es in Strömen; sie war ebensowenig beeindruckt wie Ben und Nigel. Sissinghurst Castle war eine Ruine oder ein Ruinenkomplex inmitten einer schlammigen Wildnis von 7 Acres. Es verfügte weder über Wasser- noch Elektrizitätsleitungen; kein einziger Raum war bewohnbar. Dreiundzwanzig Jahre später schrieb Vita;
»Die Unmenge alter Bettgestelle, Pflugschare, alter Kohlstrünke, alter zusammengefallener Trockenklosetts, Drahtknäuel und die Berge von Sardinenbüchsen, alles verfilzt in einem Wirrwarr von Winden und Zwergholunder, hätte ausgereicht, jedermann zu entmutigen.
Doch als ich den Ort an einem Frühlingstag des Jahres 1930 zum ersten Mal sah, entflammte auf den ersten Blick mein Herz und meine Phantasie. Ich sah, was daraus zu machen war. Es war das schloß von Dornröschen.«[6]
Harold stöberte in der London Library in einem Buch einen alten Stich des Schlosses auf, und sie begannen seine Geschichte zu erforschen. Sie entdeckten, daß es zur Zeit von Heinrich VIII. das Haus von Sir John Baker gewesen war, dessen Tochter 1554 Thomas Sackville geheiratet hatte — folglich konnte Sissinghurst als »Familienhaus« betrachtet werden, was für Vita von großer Bedeutung war. Mitte des 18. Jahrhunderts war das schloß bereits verlassen und verfallen. Während des Siebenjährigen Krieges wurden in einem Teilgebäude französische Gefangene untergebracht. Um 1800 brach man einen Teil des Gebäudes ab, und das übrige diente als Armenhaus des Kirchspiels. Mehr als hundert Jahre lang, bis Vita und Harold es erwarben, waren einzelne Teile der alten rosaroten Ziegelgebäude von dem angrenzenden Schloßgehöft als Ställe, Speicher und Arbeiterwohnungen genutzt worden.
Sissinghurst zu restaurieren, ja nur einen Teil des Schlosses bewohnbar zu machen, war ein schwieriges Unterfangen. Ein richtiges Haus gab es eigentlich nicht; Der eindrucksvolle einzige Überrest war ein hoher rechteckiger Turm, der von zwei achteckigen Türmchen flankiert wurde. Am 24. April machte Harold für Vita eine Aufstellung der Kosten. Der Erwerb des Anwesens würde über 120 00 Pfund kosten, und mindestens weitere 150 00 Pfund würden erforderlich sein, es wiederherzustellen. »Für 30 000 Pfund könnten wir ein hübsches Plätzchen kaufen, komplett mit Park, Garage, Wasser, heiß & kalt. Zentralheizung, historischen Reminiszenzen und zwei Gartenhäusern, rechts und links.« Doch Sissinghurst stand auf romantische Weise mit der Familie in Verbindung — »für dich ist es ein angestammtes Herrenhaus... Es ist in Kent. Es liegt in einer Gegend von Kent, die wir mögen. Es versorgt sich selbst. Ich könnte einen See anlegen.« Und, am wichtigsten von allem; »Wir mögen es.«
So machte denn Vita ein Angebot von 12 375 Pfund, und am Abend des 6. Mai wurde es telefonisch akzeptiert. Sie umarmten sich. Harold begann, Pläne zu zeichnen. B.M. war einverstanden, daß die Treuhänder der Familie 13 000 Pfund für den Kaufpreis aus dem Fonds entnahmen. Vita, vor Tatkraft und Aufregung überquellend, beendete die Korrektur der Fahnen von Schloß Chevron und begann unverzüglich mit der Niederschrift eines neuen Romans, Erloschenes Feuer.
Am nächsten Wochenende übernachteten sie und Harold im Hotel »George« in Cranbrook, der Sissinghurst nächstgelegenen Stadt, und stapften bei strömendem Regen durch Schlamm und Unrat ihres neuen Domizils — »aber wir waren sehr glücklich«. Vita hielt es nicht zu Hause. Ein paar Tage später war sie wieder da und nahm voller Optimismus, als ein Akt des Vertrauens, in Sissinghurst ihre erste Anpflanzung vor — ein Lavendelbusch. Dottie und Hilda (die inzwischen eng befreundet waren) trafen sie dort, und die drei nahmen einen Imbiß auf den Stufen jenes Turmes zu sich, der Vitas private Zitadelle werden sollte. Es war ein vollkommener Tag — zum ersten Mal sah Vita Sissinghurst im Sonnenlicht. Was sie ein paar Monate früher, als sie von Sissinghurst weder etwas gehört noch gesehen hatte, an Virginia schrieb, war jetzt buchstäblich wahr; »Alle Arten verschiedener Landschaften scheinen sich zu öffnen, wohin ich auch schaue.«[7]