Kapitel 21 - 24

Kapitel 21

Vita begann sogleich, Sissinghurst zu schreiben, ein Gedicht der Hingabe, der Heimkehr und der völligen Versenkung:

Eine müde Schwimmerin im Meer der Ewigkeit,
Laß ich die Wellen über mir zusammenschlagen:
Sink durch Jahrhunderte in eine andre Zeit
Und finde Schloß und Rose, die dort begraben lagen.

Die »Rose« war eine alte Gallica*, die sie zwischen Schutt und Nes­seln eingewurzelt fanden. (* Rosa gallica, auch »Essig-Rose«. Stammpflanze vieler Gartenrosen [Anm. d. Übers.]). »Eingewurzelt ist genau das richtige Wort, denn kein noch so mühevolles Graben wird sie von dem Ort vertreiben, wo sie unerwünscht ist: Sie erscheint ebenso sicher wie­der wie die Winde.«[1] Die »Sissinghurst-Rose« ist von einem dunk­len samtigen Rot, einer weiteren Gallica mit Namen »Toskana« nicht unähnlich.
Vita widmete Sissinghurst »V. W.«. was B.M. in Zorn versetzte, die sich bei den Jungen über »diese bösartige Virginia Woolf« beklagte. (Als das Gedicht im folgenden Jahr veröffentlicht wurde, versuchte B.M. — erfolglos — die gesamte Auflage der Hogarth Press aufzukaufen, um das Buch verschwinden zu lassen.)
Virginia, zum Teil durch Vitas neues Leben, »so voll und blü­hend«, angeregt, schrieb an Die Wellen. So wie Sissinghurst Vitas Leben und Energien ganz in Anspruch nahm, so wurde Virginia durch eine neue Freundschaft — mit Ethel Smyth, einer mehr als siebzig Jahre alten, tauben, fordernden, vitalen, redseligen, hinge­bungsvollen Frau — in den Bann gezogen. Als Vita Virginia zum er­sten Mal nach Sissinghurst führte — am 23. Mai 1930 — war Ethel Smyth' Stern bereits am Steigen.
Schloß Chevron erschien am 29. Mai: an diesem Tag arbeitete Vita im Wald an ihrem Gedicht »Reddin«, zu dem sie in Zeiten der Ungewißheit immer Zuflucht nahm. Doch Mitte Juli wurde offenkundig, daß der Hogarth Press ein Erfolg ins Haus stand. »Vitas Buch ist ein solcher Bestseller, daß Leonard und ich im Geld schwimmen.« Virginia schrieb an ihren Neffen Quentin: »Wir ver­kaufen täglich etwa 800.« Bis zum 30. Juli hatte der Verkauf bereits 20 000 Exemplare überschritten. In Amerika wurde das Buch von der Literary Guild ausgewählt, und Hugh Walpole schrieb für die New York Herald Tribune einen »Literarischen Brief aus London«, der sich ausschließlich mit dem begabten Ehepaar V. Sackville-West und Harold Nicolson befaßte. Der Erfolg von Schloß Chevron hielt lange an, billige Ausgaben folgten, und 1936 erzählte Leonard Woolf Vita, daß von der »Sixpenny«-Penguin-Ausgabe mehr als 64 000 Exemplare verkauft worden seien.
Vita hatte genau das getan, was sie sich vorgenommen hatte: ein Erfolgsbuch zu schreiben; und es war ihr gelungen, indem sie das verschwenderische, feudale, unmoralische ancien regime ihrer Kindheit wieder aufleben ließ. Ihre Geschichte beginnt im Jahr 1905; Chevron, das große Haus im Buch, ist Knole bis ins Detail, von den Leoparden auf den Zinnen zur Dienerhierarchie außer­halb und innerhalb des Hauses, den »endlosen, übertriebenen Mahlzeiten«, den großartigen, düsteren Prunkschlafräumen und der Christbaumzeremonie in der Großen Halle. Die Dame des Hauses erhebt sie in den Rang einer Herzogin und teilt ihre ei­gene Persönlichkeit zwischen den beiden Kindern des Hauses auf — Sebastian, der junge Erbe, dunkel, launenhaft und bezau­bernd, und Viola, seine introvertierte, glatthaarige, skeptische Schwester. »Keiner der Charaktere in diesem Buch ist völlig erfun­den«, schrieb sie herausfordernd in der Vorbemerkung der Verfas­serin. Sie gab Sebastian sogar ihre eigenen Hunde. Henry und Sarah. (Die letztere ersetzte den vielbeweinten Pippin)
Für Romola Cheyne, »eine Frau, die mit gewisser Größe ihre Ab­wege ging«, stand Mrs. Keppel Modell; und Lady Rochampton, eine Altersgenossin von Sebastians Mutter, eine üppige »verblü­hende Rose«, mit der Sebastian eine unglückliche Liebesaffäre hat, steht für die Gräfin von Westmorland. wie Vita an Virginia schrieb:
»ein wunderschönes Luxusgeschöpf, die nach Knole kam, als ich acht war, und die, wie ich mir einbilde, meinen Fuß zum ersten Mal auf den falschen Weg setzte, die jedoch selbst relativ jung an Dro­gen und einem Zuviel an Liebhabern starb. (Nein, es war nicht Lady Westmorland, die mich auf den falschen Weg brachte, fällt mir jetzt, wo ich darüber nachdenke, ein sondern die Königin von Rumänien, die eines Tages in meinem Schulzimmer auftauchte.)«[2]
Sebastians Liebesleben bildet das dürftige Gerüst der Handlung. Nach Lady Rochampton versucht er Teresa zu verführen, eine hüb­sche, bürgerliche Arztgattin, die von Chevrons und Sebastians Glanz geblendet ist. Er nähert sich ihr bei Mondschein in dem silberstrotzenden Prunkschlafzimmer, spricht von dem großen Him­melbett, doch sie entflieht — eine tugendhafte Frau, die einer ande­ren Welt als der seinen angehört. Er wird von einem Modell aus der Boheme getröstet, einer Frau mit einem »roten, üppigen Mund« und einer »schwellenden weißen Kehle«, lässig, amüsant und un­moralisch. Schließlich läßt er sich auf eine Vernunftehe mit einem hübschen, langweiligen, einfachen Mädchen aus einer standesge­mäßen Familie ein.
Oder wird er vor Chevron und allem, was es mit sich bringt, da­vonlaufen? Das subversive Element wird durch Leonard Anquetil verkörpert, einem düsteren Außenseiter — für den Bill Bickerton Pate stand, ein Forschungsreisender, den Vita flüchtig kannte, der allem, wofür Chevron steht, und allen Wertvorstellungen von Seba­stians Familie skeptisch begegnet. Er nimmt sich der beiden jungen Leute an und sät Zweifel in ihre Herzen. Um Viola zu überzeugen, braucht es nicht viel. Sebastian ist aufgrund seiner leidenschaftlichen Liebe zur Tradition, zu seinem Haus und Land, zerrissen. Ist Chevron ein »toter Gegenstand« oder etwas, das seinen Wert in sich selbst hat? Er erkennt die Seichtheit der Freunde seiner Mutter und die Dummheit unter der glitzernden Oberfläche ihrer Leben. Ihre Werte sind gesellschaftlich, nicht moralisch fundiert. Selbst seine Liebe zu Chevron ist nicht rein, sondern von der Annahme seiner Überlegenheit abhängig, von einem herrschaftlichen Verhältnis zu Dienern und Gutsarbeitern, damit sie fortbestehen kann. Diese Liebe erfordert eine Übereinstimmung mit den nichtssagenden gesellschaftlichen Ritualen und den scheinheiligen Konventionen sei­ner Klasse.
Diese Ambivalenz wird nicht aufgelöst: die Verfasserin selbst hatte sie nicht gelöst und würde sie niemals wirklich lösen. Dieses Element sorgt für die notwendige Spannung in einem Roman, der genauso ordinär, lebendig, problematisch, falsch und faszinierend ist wie sein Hauptgegenstand — die wohlhabende Oberklasse des edwardianischen Englands.
Der Roman schließt mit dem Ende der Ära: der Krönung von George V. im Jahr 1910. Das ist Vitas letzter sorgfältig geplanter Kunstgriff; zusammen mit ihrem Vater hatte sie die Zeremonie als achtzehnjähriges Mädchen selbst miterlebt. Als seine Kutsche auf der Rückfahrt von der Westminster Abbey im Verkehr anhält, blickt Sebastian durch das Fenster geradewegs in die herausfor­dernden Augen von Leonard Anquetil, der ihm erzählt, er sei wie­der im Begriff, sich in ferne Weltteile zu begeben. »Wollen Sie mit­kommen?« fragt Anquetil. Vielleicht wird Sebastian Chevron verlassen — für ein paar Jahre. Dann wird er zurückkommen.
Schloß Chevron ist ein Roman des Kompromisses. In einem ein wenig anderen Sinn hatte Vita das Gefühl, sich mit diesem Buch kompromittiert zu haben: »Oh, dieses verdammte Buch! Ich werde rot, wenn ich daran denke, daß du es liest«, schrieb sie an Virginia. Und an den amerikanischen Schriftsteller Frederick Prokosch: »Sie fragen mich, welchen meiner Romane ich am liebsten habe. Ich mag sie alle nicht — Verführer in Ecuador ist der einzige, den ich vielleicht vor dem Abfallhaufen bewahren würde.«[3]
Leonard Woolf hatte recht, wenn er schrieb, daß in Vita eine »ehrliche, schlichte, gefühlvolle, romantische, naive und sachkun­dige Schriftstellerin« stecke:
»Alle diese Eigenschaften flössen zusammen in ihrem Roman über das Leben der gehobenen Gesellschaft, und es entstand mit Schloß Chevron ein Zeitgemälde und ein richtiger Bestseller... Romane von ernsthaften, genialen Schriftstellern werden oft mit der Zeit zu Bestsellern, aber die meisten zeitgenössischen Bestseller werden von zweitklassigen Schriftstellern geschrieben, deren Können ein Gebräu aus einer Prise Naivität, einer Prise Sentimentalität, Erzähltalent und einer mysteriösen Sympathie für die Tagträume gewöhnlicher Leute enthält. Vita war gar nicht so weit von dieser Art Bestsellerautoren entfernt. Sie war aber dann trotzdem keiner, weil der dritte und vierte Zusatz in ihrem Bestsellergebräu nicht ganz ausreichend vorhanden war.«[4]
Schloß Chevron bescherte Vita die Briefe vieler Verehrer, darunter auch einen von ihrem alten Kindermädchen Giovanna, nunmehr Mrs. Tubman und in Neuseeland lebend. Wie gern sähe sie, schrieb sie, »die Lady, deren Hals ich wusch, als sie ein kleines Mädchen war!! Erinnern Sie sich?« Giovanna erinnerte sich auch an die »Herzogin, die unentwegt auf und ab ging, während sie angeklei­det wurde, und die einen mit Rubinen und Diamanten besetzten hohen Kragen mit einer großen Tüllschleife trug...!!«
Als Vita Sebastians Mutter bei ihrer komplizierten Toilette be­schrieb, lieferte sie ein Bild ihrer Mutter, die sich demselben wollüstigen Ritual unterzog. Die Intensität ihrer Beschreibung spiegelt den tiefen Eindruck wider, den Sinnlichkeit auf die kindliche Vita gemacht hatte, denn unter den Verehrerbriefen war auch ein porno­graphischer Brief von einer ungenannten Frau, die durch Vitas kurze Beschreibung der kunstvollen edwardianischen Unterwä­sche der Herzogin autoerotisch entflammt worden war.
Long Barn war in diesem Sommer besonders schön, 1. Juli: »Hadji kam am Abend. Zur Zeit speisen wir auf der Terrasse. Einer der schönsten Abende, den ich je erlebt habe. Wir gingen und legten uns in die halbfertige Heugarbe auf Paiges Feld. Junger, grüner Mond und ein wunderschönes Abendlicht.«
Sie fuhren für ein Wochenende nach Wilton, dem Haus von Lord Peinbroke: die Churchills waren dort. Winston Churchill »macht mit Vita einen langen Spaziergang und erzählt ihr von seinen Schwierigkeiten und Hoffnungen«, notierte Harold. Churchill war die einzige Person, »mit der ich jederzeit durchbrennen würde, wenn er mich fragte«, sagte Vita, die mit Politikern glänzend aus­kam: Später im Jahr schüttete der Premierminister, Ramsay Mac-Donald, Vita in Chequers sein Herz aus.
Das mit Schloß Chevron verdiente Geld gab Vita in bezug auf Sissinghurst eine freiere Hand. Virginia machte sie mit Hugo be­kannt, einem Antiquitätenhändler in Warren Street, wo sie einen Eichentisch, einen spanischen Walnußtisch, einen Eichenschrank und zwei Stühle kaufte — alles für weniger als fünfzig Pfund. Sie kaufte große Mengen Bettwäsche - sowohl für den Haushalt als auch für Boski, die sie verließ, um zu heiraten. Sie kaufte den Woolfs ihre alte Minerva-Tiegeldruckpresse* ab, die in Sissinghurst aufgestellt werden sollte. (* Diese Druckmaschine erwarben die Woolfs 1921 für die Hogard Press. Die ersten Bü­cher des Verlages waren auf einer 1917 für knapp 20 Pfund gebraucht gekauften Hand­presse hergestellt worden. Erstes Buch: Two Stories von Virginia und Leonard Woolf (1917) Anm. d. Übers.)
Als erstes sollte der Turm von Sissinghurst bewohnbar gemacht werden. Sie durchbrachen die Wand des Raumes im ersten Stock, der an das Türmchen stieß: hier sollten, so hatte Vita am 12. Juli entschieden, ihr Arbeitszimmer und ihre Bibliothek Platz finden. »Wir beschlossen«, schrieb sie nach ihrer Rückkehr nach Long Barn, »den Kamin quer in die Ecke des Turmzimmers bauen zu las­sen und den Bogen über dem Eingang zum Türmchen zu erhalten.« So geschah es. Die Möbel von Hugo kamen an, »und wir trugen sie nach oben und tranken zum ersten Mal in unserer Sissinghurst-Geschichte unseren Tee an einem Tisch ... Als wir heimkamen, fanden wir Stephen Spender** vor, der schon vor uns eingetroffen war.« (Er war damals ein junger Mann von 22 Jahren, und beide Nicolsons hatten im Sommer mit ihm Freundschaft geschlossen.) (** Stephen Spender [geb. 1909] von Yeats und Auden beeinflußter kontemplativer, intellektueller Lyriker und Essayist [Anm. d. Übers.]).
Obgleich sie durch die Rückenschmerzen, die sie mit Unterbrechungen immer wieder plagten, behindert war, schaffte sie es, bei ihrem nächsten Besuch den Eckschrank in ihrem Turmzimmer grün anzustreichen (was er noch immer ist).
Schloß Chevron ermöglichte auch die Ferien in Italien, die Vita, Harold und die Jungen im August machten. Sie wohnten in Portofino. wo Vita an ihrem neuen Roman Erloschenes Feuer arbeitete, und dann fuhren sie nach Florenz, wo sie mit Dorothy Wellesley und Hilda Matheson zusammentrafen, die gemeinsam Urlaub machten. Harold kehrte als erster mit dem Zug zu seiner Arbeit beim Evening Standard zurück, und Vita und die Jungen fuhren gemächlich mit dem Wagen heim. Aus Mailand schrieben sie einen gemeinsamen Brief an Harold. In Piacenza hatten sie die Wagenschlüssel verloren, nachdem sie angehalten hatten, um etwas zu trinken. Ben schrieb, daß »Mama unheimlich gut damit fertig ge­worden ist und ganz anders als die Italiener, ihren Kopf behalten und ruhig gesucht hat. Ich erwähne das, weil Nigel und ich so be­eindruckt waren.« Nigel legte sein »Logbuch« ihrer Fahrtzeiten und Meilen bei und hoffte, sein Vater werde nicht nur dadurch, sondern auch durch »Mamas hervorragenden Fahrstil und ihre Durchschnittsgeschwindigkeit« beeindruckt. »Die Babies sind so reizend«, schrieb Vita; »sie sind so tüchtig.« Die drei erreichten Newhaven am 29. August und frühstückten auf dem Heimweg bei den Woolfs in Rodmell — Virginia bewunderte ihren staubbedeck­ten Wagen, »auf den Sitzen, kunterbunt durcheinander, Strandschuhe, florentinische Kerzenleuchter, Romane, und so weiter«.[3]
Daheim arbeitete Harold bereits mit befreundeten Architekten am Entwurf für das »Boys' Cottage« in Sissinghurst. Ihren frü­heren Plan, den Turm mit den anderen erhalten gebliebenen Ge­bäuden zu verbinden, hatten sie aufgegeben und sich auf eine Gruppierung selbständiger Baueinheiten geeinigt. Das verfallene, sogenannte »Priest' House« wurde zum »Boys' Cottage« und sollte außerdem ein Badezimmer und im Erdgeschoß die Küche und das Eßzimmer der Familie beherbergen. Ein weiteres, zum Teil erhalte­nes Gebäude, das »South Cottage«, sollte umgebaut werden und Vitas und Harolds Schlaf- und Badezimmer sowie Harolds Wohn­zimmer und ein kleines Bücherzimmer aufnehmen. Gästezimmer waren nicht vorgesehen, obgleich mit dem Komplex des Pförtner­hauses, das zur Zeit als Stall genutzt wurde, geeignete Räumlich­keiten zur Verfügung standen. Ihr Plan bedeutete, daß sie alle, zu welchem Zweck auch immer, bei Tag oder Nacht, bei gutem und bei schlechtem Wetter, den Garten würden durchqueren müssen. Und obwohl Vita und Harold für jeden ein Wohnzimmer als wichtig erachteten, war an ein gemeinsames Wohnzimmer für die Familie nicht gedacht.
Das Schloßgehöft verpachteten sie an den Reserveoffizier (»Ozzie«) Beale, einen in der Gegend angesehenen Landwirt, doch die Umbauten kosteten mehr Geld, als sie vorausgesehen hatten. Vita mußte sich einen Betrag von dem Geld leihen, das Seery B. M. hin­terlassen hatte und für das B.M. Zinsen verlangte; sie versuchte auch, Vita dazu zu bewegen, eine Urkunde zu unterzeichnen, die besagte, daß sie niemals ihre Jahresrente noch die damit verbunde­nen Forderungen beanspruchen werde. Vita hatte nicht die Ab­sicht, jemals wieder eine persönliche Zuwendung von ihrer Mutter anzunehmen, aber sie weigerte sich zu unterschreiben, nur für den Fall, daß, wie sie sagte, sie jemals wegen der Jungen in eine Notlage geraten würde.
Nachdem dieser Zwist beigelegt war, erwies sich B. M. ein weite­res Mal als großzügig — sie bot an, die Kosten für die Möblierung des »Boys Cottage« zu übernehmen, und sandte im Laufe des Jah­res Wagenladungen wertvoller Stücke nach Sissinghurst: Perserteppiche, Glas, Silber und Ebenholzspiegel aus Knole; zwölf An­sichten von Knole, gestochen von Nash, jakobische Truhen; eine Kopie des Kneller-Porträts von Charles Sackville und eine große weiße Badewanne. Sollte Vita auch ihre Jahresrente nicht in An­spruch nehmen, die Großzügigkeit ihrer Mutter faszinierte sie wie immer.
Zwei Jahre lang, bis zum April 1932, wohnten die Nicolsons nur mit Unterbrechungen in Sissinghurst; doch am 16. Oktober schlief Vita dort zum ersten Mal in dem Türmchen, das an ihr zukünftiges Arbeitszimmer grenzte. Sie hatte ihre Hunde Henry und Sarah bei sich: »Keine Furcht. Hörte Hadji [im Radio], der über Deutschland sprach.« An diesem Abend schrieb sie ihm: »Hayter hat den Schloßgraben gesäubert und eine wunderschöne Mauer ist zum Vorschein gekommen.« Hilda Matheson kam, um den nächsten Tag und die Nacht bei ihr zu verbringen — gemeinsam grenzten sie Pfade mit Ziegeln ein — und danach kam Harold. Sie maßen den Garten am South Cottage aus und pflanzten Madonnenlilien. »Wir schlafen oben im Turm auf zwei Feldbetten. Wir lesen bei Kerzen­licht.« Zwischen Long Barn und Sissinghurst pendelnd, gestaltete Vita weiter ihren Garten — sie pflanzte einen Feigenbaum — und überwachte die Baumaßnahmen, oft zusammen mit Hilda. Im »South Cottage« legten die Arbeiter »in meinem Schlafzimmer den allerschönsten riesigen Tudor-Kamin aus Stein frei«. (Der größte Teil der Arbeiten wurde von der Firma H.C. Punnett ausgeführt, die ihre Rechnungen an »Die Ehrenwerte Mrs. Harold Nickleson« schickte.)
Vita war glücklich. Harold war es nicht. In jener ersten Nacht in Sissinghurst gestand er sich in seinem Tagebuch ein, wie unglück­lich er war. Er fühlte sich armselig, erfolglos, gedemütigt, mittleren Alters. Es befriedigte ihn nicht, ein Schriftsteller, Journalist und Rundfunkmann (er hatte eine regelmäßige Sendung »Leute und Dinge«) zu sein. Alle Befürchtungen, die er wegen der Aufgabe sei­ner diplomatischen Karriere gehegt hatte, schienen sich bewahr­heitet zu haben. »Nie zuvor bin ich so unglücklich gewesen.« Vita wußte das. Auch Ben war nicht glücklich. Er haßte Eton: auch das wußte Vita und fragte sich, ob sie ihn nicht besser von der Schule nahmen. Ihre eigene Seifenblase zerplatzte im Spätherbst, als die Verschlechterung ihrer Beziehung zu Virginia ihr zu Bewußtsein kam. Am 30. Oktober hatte Virginia geschrieben, daß der Verlust der Vertrautheit bedeute, daß »eine schwarze Kruste sich bildet«; »Aber wie soll ich dich jemals ohne Hilda treffen? Ist ein Nachmit­tag zu zweit nie mehr möglich? Seit Rodmell, und da auch nur für zwei Minuten, sind wir nicht mehr allein in einem Zimmer gewe­sen — ganz zu schweigen von den anderen Plätzchen.« Virginias lange, selbsterforschende Briefe waren jetzt an Ethel Smyth gerich­tet und nicht an Vita, die das übelnahm, wenngleich sie sich das selbst zuzuschreiben hatte. »Als Vita neulich abends neben mir auf dem Fußboden saß, litt sie schwer unter der Eifersucht auf Ethel. Sie pries sie hartnäckig, aber bitter. Sie verfugt über all die Hin­gabe, die ich, ein Kind dieses Zeitalters der Subtilität und Reser­viertheit, verloren habe. Sie verlangt nach dir; stürmt los, wo ich mich zur Zurückhaltung zwinge.«[6]
Virginia war nicht immer so subtil und reserviert. 3. Dezember 1930: »Gibt es denn keine Möglichkeit, daß wir irgendwann in der nächsten Woche einen glücklichen Tag verbringen, zur Mint gehen oder zum Tower oder in den Zoo oder in einem Café Semmeln essen?

  • Oder willst du mich fallen lassen? Antworte.
    Willst du mich Ethel vermachen? Antworte.«

Ethel Smyth schrieb in ihrem Tagebuch, Vita sei wohl »der einzige Mensch, außer Vanessa Bell und Leonard, ihrem Mann, den sie [Virginia] wirklich liebt«.[7] Ethel sagte von Virginia auch: »Man kann mit ihr nicht eine Beziehung haben wie mit anderen. Die Tatsache ist, daß du dir von Virginia nehmen mußt, soviel du kannst.«[8]
Vielleicht hatte Vita, ungeachtet ihrer augenblicklichen Eifer­sucht, alles genommen und gegeben, was ihr möglich war. Ihr Tagebucheintrag, zwei Tage nach Virginias Appell, zeigt, wo sie mit dem Herzen war: »Hilda und ich verbrachten in Sissinghurst den gan­zen Tag damit, Harolds Wohnzimmer, Schlafzimmer und mein Schlafzimmer herzurichten. Paige kam mit einem Wagen voller Möbel von Long Barn.« Am nächsten Tag schliefen sie und Harold zum ersten Mal im South Cottage. Dort, wo ein »offenbar künstli­cher Damm zwei sumpfige Wiesen umgab«, wurde ein See ange­legt. Ein vom Wald herabströmender Bach wurde gestaut, und bin­nen drei Tagen »lag eine friedliche Wasserfläche, wo ein nutzloser Sumpf gewesen war«.[9] Am Weihnachtstag 1930 bestand Vita dar­auf, daß das Weihnachtsessen von Long Barn herübergeschafft und dort verspeist wurde.
Mitte Februar 1931, nachdem ein wenig Schnee gefallen war, der nicht liegenblieb, pflanzte Vita »500 Narzissen und Ostergloc­ken, wo die Kirschbäume wachsen sollen, am Ende des Schloß­grabens. Sechs Wildgänse flogen vorüber. Ein wunderschöner Nachmittag. Pflanzte Rosen und den persischen Pfirsichbaum. Sah eine große, weiße Eule...« Alles im Garten gedieh prächtig; und im selben Monat dinierten die Nicolsons mit Albert Einstein und sahen Charlie Chaplin zum Lunch.
Was fehlte also? Es fehlte etwas. Am 23. Januar hatte Vita Virgi­nia erzählt, die Lobpreisung ihrer Bücher bereite ihr mehr Schmerz als Vergnügen. Und weiter: »Wenn ich, die ich die glücklichste aller Frauen bin, schon nach dem Sinn des Lebens frage, wie können dann andere Leute überhaupt leben?«[10] Vita und Virginia nahmen ihre Expeditionen wieder auf — sie besichtigten Dickens Haus in Doughty Street — doch Virginia konnte Vitas irrationale Depres­sion nicht erleichtern. Dorothy Wellesley und Hilda Matheson machten zusammen Ferien in Sizilien. Am 3. März beendete Vita
Erloschenes Feuer und widmete »Benedict und Nigel, die jung sind, diese Geschichte von Menschen, die alt sind«. Lady Slane. die Hel­din des Buches, ist in der Tat sehr alt: Sie ist achtundachtzig.
Um Vita verstehen zu wollen, ist dieser Roman wichtiger als Schloß Chevron; es gelingt ihr, durch die Meditationen der sanften Lady Slane über die Vergangenheit ihre eigenen unsanften Gefühle über die entstellenden Wirkungen der Ehe und die Erwartungen der Gesellschaft an das Individuum auszudrücken. Lady Slane ist ein hübsches, unterwürfiges »Anhängsel« ihres Gatten, einem Vizekönig,gewesen: »immer eine einsame Frau, immer im Widerspruch zu den Weltanschauungen, denen sie augenscheinlich zustimmte«, beschließt sie bei seinem Tod, die ihr verbleibenden Jahre nach ih­ren eigenen Überzeugungen und endlich ehrlich gegen sich selbst zu verbringen.
Es war Vitas verwitwete Schwiegermutter, Lady Carnock, in der sie das Vorbild für ihre Heldin fand. Lady Carnock klammerte sich an ihre Familie und lebte bei Freddie, ihrem ältesten Sohn: Lady Slane im Roman tut das, was nach Vitas Meinung Lady Carnock hätte tun sollen. Sie entscheidet sich dafür, mit ihrer betagten fran­zösischen Zofe Genotix (der Name von Vitas französischer Zofe) in einem ruhigen Haus in Hampstead zu wohnen, in das sie sich drei­ßig Jahre vorher verliebt hatte. Hier machte sich Vita die Erfahrun­gen zunutze, die sie auf ihren Ausflügen mit Virginia nach Hampstead Heath und zum Hause Keats' gewonnen hatte; und Lady Slanes Haus, das im Buch ebensosehr einen Charakter besitzt wie jede der menschlichen Figuren, dürfte mit Sicherheit in der Church Row liegen, wenngleich Vita nicht genauer darauf eingeht. Lady Slanes Erinnerungen an diplomatisches und vizekönigliches Leben werden aus Vitas eigenen Erinnerungen an einen kurzen Indien -Besuch gespeist; darunter eine virtuose Passage, ganz in Vitas Ma­nier, in der eine schwirrende Wolke gelber und weißer Schmetter­linge auf einer Wüstenstraße in Persien beschrieben wird.
Lady Slane stößt ihre konventionellen, alternden Kinder vor den Kopf, indem sie kein Interesse mehr an ihnen nimmt. Sie beleidigt sie weiterhin dadurch, daß sie allzu leichtfertig auf ihre wertvollen Juwelen verzichtet und ein ererbtes Vermögen fortgibt. Drastisch vereinfacht sie ihr Leben und verkehrt lediglich mit einer Gruppe ältlicher Außenseiter ohne gesellschaftliche Stellung — »törichte Phantasien«, denen es gefällt, daß sie nach ihren Anschauungen lebt. Sie waren »Künstler« im Erkennen großer Leistungen, ohne sie freilich selbst zu vollbringen, weil das einschloß, daß man vor den Werten und Hierarchien des Marktes zu Kreuze kroch. (Es gibt einen Zusammenhang zwischen den Anschauungen von Erlosche­nes Feuer und denen von Virginia Woolf in Ein Zimmer für sich al­lein und Drei Guineen; letzteres Buch wurde 1931 konzipiert, er­schien jedoch erst 1938.)
Leonard Woolf, Vitas Verleger, hielt Erloschenes Feuer für ihren besten Roman. Er hat Zehntausende von Lesern bewegt, die Vitas ungestüme Vereinfachungen inspirierend fanden (und finden). »Dir selbst sei treu«, war Vitas Credo, und die Tatsache, daß sie selbst sich zu Lady Slanes Vereinfachung des Lebens nie durch­rang — indem sie ihre Juwelen dahingab oder auf ihren ererbten Reichtum verzichtete — unterstreicht ihr Dilemma. 1931 war Vita jedenfalls nicht bereit, sich zurückzuziehen. Die Lebenskraft ihrer alten Lady Slane ist im Schwinden; am Ende hat sie nur noch die Kraft zu einer einzigen »sonderbaren und schönen Tat«, bevor sie stirbt. Für Lady Slane waren jene Tage dahin, »als das Gefühl seine Grenzen sprengte und heiß aus der Quelle strömte, als das Herz vor sonderbaren und widersprüchlichen Sehnsüchten zu zerspringen schien«. Nicht so für Vita. Zwei Tage nach der Fertigstellung von Erloschenes Feuer verliebte sie sich. Der Vulkan brach wieder aus.
Im Frühling schrieb sie an ihre neue Geliebte: »Verdammte Liebe. Durch ihre fiebrigen Überredungen zerstört sie unsere Energien. Durch die Augenblicke der Ekstase verleitet sie uns zu glauben, das Leben sei lebenswert.« Und noch einmal: »Es ist ein großer Fehler, sich zu verlieben, und doch scheint die Liebe das einzige zu sein, das das Leben aus dem Wellental emporhebt.«
Vita, sich der Vierzig nähernd, erkannte, daß es für sie einfach notwendig war, sich leidenschaftlich zu verlieben, um sich von Spannungen und Depressionen zu befreien — eine einfache, wenn auch nur teilweise Erklärung für ihre oft unerklärlichen Liebesaf­fären. Mit ähnlicher Selbsterkenntnis hat sie in Schloß Chevron im Charakter des Sebastian beschrieben, wie Menschen ihrer Art versuchten, ihre eigenen sexuellen und schwärmerischen Bedürfnisse mit den Erwartungen anderer in Einklang zu bringen:
»Sebastian gehörte zu den reizenden, aber gefährlichen Menschen, die immer nur zufällig unrecht tun. Solch eine Unzufriedenheit, wie sie ihn innerlich verzehrte, blieb ihm allein bewußt... Auf irgendeine komplizierte Weise überzeugte ihn dieses Gefühl man­gelnder Bindung auch von der Unversehrtheit der Frauen. Er spielte ein Spiel mit einem weichen Ball; ein Spiel, bei dem nie­mand Veranlassung hatte, verletzt zu werden.«
Aber irgend jemand wird immer verletzt.
Vita schrieb gelegentlich Verse, die sie »Tagebuch-Gedichte« nannte: intime Gedichte in freier Form, die nie zur Veröffentli­chung vorgesehen waren; sie wurden spontan niedergeschrieben und nicht überarbeitet, im Gegensatz zu der strengen Prosodie ih­rer »wirklichen« Lyrik. Jetzt schrieb sie ein Tagebuch-Gedicht, das wieder erkennen läßt, daß sie sich einzig im Zustand der Liebe mit »irrationaler Menschlichkeit« im Einklang fühlte, befreit von der Empfindung des Stillstandes und der Entfremdung.

Dies ist Schmerz.
Ich erkenne ihn wieder.
Ich fürchtete, vergessen zu haben, wie er sticht.
Ich fürchtete, ich sei so eingehüllt in Glück und Geborgenheit,
Daß ich den Stachel vergessen hatte von Schmerz und Pein;
Doch da ist der vertraute Aufruhr, das Brennen.
Ich begrüße ihn: ich fürchte ihn; ich grüße die Furcht,
die ich vor ihm empfinde.
Ich bin froh, daß ich meine Gefühle noch immer fürchten kann.
Ich bin froh, daß mich immer noch ein Gefühl hinreißen kann.
das ich anderen logisch nicht erklären kann;
Daß ich einer irrationalen Leidenschaft noch immer fähig bin.
Ich, die ich so geordnet, vernunftbestimmt aufgewachsen bin.
Habe die Verbindung mit meiner irrationalen Menschlichkeit
hergestellt.
Kriege, Haß. Neid - alles kam mir kindisch vor.
Aber mit diesem jähen, brennenden, stechenden Schmerz in mir
Werden all diese Dinge wieder verständlich, ja unausweichlich.
Die Wüste meines Herzens hat wieder zu blühen begonnen.
ist lebendig geworden.
Ich leide, doch ich bin froh zu entdecken,
daß ich noch immer die Fähigkeit in mir habe zu leiden.

Evelyn Irons war Schottin, dreißig Jahre alt, eine Studentin am Sommerville College, Oxford, und betreute 1931 die Frauenseite der Daily Mail. In der Absicht, einen Beitrag über V. Sackville-West zu schreiben, hatte sie ihr eine Reihe von Fragen geschickt, die Vita in­teressant fand; sie lud Miss Irons nach King's Bench Walk zum Lunch ein. Zwei Tage später, am 6. März, kam Miss Irons nach Sissinghurst und blieb über Nacht; nach dem Dinner spazierten sie im Mondschein am neuen See entlang. Später beschrieb Evelyn Vita aus der Erinnerung den Abend, »als ich in deinem Zimmer in Sissinghurst vor dem Kamin stand und dich ansah und dachte, daß ich mich in dich verliebt hatte und es mir nie träumen ließ, du könntest dich in mich verlieben, und mich doch so ungeheuer glücklich und erregt fühlte... Und du sahst so reizend aus in dei­nem kurzen Morgenrock.«
Bald darauf ging Vita zu einer Party in Evelyns Wohnung in der Royal Hospital Road 80 in Chelsea »und hatte einen großen Auf­tritt, als sie als ihren Beitrag, ein Fäßchen Oliven, mitbrachte«. Auf dieser Party erzählte Evelyn Vita, daß sie sich »hoffnungslos in sie verliebt« hätte. Innerhalb weniger Tage waren sie ein Liebespaar, und Evelyn verbrachte mit Vita soviel Zeit in Sissinghurst, wie beiden zu erübrigen möglich war. Evelyn arbeitete mit ihr im Gar­ten, jätete Unkraut und räumte Abfall weg. In diesem ersten Jahr in Sissinghurst entwickelte Vita die bequeme Kleidung, die es mit Nesseln, Dornen, Schmutz, Stacheldraht und zerbeulten Konser­venbüchsen ebenso aufnehmen konnte, wie sie zum Graben und Pflanzen geeignet war. Von nun an trug sie üblicherweise Breeches aus Whipcord von Simpsons, Piceadilly, hohe Stiefel mit einem Oberleder aus Segeltuch nach ihrem eigenen Entwurf (in denen oben eine Gartenschere steckte). Eine grobe Jacke oder Weste über einer Bluse — und ihre Perlen und langen Ohrringe.
Sie vertiefte sieh um so mehr in den Garten und in ihr privates Idyll mit Evelyn. als es Arger von außen gab. Roy Gampbells Rache hatte literarische Form angenommen. Vita hatte wohl vorausgese­hen, daß sein Buch The Georgiad, eine »satirische Phantasie« in Versen, einen heftigen Angriff auf Bloomsbury und die »Georgian Poets«* darstellen würde: (* Sammelbezeichnung für eine Gruppe konventioneller, spätromantischer Naturlyriker während der Regierungszeit Georges V. (u.a. J. Masefield, W. de la Mare. D.H. Lawrence), deren Gedichte von 1912-1922 in fünf Anthologien Georgian Poetry veröffentlicht wurden [Anm. d. Übers.],doch griff er auch die Nicolsons an, ins­besondere Vita — sie ist »Georgiana«, die Gastgeberin in der »Sommerschule der Liebe« für »flötende Weichlinge und unsägliche Langweiler«. Er verspottete ihre Liebe zu Hunden (er erwähnte Canute) und The Land:

Schreib mit deinem Spaten und ackre mit der Feder.
Häufle deine Verschen, damit sie schlafen gehn.
Und hege deine Rübechen, bis sie in Reihen stehn.

Und über ihre Erscheinung schrieb er:

Ihr grober Bart, der um die Lippen hängt,
von dem ein End nach Norden, eins nach Süden drängt.
Gleicht mehr den Barten nasser Robben oder Wale
Als einer Priesterin erhabner Ideale —
Erloschnes Feuer entströmt dem Auge und dem Loche
Ihres Federhalters; und in dieser Woche
Ließ man sie mehr als siebenmal allein..
Und sie faßt es nicht, trotz aller Reimerein.

Eine ähnliche Behandlung erfuhr ihre Ehe mit dem »Hahnrei«, Harold:

Im Rundfunk schwafeln sie (der Hahnrei und sein Weib)
Vom ehelichen lieben zu ihrem Zeitvertreib,
Als wären ihre Leben ein einzger langer Kuß
Und sie die Musterbilder von Lieb und Hochgenuß.
Dabei sind sie in Wahrheit aus demselben Holz —
Schwankend in der Treue, noch im Versagen stolz.

Vita und Harold beschlossen, auf Vergeltungsmaßnahmen zu ver­zichten. Am 23. März antwortete Vita auf eine Anfrage von Herbert E. Palmer mit Würde und ohne Falschheit:
»The Georgiad — ja, das ist eine schmerzliche und komplizierte Sa­che: Ich bewundere Roys Lyrik außerordentlich und habe sie en­thusiastisch rezensiert, wann immer ich Gelegenheit dazu hatte — und das gilt auch für meinen Mann. Es gibt, fürchte ich, keinen Zweifel, daß das ganze Gedicht einen höchst brutalen und schmut­zigen Angriff auf uns beide darstellt — auf unser Haus, unseren Gar­ten, unsere Freunde und sogar unsere Hunde!«
Sie berichtete Palmer, Roy habe acht Monate bei ihnen gewohnt, »als wir ihm und seiner Frau ein Cottage in unserem Garten überließen

  • »Tatsächlich hat er Stücke der Georgiad geschrieben, während er hier wohnte, was vielleicht nicht gerade sehr geschmackvoll war. Es ist nur fair gegenüber Roy, zu erwähnen, daß er und ich einen schrecklichen Streit haben und er sich daher, wie ich vermute, be­rechtigt glaubte, mich angreifen zu können, aber gegenüber Ha­rold hat er keinen Grund zur Klage, der ihm nie etwas anderes als Gutes getan hat...
    Trotzdem, ich weiß, daß er ein schwieriger Charakter ist, und hege wirklich keinen Groll gegen ihn, und ich werde ihn weiterhin für einen sehr guten Dichter halten. Ich hasse Gezänk unter Litera­ten und werde mich nie in eines hineinziehen lassen.«[11]

Sie hielt es für besser, ihren bereits starken einsiedlerischen Nei­gungen nachzugeben und sich auf ihren Garten und ihre neue Ge­liebte zurückzuziehen. Vita verbrachte ebensoviel Zeit in Sissinghurst wie in Long Barn; sie hatte jetzt auch ein Boot, mit dem sie und Evelyn an den langen Abenden den See befahren.
Als die Jungen (Nigel war jetzt bei Ben in Eton) in den Osterferien nach Long Barn kamen, trafen die Liebenden sich seltener, was das Begehren nur noch verstärkte. Doch eine wirkliche Schwie­rigkeit bestand darin, daß Evelyn nicht frei war; sie lebte mit einer anderen jungen Frau zusammen. Olive Rinder, die an Tuberkulose litt und zur Hysterie neigte. Trotzdem legte Olive eine nahezu über­triebene Großzügigkeit an den Tag und unterstützte Evelyns Affäre mit Vita nach Kräften. Nach Evelyns Ansicht war Harold eine wei­tere Schwierigkeit:

  • »Nicht, daß ich ihn nicht gern hätte. Aber am Samstagmorgen mußte ich immer nach London zurückkehren, weil er mit dem nächsten Zug übers Wochenende kam. Da er und Vita sich darin ei­nig waren, daß sie ihre Freundinnen und er seine Jungen haben durfte, verstand ich nicht, warum diese ganze Heimlichtuerei nötig war. Aber Vita war entschlossen, unsere Beziehung geheimzuhalten.«[12]

Wie Hilda Matheson in der Vergangenheit, hätte auch Evelyn nichts dabei gefunden, daß »Leute über uns reden« (weil Olive Rinder etwas über Vita und Mary Campbell hatte »munkeln« hö­ren): »Ich habe eine meiner Anwandlungen, die mich dazu bringen könnte, alles in der Times zu verkünden«, schrieb Evelyn. »Ich glaube nicht, daß es verheerend wäre, doch selbst wenn, wäre die Sache es wert.« Dieser Ansicht würde Vita sich nie anschließen, und wenn sie auch noch so verliebt, wäre. »Unsere Korrespondenz verkommt zu einer bloßen Auflistung heimlicher Treffen«, schrieb sie am 27. April von Long Barn an Evelyn; »bei heimlichen Lieben­den, vermute ich, unvermeidlich. Aber welch eine romantische Welt schließen diese beiden Worte ein.« Für Vita war Geheimhal­tung von ausschlaggebender Bedeutung. Sie hatte immer den Wünsch, ihre »romantische Welt« von der Außenwelt und von ih­rem Leben mit Harold fernzuhalten; darum gehörten die Wochen­enden ihm und keinem anderen. Vita war unendlich verschwiegen und raffiniert, obgleich sie sich selbst für ehrlich hielt.
So hatte sie auch Freude daran, in der Öffentlichkeit private Späße zu riskieren: so, als sie eine ihrer »Ländlichen Bemerkun­gen«, die sie für den New Statesman verfaßte, zur Gänze dem Thema »Scrape«* widmete. (* Scrape = Kratzer, Schramme, Kratzfuß, aber auch Klemme, Zwickmühle, Schwulität [Anm. (Anm. d. Übers.])
»Scrape« war das Wort, das Dottie, Hilda und Harold benutzten, um ihre lästigen Affären zu umschreiben; »Scrape« war der insgeheime Spitzname für Evelyn; »Scrape« ist aber auch eine Krank­heit bei Schafen. Sie schrieb in ihrem Artikel. Scrape (bei Schafen) sei »nichts weniger als Heimweh; es tritt nur bei Schafen auf, die sich nach ihrem angestammten Land sehnen«: »In diesem Fall ist das Heimatland zufällig das schottische Hochland... Das einzige Heilmittel, so sagt mein Freund, besteht darin, die Art mit einem südlichen Widder zu kreuzen, was offenbar zur Folge hat, daß der Norden sich im Süden wohl zu fühlen beginnt.«[13] Verliebt zu sein half Vita immer beim Schreiben. Ihre Überset­zung der Duineser Elegien von Rilke — begonnen mit Margaret Goldsmith Voigt und am Ende in Zusammenarbeit mit Eddy Sackville-West fertiggestellt — war in einer limitierten, signierten, von Eric Gill illustrierten Ausgabe erschienen. »Meine eigene Produk­tion ist einfach schrecklich (in der Quantität, meine ich, nicht in der Qualität)«, schrieb sie Mitte Mai an Evelyn. »Ich höre nie auf, Geschichten und Artikel zu schreiben... ich muß das Beste daraus machen, solange die Schreibwut andauert — aber es ist minderwer­tiges Zeug.« Die Geschichten wurden im Jahr darauf unter dem Titel Thirty Clocks Strike the Hour veröffentlicht, wobei die Titel­geschichte eine Beschwörung ihrer Kindheit in Seerys Pariser Appartement darstellt. Sie schrieb auch Gedichte: Die in ihren Collected Poems »1931« datierten Liebesgedichte sind an Evelyn gerichtet, doch die stärker erotisch betonten veröffentlichte sie nicht. Ein anderer riskanter Spaß: Sie überredete Evelyn, eine Ge­schichte für eine Zeitschrift zu schreiben und sie als »von V. Sackville-West« verfaßt zu verkaufen - Evelyn strich das Honorar ein.
Wie schon mit Hilda, erörterte Vita auch mit Evelyn die Freuden und Probleme homosexueller Liebe. Vita liebte Evelyn in der ele­ganten Garderobe, die sie in Ascot trug oder um über die Pariser Mode für ihr Blatt zu berichten. Es machte ihr Freude, Evelyn zu beschenken — ein neuer Handkoffer, voll mit seidenen Männerpyja­mas, Blumen, die sie ihr in ihr Büro bei der Daily Mail schickte, eine diamantenbesetzte Armbanduhr, Alella-Wein, ein Ring — »Deine Fessel«. Evelyn war es nicht gewohnt, die feminine Rolle zu spielen; sie liebte Orlando, doch sie liebte auch Vita, die Frau. Sie beuteten ihre Verschiedenheit aus, wie Vita sagte: »In mir hast du zwei Sai­ten einer Lyra, auf denen du spielen kannst.«
Die vielfache Abwechslung, die ihnen ihre »hermaphroditischen Seelen« bescherten, war angenehm. »Unsere innerhomosexuelle Homosexualität ist so beschaffen«, schrieb Evelyn, »daß wir nicht den naheliegenden Nutzen daraus ziehen, sondern lieber in ähnli­chen Rollen erscheinen. Am Freitag könnten es zum Beispiel, die des Gärtners und des Wasserjungen sein.«
Doch bereits Mitte August veränderte sich Vitas totale Hingabe an die Liebe, und Evelyn war einzusehen gezwungen, was andere vorher und andere nach ihr einsehen mußten. Sie begann zu ah­nen, daß sie für Vita »ein Spaß oder eine Zerstreuung« war: »Ich bin keinesfalls ein Teil deines Lebens. Nicht, daß ich nicht unge­heuer glücklich wäre, einen Teil von dir zu besitzen, wie klein er auch sein mag: ich liebe und verehre deine Briefe, und ich denke, daß du ein Schatz bist, mir jeden Tag zu schreiben und mit mir zu lunchen, wenn du vielleicht auch bei Boulestin speisen könntest.«
Olive Rinder komplizierte die Angelegenheit letztlich doch. Zwar ermutigte sie Evelyn in ihrer Affäre mit Vita, aber dahinter verbarg sich Verzweiflung; sie wurde krank und gab ihre Stellung auf. »Der Teufel hole mein Eheleben und deines auch«, schrieb Evelyn. Um das Ganze noch gefährlicher zu machen, ließ Vita sich auf eine ihrer zerstörerischen Dreiecksbeziehungen ein. Olive, die eines Tages nach Sissinghurst kam war von Vita derart fasziniert, daß sie es Vita ohne Umschweife mitteilte. »Verlieb dich nicht in sie wegen ihrer Zerbrechlichkeit, für die man so empfänglich ist«, warnte Evelyn. Aber Vita, für Zerbrechlichkeit und Verehrung stets anfällig, stieß Olive nicht zurück. Vita liebte es. geliebt zu werden.

Kapitel 22

Erloschenes Feuer erschien Ende Mai 1931, als Vitas leiden­schaftliche Beziehung zu Evelyn Irons auf dem Höhepunkt war. Am 11. Juni schrieb Virginia an Vita, der Verkauf sei »sehr gut... Mein Gott! Welch eine Freude!« Vita hatte sich wegen des Romans Sorgen gemacht, als sie die Fahnen gelesen hatte; damals erschien er ihr als »ein schwaches Buch«. »Es ist ganz, ganz bedeu­tungslos«, schrieb sie Evelyn, »und die Kritiker werden mich in Stücke reißen.« Trotzdem hatte sie sich nach Erscheinen mit dem Buch auf eine Weise wieder versöhnt, wie es bei Schloß Chevron nie der Fall gewesen war. Erloschenes Feuer trug ihr eine große Zahl von Leserbriefen ein, »weit mehr als Schloß Chevron. Das freut mich, weil dieses Buch besser ist.« Sie begann auf der Stelle mit der Arbeit an einem neuen Roman, Eine Frau von vierzig Jahren, des­sen Heldin sie Evelyn nannte.
Den doppelten Triumph von Schloß Chevron und Erloschenes Feuer teilte sie mit den Woolfs, ihren Verlegern. Doch Virginia trau­erte um den Verlust Vitas oder um das, was ihr der Verlust Vitas zu sein schien. Potto (Virginias Name für ihr liebendes Ich) war Ende Juli »an gebrochenem Herzen gestorben«. Im Oktober schaltete sich Ethel Smyth ein — die gelegentlich nach Long Barn kam, um mittels ihres Hörrohrs den Nachtigallen zu lauschen. Virginia hatte sie gefragt: »»Aber glaubst du, daß Vita mich wirklich in ihrem Le­ben will?< Und ich war gerührt, und ihre große Einsamkeit tat mir leid«; also schrieb die großzügige alte Ethel an Vita, wobei sie klu­gerweise noch hinzufügte:
»Denn wir beide wissen natürlich, daß Virginia in gewisser Weise andere Leben nur am Rande berührt — vermutlich selbst die von Vanessa oder Leonard; daß die menschliche Nähe, die andere errei­chen können, für ihresgleichen nicht möglich ist — und nicht mög­lich wäre, selbst wenn ihr Leben von körperlicher Liebe aller Arten überquellen würde... Und darum möchte ich, daß du ihr mensch­lich entgegenkommst — jedenfalls hatte ich das Gefühl, sie hätte gern die Bestätigung, daß du >sie wirklich in deinem Leben willst< - auf eine sehr menschliche Weise.«
Vita besuchte Virginia — sie spazierten »immer wieder um Tavistock Square herum und sprachen über Die Wellen — bevor sie zum Rund­funk ging und dann nach Chelsea, um mit Evelyn und Olive zu spei­sen. Ein paar Tage später besuchten sie abends eine Vorstellung von Ethel Smyth' The, Wreckers und gaben danach für sie ein Dinner.
Vita machte Virginia sogar mit Evelyn bekannt, da Virginia den Wunsch geäußert hatte, zu sehen, wie eine Zeitung gedruckt wurde. Auch Leonard kam mit, und Evelyn führte die drei im Daily Mail herum: sie sprachen mit den Setzern in der Setzerei, sahen zu, wie die Überschriften gesetzt wurden, und Virginia, der das Drucken nicht fremd war, stellte Fragen, die zeigten, daß sie sich auskannte. In der »Morgue«, wo die Nachrufe solange aufbewahrt wurden, bis sie gebraucht wurden, lasen Vita und Virginia die ih­ren. Vita faßte beide in Verse zusammen. Über ihren eigenen Nach­ruf schrieb sie:

Ein altes Haus und ein Name, der zählt.
Mit fremden romantischen Zügen vermählt:
»Spanische Zigeunerin und spanischer Adel.
Vermengt mit echtem englischen Blut.
Und ein baskischer Hirte noch als Ahne
Und ein paar erbärmlich schlechte Romane
Und ein paar Verse, die gelungen sind.«[1]

Dies alles geschah, nachdem Vita und Evelyn Irons zusammen eine Ferienreise in die Provence unternommen hatten. Virginia wußte, daß Vita mit ihrer Gefährtin gereist war: Harold wußte es nicht. Vita hatte ihm gesagt, daß eine Klimaveränderung und Wärme ihre immer wiederkehrenden Rückenschmerzen und ihren Ischias lin­dern würde. Daß sie nicht allein fuhr, verbarg sie ihm, und sie machte sich sogar die Mühe, in ihrem Tagebuch »Ich« und nicht »Wir« zu schreiben. Alle Hinweise auf Les Baux (einer der Orte, die sie besuchten, und Höhepunkt der Reise) überkritzelte sie später in Evelyns Briefen mit »Ägypten, Ägypten, Ägypten«.
Für dieses Täuschungsmanöver gab es gute Gründe. Harold war noch immer auf dem Tiefpunkt. Zu Beginn des Jahres 1931 hatte er sich, trotz Vitas Mißbilligung; (die Oswald Mosley verabscheute), Mosleys »New Party«* angeschlossen. (* Sir Oswald Ernald Mosley (geb. 1896) zunächst Labour-Politiker, gründete 1931 als Ant­wort auf die Sozialpolitik der Regierung die vom italienischen Faschismus beeinflußte »New Party«, die er 1932 zur Union of Fascists« umformte [Anm. d. Übers].)
Er mochte Mosley und wünschte nichts sehnlicher, als in das öffentliche Leben zurückzu­kehren. Im April gab er seine Radiosendung »Menschen und Dinge« auf, um sich auf die Politik zu konzentrieren. Im August schied er beim Evening Standard aus, um Action, die Zeitung der »New Party« herauszugeben — bei einem weit geringeren Gehalt. (Vita sah das als Gelegenheit, Olive Rinder zu helfen, und sorgte dafür, daß ihr die Redaktion der Frauenseite in der Action übertra­gen wurde;
Es war ein furchtbares Wagnis, und Harold war gar nicht zuver­sichtlich. Am 12. September traf er mit Vita in Sissinghurst zusam­men und schrieb in sein Tagebuch: »Düsternis: Feuchtigkeit: Furcht: Sorgen: Verwirrung: Niedergeschlagenheit.« In seiner Furcht baute er vertrauensvoll auf die Dauer und das Verständnis seiner Beziehung zu Vita. Sie antwortete mit dem weiblichen Trost, den er so dringend brauchte. Was zu dieser Zeit zwischen ihm und ihr geschah, hat sie in Erloschenes Feuer beschrieben: »Sie mußte schnell entdecken, ob er etwa ein tröstendes Wort brauchte, wenn eine augenblickliche Entmutigung ihn befallen hatte, wenn er un­ruhig zu ihr kam und sich über ihren Stuhl neigte, ohne etwas zu sa­gen, aber darauf wartete (wie sie wußte), daß von ihr ein sanfter Schutz kam und sich wie eine sichere Hülle um ihn legte.«
Am Tag ihrer Abreise nach Frankreich hielt er in seinem Tage­buch fest, er und Vita seien einander unentbehrlich, und er ge­dachte dankbar ihrer vollkommenen Harmonie. »Niemand sonst weiß darum oder versteht sie.« An sie schrieb er: »Ich teile mit dir das Vergnügen, unter Olivenbäumen zu sein. Selbst wenn ich nicht bei dir sein kann, bin ich so eins mit dir, daß von den Dingen, die du als warm und schön empfindest, ein schwacher Hauch bis zu mir dringt.« In der Provence wanderten Vita und Evelyn zwölf Mei­len von Tarascon und Les Baux: sie fuhren weiter nach Arles und Nimes. Vita selbstsüchtig, leidenschaftlich und Gedichte schrei­bend: »Liebe mich, das genügt; alles andre schenk ich dir«:

Mein ich's nicht gut? Ich will nicht kleinlich sein.
Ich lege dir die ganze Welt zu Füßen.
Bloß mein geheimes Wort präg ich dir ein.
Damit du fähig werdest, mich zu grüßen.[2]

Diese Zeilen sandte sie Evelyn nach ihrer Rückkehr aus Frank­reich. Während Vita fort war, hatten Ben und Nigel ihren Eltern zum Hochzeitstag ein Telegramm geschickt: »Gratulation zu 18 glücklichen Ehejahren. Benedict und Nigel.« Vita hätte darin keine Ironie gefunden. Harold höchstwahrscheinlich ebensowenig, selbst wenn er die Tatsachen gekannt hätte.
Bei ihrer Rückkehr fand Vita nichts als Kummer und Elend vor. Ben hatte in Eton »so etwas wie einen Nervenzusammenbruch« er­litten. Vita besuchte ihn: »Hadji war zu beschäftigt, um mitzukom­men«. Die erste Nummer der Action erschien. »Hadji ist fleißig, viel zu fleißig: Ich wünschte, er wäre es nicht, aber es hat keinen Zweck, etwas zu sagen«, schrieb Vita am 14. Oktober in ihr Tage­buch. Am folgenden Wochenende in Long Barn war er wegen seiner Zeitung und der bevorstehenden Wahlen zum Unterhaus, zu denen er als Kandidat der »New Party« antrat, ein »Nervenbündel«. Vita ließ ihn nicht im Stich. »Meine Heilige«. schrieb er ihr, »selten habe ich die Wirkung deiner Liebe so tief empfunden wie gestern nacht. Ich war ganz ungefestigt und entnervt - und du hast mich aufge­richtet.«
Bei der Wahl am 27. Oktober schnitt die »New Party« sehr schlecht ab, alle 24 Kandidaten verloren ihr Reugeld.* (* Jeder Unterhauskandidat muß ein »Reugeld« deponieren, das er einbüßt, wenn er nicht einen Mindestanteil der Stimmen bekommt [Anm. d. Übers.].)
Das war das Ende für Harold. (Mosley wandte sich danach dem Faschismus zu, und Harold folgte ihm nicht.) Die Action stellte bald danach ihr Er­scheinen ein, so daß Olive Rinder wieder ihre Stellung verlor. Auch ihr Verhältnis zu Evelyn verschlechterte sich zusehends.
Die Schuld lag zum größten Teil bei Vita. Olives Liebesbezeugungen hatten an Intensität zugenommen, und Vita hatte sie erwidert. Zwei Briefe pro Tag, in Vitas unverwechselbaren dunkel­blauen Umschlägen, die in der Wohnung in Royal Hospital Road eintrafen, sorgten für häuslichen Unfrieden. Vita liebte Evelyn noch immer, um so mehr nach dem erfolgreichen Provence-Ur­laub, und die Verwirrung, das Unglück und das Schuldgefühl die­ses Eifersuchtsdramas zu dritt führte zu Streitereien, Erklärungen, Versöhnungen und neuerlichen Streitereien.
In den Leben beider Nicolsons war ein Tiefpunkt erreicht, unge­achtet der Erfolge, die Vita mit ihren Romanen hatte. The Georgien! war längst kein Gesprächsstoff mehr. Zwei Tage vor Weihnachten 1931 ging Vita zu Harolds Bank - er war ohne Stellung und Einkom­men — und machte einen »ungern gegebenen Kredit« locker, für den sie vermutlich selbst bürgte. »Meine finanzielle Zukunft sieht so schwarz aus, daß ich nur stöhnend in den Abgrund blicke. Ich komme mir unheilbar minderwertig vor«, schrieb Harold in sein Tagebuch. Vita, tief im emotionalen Morast steckend, ließ sich zu Täuschungen, Hinterhältigkeiten und Briefen unwürdiger diplo­matischer Zweideutigkeiten an Evelyn und Olive herab, deren »Ehe« inzwischen schwer zerrüttet war.
Inmitten all dieser Schwierigkeiten schrieb Vita so viele Artikel und Kritiken, wie sie nur konnte, dieses Mal nicht so sehr aus der Hochstimmung der Liebe, sondern des Geldes wegen. Sie nannte diese Arbeiten ihre »Knochen« - analog einem Hund, der seinem Herrn Knochen zurückbringt. Virginia (durch Ethel Smyth Berichte auf dem laufenden gehalten, die diese von Hilda hatte - auch sie jetzt ohne Stellung, weil sie aus Protest gegen Reith's* (* Sir John Reith, Generaldirektor der BBC. verbot H.N., den Olyssey in einer Vortragsreihe über moderne Literatur zu behandeln [Anm. d. Übers.].) Wei­gerung, Harold den Ulysses in der BBC besprechen zu lassen, no­blerweise gekündigt hatte) war der Ansicht, »das ganze Gewicht der Nicolsons« ruhe jetzt auf Vitas Schultern, die »so viel arbeitet, daß sie nicht mehr schlafen kann«. Virginia verstand nicht, warum die Nicolsons sich nicht einschränkten - der Butler, die Söhne in Eton, sowohl Long Barn als auch Sissinghurst »in vollem Gang«, alles erschien Virginia überflüssig.
Doch anders als ihre Lady Slane in Erloschenes Feuer wollte Vita sowohl alles haben als auch alles tun, in der Liebe wie im Leben, und sie hatte immer noch die Kraft, es zu versuchen. Oder war sie »sich selber treu«? Am 11. Januar schrieb ihr Olive Rinder: »Aber du hast nun mal gern deinen Kuchen und ißt ihn — und so viele Ku­chen, so viele, ein Übermaß an süßen Sachen... Liebling. Liebling, ich bete dich an.« Im Januar wurden Vita und Olive ein Liebespaar: von da an unterwarf sich Olive wie ein Kind Vitas Willen. »Ich bin ganz und gar die deine, und alles, was du mir sagst (mag es auch unangenehm sein), werde ich tun.«
Trotz Unglück und Aufruhr nahm Sissinghurst Gestalt an. Anfang 1932 waren die Hauptwege gepflastert, Rasenflächen angelegt und »Sissinghurst Crescent«, östlich von Vitas und Harolds Cottage, mit Treppen zum Schloßweg, vollendet. Am »Boys' Cottage« hatte sie einen Rosengarten angelegt, und fast das ganze alte Gerümpel war fortgeräumt. Doch am 31. Januar 1931 schrieb ein deprimierter Harold in Sissinghurst in sein Tagebuch: »Im Seerosenteich liegt eine tote, ertrunkene Maus. Ich fühle mich wie diese Maus — regungslos, fett und verwesend. Viti ist ruhig, tröstlich und rücksichtsvoll.« Sie ermutigte ihn, wieder zu schreiben, und er folgte ihrem Rat. Soweit wie möglich hielt sie das Chaos ihres Privatlebens von ihm fern, zum einen, weil sie ihn nicht noch mehr belasten wollte, zum anderen, weil sie wußte, daß er auf ihr »Durcheinander« mit verzweifelter Mißbilligung reagieren würde. Beim Überschlagen seiner Schulden in seinem Tagebuch schrieb Harold: »Ich bin es, der das Durchein­ander angerichtet hat - nicht Viti. Und niemals läßt sie mich einen Hauch von Vorwurf spüren.« Er warf Vita nichts vor. Die Tatsache unterschlagend, daß sie es gewesen war, die ihn jahrelang gebeten hatte, einen Beruf aufzugeben, der ihm gefiel, suchte er die Schuld bei B.M. und den Auseinandersetzungen mit ihr über Geld:

  • »All unsere gegenwärtigen Ängste und Demütigungen rühren da­her, daß wir auf die festgesetzte Jahresrente von 24O0 Pfund ver­zichtet haben. Dafür habe ich die Diplomatie aufgegeben und das Joch des Journalismus auf mich genommen. Die Leute glauben, ich hätte meine Seele für Geld verkauft. Sie begreifen nicht, daß ich meine Rechte und meinen Stolz freiwillig hingegeben habe. Welch ein Durcheinander.«

In seinem Mangel an Selbstachtung kamen ihm immer wieder Zweifel über die Art, wie Sissinghurst sich entwickelte; daran an­knüpfend, war er imstande, ihr zu sagen, daß er sich ausgesetzt fühle: er wies Vita darauf hin. daß sie — da sie im South Cottage schliefen und im Priest's House aßen — »wenn wir alt sind, sterben werden, wenn wir jedesmal zwischen den Mahlzeiten eine Land­partie machen müssen. Und das bei Nacht.« Aber Vita gefiel alles, so wie es war. Er beklagte sich auch darüber, daß er weder in Sissinghurst noch in Kings Bench Walk ein Zimmer nur für sich al­lein habe: »Ich möchte keinen Raum häßlich machen, aber ich möchte das Gefühl haben, daß es in einer privaten Wohnung Frei­räume für mich gibt, für eine Orgie schlechten Geschmacks. Das Verdrießliche daran ist nur, daß ich Vitis Geschmack liebe — und mich in Wirklichkeit nie von ihm abzusetzen wünsche. Ich möchte bloß ein Zimmer für mich haben.« Aber Vita konnte ihn immer wieder aufrichten oder zum Lachen bringen, indem sie die Ausein­andersetzung mit dem Vorschlag beendete, sie sollten beide nach Biarritz oder Syrakus ausreißen, wenn sie auch kein Geld hätten.
Währenddessen lüftete Louise die persischen Teppiche, die B. M. gerade aus Streatham geschickt hatte - »von Motten zerfressen, aber prächtig«, wie er schrieb: »Es ist bezeichnend für unser Da­sein, daß wir ohne festes Einkommen... in einem Durcheinander von Museumsteppichen, Schloßruinen und Geldsorgen leben... So ist unser Leben. Arbeit, Unsicherheit und riesige kapitalistische Vorhaben. Und machen wir es falsch? Bei Gott, wir machen es nicht falsch.«
B.M. schickte ihnen nicht nur Teppiche, sondern auch Glas, einen blauen Buddha und acht Bronzeurnen für den Garten aus Bagatelle. Ein weicher chinesischer Teppich wurde für Harolds Wohnzimmer bestimmt — das, abgesehen von der Ausstattung, aus­schließlich sein Zimmer war, da Vita es nie benutzte, die zu allen Zeiten ihr Turmzimmer vorzog.
Virginia erklomm Vitas Turm am 29. März 1932 zum ersten Mal, als sie und Leonard zum Essen kamen, das aus Lachs, Himbeeren mit Sahne und »von Lady Sackville geschickten kleinen vielfarbi­gen Pralinen« und »vielen, vielen Drinks« bestand. Vita trug Breeches und ein rosa Hemd. Sissinghurst war romantisch, doch die nüchternen Woolfs waren entsetzt über den Aufwand an Arbeit und Mühe, der damit verbunden war.
Zwei Jahre lang hatten die Nicolsons halb in Long Barn, halb in Sissinghurst gelebt; Anfang April forcierte Vita den Auszug, indem sie Long Barn vermietete: Sissinghurst, wo inzwischen ein Tele­phon installiert war, wurde ihr einziges Familiendomizil. Noch immer traf sie sich mit Evelyn Irons und Olive Rinder, schlief mit beiden und wehrte Krisen mit beiden ab. »Das Leben ist zu kompli­ziert - manchmal habe ich das Gefühl, daß ich mit allem nicht fertig werden kann«[4], schrieb sie an Virginia, die sich in Griechen­land aufhielt. Dieses Mal vertraute sie Virginia ihr »Durcheinan­der« nicht an, noch antwortete sie auf ihre besorgte Frage: »Warum ist das Leben im Augenblick so kompliziert? Geld? Dottie? Schrei­ben?«[5]
Vita nahm Evelyn mit, als sie am Somerville College, Oxford, Evelyns altem College, einen Vortrag hielt. Anfang Juli fuhren Eve­lyn und Olive zusammen nach Lamorna in Cornwall und bezogen ein Cottage. Vita hatte gerade das Manuskript ihres neuen Romans Eine Frau von vierzig Jahren an die Hogarth Press geschickt und war frei. Sie richtete es so ein, daß sie das Paar in Cornwall besu­chen konnte, wobei sie jedem erzählte, sie fahre weg, um sich zu er­holen. Evelyn wurde zum Schweigen verpflichtet: »Höre, ich habe es H. N. nicht gesagt, daß ich euch aufsuchen werde. Also erzähle es bitte niemandem.« Harold ermunterte sie, solange fortzublei­ben, wie ihr notwendig schien: »Es ist viel wichtiger, daß deine Bat­terien wieder aufgeladen werden, als daß du dir Sorgen um meine Einsamkeit machst... Also werde ich dich nicht erwarten, bevor ich dich sehe, mein einziger Liebling.«
Der Besuch in Lamorna war eine Katastrophe. »Es gab furcht­bare Streitigkeiten schmutziger, demütigender Art wegen all der Verwicklungen und Eifersüchteleien ... Es war die Hölle.« Das war Evelyns Meinung. Vita kam heim und sagte Harold kein Wort. Die Briefe zwischen den drei Frauen wurden länger und verzweifelter. Am 15. Juli schrieb Vita an Evelyn:

»Oh, wie ich den Schlamassel hasse, in den ich euch beide unab­sichtlich gebracht habe. Wärest du damit einverstanden, wenn sie

  • [Olive] für einen Tag herkäme, oder nicht? Du scheinst deine Beherrschung wiedergewonnen zu haben. Ich nehme es dir nicht übel — in deiner Lage würde ich dasselbe tun. Ich denke, ich werde allein auf meine Bananeninsel gehen. Zumindest würde ich dort niemandem Ärger bereiten.«

Evelyn Irons nahm ihr Leben auf eine Weise in die Hand, die Vita nicht voraussah. Anders als viele Menschen, die Vita liebten, fehl­ten ihrem Charakter infantile oder masochistische Züge. Am Tag zuvor hatte sie auf einer Party eine andere Frau kennengelernt und sich in sie verliebt. Durch die Streitigkeiten und Betrügereien der vergangenen Monate erschöpft, jedoch immer noch stark an Vita gebunden, verheimlichte sie ihr zunächst alles. Doch am 1. August wurde Vita argwöhnisch: »Liebling, was ist das für eine geheimnis­volle Unternehmung, die dich am Wochenende ferngehalten hat? Und warum war dir plötzlich soviel daran gelegen, daß Olga [Olive] hierherkam? Ich habe das Gefühl, daß da etwas im Gange ist.« Also sagte Evelyn Vita die Wahrheit. Das war eine Situation, mit der Vita nicht vertraut war. Sie schrieb an Evelyn:

  • »Die widerstreitenden Gefühle machen mich körperlich krank. Ich glaube, wir hätten bei den verschiedenen Vorwürfen und Wün­schen, denen wir ausgeliefert waren, besser aufhören sollen. Das einzige, was ich vielleicht zu meiner Verteidigung anführen könnte ist, daß alles so allmählich und so schleichend vor sich ging, daß es keinen genau bestimmbaren Augenblick gab, in dem mir klar­wurde, was geschah. Andererseits habe ich nie aufgehört, dich zu lieben — ich tue es immer noch — und ich bin mehr denn je über­zeugt, daß es möglich ist, zwei Menschen zu lieben ... Wir wollen uns an Les Baux erinnern und alles andere vergessen.«

Olive Rinder war das wirkliche Opfer in der Geschichte, denn sie mußte Evelyns Wohnung verlassen, als deren neue Geliebte (es sollte eine Liebe fürs Leben werden) einzog. Vita besorgte Olive ei­nen Bungalow, Nightingale Cottage, in der Nähe von Sissinghurst und unterstützte sie finanziell. Harold, der ja die Hintergründe nicht kannte, hieß es gut, daß Vita sich um Olive kümmerte, für die auch er nach dem Ende der Action eine gewisse Verantwortung empfand. »Ich hoffe sehr, daß es O. R. besser geht — armer, lädierter kleiner Buchfink — so tapfer.«
Vita fuhr fort, Evelyn zu schreiben; in erster Linie berichtete sie über Olives Gesundheitszustand und legte ihren Briefen kleine nostalgische Zeichen bei — einen Kofferaufkleber von ihrer Pro­vencereise, einen Rosmarinzweig, der von einem Ableger aus Les Baux stammte. Im Oktober schrieb sie:
»Liebling, ich dachte, ich sollte dich wissen lassen, daß es Olive wirklich besser zu gehen scheint...
Wirst du je herkommen, um sie zu besuchen? Es ist eine sonder­bare Umkehrung, nicht wahr? Sissihghurst ist jetzt ungemein hübsch, mit einem gepflasterten Pfad von der Vorhalle zu meinem Turm und elektrischem Licht... du würdest es nicht wiedererkennen.
Aber Evelyn kam nicht.
Am 11. August, sechs Tage, nachdem sie von Evelyns Abtrünnigkeit erfahren hatte, sandte Vita ein Gedicht, das sie gerade ge­schrieben hatte, an Miss Evelyn Irons bei der Daily Mail und ver­merkte auf dem Einschlag: »Persönlich«. Sie nannte das Gedicht »Valediction« [»Abschiedsworte«]:

Wir liebten uns dereinst, vergiß es nicht.
Geliebte. Erinnre dich, daß sich kein Makel fand
An unsrer Leidenschaft — sie scheute nicht das Licht —
Und daß dein Leib erbebte unter meiner Hand.
Und wenn du auch, da alles wandelbar.
Dich jetzt von mir hast abgekehrt.
Bedenk dabei, daß unser Herz fürwahr
Ein rascher Überläufer ist und keine Träne wert.
Bemessen — vergessen — sollten die Worte Brüder sein?
So mögen sie sich, wenn sie wollen, reimen!
Verlasse du mein Herz, geh in ein andres ein.
Doch wenn du gehst, denk meiner im geheimen.[6]

Harold wußte, daß sie aus dem Gleichgewicht war, doch Vitas Selbsttarnung war erprobt und wirksam. Als sie, Harold und die Jungen ein paar Tage später bei den Woolfs zum Lunch waren, fiel Virginia nicht auf, daß etwas nicht stimmte; die ganze Familie er­schien ihr >sehr blühend... in jeden Winkel des Lebens überquel­lend«.[7]
Aber jemand anderem kam sie vor wie eine tragische Gestalt... All diese Schönheit ringsum, und sie ist nicht glücklich.« Das war am Tag, bevor sie die »Abschiedsworte« abschickte, und die scharfsichtige Besucherin in Sissinghurst war eine ältere Frau. Christopher St. John. Vita zeigte Christopher und ihren Begleiterinnen ihr Schlafzimmer. »Während ich ein verblaßtes Stück grünen Samts auf ihrem Toilettentisch betrachtete, spürte ich, wie mein ganzes Dasein sich in Liebe auflöste. Von diesem Augenblick an habe ich nie aufgehört, sie zu lieben«, schrieb Christopher.
Die große Schauspielerin Ellen Teny, die Heldin von Vitas Ju­gend, hatte ihr Leben in einem malerischen und einfachen Cottage in Smallhythe beschlossen, nur wenige Meilen von Sissinghurst entfernt, das jetzt von einem sonderbaren Trio bewohnt wurde: El­len Terrys alternder Tochter Edith (Edy) Craig, der Malerin Clare Atwood (bekannt als »Tony«) und Christopher St. John.
Christopher St. Johns richtiger Name war Christabel Marshall; sie hatte seit 1899 mit Edy Craig in deren Londoner Wohnung in Covent Garden und später in dem Cottage in Smallhythe zusam­mengelebt. Unzulänglich unterhielt sie sich durch Musikkritiken und Buchmalereien. Sie war eine glühende katholische Konverti­tin: ihr »St. John« stand für Johannes den Täufer, für den sie eine besondere Verehrung hegte. Als Vita sie 1932 kennenlernte, hatten sie und Edy Craig gerade ihre gemeinsame Ausgabe von Ellen Terrys Memoirs abgeschlossen.
In ihrer alten Scheune in Smallhythe, die zu einem Theater um­gebaut war, führte Edy Craig Stücke auf. Vita wurde eingeladen, im Scheunentheater The Land vorzutragen: nachdem sie zu einer Probe dort gewesen war, beschrieb sie Evelyn Irons die Szene:
»Die Leiterin ist die prächtigste alte Lesbierin - deiner Freundin Radclyffe Hall nicht unähnlich - doch ohne jeden Reiz für mich, wie ich mich hinzuzufügen beeile... Als ich versuchte, einen Blei­stift anzuspitzen, kam sie an und nahm ihn weg. >Geben Sie her< sagte sie, >keine Frau weiß, wie man einen Bleistift anspitzt.< Du kannst dir vorstellen, wie indigniert Orlando war.«
Zur Erinnerung an Ellen Terry gab das Scheunentheater einmal im Jahr eine größere Vorstellung. Vita und Harold waren am 24. Juli dort gewesen, um John Gielgud und Peggy Ashcroft, in Was ihr wollt zu sehen. Es war nicht die dominierende Edy Craig, auf die Vita den größten Eindruck machte, sondern deren Gefährtin Christopher St. John, die Vita an diesem Abend zum ersten Mal sah. An Vitas Augen fiel ihr auf, daß die Iris »wie eine Insel in das Weiße ge­setzt« sei. »Das ist normalerweise selten und wirkt sehr ausgewo­gen.« Christopher hielt Vita für eine furchtsame Frau. Als Dank für die Theateraufführung wurde die Truppe nach Sissinghurst einge­laden, wo Christopher sich unwiderruflich in ein Stück ausge­bleichten grünen Samt verliebte.
Mittlerweile hatte sich Vita, von Evelyn verlassen, Olive aufge­bürdet; Boski war gegangen, und Hilda übernahm einige ihrer Auf­gaben als Sekretärin; und die Croydon Repertoire Company führte eine Bühnenbearbeitung von Schloß Chevron auf. Am 18. Septem­ber trug Vita im Scheunentheater The Land vor; die Woolf's, Ste­phen Spender, William Pionier*, (* William Pionier (1903-1973) aus Südafrika stammender Lyriker und Romancier, der sich 1930 in England niederließ. Sein bekanntester Roman, Turbott Wolfe, erschien 1920 [Anm. d. Übers.].), Eddy Sackville-West, Raymond Mortimer und der mit ihnen befreundete Maler Eardley Knollys waren neben den örtlichen »Größen« zugegen. »Es war sehr erfreu­lich, und Viti ist überglücklich«, notierte Harold in seinem Tage­buch.
Freilich wußte Vita nicht, daß Stephen Spender und William Pio­nier während ihres Vortrages andauernd kichern mußten. Sie hat­ten Vita gern, doch die Kombination von Breeches, The Land und der feierlichen rustikalen Szenerie war zu viel auf einmal. Virginia tadelte sie nachher zornig. Vitas Lesung, schimpfte sie, habe ihr Tränen der Rührung in die Augen getrieben. (Sie ertrug es nicht, wenn Vita von jemand anderem als von ihr ausgelacht wurde.)
Mit Vitas Rezensionen im Rundfunk war es jetzt, da Hilda die li­terarische Abteilung nicht mehr leitete, vorbei; aber von Eine Frau von vierzig Jahren, Mitte Oktober erscheinend, wurden bereits im Vorverkauf 6000 Exemplare abgesetzt. Dieser nicht sehr bemer­kenswerte Roman, von Vita ihrer Mutter gewidmet, ist in erster Li­nie dadurch interessant, daß die Handlung sich mit den zerstören­den Auswirkungen »femininer« Liebe befaßt. Überdies unternahm Vita in diesem Buch eine Rechtschreibungsreform, die nirgendwo Zustimmung fand und die sie nie wiederholte. Sie führte »thatt« als Alternative zu »that« ein, um im Interesse der Deutlichkeit zwi­schen der Konjunktion und dem Relativpronomen zu unterschei­den: zum Beispiel: »I fear that thatt will irritate my readers.«
Von »thatt« abgesehen ist der Roman die Geschichte einer vier­zigjährigen Frau, Evelyn Jarrold, romantisch, fraulich und kon­ventionell. Sie hat eine enge Beziehung zu ihrem hübschen, sieb­zehnjährigen, in Eton erzogenen Sohn Dan, der sie verehrt. Diese gefühlstiefe Mutter-Sohn-Beziehung entspricht zwar nicht der zwi­schen Vita und Ben, doch ist der Dan des Buches ein idealisiertes Porträt von Ben — wie Vita ihm erzählte.
Im Erscheinungsjahr des Romans zeigte Ben ihr ein Gedicht von sich. Vita war begeistert und schrieb ihm: »Bist du nicht dankbar, daß ich es nicht mehr rechtzeitig erhielt, um es in meinem Roman aufzunehmend Ha. ha! Aber wie wünschte ich jetzt, ich hätte Dan ein paar Gedichte schreiben lassen, anstatt ihn zu einem Maler zu machen. Ich hätte wissen müssen, daß er ebensogut ein Dichter wie ein Maler hätte sein können. Wie dumm von mir.« In Eine Frau von vierzig Jahren verliebt sich Dans Mutter, Evelyn, in den fünfzehn Jahre jüngeren Miles Vane-Merrick — der Altersunterschied, auf den sich die Mißbilligung der Welt konzentriert, steht vielleicht für Homosexualität. Vane-Merrick ist der \. Sackville-West-Held mit Zügen von Harold: Er ist ein »»elisabethanischer Mann«. Mitglied des Parlaments, Gelehrter und Schriftsteller, groß, gutaussehend, landliebend, politisch linksstehend, voller Hingabe an seine Arbeit und sein Heim — ein Schloß auf dem Land, das bis ins Detail Sissinghurst entspricht. Evelyn ärgert sich über Miles Bedürfnis, al­lein zu sein, um sich dem Schreiben, der Politik und der Landwirt­schaft widmen zu können: sie will, daß er immer bei ihr ist, sie strebt nach einem romantischen Idyll ohne Unterbrechungen. Ob­gleich die beiden eine tiefe Liebe verbindet, wird ihre Beziehung durch ihre unvernünftigen Erwartungen zerstört.
Der Roman ist eine Rechtfertigung der Idee von der »getrennten Entwicklung« in einer Ehe, die Harold und Vita selbst praktizier­ten, und eine Verdammung der ausschließlichen, besitzergreifenden Liebe. Unfähig, ohne Miles zu leben, stirbt Evelyn — nach einer rührseligen. 32 Seiten langen Krankheit, würdig eines viktorianischen Liebesromans. Der Roman enthält auch eine Skizze des Bloomsbury-Milieus (dem die konventionelle Heldin zutiefst miß­traut), in dem Miles' intellektuelle Freunde Viola und Anquetil le­ben, die als gesellschaftlich subversive Figuren zuerst in Schloß Chevron auftauchten. Der Roman wird davor bewahrt, ein Traktat zu sein, weil die Verfasserin, so sehr sie Evelyns Wertvorstellungen auch mißbilligt, ihren Charme, ihre Anziehungskraft und ihre Gut­gläubigkeit ebenso überzeugend zu vermitteln weiß.
Harolds Public Faces* erschien etwa um dieselbe Zeit wie Vitas Eine Frau von vierzig Jahren, und Michael Sadleir vom Verlag Constable erzählte ihm stolz, vor dem Erscheinen seien bereits 1600 Ex­emplare verkauft worden. (* Deutsch unter dem Titel Die Herren der Welt privat (1933) [Anm. d. Übers.].) Harold wies ihn auf Vitas erheblich bes­sere Zahlen hin. »Er sagt: >Aber sie hat sich auch durchgesetzt< Ich sage: >Wo durchgesetzt?< Er sagt: >Im Kleinbürgertum. Kaufe mir bei Fortnum & Mason ein Paar Schuhe.« Doch er ärgerte sich nicht über ihren Erfolg. »Für mich bedeutet sie ewige Sonne«, schrieb er an einem verregneten Oktobersonntag. Und Vita ließ sich durch den Erfolg ihrer Romane nie beeindrucken.
In dem Vakuum, das Evelyn Irons hinterlassen halte, ließ sie sich von Christopher St. Johns Bewunderung trösten — ein Fehler und gegenüber Christopher unfair. Sie nahm sie mit nach Long Barn, ließ sie ihre Hand halten, schenkte ihr eine Kette blauer Perlen aus Persien und schenkte ihr Hoffnung.
Christophers Verehrung bot auch Zuflucht vor den Geldschwierigkeiten — ihren eigenen und denen B. M.'s. Ihre Mutter wurde all­mählich blind; Vita entdeckte, daß sie auf einem speziellen Papier mit erhabenen Linien schrieb, Überdies wurde B.M. zusehends sonderbarer — sie gab z. B. Lunch Parties in ihrem Badezimmer in White Lodge, weil es der wärmste Raum im Haus sei. Als Vita am 4. November mit B. M. speiste und versuchte, sich über die schmerzliche Verstrickung ihrer Geldstreitigkeiten mit Lutyens Klarheit zu verschaffen, brach sie in Tränen aus und rief, »daß alles an ihr hängenbliebe und sie für alle Geld verdienen müsse«. Plötz­lich tat sie B. M. leid, und sie ordnete an, daß die Delikateßkörbe, die sie noch immer regelmäßig jede Woche von Selfridges bezog, nach Sissinghurst geliefert werden sollten.
Eine andere Ursache für Vitas nervöse Spannung war die Nach­richt, daß Violet Trefusis Virginia besucht hatte, um sich nach der Möglichkeit zu erkundigen, ihren Roman Tandem bei der Hogarth Press zu veröffentlichen. »Mein Gott, welch ein Spaß!« schrieb Vir­ginia an Vita:
»Jetzt verstehe ich genau, warum du so bezaubert warst — also: sie ist jetzt ein wenig zu füllig, ein bißchen verblüht — doch welch eine Versuchung! Welch eine Stimme — mit der Zunge anstoßend, stockend, welche Wärme und Geschmeidigkeit: und sie ist auf ihre Weise — es ist nicht die meine — liebenswürdig, wie ein Eichhörn­chen unter Jagdhunden — ein rotes Eichhörnchen zwischen brau­nen Nüssen. Wir blickten uns an und zwinkerten durch die Blät­ter.«[8]
Anfang November besuchte Vita Christopher St. John in Edy Craigs Wohnung in Covent Garden und ließ sie anschließend bis Tonbridge in ihrem Wagen mitfahren, wo sie in einen Zug nach London zurück umstieg. Vita erzählte ihr, daß »die Liste derer, die sie wirklich liebe, kurz sei und ich nun daraufstünde«. Auf der Westminster Bridge Road »streckte mir Vita ihre linke Hand entge­gen und sagte: >Ich liebe dich für alles, was du mir gibst<«. (Christo­pher führte, wie Mary Campbell, ein Liebes-Tagebuch über Vita.) Bevor sie Christopher in den Zug nach Hause setzte, parkte Vita den Wagen in einer Seitenstraße von Tonbridge. »Dann küßte sie mich wie eine Geliebte. In allen meinen Träumen von ihr hatte ich mir das nicht vorstellen können ... Ich habe mit Vita nie ein unge­trübtes Glück erfahren, bis auf diesen Novembertag.« Sie schrieb Vita am 10. November:
»Orlando, ohne Breeches, erlaube mir, dir zu sagen, daß du mir so genauso lieb bist wie mit Breeches. Ich denke nie an dein Ge­schlecht, bloß an deine Menschlichkeit. Ich könnte dich in Breeches Hellen oder in Röcken oder in jeder anderen Kleidung oder in gar keiner. Ich weiß, daß du eine Frau sein mußt — Beweis: dein Mann und deine Söhne. Aber wenn ich an dich denke, denke ich nicht an eine Frau und auch nicht an einen Mann. Vielleicht an jemanden, der beides zugleich ist, das vollkommene menschliche Wesen, das beide übertrifft.«
Am 20. Dezember 1932 schenkte Vita Christopher — die sehr unan­sehnlich und kauzig aussah und Ende Fünfzig war — eine Liebes­nacht, die sich nie wiederholen sollte. Kurz gesagt: Vita brauchte die Konsequenzen nicht zu tragen; binnen zehn Tagen würde sie mit Harold an Bord der Bremen sein, um für drei Monate nach New York und in die Vereinigten Staaten zu fahren.

Kapitel 23

Die Vortragsreise durch die Vereinigten Staaten wurde unter­nommen, um Geld zu verdienen. Als Hilda Matheson die Sekretärinnenaufgaben von Boski übernahm, führte sie Vita und Ha­rold vor, daß sie über ihre Verhältnisse lebten, was diese nur zu gut wußten; sie mußten »entweder unsere Kosten reduzieren oder unsere Einnahmen erhöhen«. Sie entschieden sich für das letztere. Hilda kümmerte sich um den Terminkalender und die Abrechnun­gen mit dem Colston Leigh Bureau (da Vita in Amerika besser bekannt war, hatte sie das anstrengendere Programm zu absolvie­ren) und brachte sie am 29. Dezember 1932 zum Schiff. Sie ließen ein Sissinghurst zurück, das sich im Lauf des Jahres abermals verändert hatte: Die Pappelalleen, die Eiben im vorderen Hof, die Ei­benallee und das Rondell waren gepflanzt worden. Während ihrer Abwesenheit lag alle Verantwortung für Sissinghurst bei Hilda: sie hatte ihr Heim nun auf Rocks Farm, die auf Dorothy Wellesleys Gut in Withyham lag.
In Amerika diskutierten sie im Rundfunk über das Thema »Was ich von der Ehe halte«: und Vita hatte Vorträge über das Romanschreiben vorbereitet, über »Romane und Romanschriftsteller«. »Wandel in der englischen Gesellschaft«. »Der Geist der Moderne in der Literatur«. »Reisen durch Persien« und »D.H. Lawrence und Virginia Woolf«. Sie wählte diese beiden, weil sie die Schrift­steller waren, die sie von ganzen Herzen bewunderte. Ihre Bewun­derung für Lawrence hatte zugenommen, seit sie seine veröffent­lichten Briefe gelesen hatte; sie ging so weit, an Ben zu schreiben, nach ihrem Gefühl sei er »eine Art Christus, ein zweiter Shelley«:
»Ein wirklich und wahrhaftig reiner Geist — ganz Flamme und keine Schlacke. Es kommt einem wie Ironie vor, wenn die Bischöfe und Sir John Reiths unserer Zeit ihn als einen pornographischen Schriftsteller betrachten ... und die Leute, die seine Gedichte miß­verstehen und seine Lady Chatterley mißverstanden, sind die wirk­lich schmutzigen Leute, nicht Lawrence selbst.«
Bei der Ankunft Anfang Januar 1933 in New York stiegen sie im »Waldorf Astoria« ab. Am ersten Abend trafen sie und Harold beim Dinner die Lindberghs. Fünf Jahre vorher hatte Colonel Lindbergh den ersten transatlantischen Alleinflug geschafft; erst kürzlich hat­ten sie für tragische Schlagzeilen gesorgt, als ihr einziges Kind ent­führt und ermordet wurde. »Man weiß, wieviel sie durchgemacht haben, und begegnet ihnen verlegen«, wie Harold schrieb. Anne Morrow Lindbergh war zu dieser Zeit wieder schwanger; und die Lindberghs und die Nicolsons sollten sich in der Zukunft noch häu­figer begegnen.
New York litt unter den Auswirkungen der Großen Depression; die Hotels waren halbleer und die Atmosphäre düster. Die Ankunft der Nicolsons, insbesondere die von Vita, war ein Ereignis von öf­fentlichem Interesse. Vitas Aussehen bei der Ankunft wurde detail­liert beschrieben:
»Sie trug einen braunen Filzhut von männlichem Schnitt und mit weicher Krempe und bekräftigte durch ihr Aussehen ihre Theorien von der Unabhängigkeit für Frauen. Sie trug ein blaues Woll-Ensemble mit einer slawischen Hemdbluse, kirschrote Ohrringe und Glasperlen von derselben Farbe. Ihre derben Straßenschuhe waren mit Ledersenkeln wadenhoch geschnürt. Wenn sie gegrüßt wurde, folgte sie dem Beispiel ihres charmanten Gatten und rückte nervös an ihrem maskulinen Hut.«
Die meisten Pressekommentare waren frei von diesem leicht ironi­schen Unterton; sie und Harold hatten in Amerika eine einmütig gute Presse. Reporter nannten sie großgewachsen, schön, lobten ihre weiche Stimme, ihre Natürlichkeit, ihre schönen dunklen Au­gen, die bernsteinfarbenen oder roten Samtkleider, die sie bei ihren Vorträgen trug, und ihre Juwelen. Bedauerlicherweise wurde sie oft irrtümlich als »Erbin von Knole« bezeichnet: »Sie hat den größten Landsitz in England geerbt.« In Buffalo wurde sie von einem Re­porter gebeten, sich das Rouge abzuwischen: »Er weigert sich, zu glauben, daß es meine natürliche Gesichtsfarbe ist, bis ich ihm an­biete, ihn meine Wange mit einem Taschentuch reiben zu lassen.«[1]
Ihre ersten Vorträge in Springfield und Yale verliefen gut, und sie begann sich zu entspannen. Sie hatten ein aufreibendes Pro­gramm, an dem Harold weniger Vergnügen hatte als sie. Am 13. Ja­nuar schrieb er an Ben:
»Mama hat schon vier Vorträge gehalten und ich drei. Wir sind ein allgemeiner Erfolg. Mama wird gefeiert wie keine zweite. Man schenkt ihr Orchideen, und Scharen von Leuten empfangen sie auf den Bahnhöfen. Du weißt, wie bescheiden sie ist. Es wird ihr gut­tun. Aber es ist wirklich enorm, welch ein großes Publikum sie in diesem Land hat und wie berühmt sie ist.«
Harold mochte die Zeitspannen nicht, in denen sie durch ihre ver­schiedenen Reisewege und Termine voneinander getrennt wurden. »Ich bin nicht dazu gemacht, Vorträge in den USA zu halten, außer ich werde von meiner Nachbarin begleitet.« (»Nachbar« hatte für Vita und Harold eine besonders zärtliche Bedeutung. In Long Barn, wo sie in angrenzenden Zimmern geschlafen hatten, pflegten sie sich jeden Tag, wenn Harold zu Hause war, mit »Guten Morgen, Nachbar!« zu begrüßen.)
Einen Museumsbesuch in Boston, in dem die Gobelins aus der Kapelle in Knole ausgestellt waren, wußte Vita zu vermeiden. In Washington wohnte sie in der Britischen Botschaft, die Lutyens ent­worfen hatte: »McNeds Botschaft hier ist wunderschön, aber das Dach leckt und alle Kamine qualmen. Wie entzückt Großmama wäre, wenn ich ihr das erzählte!« schrieb sie an Ben. Sie war zum Tee bei Präsident Hoover im Weißen Haus, ehe sie nach Buffalo, Niagara und Toronto weiterfuhr. »Oh, mein Liebling«, schrieb ihr Harold, »wie jung du aussahst, als du gestern nacht die Treppe her­unterkamst. So ein Mar. So allein. So begehrt und so allein.« Voller Begeisterung berichtete sie ihm von den Niagarafällen, wo sie von Dr. Harry Grant herumgeführt worden war, »ein alter Mann, halb Gelehrter und halb Philosoph«, der allein in einem Haus den Fällen gegenüber wohnte: »Und der Niagara donnert fortwährend am Rande seines Rasens... Ich glaube, es ist für dich und mich sehr gut, daß wir nach Amerika gekommen sind. Ich bin froh, daß wir es getan haben. Ich habe viel davon. Es gibt Augenblicke, in denen wir müde, angewidert, gelangweilt sind. Aber im ganzen ist es unendlich wertvoll.« Doch als Harold sie in Chicago wiedersah, fand er, daß sie müde aussah. »Ich fürchte, alles ist eine schreckli­che Strapaze für sie.« Sie war bereits wieder unterwegs, mitten in einem Blizzard, nach St. Louis - wo die College-Mädchen sie durch ihre Bitte, Orlando zu »erklären«, in eine schwierige Lage brachten und wo sie dankbar bemerkte, daß die Exemplare von Erloschenes Feuer, die sie zu signieren gebeten wurde, inzwischen den Vermerk »10. Auflage« trugen. Sie fuhr weiter nach Kansas City, Des Moines, Bloomington und Minneapolis. Aus Des Moines schrieb sie am 15. Februar an Evelyn Irons:
»Alles ist wie ein Wirbel in meinem Kopf - ein Wirbel von Parties, Eisenbahnzügen, Vortragssälen, Autogrammbüchern, fremden Häusern, fremden Hotels, Reportern, Blitzlichtaufnahmen und Frauen, Frauen, Frauen. Wenn irgend etwas mich von meiner Schwäche für mein eigenes Geschlecht kurieren könnte, dann wäre es ein längerer Aufenthalt bei den Frauenvereinen Amerikas. Es scheint einfach überhaupt keine Männer zu geben, und ich fange an, mich nach einem Paar ehrlicher Hosen zu sehnen... Alles Gute, meine böse, aber liebe Scrape. Ich habe dich von Herzen lieb — Gott weiß, warum. Vielleicht, weil du mich so unglücklich machst.«
Aus Columbus, Ohio, schrieb sie abermals an Evelyn wegen eines Arrangements, das sie getroffen hatte, um Olive Rinder während ihrer Abwesenheit etwas Geld zu verschaffen. Olive sollte Artikel schreiben, die Hilda Matheson unter dem Namen V. Sackville-West Zeitschriften anbieten wollte.
»Wenn sie 16 Knochen [Artikel] fertig hat, wie sie sagt, sollte sie 244 Pfund (ungefähr) dafür bekommen. Trotzdem, erzähle um Himmels willen niemandem, daß sie die Artikel geschrieben hat. Es ist eine ziemlich schändliche Sache — ich meine nicht, daß ich die Tätigkeit von Ghostwritern billigte — aber es war die einzige Möglichkeit, auf die ich kam, für ihren Un­terhalt zu sorgen und ihr dennoch das Gefühl zu geben, sie habe das Geld selbst verdient.«
In Cincinnati traf sie mit Harold zusammen, und wieder fiel ihm auf, wie gut sie mit ihrer neuen Tätigkeit zurechtkam. »Sie spielt mit ihren Orchideen und tritt Tausenden mit einem Lächeln gegen­über«, schrieb er Nigel. In seinen Brief an Ben vom selben Tag schlich sich ein Unterton liebevoller Ironie ein; ihre neuerliche Be­gabung für Redekunst und die Entgegennahme von Schmeiche­leien »wird sich in der Zukunft als höchst lästig erweisen. Ich sehe schon, wie in Hastings ein Frauenverein gegründet wird, bloß zu dem Zweck, Mama Raum zur Entfaltung ihrer neuen Fertigkeiten zu geben.« Und an Vita — die schon wieder nach Philadelphia unter­wegs war — schrieb er: »Mein Schatz — was für ein altes kräftiges Pferd du doch bist - unberufen... Ich gestehe, daß ich selbst diese ganzen kitschigen Schmeicheleien sehr ermüdend finde — und irri­tierend in dem Sinne, daß alle Unwirklichkeiten irritierend sind. Natürlich, ich weiß, daß du und ich sehr begabte und bezaubernde Leute sind. Bloß daß wir nicht auf die Weise begabt und bezau­bernd sind, wie diese Leute annehmen.«
Während sie fort waren, hatte Ben, inzwischen achtzehn Jahre alt, die Schule verlassen und verbrachte ein paar Monate im Aus­land, bevor er im Herbst auf das Balliol College, Oxford - das alte College seines Vaters - ging. Aus Frankreich hatte er seinen Eltern regelmäßig geschrieben und unter anderem auch von seinen sexu­ellen Ängsten gesprochen. Harold schrieb ihm tröstend aus Lexington. Kentucky, daß er und Vita »verständnisvoll und nicht schockiert« sein würden, was er ihnen auch berichte. Auch Vita schnitt in einem Brief aus Lake Forest, Illinois, das Thema Sexualität an; sie wisse nicht, schrieb sie, was Harold ihm geschrieben hat »aber ich bin sicher, es war ein guter Brief«. Sie fuhr fort:
»Sexualität ist wahrscheinlich die aufregendste, aber nicht die wichtigste Sache im Leben. Ihr außerordentlicher Reiz läßt sie leicht als das wichtigste erscheinen. Ich erinnere mich, daß einmal jemand zu mir sagte: »Ich möchte für nichts anderes leben als da­für«. Und dann, Jahre danach, traf ich diese Person wieder, und sie sagte, sie sei der Sexualität überdrüssig... Promiskuität ist in hohem Maße gräßlich und billig. Nicht aus moralischen Grün­den - du weißt, daß ich ohne konventionelle Moralvorstellungen bin — sondern eher aus ästhetischen Gründen. Sie ist billig, be­quem, Vulgär, Demütigend. Als ob man sich selbst prostituierte... Gott, was schreibe ich dir für besserwisserische Briefe! Trotz­dem, in Wirklichkeit sind sie es gar nicht. Ich schreibe sie nur, weil ich dich so sehr liebe... Ich komme immer wieder auf meinen alten Wahlspruch zurück, den du inzwischen wohl nicht mehr hören kannst: >Dir selbst sei treu<... Ich wünschte, ich hätte jemanden gehabt, der mir diesen Rat gegeben hätte, als ich achtzehn war. Ich mußte das alles selbst herausfinden. Zum Glück verliebte ich mich in Papa.«
Als sie am frühen Morgen des 25. Februar nach Washington zurück­kehrte, begrüßte sie Harold, der inzwischen wieder von Ben gehört hatte, am Bahnhof mit den Worten: »Ich fürchte, du wirst etwas dagegen haben. Ben sagt, daß er homosexuell ist.« Später am Tag schrieb Vita einen weiteren langen Brief an Ben. Wenn sie auch, wie sie schrieb, wisse, daß »ich nicht so kluge und amüsante Briefe wie Papa schreiben kann«:
»Aber in einer Hinsicht hatte Papa nicht recht: Ich habe nichts da­gegen. Ich hätte viel dagegen, wenn ich dächte, das bedeute, du seist in dem Glauben, notwendigerweise auf das verzichten zu müs­sen, was du zu Recht >die ganze Glückseligkeit und Freude der Ehe< nennst. Schlag dir das gleich aus dem Kopf. Das folgt daraus in kei­ner Weise. Zwei der glücklichsten verheirateten Menschen, die ich kenne, deren Namen ich dir aus Gründen der Diskretion verschwei­gen muß, sind beide homosexuell — denn du weißt vermutlich, daß es Homosexualität sowohl bei Frauen als auch bei Männern gibt. Des weiteren nimm einmal Duncan und Vanessa. (Sie sind nicht eigentlich verheiratet, doch sie haben jahrelang zusammengelebt, und das ist so gut, als wären sie verheiratet.) Sie lieben sich ge­nauso, wie Papa und ich es tun, obwohl Duncan in erster Linie homosexuell ist. Du siehst also, daß das nicht notwendigerweise ein Hindernis für ein Glücklichsein unserer Art ist...
So sehe ich denn für dein zukünftiges Leben nicht schwarz — sieh mal, ich glaube wirklich, daß eine Ehe von der Art, wie Papa und ich sie zustande gebracht haben, bereichert durch Kinder wie dich und Nigel, das höchste Glück ist, nach dem man im Leben streben kann — ich sehe nicht schwarz, weil ich keinen Grund erkennen kann, warum du solches Glück nicht auch erreichen solltest, even­tuell nachdem du dir die Hörner abgelaufen hast und klüger gewor­den bist. In diesem Land [Amerika] lernt man folgende Lektion: Man erkennt, wie sehr man sich nach menschlichen Wurzeln sehnt; und die tiefsten Wurzeln überhaupt findet man im eigenen Heim, bei den eigenen Angehörigen. Und zu ihnen gelangt man nur durch eine glückliche Ehe - wenigstens stelle ich mir das vor.
Also gräme dich nicht, mein Benzie über Homosexualität. Ei­gentlich kennst du so wenig attraktive Frauen, daß du dich viel­leicht in dir völlig irrst... Ich weiß, daß eine Menge Unglück aus ei­ner Unklarheit herrührt: Man weiß nicht, was von Bedeutung ist und was nicht. Ich wünsche so sehr, daß du vom Unglück verschont bleibst. Ich will nicht, daß du dir den Kopf über Dinge zerbrichst, die nicht von Bedeutung sind.«
Vita verbrachte einige Zeit in Neu-England und wohnte bei einer wohlhabenden Lehrerin, Mina Curtis, auf ihrer Farm in den Berk­shire Hills. Bei einem Dinner lernte sie Robert Frost* kennen, »ein prächtiger Mann, der sich auf ein gutes Gespräch versteht«. (* Robert Frost (1874-1963), bedeutender amerikanischer Lyriker: wurde dreimal mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet [Anm. d. Übers.].) Hilda Matheson übermittelte in einem Telephongespräch aus Dorothy Wellesleys Haus — Vita sprach mit beiden — die neuesten Nachrich­ten aus der Heimat: Mrs. Staples — seit 1926 Köchin der Nicolsons — wollte den Gärtner, George Hayter, heiraten. Sie war einundvierzig und er sechsundzwanzig; Louise Genoux, Vitas Zofe, war entrü­stet. Die Heirat fand statt, wenngleich Vita und Harold aus alter Gewohnheit weiterhin Mrs. Staples zu ihr sagten.
Am 20. März war sie in Santa Cruz, wo sie mit Mabel Dodge Luhan** Tee trank — »untersetzt und dunkel, schwarzgekleidet mit einem weißen Jabot; ihr Haar streng geschnitten wie bei einem mit­telalterlichen Pagen«. (** Mabel Dodge Luhan (1879-1962), amerikanische Schriftstellerin: seit 1918 in Neu-Mexiko: mit einem Indianer verheiratet [Anm. d. Übers.].) Dort traf sie auch Dorothy Brett, »sehr ungepflegt mit fliehendem Kinn und taub, ein indianisches Tuch um den Kopf gewickelt«. Sie hatte mit Carrington und Mark Gertler in Slade Malerei studiert und war eine Freundin von Virginia; seit neun Jahren war sie nicht in England gewesen. Sowohl sie als auch Mabel Dodge Luhan hatten D. H. Lawrence, der 1930 gestorben war, verehrt und unterstützt — und sie bombardierte Vita mit Fra­gen: »Wie geht es Duncan? Verliebt er sich immer noch in junge Männer? Ist es war, daß Carrington sich umgebracht hat? Wie geht es Ottoline? Und Virginia? Wie geht es Gertler und Siegfried Sassoon?«[2] Und Vita brüllte ihre indiskreten Antworten in Bretts Hör­rohr.
Der beste Teil der Nicolson'schen Amerikatournee kam zum Schluß. Ende März weilten sie zusammen auf der Smoke Tree Ranch in Südkalifornien; »ein Cottage mit drei Zimmern, mitten in der Wüste, nur ein paar Cowboys und hin und wieder ein streunender Kojote«. schrieb sie an Virginia. »Riesige Sterne über uns und ringsum Berge. Die Wüste ist mit einem Teppich rosiger Verbenen bedeckt. Es ist genau wie in Persien, und wir sind so glücklich wie Lerchen.« William Randolph Hearst hatte sie eingeladen, doch, als sie hörten, daß George Bernard Shaw dort sein würde, lehnten sie ab, weil es sie nach Ruhe und Frieden verlangte.
»Los Angeles ist die Hölle. Nimm Peacehaven [ein heruntergekom­mener Badeort an der Küste von Sussex], multipliziere es mit 400 Quadratmeilen, besprenge das Ganze mit französischer Riviera, schütte die Chelsea Flower Show darüber aus, füge ein paar spanische Paläste hinzu, und du hast die Küste von Los Angeles. Die Amerikaner haben die unerreichte Gabe, alles abscheulich zu machen.«[3]
In Hollywood dagegen war es sehr lustig gewesen: Gary Cooper hatte sie herumgeführt. Und in Pasadena, so schrieb sie Virginia, war eine junge Dame auf sie losgestürzt »und sagte, daß sie ein Buch über dich und mich schreibt. Ist das nicht schön für uns? Ob ich ihr ein Interview geben wolle, um ihr unsere (deine und meine) Ansichten über Metaphorik mitzuteilen? Zum Glück konnte ich sa­gen, ich hätte gerade noch Zeit, meinen Zug zu erwischen.«
Wenn sie heimkämen, sagte sie, würden sie »zerschlagen« sein, »aber reicher — nicht nur an Dollars«. Als sie sich mit Bedauern von der Smoke Tree Ranch verabschiedeten, erzählte Vita Harold von der Handlung eines neuen Romans, den sie schreiben wollte — ein weiteres Buch über Verwandlung und Erneuerung, wie Erloschenes Feuer. Harold bemerkte in seinem Tagebuch:
»Es geht um eine Frau mittleren Alters, die in ihrem Leben einen tiefen Schmerz erlitten hat und mildtätig und gleichmütig gewor­den ist. Es ist in zwei Hälften geteilt. Eine Hälfte spielt im Leben, die andere im Tod. Das Leben soll die Gestalt des Grand Canyon an­nehmen. Der Tod erscheint in Gestalt eines Segelschiffes, von dem in bestimmten Abständen Leute über Bord fallen... Das ist ein Stoff, den nur sie bewältigen kann, und eine Sache, die sie besser meistern kann als andere. (Ich hoffe, sie liest das hier.)«
Vita plante dieses Buch, das Grand Canyon heißen sollte, bevor sie den Grand Canyon mit eigenen Augen sah. Der Roman blieb einige Jahre ungeschrieben, und das Thema des Todes auf See griff sie erst in ihrem letzten Buch auf, fast dreißig Jahre später.
Sie erreichten den Grand Canyon am 1. April. Vita war unendlich begeistert. Beim »El Tovar«-Hotel sahen sie einen Tanz der Hopi-Indianer (etwas, das sie in dem Roman verwenden sollte). »Viti (es gelang ihr nur schwer, sich von dem benachbarten Souvenirladen wegzureißen, wo es Handschuhe mit Perlstickerei und Türkisringe gibt und Stücke von versteinertem Holz; sie hat dort unter ande­rem einen kleinen grünen Stab gekauft, der an einem Ende eine Fe­der und am anderen einen Stein hat, der in derselben Farbe bemalt ist) ist vom Grand Canyon tief beeindruckt. Ich ebenfalls«, schrieb Harold, der nicht ganz so entzückt war wie sie. Vom indianischen Wachturm bei Desert View sahen sie den Canyon in allen seinen Farben und dahinter die Bunte Wüste. »Viti sagt, es gebe nichts Ver­gleichbares auf Erden. Sie setzt hinzu, sie fühle sich >vermehrt< ich sage, das tue ich auch.« Vita reagierte auf Orte heftig und spontan.
Von Charleston aus — dem letzten Aufenthalt vor der Heimreise — schrieb sie an Virginia, der Grand Canyon sei »der erstaunlichste Ort der Welt... Du kannst dir nicht vorstellen, Virginia, wie die Bunte Wüste aussieht. Du findest dort jede Farbe des Regenbogens, gebrochen durch große Klippen von der Farbe der Felsen in Devonshire. Und die Sonne brennt jeden Tag, und die Luft macht dir Lust, über den Mond zu hüpfen.«
Sie und Harold wollten zurückkommen, »um mit dem Auto durch Texas, Arizona, Kalifornien und Mexiko zu fahren, und Zelte mitnehmen, um in der Wüste zu kampieren... Warum kommst du und Leonard nicht mit?«[4]Aber Vita fuhr nie wieder in die Vereinig­ten Staaten.
Beide zusammen hatten sie, so errechnete Harold, 53 verschie­dene Städte besucht, 63 Nächte in Zügen verbracht und 53 643 Kilo­meter zurückgelegt. Die Bremen, mit der sie zurückfuhren, erreichte Cherbourg am 21. April, wo sie von Nigel und Ben in Empfang genommen wurden. Über Southampton ging es nach London, wo Hilda sie in King's Bench Walk 4 begrüßte.

Die alte Lady Sackville war über die Art pikiert, mit der Hilda Vitas Leben zu organisieren schien. »Ich habe Anweisungen von Miss Hilda M. erhalten, wann ich Vita treffen oder besuchen kann«, schrieb sie verärgert am Tag vor der Ankunft der Bremen in ihr Ta­gebuch. Als die Nicolsons sie zwei Tage nach ihrer Ankunft in White Lodge besuchten, hatte Harold einen heftigen Streit mit ihr. Zwei Wochen später, am 9. Mai, besuchte Ben seine Großmutter allein.
B.M. hatte sich den Kindern gegenüber bereits mehrfach feind­lich gegen ihre Eltern und deren Freunde geäußert, doch sie war nie so weit gegangen wie bei dieser Gelegenheit. In senilem Groll über­schüttete sie Ben mit den ungeschminkten Tatsachen vom unkon­ventionellen Privatleben seiner Eltern. Sie erzählte ihm, in allen Städten, wo er en poste gewesen sei, habe sein Vater seine Jungen gehabt; sie erzählte ihm die Geschichte mit Violet Trefusis und sagte, die Ehe sei durch die Beziehung seiner Mutter zu Virginia Woolf beinahe ein zweites Mal in die Brüche gegangen. Als Ben nach Hause kam, erzählte er seinen Eltern beim Essen, was B.M. gesagt hatte. »Sie waren es, die in größte Verlegenheit gerieten, nicht ich«, schrieb Ben. »Ich glaubte, ihre Verlegenheit bedeute, sie seien empört darüber, daß Lady Sackville etwas so Ungeheuerli­ches tun konnte. Ich kam gar nicht auf den Gedanken, es könne ih­nen auch Kummer und Qual bereiten, daß das große Drama ihres Lebens ihnen von ihrem eigenen halbwüchsigen Sohn zurückge­spielt wurde.«[5]
Ben sagte später, die Behauptungen seiner Großmutter hätten ihn verwirrt, aber nicht beunruhigt. Er wußte, daß seine Eltern keine bösartigen Menschen waren, wie B.M. behauptet hatte. Er war achtzehn Jahre alt; er war sich seiner sexuellen Ambivalenz bereits bewußt, und er mag geahnt haben, wer die »zwei glücklich­sten verheirateten Menschen, die ich kenne«, waren (»beide ho­mosexuell«), von denen ihm seine Mutter in ihrem Brief aus Ame­rika berichtet hatte.
Doch auch das Gegenteil ist möglich. Junge Menschen beziehen Abwehrstellungen, um sich selbst zu schützen. Beide Nicolson-Söhne müssen als Heranwachsende viele Dinge gewußt haben, die sie nicht begriffen oder nicht begreifen wollten. Ben war ein außer­ordentlich sensibler Mensch: Er hatte bereits während der Schulzeit eine Art Nervenkrise durchgemacht. Diese grausame Enthül­lung von Tatsachen könnte Bens Abwehrhaltung noch verstärkt, Gefühle, die unkontrollierbar waren, niedergedrückt und ihn auf Dauer gegen eine intime Beziehung zu einem anderen Menschen abgeschirmt haben. Im späteren Leben sollte er viele Freunde ha­ben, doch er schien unfähig, eine Liebesbeziehung, ob zu einem Mann oder zu einer Frau, für längere Zeit aufrechtzuerhalten. Falls das der Preis war, den er zahlte, war es ein hoher.
Harold und Vita waren entsetzt über das, was geschehen war. Sie hatten sich immer bemüht, den Kindern ihre Ehe als ein Muster an Zuneigung und Festigkeit zu präsentieren. Obgleich B.M.'s Ver­such, Ben gegen sie aufzuhetzen, fehlgeschlagen war, schrieb Ha­rold in sein Tagebuch: »Es wird ein Schock für ihn gewesen sein und kann vielleicht sehr ernste Konsequenzen haben. Bin rasend vor Wut.« Als Virginia und Leonard am Ende des Monats zum Lunch nach Sissinghurst kamen, erfuhren sie von der Geschichte. »Dieses alte Weib sollte man erschießen«, war Virginias Reaktion. Sie schrieb Vita später: »Versteh doch, wenn man 18 ist, haben Worte, Neuigkeiten, Enthüllungen über die Eltern eine unglaubli­che Kraft: und daß sie sich erlaubt hat, diese Worte zu sagen... Es kommt mir so niederträchtig vor, so unmoralisch, so verteufelt un­menschlich.«[6] Vita erwiderte:
»Virginia. Liebes, du bist ein Engel — ein Engel, meine ich, weil du so unfehlbar spürst, wenn jemand betroffen ist, so wie mich betrof­fen gemacht hat, daß meine Mutter Ben von meinen und Harolds Moralvorstellungen erzählt hat. Nicht, daß ich mich meiner oder Harolds Moralvorstellungen in irgendeiner Weise schämte. Nur Ben hat vielleicht einen schrecklichen Eindruck gewonnen, der sich ihm eingeprägt hat. Zum Glück ist das nicht der Fall, was, wie ich denke, für unsere Erziehung spricht, oder? (Das ist eine Prahlerei. Doch auch du, selbst du, prahlst zuweilen... ich brüste mich ledig­lich damit, meine Söhne auf eine Art erzogen zu haben, daß sie ohne zu zucken die Enthüllung akzeptiert haben, ihr Vater und ihre Mutter seien den aus der menschlichen Rasse Ausgestoßenen zuzu­rechnen.) Du bist jedenfalls ein Schatz, erkannt zu haben, daß ich betroffen war.«[7]
Harold suchte Venning, ihren Anwalt, auf, um ihn von B. M.'s Gei­steszustand in Kenntnis zu setzen, für den Fall, daß eine Zwangs­maßnahme notwendig werden sollte. Doch es war Vita, nicht Ha­rold, die in jener Nacht, als er von White Lodge zurückgekommen war und erzählt hatte, was dort geschehen war, für Ben das mensch­lich Richtige tat. Wie Ben später schrieb, hätte es sein Vater »bei sei­nem heiklen Wesen niemals über sich gebracht, mich aufzuklären; brieflich vielleicht, aber nicht von Angesicht zu Angesicht«:
»Es war meine Mutter, die um Mitternacht und bis zum Morgen­grauen auf meinen Bettrand saß, und ich glaube, es war wohl das erste vertraute Gespräch, das wir miteinander hatten. Sie sagte mir, es sei alles durchaus wahr, mit Ausnahme der Geschichte, daß Vir­ginia ihre Ehe gefährdet habe, aber das Ganze habe nicht die geringste Bedeutung, denn die Liebe, die sie füreinander empfän­den, sei so stark und mächtig, daß sie allem standhalten könne.«[8]
Sie hatte ihm die reine Wahrheit gesagt: und ihre Beziehung blieb unversehrt. Ben sollte nach seinem Frankreichaufenthalt den Som­mer über nach Italien gehen, um Kunst zu studieren. Vita schrieb an Virginia: »Wärest du nicht auch gern achtzehn und gingst allein für zwei Monate nach Italien? Ich wäre gern an seiner Stelle. Er ist ein feiner Kerl, mein Ben.«[9]

Kapitel 24

Als Vita aus den Vereinigten Staaten zurückkehrte, hielt sich Vir­ginia in Italien auf. Vita hatte ihr geschrieben, sie komme bes­ser rasch zurück, »sonst werde ich anfangen, London nach einer Zerstreuung zu durchsuchen ... Würde es dich überraschen, zu er­fahren, daß ich dich wirklich sehr vermisse? Um mich zu trösten, spiele ich mit dem Gedanken, mit Marlene Dietrich etwas anzufangen. Also treibe dich nicht langer in Montepulciano herum, wenn du auf die ziemlich rührende Treue deines alten Schäferhundes Wert legst.«[1]
Diese neckische Grausamkeit gegen Virginia erwies sich als ein Signal der Ruhelosigkeit, des gefürchteten emotionalen Vakuums, das Virginia nicht mehr füllen konnte. Bei Vitas Heimkehr gab es nicht viele Wiedervereinigungen; da gab es bloß die Krise mit B.M. und Ben. Hildas Rolle war verwaltender und unterstützender Art. Olive Rinder erhielt emotionale und finanzielle Unterstützung. Christopher St. John stand zur Verfügung; sie hatte in ihrer wundervoll stilisierten Handschrift viele lange Briefe an »My Lord Orlando« geschrieben, während Vita fort war, doch Vita liebte Christopher nicht, die in ihrem Liebes-Tagebuch schrieb:
»In dem Brief, den sie mir von der Bremen schrieb, als sie sich Eng­land näherte, hieß es: >Sage nicht, daß du von mir enttäuscht bist. Das könnte ich nicht ertragen. Es gibt niemanden, an dessen Wert­schätzung mir mehr liegt als an der deinen.< Nun, ich war nicht von ihr enttäuscht, sondern ich war enttäuscht über die Entwicklung unserer Beziehung. Sie hat mich nicht auf der Stelle aufgesucht, als sie zurück war.«
An einem heißen Tag im Juni machte Vita mit Christopher eine Au­totour. »Ich liebte sie so sehr an diesem Tag... - Sollen wir eine zweite Nacht miteinander verbringend fragte ich und sehnte mich danach, durch ihren Körper in die Tiefe ihres Herzens einzudrin­gen. >Warum nicht?< sagte sie.« Es gab nie eine zweite Liebesnacht, doch Christopher hörte nie auf, Vita zu lieben. Da sie sich als St. Christophorus sah. schwor sie, Vita für immer »hinüberzutra­gen«. Vita, die zugelassen hatte, daß es so weit gekommen war, trug diese Situation wie eine Bürde, solange Christopher lebte; sie war nie illoyal gegen das Trio in Smallhythe.
In einem ihrer gemeinsamen Auftritte berichteten sie und Harold im Scheunentheater von Smallhythe über »Eindrücke von Amerika«. George Plank, der unter den Zuhörern war, beschrieb B.M. den besonderen Erfolg ihrer inzwischen wohlerprobten Tech­nik: »Ich glaube, sie haben eine vorzügliche Form der Unterhaltung entwickelt. Es liegt sehr große Kunstfertigkeit in der Art, wie sie es machen: Vita sitzt am Tisch, wahrend Harold auf und ab geht, und das Ganze wirkt so ungezwungen, als wären sie zu Hause, und alles überhaupt nicht einstudiert — sie schreiben bloß ein paar Themen auf, und dann diskutieren sie sie.«
Vita versuchte, mit ihrem amerikanischen Roman zu beginnen, und gab es auf: und die Woolfs forderten sie auf, Material für einen Band Collected Poems zu sammeln, den sie herausbringen wollten. Vita meinte, Leonard habe recht, wenn er sage, »das würde den Bo­den für jedes längere Gedicht bereiten, das ich später vielleicht schreiben würde«. Doch sie wurde den Verdacht nicht los, »daß das alles ein wenig hochgestochen ist«. Nach Peacemaking* schrieb Harold an einer Lebensbeschreibung von Lord Curzon, und sie be­wunderte seine Hingabe und seine literarische Gewandtheit — die anders war als die ihre und dieser, wie ihr schien, oft überlegen. (* Peacemaking). deutsch: Friedensmacher (1909), Berlin 1934 [Anm. d. Übers.])
»Ich mag seinen klaren Verstand und die Leichtigkeit seines Aus­drucks. Er ist wie jemand, der es versteht, mit einer Sense umzuge­hen — rhythmisch, energisch und selbstsicher.« Sie besprachen beide auch Bücher für den Daily Telegraph, aber Vita fühlte sich unterbeschäftigt und kraftlos.
Sie hatten bei einer Pariser Bank Tantiemen und verwendeten dieses Geld für einen Italienurlaub mit dem Auto, das dieses Mal von Jack Copper, ihrem treuen Chauffeur, gesteuert wurde. Nahezu zwanzig Jahre später erhielt Harold den Brief eines Verehrers, der einen charakteristischen Eindruck von den Nicolsons wiedergab, den er in einem Restaurant in Dieppe zu Beginn eines längst ver­gangenen Urlaubs bekommen hatte:
»Sie waren in die Lektüre einer französischen Zeitung vertieft und schaukelten mit dem Stuhl vorwärts und zurück, bis Sie mit einem Krachen rücklings aus meinem Blickfeld verschwanden. Ich war im Begriff, Ihnen zu Hilfe zu kommen, doch der Anblick von Miss Sackville-West, die, reserviert, leicht amüsiert, ganz ruhig, an Vor­fälle solcher Art gewöhnt zu sein schien, ließ mich auf meinem Platz verharren und abwarten, bis Sie unversehrt an den Tisch zu­rückgekehrt waren.«
In praktischen Dingen war Harold ebenso unbeholfen und unfähig, wie er in literarischen penibel und energisch war. Als sie nach einem Treffen mit Ben in Bologna Mitte Juni nach Hause kamen, mußten sie in der Nacht nach Eton fahren, um Nigel, der eine Blinddarm­entzündung hatte, zur Operation nach London zu bringen.
In diesem Sommer war Nigel nicht der einzige Kranke in der Fa­milie. Während sie in Amerika waren, hatte Harolds jüngere Schwester, Gwen St. Aubyn, die er sehr liebte, einen schweren Au­tounfall erlitten und eine Schädelverletzung davongetragen. Vita und ihre Schwägerin waren nie befreundet gewesen: Gwen be­wegte sich in anderen gesellschaftlichen Kreisen. Doch gegen Ende Juli 1933 begann Vita sie näher kennenzulernen; da Gwens Nerven nach dem Unfall zerrüttet waren und sie viele Monate lang sowohl Ruhe als auch medizinische Versorgung brauchen würde, erwies sich Sissinghurst als der ideale Ort, um sich zu erholen und wieder zu Kräften zu kommen.
Gwen hatte fünf Kinder (sie hatte für Evelyn Irons Frauenseite beim Daily Mail Artikel über Kinderbetreuung geschrieben), doch in ihrer augenblicklichen Schwäche weckte sie Vitas Beschützer­instinkte. Gegen den Widerstand ihrer Familie war sie Novizin in der Römisch-Katholischen Kirche, und ihr wachsender Glaube sollte Vitas Denken und Schreiben beeinflussen. Doch für flüchtige Beobachter erschien Gwen weltlicher als Vita, und auch das beein­flußte Vita überraschenderweise: Virginia fiel auf, daß sich Vita« wenn auch ungeschickt, die Lippen schminkte — »Warum das?«
Gwen verbrachte immer mehr Zeit in Sissinghurst; Christopher St. John, die in diesem Herbst regelmäßig kam, um Ben in Kalligra­phie zu unterrichten, kam sie vor wie ein »arg mitgenommenes, zü­gelloses Kind«. Vita erklärte Virginia im August ihre wachsende Freundschaft mit Gwen und teilte ihr gleichzeitig mit, warum sie nicht nach Rodmell kommen könne: »Es liegt daran, daß ich meine Schwägerin hier habe, die krank gewesen ist und deren Pflege ich wahrscheinlich übernehmen werde. Landaufenthalt und all das. Und Harold schreibt ein Buch über Lord Curzon, ich dagegen schreibe überhaupt kein Buch, so daß ich Zeit habe, mich um seine Schwester zu kümmern — und es macht mir Spaß.«[2]
Gwen gab einen Ratgeber für Eltern heraus (The Family Book, 1934), ein Buch, das Vita interessierte. Sie saßen auf der Treppe des Turms, erörterten familiäre Beziehungen und das Seelenleben der Frauen, Vitas Zuneigung zu Personen des eigenen Geschlechts führte oft zu Beziehungen, in denen sie eine dominierende, »müt­terliche« Rolle spielte; und zur selben Zeit war ihre eigene Mutter Ursache neuer Schmerzen. B. M. wollte ihren Butler verklagen, der sie wegen nicht bezahlter Gehälter halte vorladen lassen. Sie be­schuldigte Vita und Harold, daß sie mit dem Butler unter einer Decke steckten, um sie zu ruinieren, und verbot ihnen ihr Haus. Es ist kein Wunder, daß Vita, welcher der Vorfall mit Ben noch sehr ge­genwärtig war, bereit war, Gwens Beschäftigung mit Müttern und Kindern zu teilen. Und im Zentrum von Vitas Interesse stand die fortwährende Selbstbefragung ihrer eigenen Psyche. Um diese Zeit schrieb sie in ihr Manuskriptbuch ein Gedicht mit dem Titel »To My Mother«. das folgende Verse enthält:

War es ein kostbares Metall.
Dein dunkler Geist, die irgendwann
Sich tief in mir vereint
Und zwangen mich in ihren Bann?

Dein sonderbares, fremdes Blut.
Dein Stahl, gefährlich, zäh und wild.
Sind sie's, die seltsam prägten mich
Mit deines Siegels Spiegelbild?

Südliche Anmut, die sich mischt
Mit meinem Englischen gepaart.
Hat sie mich denn so reich beschenkt.
In mir dein Wesen offenbart?

War es der Glanz der blauen Augen.
Ein Wink nur deiner schönen Hände.
Die mich zu Reim und Vers getrieben
Und führten mich ins Traumgelände?

Vita hatte das Gedicht als Widmung an ihre Mutter geschrieben und wollte sie ihren Collected Poems voranstellen (die sie optimistisch »Teil I« untertitelte - es sollte nie einen zweiten Teil geben), aber B. M. erklärte sich damit nicht einverstanden. Sie wollte nicht »zusammen mit V. Woolf in einem Buch erscheinen, der Verfasserin dieses gräßlichen Orlando, und ich wünsche auch nicht, der Öf­fentlichkeit so viel von unserer Privatsphäre mitzuteilen.« Sie ge­stattete Vita die schlichte Widmung »Für meine Mutter«. B.M. war durch die Liebesgeschichte bewegt und beunruhigt und mochte die anderen. Vita nahm jede Gelegenheit zur Versöhnung wahr und schrieb ihr:

  • »Ich bin froh, daß dir »Reddin« [in ihren Collected Poems enthal­ten] gefallen hat. Ich habe in dieses Gedicht eine Menge Dinge hineingelegt, an die ich glaube und die ich für wahr halte. Es war ein regelrechtes Bekenntnis zur Wahrheit.
    Warum aber, Liebes, sagst du, nach deiner Meinung hätten du und ich die Liebe mißachtet oder falsch verstanden? Das glaube ich nicht! Ich weiß, daß ich dich liebe — und ich weiß, daß du mich liebst — trotz aller unserer Zwiste und Streitereien und Unfreund­lichkeiten und Meinungsverschiedenheiten ... Wir sind beide viel­leicht ziemlich schwierige Menschen, aber vielleicht läßt unsere Verschiedenheit einander besser verstehen, als jeder andere auf der Welt glaubt.«

Jeden Freitagabend sprach Vita jetzt in der BBC über ihre Arbeit als Gärtnerin; die Beiträge wurden im Listener abgedruckt. Ihre Ratschläge an die Zuhörer folgten dem System, dem sie und Harold in Sissinghurst huldigten; sie trat als Grundlage für die Anlage eines Gartens für »klare festgelegte Linien« ein, gebrochen durch über­hängende Büsche und einzeln plazierte Pflanzen: »Ein zu strenger Formalismus ist beinahe ebenso abstoßend wie das Fehlen jeglicher Ordnung.«
Was den Garten anging, war die Harmonie zwischen Harold und ihr in diesem Jahr nicht immer ungetrübt. Er hätte es gern gesehen, wenn ihre Voliere für die Wellensittiche entfernt worden wäre, und sie zankten sich. Harolds Tagebuch:
»27. September 1933: Messe den Mittelweg im Gemüsegarten aus, wobei Gwen mir hilft. Schließlich weigert sich Vita, an unserer Entscheidung festzuhalten und die elenden Bäumchen zu entfer­nen, die meinem Entwurf im Wege stehen. Wie üblich behindert das romantische Temperament das klassische.
30. September: Versuche die Perspektive des Gemüsegartens durch Verlängerung der gepflasterten Pfade zu erweitern, stoße aber auf Artischocken und Vitas Entrüstung. Danach betrübt, auf dem Rasen Unkraut gejätet. Wir haben eine Diskussion über die Rechte der Frauen.«
Aber in diesem Jahr brachten sie ein paar wichtige und dauerhafte Projekte zum Abschluß - in erster Linie die Pergola, die auf Säulenresten im Rosengarten (jetzt der Weiße Garten) ruhte, mit dem darunter liegenden gepflasterten Platz, wo sie im Sommer aßen; sie nannten ihn nach einem der Tempel der Akropolis Erechtheum.
Harold hatte noch immer kein regelmäßiges Einkommen. Ru­pert Hart-Davis, der damals für den Verlag Cassell arbeitete, ver­suchte Vita von der Hogarth Press wegzulocken, indem er Vorschüsse in Aussicht stellte, die weit höher waren, als Leonard sie bieten konnte, doch Vita ließ sich nicht bewegen. Sie schrieb an Vir­ginia, daß Hart-Davis »bei weitem nicht so liebenswert« sei, und sie könne Leonard sagen, daß »keine Versuchung groß genug sein kann, die Hogarth Press zu verlassen«.[3] Die Woolfs waren durch ihre Treue gerührt und vergaßen sie nicht. Nach dem Erfolg von Schloß Chevron und Erloschenes Feuer wäre Vita von jedem der größeren und zahlungskräftigeren Verlage mit offenen Armen empfangen worden. (Erloschenes Feuer war bereits zu einem Thea­terstück mit dem Titel Indian Summer umgearbeitet worden.)
Harold dachte daran, seinen Stolz hintanzustellen und den Evening Standard zu bitten, ihn wieder einzustellen, doch er war erst mal gerettet, als Vita entdeckte, daß sie auf ihrem Bankkonto in Frankreich fast 3000 Pfund hatte. Trotzdem gingen auch an ihr die Anstrengungen nicht spurlos vorüber. Eines Nachmittags im Okto­ber, nachdem sie an den Fahnen der Collected Poems gearbeitet hatte, fühlte sie sich schwindlig und brach am See zusammen. »Ich glaube, es sind nur die Nerven«, schrieb Herold in seinem Tagebuch. Auch Owens Gesundheitszustand gab noch immer Anlaß zur Besorgnis. Ihr Arzt sagte, es werde noch ein weiteres Jahr dau­ern, bis sie wiederhergestellt sei. Vita beschrieb Virginia die Be­handlung Owens: Zweimal täglich wurde ihr ein »glühendheißer Kaninchenstall« über den Kopf gestülpt, worauf sie in eine Ohn­macht fiel. »Man scheint zu glauben, das werde ihrer Kopfverlet­zung gut tun«[4]Gwens Arzt billigte es, daß sie die meiste Zeit in der Stille von Sissinghurst verbrachte, und erläuterte Owens Gatten, der, wie Harold sagte, »recht vernünftig darüber denkt«, die Vor­züge dieses Aufenthalts. »Er versteht vollkommen, daß es Gwen überlassen bleiben muß, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, und daß sie nicht mit häuslichen oder anderen Verpflichtungen belastet werden darf.« In Vitas Turm wurde für Gwen ein Zimmer möbliert.
Als Vitas Collected Poems Ende November erschienen, erregten sie nicht viel Aufsehen. Die Rezeption, oder ihr Ausbleiben, schien die kritische Selbsteinschätzung zu rechtfertigen, die sich in einer Verszeile des Gedichtes An Enid Bagnold ausdrückt, das sich in dem Buch findet: »Und ich, Gott weiß es, ein verwünschter altmo­discher Poet.«
(WH. Anden* kam in diesem Jahr nach Sissinghurst und for­derte Harold zu der Überlegung heraus, daß er »wäre ich Kommu­nist, den Wunsch hätte, weniger die Millionäre oder Imperialisten anzugreifen, sondern die sanften, vernünftigen, toleranten, sorg­losen, selbstzufriedenen Intellektuellen wie Vita und mich«. (* W.H. Auden (1907-1973) einer der wichtigsten und vielseitigsten Lyriker des 20. Jahrhunderts (The Age of Anxiety: 1947 (deutsch Das Zeitalter der Angst, 1952) [Anm. d. Übers.]) Doch Vita war als Dichterin nicht mit sich zufrieden. Virginia schrieb ihr nach der Veröffentlichung: »Als Dichterin bist du eine sonder­bare Mischung. Ich mag dich, weil du >altmodisch< bist und dir überhaupt nichts daraus machst: Darum bist du offen für Verände­rungen; frei und stark.«[5]
Seit dem Erscheinen von The Land hatte Virginia Vita auf sanfte Weise zu Veränderungen zu drängen gesucht: doch Vita glaubte, daß sie ihr Schreiben nicht ändern könne. Sie, die sich selbst immer als avantgardistisch angesehen hatte, zumindest in ihrem Verhalten und in ihren Ansichten, fühlte ihr zerbrechliches Ich und ihre Wertvorstellungen bedroht.
Obgleich Vita es nicht ahnen konnte, hatte sich auch Virginias Art, anderen gegenüber über Vita zu sprechen, unmerklich geän­dert: am letzten Tag des Jahres schrieb sie an Lady Ottoline Morrell: »Und Vita kam mit ihren Söhnen, einer in Eton, einer in Oxford, was erklärt, warum sie sich diese Romane für schlafwan­delnde Dienstmädchen ausdenken muß« (doch das hielt Virginia nicht davon ab, angesichts der Aussicht auf einen neuen Roman Vi­tas für die Hogarth Press entzückt zu sein):
»Ich werde sie immer gern mögen — ich sage dies, weil sie äußerlich ziemlich rot und schwarz und protzig ist. Ich weiß: und sehr träge: und, mit uns verglichen, sehr primitiv: Doch ist sie unfähig zur Unaufrichtigkeit oder Pose und gräbt und gräbt und wässert und führt ihre Hunde aus und liest ihre Dichter und verliebt sich in jede hüb­sche Frau, genau wie ein Mann, und ist in meinen Augen echt aristo­kratisch; doch ich könnte nicht beschwören, daß sie dir nicht auf die Nerven gehen würde.«
Am Weihnachtsabend 1933 hatte es in Sissinghurst eine unschöne Szene gegeben. Alle vier Nicolsons — Owen war bei ihrer Familie — waren im Schlafzimmer der Jungen und hörten die Weihnachtssen­dung im Radio. Sie begann damit, wie Harold in seinem Tagebuch schreibt, daß jemand »in einer Art Singsang die ein wenig schwül­stigen Passagen aus dem Neuen Testament vorlas. >Oh, Gott<, sagte Nigel. >Poesie!< Das führte bei Vita zu einer Art >Wutanfall<. Sie schaltete das Radio ab, und wir trotteten mit gesenkten Köpfen wieder die Treppe hinunter«:
»Wir essen schweigend. Dann bricht Vita in Tränen aus und verläßt das Zimmer. Schluchzend geht sie in der Dunkelheit am See ent­lang. Ich bin sehr besorgt. Darauf erscheint sie wieder und sagt. Nigel sei zynisch und spotte über alles, was wichtig sei. Er habe meine schlimmsten Eigenschaften. Hart und kalt. Nie fühle er et­was. >Oh ja, er ist freundlich und zärtlich und all das, aber er hat keine tiefen Gefühle — in seinem Inneren ist er nichts als harte, kalte Intelligenz.< Der arme Niggs ist trotzig zu Bett gegangen, ziemlich verwirrt, was das alles zu bedeuten hat.«
Harold machte sich Vorwürfe, daß er Vita und das häusliche Glück als etwas Selbstverständliches hinnahm. »Sie ist ein dunkler Fluß, der tief im Schatten strömt«:
»Sie macht sich eigentlich nichts aus familiärer Zuneigung. Sie möchte gern, daß das Leben als eine Reihe von grandes passions verliefe. Oder das glaubt sie wenigstens. Wäre ich ein leidenschaft­licher Mann, so hätte ich ihretwegen Qualen der Eifersucht aus­gestanden, hätte ihr endlose Szenen gemacht, und wir wären jetzt getrennt: ich wäre britischer Gesandter in Montevideo, und sie züchtete Samojedenhunde in der Wüste Gobi.«
Hier hat Harold wie gewöhnlich im allgemeinen, wenn auch nicht im einzelnen, recht. Unter der Voraussetzung, daß Vita Vita war, hing das Weiterbestehen der Ehe davon ab, daß Harold so war, wie er war, so oft ihn auch danach verlangen mochte, anders zu sein. Vi­tas Tagebuch verrät nichts von den Turbulenzen; am letzten Tag des Jahres zog Harold die Bilanz seiner bedenklichen finanziellen Situation und setzte hinzu:
»Eine weitere und größere Sorge ist Vitas Gesundheit. Ihre nervli­che Verfassung ist besser gewesen als im letzten Jahr, und doch ist sie ziemlich schlecht. Sie neigt zu Gefühlsausbrüchen, die sie bewundernswert unter Kontrolle bekommt, die aber womöglich Symptome des nahenden Klimakteriums sind, was mir Furcht einjagt. Ihre gesammelten Gedichte haben bei der Kritik wenig Aufmerksamkeit gefunden, und das war für sie eine tiefe Enttäu­schung. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, daß die kom­menden zwei Jahre für sie schwierig und unglücklich sein werden.«
Doch Vita, fast zweiundvierzig, litt nicht unter dem Klimakterium, und die kommende» beiden Jahre wurden nicht so schlecht, wie Harold befürchtete. Gwen St. Aubyn unterzog sich im Januar 1934 einer Kopfoperation, und Vita nahm sie mit nach Portofino, damit sie sich erholte: dort stellten sie fest, daß das mittelalterliche castello samt Dienerschaft gemietet werden konnte. Es gab dort einen schönen Garten mit Iris und Narzissen, die bereits blühten, und Oliventerrassen, die sich zum Meer hinunterzogen. Noch besser war, daß das castello von Portofino Schauplatz des bekannten Ro­mans The Enchanted April (1928) von Elizabeth Russell* war. (* Elizabeth Russell (1866-1941)   veröffentlichte (auch als Elizabeth von Arnim) unterhalt­same Romane und autobiographische Berichte [Anm. d. Übers.]) Zwei enttäuschte Ehefrauen fliehen in diesem Buch vor ihren Hausfrauenpflichten auf das romantische Schloß; das neue Leben übt einen unwiderstehlichen Reiz auf sie aus. Am Ende kommen sie wieder mit ihren Ehegatten zusammen und finden ihre Leben und Ehen erneuert. Harold schrieb an Vita: »Es rührt alles daher, daß Gwen Tauchnitz-Ausgaben der Werke von Lady Russell liest. Ich hoffe, ihr beide seid sehr zufrieden und glücklich. Ich grüße euch, ihr rei­zenden Kinder.« Gwen schrieb ihrem Bruder, sie sei »glücklicher, als ich je in meinem Leben gewesen bin. Weißt du, zum ersten Mal habe ich keine Verpflichtungen, weil Vita sie alle übernommen hat.« Und Vita an Virginia:
»Ich schreibe an dich auf der Terrasse eines winzigen alten Schlos­ses, hoch über dem Meer... Das Meer funkelt dreihundert Fuß tie­fer. .. neben mir stellt eine große Flasche mit goldenem Wein.
Ich schreibe und schreibe und schreibe... da fällt mir ein, wür­dest du Leonard bitte sagen, daß ich ihm mein neues Buch wahrscheinlich im Mai oder Juni werde geben können ... Zur Zeit trägt es den Titel The Dark Island.«[6]
Es blieb bei diesem Titel; sie schrieb eine Geschichte, deren Schau­platz von der Lage des Schlosses nicht unbeeinflußt, stärker aber noch von St. Michaels Mount in Cornwall inspiriert wurde, dessen Erbe Gwens Gatte, Sam, sein würde.
Harold kam zu ihnen nach Portofino. und die drei fuhren weiter nach Monte Carlo — dort waren sie zum Tee bei Somerset Maugham, bevor sie Harold für ein paar Tage in eigenen Angele­genheiten verließ — und von dort nach Marseille, wo sie ein Schiff nach Tanger nahmen. In Casablanca erörterten Vita und Harold bei einem Spaziergang am Meer das Leben der Frauen und ihre Freude an der Freiheit. Harolds Tagebuch vom 23. Februar:

  • »Ich erkläre, daß Frauen, die in der Ehe 1910 ganz glücklich und zu­frieden gewesen wären, heute ruhelos und nervös sind. Vita sagte, es gebe in jeder Revolution ein Übergangsstadium. Die Frauen seien seit Jahrhunderten unterdrückt worden, und man könne nicht erwarten, daß sie ganz selbstverständlich in die Freiheit hinüberglei­ten. Das betrübt mich. Ich weiß, daß es eine Gleichheit der Geschlechter nicht gibt und daß Frauen ihre eigentliche Aufgabe nicht erfüllen, wenn sie nicht einem Mann untergeordnet sind. Ich sage das jedoch nicht, weil es Vita kränken würde.«

Es hätte Vita mehr als nur gekränkt. Es hätte sie mit Zorn und Ver­zweiflung erfüllt. Der Streit ging weiter:

  • »Die Liebe ist für Frauen so weit gespannt, daß sie verloren sind, wenn ihre Gefühle nicht irgendwie gesellschaftlich eingefriedet werden. Gwen hätte sich beispielsweise vor dreißig Jahren glück­lich gepriesen, weil sie einen treuen Ehemann und fünf liebevolle Kinder hat. Heute hat sie das Gefühl, daß diese Verpflichtungen ihr Schranken auferlegen, daß es für sie eine wichtigere Aufgabe gebe, die irgendwo jenseits ihrer Rolle als Mutter und Gattin liegt.«

Dieses nicht unverständliche Gefühl war vermutlich im Zusam­menhang mit Harolds Äußerung zu sehen, daß Frauen »verloren« seien, wenn sie »nicht gesellschaftlich eingebunden werden«. (Es war gut für ihre Ehe, daß er im Fall seiner Frau eine Ausnahme machte. Harold mochte Frauen nicht übermäßig, wenngleich er ih­nen gegenüber charmant sein konnte. Vita war für ihn eine beson­dere Kategorie.) »V. sieht in diesem neuen Gefühl die Auflehnung gegen die jahrhundertelange Vorherrschaft des Mannes. Der Mann hat aber immer Verantwortungsgefühl gehabt. Frauen scheint die­ses Gefühl zu fehlen; sie haben nur das Gefühl, zu besitzen oder zu gehören.« Aus einem Zelt am Rande der Sahara schrieb sie an Vir­ginia und berichtete von Festen, bei denen ganze Hammel am Spieß gebraten und unter den Sternen verzehrt würden, von tanzenden Derwischen, die »Messer und Nägel in ihre nackten Bäuche trieben... Oh, es ist herrlich, in der Fremde zu sein! Wie geschnie­gelt kommt einem England vor. Es hat hier seit drei Jahren nicht mehr geregnet.«[7] Harold fuhr mit dem Zug nach Hause, während Vita und Gwen durch Frankreich zurückbummelten. Als sie am 23. März in England eintrafen, fanden sie ihn mit einer Blutvergif­tung in einer Privatklinik, die durch einen Moskitostich in Ma­rokko entstanden war.
Auch Ärger anderer Art wartete auf Vita. Sie hatte es abgelehnt, die romantisch verliebte Christopher St. John zu besuchen: diese vertraute ihren Kummer Ethel Smyth an, die Vita durch ihre Härte herausforderte. Ethel erzählte Virginia die Geschichte, welche ebenfalls auf Christopher, »diese eselgesichtige alte Vettel«, zu sprechen kam. Vita blieb hartnäckig dabei, sie wolle Christopher allein nicht sehen, lud sie aber zusammen mit Edy Craig und Tony Atwood nach Sissinghurst ein.
Außerdem hatte Ben seine Vorprüfungen in Oxford nicht bestan­den. »Ich bin darüber deprimiert, daß man mich zwingt, etwas zu tun, was ich, ginge es nach meinem Kopf, nicht tun würde.« Es war weniger die Tatsache, daß er die Examina nicht bestanden hatte, als seine Einstellung, die Vita beunruhigte, weil sie diese nur allzu gut kannte; sie schrieb an Ben ein wenig in der Art, wie Harold in der Vergangenheit zuweilen an sie geschrieben hatte: »Mein lieber Ben! Ich muß schon sagen! Woraus, glaubst du, besteht das Le­ben?«
»Ich verwünsche dich, weil du faul gewesen bist, verschwenderisch (mit Zeit, nicht mit Geld) und ohne Mumm. Ich verfluche dich, weil du denkst, daß eine kulturelle Tünche, die du aus der Unterhaltung älterer, besser erzogener und vor allem härter als du arbeitender Leute aufgeschnappt hast, ein adäquater Ersatz für wirkliche Kenntnisse sei. für wirklichen Fleiß und wirkliche geistige Musku­latur.«
Er habe, schrieb sie, eine »beschönigende Einstellung« zum Leben:

  • »Du leidest an der Schönfärber-Krankheit, das ist mit dir los... Glaube nicht, daß ich verärgert bin: ich bin's nicht; ich bin bloß hart. Und entschlossen, dich nicht zu einem weichen und schwam­migen Menschen werden zu lassen. In dieser Richtung habe ich selbst zu viele Versuchungen erlebt, um die Gefahr nicht zu ken­nen, die sie darstellen. Ich habe sie selbst nicht zufriedenstellend überwunden...
    Alles Liebe für deinen albernen, schwarzen Kopf, mein einziger Liebling.«

Die beiden hatten ein sehr enges Verhältnis. Ein paar Wochen spä­ter schrieb Ben seinem Vater, er werde ein Wochenende bei Robert Birley verbringen, der ihn in Eton unterrichtet hatte: »Auf ihr Ehe­leben bin ich ebenso neidisch wie auf das eure und das von Virginia und Leonard«:

  • »Mama ist kürzlich besonders nett zu mir gewesen, hat meine Un­abhängigkeit respektiert und ist doch keinen Augenblick unbetei­ligt gewesen. Auf eine bestimmte Art sind unsere Beziehungen sehr befriedigend: Obwohl wir niemals oder sehr selten — und wenn wir es tun, bringt es uns in Verlegenheit — dem anderen unsere Ge­fühle zeigen, wissen wir beide (zumindest ich), daß ich so sehr liebe, daß es niemals ein entscheidendes Mißverständnis zwischen uns geben wird. Und bei dir habe ich dasselbe Gefühl.«

Als Ben im folgenden Sommer in Wien war und sie ihn drängte, den Kaiserpalast in Schönbrunn zu besichtigen, schrieb sie ihm: »Oh, Lieber, das ist alles ziemlich à la recherche du temps perdu — meine verlorene Jugend und so weiter. Aber ich erwecke in dir meine ver­lorene Jugend wieder zum Leben, also macht es nichts — >Du bist deiner Mutter Augenglas, und sie erweckt in dir zu neuem Leben den süßen April ihrer Jugend.< Ein tröstlicher Gedanke. Alles Gute, mein dunkler Junge, mein dunkler liebenswerter Junge.« Vita kam auch mit Gwens Kindern gut aus, besonders mit Philippa, der älte­sten Tochter. Mit ihrem eigenen Sohn Nigel tat sie sich schwerer; er schrieb im Oktober an seinen Vater: »Ich muß jetzt an Mama schreiben. Übrigens: Ich bin doch wohl nicht in Ungnade gefallen? In diesem Halbjahr hat sie mir nur einmal geschrieben.« Harold war der Empfänger von Nigels Geständnissen, und er antwortete ihm ausführlich mit gleicher Vertraulichkeit. (Harold schrieb be­merkenswerte Briefe an seine beiden Söhne.) Nigels offensichtlich gedankenloser Ausruf »Oh, Poesie!« hatte bei Vita seine Spuren hinterlassen und war kein vereinzelter Vorfall. In seinem Buch Por­trait einer Ehe berichtet er von ähnlichen Mißverständnissen, dar­unter von einem besonders unglücklichen, das sich etwa um diese Zeit ereignete:
»Eines Abends blieb sie auf der untersten Treppenstufe stehen« wandte sich schüchtern an mich und sagte: >Ich habe ein neues Ge­dicht geschrieben, das ich dir gern widmen möchte.< >Oh, tu das nicht, erwiderte ich gedankenlos. >Du weißt doch, daß ich deine Gedichte nicht richtig verstehe.< Sie ging wortlos in das Turmzimmer hinauf, und als sie zum Dinner herunterkam, sah ich, daß sie geweint hatte. Mit meiner unvorstellbar grausamen Bemerkung hatte ich sagen wollen: >Deine Dichtung ist die Seite deines Wesens, an der ich nie Anteil genommen habe und auf die ich keinen An­spruch erheben darf. Ich verdiene die Widmung nicht. Es wäre eine Art von Aufdringlichkeit. Aber eben das sagte ich nicht... Ich war damals siebzehn.«
Um zu beschreiben, was er tatsächlich gemeint hatte, war das Wort »Aufdringlichkeit« durchaus richtig. Vita hielt ihre Arbeit sehr ge­heim. In all ihren Jahren in Sissinghurst betraten die Jungen den Turm nicht öfter als sechsmal. Nachdem Nigel im November 1934 übers Wochenende daheim gewesen war, schickte sie einen sehr wohlwollenden Bericht an Harold, der in den Vereinigten Staaten für seine Biographie über den Staatsmann Dwight Morrow recher­chierte, den Vater der Anne Lindbergh. Doch Nigel schrieb an Harold: »Mama kam mir sehr müde vor, nein, eigentlich nicht müde, sondern eher ausgebrannt: ich glaube, sie braucht mehr Kontakt mit der Außenwelt. Aber das haßt sie.«
Das traf in wachsendem Maße zu. Sie fand es schwierig, mit Be­suchern fertig zu werden, wenn Harold als Gesprächspartner und Vermittler fehlte: sie erzählte ihm, sie fühle sich »vermindert, wenn sie spreche, während andere an Zahl zunehmen«. Virginia, die in diesem Sommer zu Besuch kam, spürte ihre Verkrampfung. Da sie von Owen ziemlich wenig hielt, meinte sie, daß deren Anwesenheit zu dem Unbehagen beitrug. Doch Owens Gesellschaft, wenn Vita Gesellschaft brauchte, machte sie glücklich: Sie schrieb, arbeitete im Garten, fuhr mit dem Boot, sammelte das Fallobst ein, um Cider zu machen, und pflückte die Samenflöckchen großer Binsen, um Kissen damit zu stopfen: »Du brichst sie bloß auf, und eine große Wolke des zartesten, gold-weißen Seidenflaums kommt heraus... es ist, als wenn du mit deiner Hand in einen Schwarm von Entchen fährst, die noch gar keine Knochen haben.« Abgesehen von ihren Terminen beim Rundfunk verließ sie Sissinghurst im Herbst 1934 nur einmal zu einem Lunch mit Ivy Compton-Burnett*, (* Ivy Compton-Burnett (1862-1960). Ihre Romane sind Gesellschaftssatiren, meist am Modell der viktorianischen Familie orientiert  [Anm. d. Übers.]) um die Forschungsreisende Freya Stark zu treffen, über die sie an Harold berichtete: »Sie ist weder beeindruckend noch attraktiv. Klein und schlank mit biskuitfarbenem Teint. Sie ist gerade im Begriff, in den Jemen zu reisen, allein ... Sie muß eine tapfere Frau sein.«
Es war nicht Gwen St. Aubyn, die wollte, daß Vita der Welt ent­sage; im Gegenteil, sie tat sich mit Harold zusammen, um Vitas ausgefallene Garderobe zu verbessern. Ihre Sonderangebotsklamotten sollten verschwinden, und Vita sollte »hier Breeches und alte Lumpen tragen und schlichte Jacken und farbige Hemden zu anderen Gelegenheiten. In London einfache Kleider und Jacken mit leuchtenden Oberteilen — und abends vor allem hübsche Klei­der und keine Hausschuhe«. Widerstrebend fügte sich Vita, zum Teil, weil sie für die sechs Northcliffe-Vorträge an der Universität London, zu denen sie sich verpflichtet hatte, etwas zum Anziehen brauchte. Sie schrieb Harold am 9. November: »Habe heute bei Jays meine neuen Kleider anprobiert; sie sind in Ordnung, denke ich. Aber ich hasse Damengeschäfte und all das Gerede über Klei­der. Ich hasse es auch, mich im Spiegel zu betrachten und dazu auf­gefordert zu werden. Ich finde meine eigene Erscheinung einfach unausstehlich.« Virginia war von der neuen Vita nicht beeindruckt. »Sie ist üppig geworden & aufdringlich & rot — tomatenfarben, und malt sich ihre Finger und Lippen an, die keine Farbe nötig haben — der Einfluß von Gwen; darunter fast dieselbe: bloß ohne den Glanz des Delphins, und die Perlen haben ihren Glanz eingebüßt.« Das war, als Vita das Manuskript von The Dark Island ablieferte. Leonard Woolf las es zuerst und erzählte Virginia, es sei ein »ge­fährlicher, phantastischer Stoff über eine Frau, die in einer Höhle gegeißelt wird. Wieviel wird das Publikum ertragen?«[8]
Am 1. Oktober, ihrem einundzwanzigsten Hochzeitstag, schrieb Harold aus Amerika an Vita: »Mein Liebling — mein einziger Lieb­ling — wenn ich innehalte und auf die hinter uns liegende Zeit­spanne zurückblicke, empfinde ich solche Dankbarkeit für dich. Ich weiß, daß du die Ehe verabscheust und daß sie für dich kein natürlicher Zustand ist, doch ich weiß auch, daß du mich innig liebst.«
The Dark Island, Gwen St. Aubyn gewidmet, erschien zehn Tage später. Bereits vor Erscheinen waren 4000 Exemplare verkauft, und der Verlag Doubleday & Doran zahlte 5000 Pfund für die ame­rikanischen Rechte. Unter Vitas Romanen ist es das rätselhafteste Buch, aber auch das intimste. Virginia meinte: »Für mein Gefühl bewegt sich dein Schreiben zu sehr in der persönlichen Zone, als könntest du nicht genug Abstand gewinnen, um das Problem von außen anzugeben«[9], folglich bliebe die Motivation der Figuren un­klar. Harold mochte das Buch nicht. »Ich hoffe, daß du keine unan­genehmen Kritiken bekommen wirst, mein Liebling. Irgendwie erscheint mir dieses Buch ziemlich bedenklich... Ich meine damit, daß Sadismus ein Thema ist, über das ich nicht gern etwas lese.«
Vita war in bezug auf ihre Romane immer bescheiden. »Ich weiß, daß du mein Buch haßt«, sagte sie zu Harold. »Kein Groll.« Und kurz vor der Veröffentlichung sagte sie in Sissinghurst ruhig zu Vir­ginia, die meisten Leute seien sich mit ihr darüber einig, daß es ein schlechtes Buch sei. Virginia war wie immer von Vitas »Milde, Wahrheitsliebe, Bescheidenheit« gerührt. Ben, der die Beschriftung für den Schutzumschlag entworfen und das Buch im Manuskript gelesen hatte, traf ins Schwarze, als er seinem Vater schrieb: »Sie ist offensichtlich eine Lyrikerin und keine Romanschriftstellerin, und Erloschenes Feuer war nur deshalb so gut, weil es so poetisch war. Aber das alles sage ich ihr natürlich nicht. Und dieser Roman ist interessant, weil er ihre Meinung über Gwen wiedergibt und in der Gestalt der alten Lady le Breton Großmama idealisiert.«
Die Heldin von The Dark Island ist Shirin, deren heiterer, »natür­licher« Charakter dem von Gwen entspricht (Shirin war Vitas Kose­name für Gwen: er bedeutet im Persischen »lieblich«). Shirin begeg­net als junges Mädchen Venn, dem Erben der Insel Storn, die von einer normannischen Burg gekrönt wird, in der er mit seiner Groß­mutter, Lady le Breton, lebt — intrigant, bezaubernd, »schön und ver­rucht und gut«. Venus geheimnisvolles Wesen offenbart sich sogleich; er verdreht dem Mädchen die Handgelenke, zeigt ihm »Andromedas Höhle« und sagt: »Ich möchte dich gern fesseln... nackt... und dich schlagen und immer wieder schlagen, bis du schreist.« Das »selt­same Vergnügen«, das er bei dieser Vorstellung empfand, erinnerte ihn »an die sonderbare Lust, die er erlebte, als er in seiner Eigen­schaft als Aufsichtsschüler zum ersten Mal einen jüngeren Schüler verprügelt hatte«. Venu und Lady le Breton werden später als »zu Recht verdammte Seelen, verderbt« beschrieben: Vita erforschte und gestaltete die dunkleren, wilderen Züge in ihrem und ihrer Mut­ter Wesen. (Drei Jahre nach dem Tod ihrer Mutter, als sie sich daran erinnerte, wie sie die Hand der Bewußtlosen gehalten hatte, sagte sie: »Wenn es je une ame damnee gegeben hat, dann war sie eine.«)
In Vitas Charakter finden sich sadistische Züge. Man denke an die Geschichten aus ihrer Kindheit, als sie Spielgefährten terrori­sierte und mit Nesseln peitschte. Dort lag eine Seite ihres Wesens verborgen, die sie, wie sie häufig andeutete, Harold nie offenbart hatte. Es finden sich erotische Gewaltphantasien in einigen ihrer unveröffentlichten Gedichte an Mary Campbell (welche sie 1931 Evelyn Irons neu widmete):

... Und willst du, prächtig in Seide gekleidet.
Verbergen, wo dein Leib zerschunden.
Und lassen deine Ehrenmale unerkannt?
Komm: wenn sie schwinden, brenn ich dir neue Wunden.

Die Phantasie von grausam gerächter Untreue taucht in einem an­deren Evelyn-Gedicht auf, das in ihren Collected Poems den Titel »Tess« trägt:

Oh, hüte dich! Denn solltest du einst schwanken
 In der Treu, die dir mein Hochmut zugemessen.
Nehm ich wie eine Löwin dich in meine Pranken
Und werde rächend alle Zärtlichkeit vergessen.

In dem Jahr, als The Dark Island erschien, sprach sie, bezogen auf den Entführer des Lindbergh Babys gegenüber Harold Ansichten über Rache:
»Wenn es nach mir ginge, ich würde den Mann gern mit meinen ei­genen Händen auf den elektrischen Stuhl setzen und ihn zwei Mo­nate lang leiden lassen, um ihm die seelischen Qualen heimzuzah­len, die er sie zwei Monate lang hat leiden lassen. Ben und Gwen sagen, daß sie das nicht verstehen. Du freilich weißt, daß ich sehr rachsüchtig bin, wenn ich liebe, und darum kann ich andere Leute verstehen, die ebenfalls rachsüchtig sind. Es kommt mir so vor, als seien die Leute größtenteils sehr zahm, aber vielleicht habe ich un­recht. Jedenfalls weiß ich, daß ich mit Freuden denjenigen quälen würde, der jemandem, den ich wirklich liebe, weh getan hat.«
Wie ein Kind war sie in der Lage, Enttäuschung oder Wut körper­lich auszudrücken. Doch nicht nur Harold, auch Virginia und je­der, der sie näher kannte, sprachen von ihrer nie versagenden Sanftheit als einer jener Eigenschaften, die sie an ihr am meisten liebten und schätzten. Die Grausamkeit war die andere Seite der Medaille, ihre »verruchte Seele«, und diese fand in The Dark Island düsteren Ausdruck. Im Buch heiratet Shirin Venu später nicht, weil sie ihn liebt, sondern weil sie die Burg und die Insel Storn liebt. Folglich besitzt Venu Shirin niemals wirklich, obgleich er Storn be­sitzt und sie dort wie einen Eindringling behandelt.
Etwa so wie Virginia in Mrs. Dalloway ihre Persönlichkeit in Clarissa Dalloway und den geisteskranken, furchtsamen Septimus auf­gespalten hat, so projizierte Vita ihre nichtgrausame Seite, die frei von Venu-Eigenschaften ist, auf Shirins hingebungsvolle Freundin Cristina. Diese ist »groß und gebräunt«, eine Bildmalerin und »eine Art Gärtnerin«; sie glaubt, daß Shirin »bei mir sicherer wäre«. Während Shirin unter ihrem Schutz steht, begreift Cristina, warum Venu so geworden ist, wie er ist — was heißt, daß Vita um die Ursachen ihrer grausamen Regungen wußte. Die Herrschaft seiner Großmutter und das Wissen, daß er der Erbe großer Besitz­tümer war, hatten bei Venu zu »einer Selbstherabsetzung und dem damit korrespondierenden Verlangen nach Herrschaft« geführt. Gegenüber den Leuten, »über die zu herrschen er nach Natur und Gesetz berechtigt war, hatte er sich als ein freundlicher und güti­ger Herr erwiesen: aber gegenüber Shirin, die ihm widerstanden hatte, verhielt er sich, moralisch und körperlich, wie ein Teufel und Sadist«.
Vitas Helden befinden sich immer im Besitz ihrer angestamm­ten Heimat: sie schrieb nie einen erzählenden Text über den Ver­lust von Knole. Doch mehr als jede Einzelperson war es Knole, das sich Vita entzogen hatte. Dieser grundlegende Schmerz war ein Faktor im Kampf um Integration zwischen »Venu« und »Cristina«, dem sie manchmal unterlag. Eddy Sackville-West war ei­ner der wenigen, der ihr schrieb und The Dark Island lobte. Sie er­widerte:
»Ich freue mich, daß dir The Dark Island gefallen hat. War es wirk­lich so indiskret? Ja, ich denke schon. Aber nur für Eingeweihte...
Lieber Eddy, ich liebe dich wirklich sehr... Erinnerst du dich noch, einmal in Long Barn waren wir allein und ich fing an, dir zu erzählen, wie überaus schwierig ich es immer gefunden habe, eine wirkliche Verbindung zwischen uns herzustellen? Und dann wur­den wir durch irgendwas unterbrochen, und der Augenblick ging vorbei und ist nie wieder zurückgekehrt. Ich glaube, es dreht sich vielleicht immer um Knole. Im Unterbewußtsein. Du wirst das nicht verstehen, und ich kann es nicht erklären.«[10]
Im Roman wird Cristina Zeuge, wie Venu sich seine Knabenphan­tasie erfüllt und die nackte gefesselte Shirin in Andromedas Höhle schlägt: und das Buch endet damit, daß Venu Cristina durch einen bewußt herbeigeführten Unfall beim Segeln tötet und daß Shirin Venu umbringt, der sie seelisch bereits getötet hat. In der überregio­nalen Presse nahm man das Buch kühl und ein wenig verwirrt zur Kenntnis, während es in der Provinz bessere Kritiken bekam. »Die dankbaren Leute auf dem Land verehren die Aristokratie«, wie Virginia sagte. In den kommenden acht Jahren veröffentlichte Vita keinen weiteren Roman.