Kapitel 29

Seit Ausbruch des Krieges hatte Vita ein- oder zweimal pro Wo­che eine sehr alte Dame besucht. Katherine Drummond, die mit ihrem Gatten — einem pensionierten General - im Dorf Sissinghurst lebte. Mit der Zeit wurden Mrs. Drummond diese Besuche unentbehrlich, und sie und Vita wurden wie Mutter und Tochter, wenn Vita auch gelegentlich darüber klagte, wieviel Zeit sie diese neue Freundschaft koste. Vita freundete sich auch mit Mrs. Drummonds Schwiegertochter Bunny an, die sie Harold als »eine nette, bescheidene Person, nicht aufregend, aber ungemein bescheiden« beschrieb. Es waren langweilige, bescheidene Leute wie Bunny Drummond, mit denen Vita neuerdings besser auskam als mit ih­ren weltoffeneren Nachbarn, die, wie Victor Cazalet, den oberen Zehntausend angehörten. Christopher St. Johns leidenschaftliche Zuneigung zu Vita war keusch geworden und hatte Züge einer fast religiösen Verehrung angenommen. Sie hatten eine »feierliche Abmachung«, jeden Freitagabend miteinander zu telephonieren. Vita hatte auch neue Verehrerinnen - wie zum Beispiel, Margaret Ho­ward, eine aufstrebende Dichterin, die im April 1942 zum ersten Mal zu Besuch kam; von da an schrieben sie sich — wie sich aus Christophers eifersüchtigen Bemerkungen und einem Brief, den Mrs. Howard nach Vitas Tod an Nigel schrieb, schließen läßt - »na­hezu jeden Tag«. Vita schrieb auch nahezu jeden Tag an Mac, die beim »Queen Alexandra«-Hilfsdienst in Übersee als Kranken­schwester tätig war.
Doch ihre fundamentale Einsamkeit verstärkte sich 1942 durch die Abreise ihrer Schwägerin Gwen, die mit Unterbrechungen seit 1933 in oder in der Nähe von Sissinghurst gelebt hatte und ein fester Bestandteil von Vitas Leben geworden war. 194O hatte Gwens Gatte Sam von seinem Onkel den Titel eines Lords von St. Levan und das große Haus der Familie auf St. Michael's Mount vor der Küste von Cornwall geerbt. Nach dreijähriger Militärzeit war Sam wieder zu Hause und hatte die Absicht, dort zu wohnen, und Gwen - jetzt Lady St. Levan — ging ebenfalls dorthin.
Vita war aufgebracht. Gwens Bereitwilligkeit, auf St. Michael's Mount zu leben, empfand sie unsinnigerweise als Treuebruch und Pflichtvergessenheit; sie hielt sogar Harold für einen »Quisling«*, weil er das neue Heim seiner Schwester besucht und bewundert hatte.(* Vidkun Quisling (1887-1945), norwegischer Politiker, Gründer der norwegischen faschisti­schen Partei, bereitete 1940 in Zusammenarbeit mit den Nazis die Besetzung Dänemarks durch deutsche Truppen vor. Sein Name wurde zur Bezeichnung für Kollaborateure [Anm. d. Übers.]). Auch die beiden Jungen waren fort, sie waren ins Ausland geschickt worden. (Ben war jetzt beim Nachrichtendienst, wo er weniger unglücklich war.) Nigel kam auf Urlaub heim, bevor er fortmußte: »Wir unterhielten uns bis 12.30. Ich war tapfer und fragte ihn direkt nach Sheila... Wir sprachen über das Leben und den Krieg; über Angst und daß wir nicht sterben wollten. Dann warf er mir einen Blick zu, den ich nie vergessen werde, und sagte: >Aber ich bin zu der Schlußfolgerung gelangt, daß das Leben nicht das Wertvollste ist, das man besitzt.<« 1942 stimmte Vita mit ihm überein. In diesem Herbst hatte sie Selbstmordphantasien, die in privaten, unveröffentlichten Gedichten Ausdruck fanden. Es war nicht der Tod mittels ihres immer verfügbaren »blanken Dolchs«, an den sie dachte, sondern der Tod durch einen wirklichen blanken Dolch — ein Messer - im Wald. Harold wußte nichts davon, doch kannte er sie gut genug, um zu wissen, daß sie Trost brauchte; nach einem der glücklicheren Besuche Bens versicherte er ihr, daß sie, die einst behauptet hatte, niemals eine vollkommene Beziehung zu einem anderen aufbauen zu können, gleichwohl zu ihm und den Jungen eine Beziehung habe, die von unumschränkter Liebe und Vertrauen geprägt sei.
In ihrer Isolierung war Vita noch konservativer geworden und fühlte sich stärker der Tradition verbunden. Sie, die einst argumen­tiert hatte, ein Beruf sei für eine Frau notwendig, war verblüfft, als ihre Lieblingsnichte, Philippa St. Aubyn, verkündete, sie werde sich als Säuglingsschwester ausbilden lassen: »Ist das nicht ein Zei­chen der Zeit? Die meisten Mädchen in ihrem Alter, mit einem rei­chen Vater etc. würden sich darauf freuen, nach dem Krieg >eine gute Zeit zu haben<. Ich glaube. B.M. würde sich im Grabe umdre­hen — und mir selbst läuft bei dem Gedanken, daß unsere Nichte ei­ner solchen bedint Gesellschaft ausgesetzt sein wird, ein Schauer über den Rücken.« Einige Zeichen der Zeit — als, zum Beispiel, Lady Ravensdale auf dem Fahrrad des Cazalet'schen Hausmäd­chens am Haus der Drummonds ankam — brachten sie zum La­chen.  Der Beveridge-Plan* — der Entwurf für den englischen Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit — der gegen Ende des Jahres veröffentlicht wurde, versetzte sie in Empörung. (* Der für die britische Sozialpolitik nach 1945 grundlegende Entwurf des liberalen Nationalökonomen Sir William Beveridge (1879 -1963) wurde am 2. Dezember 1942 veröffent­licht [Anm. d. Übers.])

  • »Für mich hört sich das schrecklich an. Das Proletariat wird dazu ermutigt, sich wie die Kaninchen zu vermehren, weil jedes neue kleine Kaninchen 8 Pfund in der Woche bedeutet — als ob es nicht schon genug davon gäbe und nicht genügend Arbeit für alle, bei 2 Millionen Arbeitslosen vor dem Krieg — und jeder kriegt alles um­sonst und wird davon abgeschreckt, zu sparen und sich zu rüh­ren. .. Lloyd George gab ihnen die Altersversorgung — und was tun sie? Sie murren, weil sie für ihre Briefmarken bezahlen müssen, und dann murren sie, daß sie nicht genug Geld haben. Oh, nein, ich halte es nicht mit Sir William Beveridge, und alles riecht mir sehr nach der Zeit vor 1792.«

(In >Schloß Chevron< hatte sie Viola zu Sebastian sagen lassen: »Liebster Sebastian, wie gut sehe ich dich auf deine alten Tage voraus — eingeschlossen in den Mauern von Chevron, jammerst du, daß das Land vor die Hunde gegangen ist, ein guter Tory bis zum Ende. Wie schade, daß du nicht um achtzehnhundertfünfzig gelebt hast!« ) Ihr Brief kreuzte sich mit dem von Harold, der schrieb: »Ich erkenne wirklich in dem Plan viele Dinge, auf die ich seit Jahren ge­hofft habe.« Vita war kampflustig:

  • »Ich fürchte. Mar ist instinktiv ein Tory... Ich bin durchaus dafür, die peuple zu erziehen, so daß sie weniger gräßlich, weniger beschränkt und weniger töricht werden, und ich bin dafür, viel Geld auszugeben 1) für erweiterte Schulbildung und 2) für bessere Lehrerbesoldung, aber ich bin nicht dafür, ihnen alles umsonst zu ge­ben, was sie ohnehin nicht zu schätzen wissen. Gesundheitspflege ja, Schulbildung ja, Altersrenten wohl auch ja, da es keine Eutha­nasie gibt, die ich, wie auch für Geisteskranke, bevorzugen würde. Aber nicht diese Art von Wohltätigkeit, welche dahin führt, daß die Leute mit verschränkten Armen das Gefühl bekommen, sie brauchten nichts zu unternehmen, da in allem für sie vorgesorgt wird. Das ist bestimmt ein psychologischer Fehler.«

Diese Diskussion führte schließlich dazu, daß sie Harold einen Brief schrieb, der sich wie eine verspätete Antwort auf seinen unglücklichen Brief liest, den er ihr am Wochenende von Virginias Tod geschrieben hatte. »Natürlich finde ich ebenso wie du, daß der Krieg und die Nachkriegszeit wichtig sind«, versicherte sie ihm am 9. Dezember. Aber sie besaß nicht die Klaglosigkeit und Tapferkeit, die Harold ihr zuschrieb:

  • »Meine Gelassenheit ist lediglich meine Kohlkopfnatur. Glück­licherweise hast du nie die stürmischere Seite meines Wesens erlebt. Du hast nur gelegentlich eine Blase an die Oberfläche steigen se­hen ... aber da du solche Blasen nicht magst, hast du klugerweise immer weggeblickt. Meine Empfindungen für dich sind tief und stark: ich liebe dich mehr als alles auf der Welt. Du bist ungefähr der einzige Mensch, auf dessen Liebe ich vertraue.«

Nicht das geringste unter den Geschenken, die Harold ihr mach­te — wenn sie es auch nie in Worte faßte — war sein unwandelbarer Glaube an die kraftvolle »gute« Vita: es half ihr, ebenfalls daran zu glauben. Und obwohl ihr die Vorstellung eines Sozialstaates im allgemeinen heftig zuwider war, reagierte sie im Einzelfall gänzlich anders. Als das Kind der Coppers an einem rheumatischen Fieber erkrankte und der Arzt sich mit seinem Besuch reichlich Zeit ließ, war Vita wütend, daß »sie die armen Leute so behandeln. Zum Glück bat mich Mrs. Copper, mich darum zu kümmern, und ich habe telephoniert; was macht der kleine Mann in diesem Fall? Er nimmt es einfach hin. Ich könnte zur Demokratin werden.«
Vitas Tagebuch vom 8. Januar 1943:

»Denke daran, ein Buch zu schreiben, das aus vier Skizzen besteht — über Leonard, die beiden Theresas und eine vierte nicht-weltliche Person.«

Am nächsten Morgen holte sie ihre Notizen über die »zwei Theresas«, wie sie sie immer nannte, hervor, fügte die französische und spanische Schreibweise hinzu und begann zu schreiben: Das Buch sollte den Titel Adler und Taube tragen und wurde ihr bestes nichterzählen­des Buch. (Leonard Woolf und die vierte »nicht-weltliche« Person verschwanden wieder.) Die Arbeit ging ihr sofort gut von der Hand. stellte Vitas Gleichgewicht wieder her. und sie bekam ihr Leben wieder in den Griff. Die Druckwelle einer Bombendetonation stürzte alle Gegenstände im großen Zimmer um, wobei, »leider, lei­der«, ihr Geschirr aus Purpurglas zerbrach; doch abgesehen von ihren regelmäßigen Besuchen bei Mrs. Drummond nahm die neue Routine rasch feste Formen an. »Den ganzen Tag allein. Garten und St. Theresa — meistens St. Theresa.« (Ein paar Narzissenknollen. die sie vor sechzehn Jahren in Persien ausgegraben hatte, blühten in diesem Frühling plötzlich zum ersten Mal — »das zeigt, das man die Hoffnung nie verlieren sollte«.)
Wie vorauszusehen, zog Vita den »Adler«, die derbe, energische Teresa von Avila — »wirklich unwiderstehlich, so völlig unbedint und unumschränkt und gar nicht wie eine Nonne, eine großartige Frau« — der »Taube« vor, der kleinen Blume aus Lisieux. Sie kämpfte sich durch Teresas Autobiographie in spanischer Sprache, mühsam und mit Hilfe eines Wörterbuches: sie führte eine hilfrei­che Korrespondenz mit der vornehmen Äbtissin von Stanbrook, Dame Laurentia McLachlan, die einem geschlossenen Orden angehörte, jedoch die Vertraute vieler Laien war. Nach weniger als einem Monat intensiven Lesens und Schreibens schrieb Vita am 3. Februar an Harold:

  • »Ich glaube, allmählich beginne ich die Heiligen und ihre Ziele bes­ser zu verstehen als damals, als ich über Johanna von Orleans schrieb; es ähnelt ein wenig dem Versuch, die Relativitätstheorie zu verstehen, wobei einem hin und wieder blitzartig etwas klar wird. Es ist eine völlig andere Welt, und als erstes muß man begreifen, daß alle herkömmlichen Werte in ihr Gegenteil verkehrt sind.«

Ihre regelmäßigen Gefährtinnen, schrieb sie, seien »Heilige und Landmädchen«; sie kam ihren Verpflichtungen bei der örtlichen Sektion der Women's Land Army nach, sorgte für den Transport der Frauen von einer Farm zur anderen und stellte das Cottage von Vass zur Unterbringung einer Gruppe zur Verfügung — mitsamt ei­ner Haushälterin, die Vita sehr ärgerte:

  • »Was mir an bedint Frauen mißfällt, ist ihre absolute Begeisterung, mit der sie sich in praktische Schwierigkeiten bringen - sie regen sich über eine fehlende Pastetenform so sehr auf, als seien sämtli­che Schätze des Britischen Museums über Nacht verschwunden... Dieses Trampel von Haushälterin fragte mich schließlich, was sie den Mädchen zum Dinner vorsetzen solle: Ob gekochte Rübchen wohl das Rechte seien? Oh, mein Gott! Es gibt Zeiten, da ich die Engländer von Herzen hasse.«

In Vitas Unterteilung häuslicher Tätigkeiten, die nebensächlich, und andere, die es nicht waren, gab es Grenzen — und zwar nicht im Sinne ihrer Heiligen. Die Heilige Teresa von Avila, die sie so sehr verehrte, hätte sich des Problems einer fehlenden Pastetenform mit »absoluter Begeisterung« angenommen, so sehr sie sich auch wünschte, es nicht tun zu brauchen.  Nichtsdestotrotz erledigte die einundfünfzigjährige Vita zum er­sten Mal in ihrem Leben einen Teil ihrer eigenen Hausarbeit. »Ich poliere noch immer mit großem Erfolg«, schrieb sie Harold am 24. März, »doch bei den Scharnieren am Goromandel-Schränkchen ist das eine Höllenarbeit. Ich stehe jetzt früh auf und arbeite eine Stunde vor dem Frühstück daran. Ich beginne zu verstehen, was die Hausmädchen meinen, wenn sie von >Staubfängern< sprechen.«
Im April 1943 nahm Vita an einer Lyrik-Lesung teil, die von Osbert und Edith Sitwell in der Aeolian Hall veranstaltet wurde und bei der die Königin und die jungen Prinzessinnen anwesend waren. Vorher speiste Vita bei Sibyl Golefax und holte danach Dorothy Wellesley von Hyde Park-Hotel ab. Die Dichter sollten in alphabeti­scher Reihenfolge aus ihren Werken lesen, was bedeutete, daß Dottie als letzte an die Reihe kam. Harold war unter den Zuhörern und berichtete Nigel und Ben in seinem wöchentlichen Brief (er benutzte Durchschlagpapier und sandte denselben Brief an beide), daß »Mama dasaß und aussah wie Pallas Athene mit einem brau­nen Hut«. Als sie an die Reihe kam, las sie »Moonlight« (»das Ge­dicht mit den korallenroten Tafthosen, wißt ihr?«) und dann den Schlußteil von >The Land.< »Nicht ein einziges Mal zitterte ihre Stimme, sondern erst, als sie zu >Dieser Mond, dieser Stern< kam, wo es ja auch angebracht war. Stürmischer Beifall.«
Dann verließ Vita das Podium, um nach Dottie zu sehen, die in der Zwischenzeit bereits eine lärmende Ablenkung hervorgerufen hatte. Sie fand sie in der Vorhalle, zwar nicht fähig, aufzutreten, je­doch entschlossen, es zu tun. Harold kam heraus, um Vita zu hel­fen, und wurde zum Dank dafür von Dottie geschlagen. Nach seiner Schilderung weinte Edith Sitwell, als sie sah, daß die Veran­staltung verdorben war; sowohl sie als auch Osbert zeigten »mu­sterhafte Freundlichkeit und Diskretion«.
Mit einem Taxi schaffte Vita Dottie ins Hotel zurück, wo Violet Trefusis sich aufhielt, und die beiden brachten Dottie auf ihr Zim­mer. An diesem Abend, der noch Nachwirkungen hatte, kam Vita »zerschlagen« nach Hause. Die arme Dottie rief Vita wiederholt an, bestritt, daß sie betrunken gewesen sei und sprach von Selbst­mord. »Trotz ihres heftigen und offenbar echten Leugnens«. schrieb Vita an Harold. »habe ich nicht den Eindruck, daß wir uns geirrt haben könnten. Ich glaube keinen Augenblick, daß sie Selbstmord begehen wird... aber sie tut mir schrecklich leid.« (»Wie glücklich ihr zusammen sein müßt, du und Harold«, hatte die einsame Dottie am Telephon gesagt.) Duff Cooper sandte Vita ein Kärtchen: »Sie waren bei weitem die Beste — was die Stimme, die Verse und die Schönheit angeht. Osbert und Edith waren amüsant und hörenswert. Der Rest war Schweigen.«
Im Mai kam Violet Trefusis zum ersten Mal nach Sissinghurst und blieb über Nacht. Vita sah dem Besuch mit gemischten Gefühlen entgegen. »Ich möchte, daß sie Sissinghurst kennenlernt, aber es wäre mir lieber, sie käme nur zum Lunch.« Bei ihrer Ankunft sagte Violet, es werde sie ängstigen, allein in Bens Zimmer im Speisezimmer-Cottage zu schlafen; also gab Vita ihr ihr eigenes Schlafzimmer, »teilte es aber nicht mit ihr«: Sie schlief in Harolds Zimmer. »Es war alles sehr sonderbar, und dessen waren wir uns beide deutlich bewußt, doch zum Glück konnten wir es aussprechen, so daß sich Erheiterung anstelle von Verlegenheit einstellte.«
Während Violet vor dem Dinner ein Bad nahm, schrieb Vita an Harold. was es für sie bedeute, wieder allein mit Violet in einem Haus zu sein. »Es ist, als spreche man eine fremde Sprache, die man einst als Zweitsprache benutzt und seit Jahren nicht mehr ge­sprochen hat: idiomatische Ausdrücke, sogar Slang-Brocken tau­chen plötzlich wieder auf, doch man stellt fest, daß die Grundlage verschwunden ist.« Violet bei sich zu haben, war eine »umwerfende Erfahrung«, zu deren Verarbeitung sie einige Tage brauchte.
Anfang Juli hörten sie, daß ihr Nachbar Victor Cazalet bei dem­selben Flugzeugabsturz umgekommen war, der den polnischen Ge­neral Sikorski tötete.* (* Wadislaw Sikorski war von 1939 an Ministerpräsident der polnischen Exilregierung in London. Er kam hei einem Flugzeugabsturz am 4. 7. 1943 hei Gibraltar ums Leben [Anm. d. Übers.].)
»Jetzt, da er tot ist«, schrieb Vita,

  • »will ich nicht so tun. als ob ich ihn lieber hatte, als das der Fall war, aber ich finde es schrecklich, so sinnlos zu sterben. Ich hoffe auch, daß euch das eine weitere Lehre sein wird, die Finger von diesen entsetzli­chen Maschinen [Flugzeugen] zu lassen.«

Der Gedanke an das Flie­gen erfüllte Vita mit Schrecken, und sie versuchte, alle, die ihr nahestanden, davon abzuhalten. Wenn sie sich ihrem Verbot wider­setzten, durchlebte sie Qualen der Angst.
Da sie schnell und mit Freude arbeitete, beendete sie Adler und Taube nach sechs Monaten: danach arbeitete sie bis Mitternacht bei Mondschein im Garten. In >The Garden< schrieb sie:

Sonderbar waren jene Sommer;
Sommer, beherrscht vom Krieg.
Ich glaube, es war die Gefahr, welche die Blumen
Schöner machte.

Vita erwarb weiteres Land — Brissenden Farm mit 109 Acres für 4000 Pfund. »Mr. Venning [ihr Anwalt] muß eben zusehen, wo er das Geld hernimmt.« Harold. ohne Regierungsamt und unzufrie­den mit seiner anderen, hauptsächlich außerparlamentarischen Tätigkeit (im Verwaltungsrat der BBC), war weniger schwungvoll. Er machte im Unterhaus eine Vertrauenskrise durch und vertraute Vita seine Ängste an, zu versagen. Sie schrieb ihm einen energi­schen Brief voller Ratschläge. Er solle eine Bestandsaufnahme machen; er verzettele sich bei zu vielen unwichtigen Tätigkeiten; welche sei ihm am wichtigsten? Sie drängte ihn, ein paar Komitees, Vortragsverpflichtungen und Zeitungsartikel aufzugeben.
»Meine Vorstellung vom Himmel auf Erden«, schrieb sie ihm im Sommer,

  • »wäre die, daß Hadji hier wohnte, sich von morgens bis abends in seinem Zimmer vergräbt und schreibt — vielleicht noch mit einem sehr interessanten Posten, der ihn einmal in sechs Monaten nach London führt.«

Er hätte das gehaßt: doch er genoß die Wochenenden im Som­mer. Sie waren miteinander glücklich, stutzten die Linden und schnitten abends das Rondell — »während über unseren Köpfen un­ablässig in gewaltigen Formationen Bomber dahinströmen«. »Wir haben es geschafft, die wichtigsten Arbeiten am Garten durchzu­führen«, schrieb er an Nigel und Ben, »und die Hecken sind ordent­lich beschnitten. Aber manchmal habe ich das Gefühl, daß Mama zu schwer arbeitet... Sie ist furchtbar mager.«
Sie bekam die Grippe und zog mit Martha in Bens Zimmer, da­mit Mrs. Staples nicht mit Tabletts durch den Garten laufen mußte. Am 25. Juli um elf Uhr abends hörte sie im Radio, daß Mussolini zurückgetreten war. Sie sprang aus dem Bett, zog einen alten Eton-Pullover von Ben über und rannte quer durch den dunklen Garten zum South (Notlage, um Harold die frohe Botschaft zu überbringen. Am 8. September, als sie von einem Besuch bei Gwen zurückkam, die in einer Londoner Klinik lag, wurde sie Zeuge, wie der Stations­vorsteher von Staplehurst »jedem, der aus dem Zug stieg, mitteilte, Italien habe bedingungslos kapituliert«.
The Land brachte plötzlich wieder Honorare: Vita gab Harold den Scheck für einen neuen Anzug. Das war keine Eintagsfliege; The Land erfreute sich während des Krieges eines anhaltenden neuen Interesses; im Mai 1944 wurde das Gedicht zu »einer Art von Lita­nei« umgearbeitet und am Rogate-Sonntag in der Kathedrale von Liverpool gelesen. »Es liest sich wirklich wie etwas aus der Heiligen Schrift.« Vita, nach einer Weile immer niedergedrückt, wenn sie nicht schrieb, fühlte sich beflügelt, an ihrem Gartengedicht weiterzuarbeiten; das Propagandabuch, das sie für die Women's Land Army schreiben sollte, zählte für sie nicht als wirkliche schriftstel­lerische Arbeit.
Die Umstände, unter denen diese Auftragsarbeit zustande kam, öffneten Vita die Augen für die Art und Weise, mit der es bestimmte Leute — besonders solche, die nicht in einem unbequemen »Lager« wie Sissinghurst hausten — verstanden, weiterhin so komfortabel zu leben wie vor dem Krieg. Am 1. Oktober polierte sie einen Koffer aus Krokodilleder, den sie 1921 in München gekauft hatte, und fuhr durch das »arg zerstörte East Grinstead« nach Balcombe Place, dem Heim von Lady Denman, gleichzeitig ihr Hauptquartier als oberste Chefin der 80 000 Mädchen der Land Army. Vita fand Lady Denman »umgeben von unzähligen Frauen, die alle ein wenig an Hilda Matheson erinnerten«, und man diskutierte das Buch, das Vita schreiben sollte. Wie sie dort übernachtete, beschrieb sie Ben, der zur Zeit in Ägypten war:

  • »Man stellte mir Lord Denmans Schlafzimmer zur Verfügung (ohne Lord D.J.) und ich hatte großen Spaß, all die großen Schränke zu öffnen und seine säuberlich aufgereihten Anzüge, Hüte, Schuhe und Jagdpeitschen zu bewundern. So also leben die Reichen! Ein Glas Milch, zwei Kekse und ein Krug Orangeade wur­den neben meinem Bett auf etwas abgestellt, was man in besseren Kreisen einen Nachttisch nennt; und es gab ein entzückendes Schreibtischchen mit Stößen von Briefpapier und neuen Relief-Fe­dern in den Federhaltern.«

(Vita hatte angefangen, braune Tinte zu verwenden, eine Gewohn­heit, die sie jahrelang beibehielt: Violet nannte die Handschrift ihr »kleines Schokoladengewimmel«.) Lady Denman entschuldigte sich bei Vita wegen des Personalmangels und sagte, »sie fürchte, ich werde die Bedienung mangelhaft finden. Ich dachte an Sissing­hurst.« Das Frühstück wurde ihr ans Bett gebracht, »mit einem sorgsam gefalteten Exemplar der Times: ich war sicher, daß sie ge­bügelt worden war, und als ich sie entfaltete, entdeckte ich, daß Gerry [Wellesley] Herzog von Wellington geworden war. Das hieß, daß Dottie, mit der ich an diesem Tag eine Verabredung zum Lunch hatte, ihrerseits die Herzogin war.« (Obgleich die Wellesleys seit Jahren völlig getrennt lebten, hatten sie sich nie scheiden lassen.) Auch in Vitas Familie gab es Veränderungen. Seit mehr als vier Jahren führte man Verhandlungen mit dem Ziel, Knole dem Natio­nal Trust zu übertragen und es zugleich als Heim der Sackvilles zu erhalten. Vita und Harold standen in enger Verbindung mit der Ver­waltung des National Trust, in erster Linie durch James Lees-Milne, mit dem sich Harold Anfang der 30er Jahre angefreundet halte. Vita wußte, daß unter der Kontrolle des Trusts Knole nicht nur in Ord­nung gehalten werden, sondern auch vor Veränderung und Schän­dung bewahrt sein würde. Sie war über die Langsamkeit verärgert, mit der Onkel Charlie und Eddy sich dazu entschlossen: »Eddy ist so schlapp wie ein nicht angebundener Rittersporn in einem Sturm.«
Ein ähnliches Gartenbild benutzte sie in >Adler und Taube<, als sie über den Trost und Halt schrieb, den bestimmte Charaktere in den autoritären Strukturen der römisch-katholischen Kirche fanden:

  • »Nur der Mißratene, der Rebell, der einsam in eine Welt ihm frem­der Werte verschlagen ist, vermag vielleicht die Tröstung abzu­schätzen, die es bedeutet, plötzlich in eine Gemeinschaft Einlaß zu finden, deren Ziele sich völlig mit den eigenen decken. Nicht mehr ein vom Sturm zerzauster Baum, dessen gefährdete Wurzeln sich lockern, während er ungestüm hin und her schwankt, wird er jetzt von einem starken Pfahl gestützt, und Drähte halten die Ranken fest umwickelt, während ein satter, jahrhundertealter Belag von Dung und Stroh ihn oberhalb der Wurzeln nährt und kühlt.«

Vita hatte mit autoritären Institutionen nichts im Sinn. Doch die zi­tierte Passage kann dazu beitragen, ihre eigene Metamorphose von der Möchtegern-Vagabundin, der Mißratenen, der Rebellin« zur Tory-Anhängerin und Traditionalistin zu erklären. Ebenso blieb ihre spätere Stellung in einem England, das einschneidenden sozia­len Veränderungen unterworfen war, die einer Mißratenen und Re­bellin.
>Adler und Taube< wurde von Michael Joseph Anfang November ausgeliefert. Die Erstauflage von 8000 Exemplaren mußte nach drei Tagen noch einmal gedruckt werden; zwischen 1943 und Okto­ber 1947 gab es fünf weitere Auflagen: billige Ausgaben folgten. Die Intensität und Hingabe, mit der das Buch recherchiert und ge­schrieben war, verwandelten ein Thema, das eine Minderheit interessierte, in eines, das ein breites Publikum ansprach. Für die Ge­schwindigkeit, mit der es geschrieben wurde, war vermutlich zum Teil Benzedrin verantwortlich. Als Harolds Arzt diesem im Herbst diese Droge beschrieb, war Vita bereits eine Kennerin. »Es ist wirklich ein wundervolles Stimulans, ein bißchen wie Champagner, nur nicht so teuer. Es läßt dein Hirn arbeiten wie verrückt.«
Harold schickte eine Probe von Vitas Handschrift an einen öster­reichischen Graphologen, Dr. Strelisker.

  • »>Es handelt sich, sagte er, >um eine hochbegabte Frau, die außerordentlich nervös ist, der es aber gelingt, ihre Nerven zu kontrollieren. Sie fürchtet sich, emotionale Beziehungen zu anderen aufzunehmen. Sie ist stark beein­flußt durch ihre Kindheit.< Ich fand das amüsant.«

Vita erwiderte, es sei nur allzu wahr, daß sie ihre »außerordentliche Nervosität, gut kontrolliere«. Alle Besucher machten sie nervös, selbst so vertraute und willkommene wie Gwen:

  • »Weißt du, Hadji, es bringt mich ganz durcheinander, wenn je­mand zu Besuch kommt, so daß ich zuerst überhaupt nicht nett bin... und dann stelle ich mich darauf ein, und alles geht gut; ich weiß, daß ich am Montag borstig und reserviert war, doch bis Dienstag hatte ich mich wieder erholt und fand Kontakt zu der wirklichen Gwen, die ich kenne und mit der ich wirklich sprechen kann: und dann geht sie heute morgen fort, und ich finde kleine Kaffeetassen [d.h. Erinnerungen an sie, die mir das Herz schwer­machen, und all mein Ärger verfliegt, und ich wünsche, ich könnte noch einmal von vorn anfangen und netter sein.«

Mit den »klugen« Freunden war es schlimmer. Am 21. Dezember schrieb sie an Eardley Knollys, nach ihrer Meinung drücke »völlige Einfachheit die Dinge, die wir alle fühlen, besser aus als noch so viel Klugheit«. Im selben Brief sprach sie über Religion: »Es gibt Aspekte des Lebens, die eigentümlicher sind, als die Intelligenz die­ser Welt sich klarzumachen beliebt.« >Adler und Taube< hatte sie »Maria-Teresa« gewidmet — das war der Name, den Gwen bei ihrer Taufe angenommen hatte — und auf dem Vorsatzblatt den Ausspruch von Kardinal Newman zitiert: »Es ist ein Gott — die erha­benste aller begreifbaren  Wahrheiten.« Harold argwöhnte, sie denke daran, selbst zur römisch-katholischen Kirche zu konvertie­ren (wie Eddy, der »nicht angebundene Rittersporn«.) Nein, sagte sie, niemals:

  • »Aber ich verstehe nicht, wie du überhaupt nicht an Gott glauben kannst. Nenne ihn >Ding<, wenn dir das besser gefällt und das Wort >Gott< dich wegen all seiner Nebenbedeutungen abstößt. Aber ich verstehe nicht, wie du ohne die Vorstellung von einem Schöpfer und Erfinder auskommen willst, wenn nicht alles absolut sinnlos sein soll... Weißt du, es muß irgendeine Erklärung, eine Lösung geben, und die ist Gott.«

Harold wollte den Neujahrstag 1944 bei Gwen in Cornwall verbrin­gen, doch am Tag, als er abreisen wollte, fiel er im Reform Club auf dem Weg zur Garderobe die Marmortreppe hinunter und wurde ohnmächtig. Er ließ sich nicht abhalten, trotzdem zu fahren, und Guy Burgess, der mit ihm im Club gewesen war, rief Vita an, um ihr zu sagen, was passiert war und daß Harold wohlauf sei; es war das erste memento mori der Nicolsons. Edwin Luytens starb im Januar 1944. Ethel Smyth im Mai. Rosamund (Grosvenor) Lynch war un­ter den Toten, als im Juli eine Bombe auf die Savoy Chapel fiel. Ihr Gatte sandte Vita ein Telegramm, obgleich sie und Rosamund sich in den letzten Jahren nur selten getroffen hatten. »Es hat mich ziemlich traurig gemacht«, schrieb Vita, »daß ein Mensch, der so unschuldig, so töricht und so harmlos war, auf diese idiotische und grausame Weise ums Leben kommen mußte.«
Die todbringenden V1- und V2-Bomben hatten zu fallen begon­nen, mit denen Deutschland in letzter Minute versuchte, dem Krieg eine Wende zu geben. In einem seiner Briefe an Ben und Nigel schrieb Harold am 6. Februar aus Sissinghurst:

  • »Vita und ich wa­ren in unserem kleinen gemütlichen Kämmerchen neben dem Eß­zimmer und fummelten an unserem Radio herum, als es in der Luft zischte... dann folgten zwei Explosionen, und das Cottage erzit­terte. Martha sprang aus dem Kämmerchen, keuchte vor Angst, und Speichel tropfte ihr aus dem Maul.«

Mrs. Staples hatte gese­hen, wie ein deutscher Bomber brennend abgestürzt war und den Turm nur um wenige Meter verfehlte. Die Bombe fiel neben den Burggraben und verursachte einen tiefen Krater.

  • »Bis auf unsere Nerven war alles heil geblieben. Ich glaube nicht, daß Kent eine sichere Gegend ist. Ich halte es eher für sehr gefährdet.«

Vita hatte angefangen, ihre Träume in einem Buch festzuhalten. Sie schrieb ihre sich immer wiederholenden Kindheitsträume von Knole auf, aber auch ihre beunruhigenden Kriegsträume. Im allge­meinen träumte sie von Häusern oder leeren Landschaften von »unirdischer Schönheit«. Das waren glückliche Träume. Undatiert hielt sie in ihrem »kleinen Schokoladengewimmel« fest:

  • »Ich träumte, daß ich eine Löwin als Geschenk bekam, zum Spielen — aber obwohl ihr Kopf normal war, hatte ihr Körper kein Fell, sondern war bloß rohes, rohes Fleisch — matschig, als ich es streichelte — und sie rieb sich dauernd zutraulich an meinen Beinen wie eine Katze, was mir Ekel einflößte, wenn ich mich auch schämte, mich zu ekeln, weil ich das Gefühl halte, lieb zu ihr sein zu müssen.«

Am 4. Februar 1944, als die Luftschlachten begonnen hatten, hielt sie in ihrem Buch keinen Traum, sondern ein wirkliches Erleb­nis fest. Es geschah zwei Tage vor den Ereignissen, die Harold den Jungen beschrieb: er war in London, und Vita war allein im South Cottage, als die Sirene sie weckte. Für ihre Verhältnisse ungewöhn­lich, »bekam ich solche Angst, daß ich unkontrolliert zu zittern begann«. Sie lag im Bett, lauschte auf die Flugzeuge, die über sie hinwegdröhnten, und wartete auf das Krachen. Schließlich stand sie auf und ging mit Martha nach unten. Die Türen erbebten unter dem Geschützfeuer, und sie hörte Bomben fallen. Um ihre Furcht zu bekämpfen, versuchte sie an andere Dinge zu denken, doch es gelang ihr nicht.

  • »Ich versuchte, an Redewendungen zu denken wie: >Du bist in Got­tes Obhut<, aber das half nicht, weil ich nicht wußte, wie Gott seine Obhut auszuüben beabsichtigte; also versuchte ich Gott zu sehen — ich starrte auf einen Astknorren im Holz der Tür und sah natürlich überhaupt nichts, aber nach etwa zwei Minuten überkam mich mitten in meinem Schrecken ein vollkommener Frieden — meine Glieder hörten zu zittern auf, und an die Stelle des Entsetzens trat Gleichmut gegenüber meinem Schicksal. Das alles ist so wahr und verblüffend, daß ich es aufschreiben muß.«

Eine Woche später wurde Knole durch eine Bombe beschädigt, frei­lich nicht schwer. Eddy rief Vita an, um es ihr zu sagen, und sie war so aufgeregt, daß Elvira Niggeman (Harolds Sekretärin in King's Bench Walk, die für ein paar Tage in Sissinghurst war und für Vita arbeitete) Harold verständigte. Vita schrieb ihm am 16. Februar:

  • »Das trifft mich schrecklich, schrecklich. Ich rede mir immer ein, daß ich mir Knole endgültig aus dem Herzen gerissen habe, und so­bald irgend etwas Knole berührt, ist jede Faser wieder lebendig. Ich ertrage es nicht, mir Knole verwundet vorzustellen, wenn ich nicht da bin. um mich darum zu kümmern und mit ihm verwundet zu werden.
    Diese dreckigen Deutschen!... Ach, Hadji, wenn du doch hier wärest.«

Sie besuchte mit ihm eine Tea Party im Buckingham Palast. Es war nicht gerade ein gelungener Abend. Sie standen mit den anderen Gästen da und starrten auf den König und die Königin »wie Kühe, die einen Zug anschauen«, wie Harold es ausdrückte. Ihm wurde die schmeichelhafte Ehre zuteil, mit der Prinzessin Elisabeth zu sprechen; anders Vita, die keine Gelegenheit fand, sich bei der Kö­nigin zu bedanken, daß sie ihr erlaubt hatte, ihr das Buch über die Land Army zu widmen. Anschließend war Harold sehr darum be­sorgt, daß Vita ihren Zug nach Hause nicht verpaßte, und schaffte sie vorzeitig zur Bahn. Später entschuldigte er sich dafür und sagte, sie habe so »reizend und vornehm und wundervoll« ausgesehen, daß er »mächtig stolz auf sie« gewesen sei. Das war ohne Zweifel die Wahrheit. Zugleich war es für ihn. der so viele Jahre lang sein unabhängiges gesellschaftliches Leben nach Art eines Junggesellen geführt hatte, vielleicht nicht einfach, mit der Verantwortung für seine vornehme, befangene Gattin fertig zu werden. Und Vita war glücklicher, als sie am nächsten Tag auf dem Schloßgehöft mit Ozzie Beale (»Ach, wie gern ich diesen Mann habe!«) und seiner Frau (»Ich aß einen wunderbaren Pudding bei den Beales«) lunchte. Die Regierung hatte für das südliche Küstengebiet Englands ein zeitweiliges Verbot aller privaten Fahrten erlassen, das auch für Sis­singhurst galt, so daß Vitas Freiheit für den Augenblick nicht durch Besucher aus London gefährdet war. »Wenn Sibyl [Colefax] kommt, wird man sie ins Gefängnis stecken oder ihr 100 Pfund Strafe aufbrummen.«
Vita hielt ihre Besuche bei Mrs. Drummond, der liebenden Tyrannin, aufrecht. Es war, als locke Mrs. Drummond Vitas sämt­liche warme, bejahende Gefühle für mütterliche Frauen hervor, wogegen die Forderungen von Lady Carnock, Harolds Mutter, sie in Rage brachten. Vita war über Lady Carnocks Abhängigkeit von Harald ebenso verärgert wie über ihre ständigen Aufforderungen, sie im entfernten Cornwall, wo sie in Gwens Nähe lebte, zu besu­chen.

  • »Sie ist ein verdammtes, selbstsüchtiges, habgieriges, altes Weib. Das ist sie... Ich hasse deine Mama, ich hasse sie, ich hasse sie, ich hasse sie. Es ist mir egal, daß sie 84 ist. Ich wünschte, sie wäre tot... Ich bin wütend, und du bist genau so schlapp wie eine Tasse Tee mit zuviel Milch drin.«

Harold fand die Über­schwenglichkeit seiner Mutter geschmacklos und war froh, wenn es Gwen gelang, einen seiner Besuche auf eine Nacht zu verkür­zen.

  • »Sie versteht mehr als jeder andere von meinen körperlichen Gefühlen. Auf diese Weise werden Homosexuelle geformt. Meine süße, süße Mar.«
  • »Ich glaube nicht, daß die Entwicklung zum Homosexuellen dadurch ganz erklärt werden kann«, antwortete Vita heiter. »Wie steht's denn mit Homosexuellen, die Waisen sind?«

Vita beschloß, Long Barn zu verkaufen. Nachdem sie einige Stücke der Einrichtung nach Sissinghurst hatte schaffen lassen, ließ sie das übrige versteigern. Am meisten erbrachte ein Chippendale-Lehnstuhl, der für 102 Pfund verkauft wurde (der Mindest­preis betrug 25 Pfund); aber ein Kleiderschrank aus Eiche, »der aus Hester Castle stammen und Anne Boleyn gehört haben soll« (vermutlich hatte B.M. ihn William Waldorf Astor abgeschwatzt), blieb unverkauft. Große Mengen jakobinischer Eichenmöbel er­zielten lächerlich geringe Preise. Insgesamt belief sich die erzielte Summe auf 1471 Pfund, darin eingeschlossen der Erlös aus dem Ver­kauf von etwa 3000 Büchern.
Es war keine gute Zeit, um Antiquitäten zu verkaufen; im Laufe der Woche hatte in der Normandie die Invasion der Alliierten be­gonnen. »Letzte Nacht kein Schlaf wegen der Flugzeuge«, schrieb Vita am 7. Juni. Sie sah ihre erste doodle-bug*, die am frühen Mor­gen abgeschossen wurde. (* Name der Engländer für die »V1« wegen ihres unberechenbaren Flugs. Etwa: Trodelkäfer [Anm. d. Übers.]) Es lohnte sich kaum, ins Bett zu gehen. »Es ist, als schliefe man in der Piccadilly-Bahnstation... Jede Stunde hören wir voller Spannung Radio.« Selbst tagsüber »hu­schen, wenn ich schreibe, Schatten von Flugzeugen über das Pa­pier. Früher pflegten es die Schatten weißer Tauben zu sein.« Die Glasscheiben der Gewächshäuser und ein Fenster in Vitas leerste­hendem Turm gingen zu Bruch. Am 27. Juni, als Vita im Eßzimmer ihre Post las, wurde direkt über Beales Scheune eine doodle-bug von einer Spitfire in der Luft abgeschossen. »Mrs. Staples und ich umarmten uns vor Freude.«
Am 1. August mittags hörten sie im Radio, daß Paris befreit worden war. Sie saßen gerade bei Tisch; Harold und Elvira Niggeman waren da — sie war »so außer sich vor Freude, daß sie aus ein paar alten Briefumschlägen von Christopher St. John eine Trikolore fa­brizierte und sie in eine Schüssel mit Reineclauden steckte, die auf dem Eßzimmertisch stand«.
An ihrem Hochzeitstag, dem 1. Oktober, überreichte Vita Harold ein Gedicht, daß sie für ihn geschrieben hatte; es begann:

Ich darf nicht sagen, wie teuer Du mir bist.
Es ist verborgen, Geheimnis selbst für mich.
Die's kennen sollte. Selbst wenn ich könnt,
Enthüllt ich nicht, was dieses Rätsels Lösung ist.

Wie Harold Ben und Nigel mitteilte, wurde

  • »ich verlegen und wußte nicht, was ich sagen sollte — so gerührt und erfreut war ich. Ich kann mich selbst nicht ausstehen, wenn ich keinen Ton heraus­bringe. Es ist sonderbar, daß ich, der ich bei nebensächlichen Din­gen so redegewandt bin, mich nicht ausdrücken kann, wenn etwas Wichtiges geschieht, das mir wirklich nahegeht.«

Doch Schriftstel­ler, der er war. konnte er seine Gefühle schriftlich ausdrücken.
Sie waren in qualvoller Sorge um ihre Söhne, die 1944 beide in Italien waren. Als seinen nächsten Angehörigen hatte Ben Vita. Nigel hingegen Harold angegeben. Vita schrieb an Elvira Niggeman über die Möglichkeit, daß Nigel fallen würde:

  • »Ich schreibe, um Sie um folgendes zu bitten: Sollte ein Telegramm in KBW [King's Bench Walk] durch Boten zugestellt werden, während Sie dort sind, würden Sie es bitte öffnen? Und wenn es um Nigel geht, vor H. verbergen und mich anrufen? Ich würde dann nach London kommen und es ihm mitteilen... Ich möchte nicht, daß H. diesen Schock ohne mich erleidet.«

Harold, der leidenschaftlich an seinen beiden Söhnen hing, sah in Nigel denjenigen, der ihm ins öffentliche Leben nachfolgen sollte. So wie Ben sich von Vitas, so mußte sich Nigel von Harolds Beeinflussung freimachen. Im Oktober schrieb Nigel aus Perugia an seine Mutter. Wie Ben ärgerte er sich des öfteren über die Vorur­teile seiner Mutter, über ihr unlogisches und schwerfälliges Denken und über ihre Passion für die Tradition und die Königliche Familie; doch bei diesem Anlaß schrieb er ihr, »weil ich dich als Verbündete ansehe«. Nicht, daß er seinen Vater als Gegner betrachtet hätte, doch

  • »ich glaube, daß du in gewisser Weise besser weißt, was für eine Art Mensch ich bin, mehr Verständnis für meine Absichten ha­ben könntest und für mich eintreten wirst«.

Er wußte, daß sein Vater ihn im Unterhaus sehen wollte; doch Nigel war der Meinung, er habe ein »zu angenehmes Leben« ge­führt. Keine anderen Kinder, schrieb er Vita, hätten größere Vor­teile gehabt als er und Ben: »Eltern, wie Gott sie nur einem unter Millionen schenkt«, die beste Erziehung, Ermutigung, keinen Druck und keine Beschränkungen, eigenes Geld, Unabhängigkeit und »immer Sissinghurst, um dorthin zurückzukehren«. Das Un­angenehme sei, schrieb er, daß er »nie um etwas habe kämpfen müssen«; er wolle sich nach dem Krieg nicht in eine Reihe weiterer »gepolsterter Nester« setzen, wie das Unterhaus eines sei; damit sei er nicht zufrieden. Er habe »eine Passion für Unabhängigkeit« und träume davon, sich sein eigenes Leben in einer abgelegenen ländli­chen Gegend aufzubauen. Er wolle auch heiraten - »Denn dieses sonderbare Mißtrauen gegen das Eheleben habe ich nicht mehr - sonderbar, weil ihr beide mir ein solch makelloses Beispiel gegeben habt«.
Nigels Mißtrauen gegen die Ehe war gar nicht so sonderbar. Er wußte sehr wohl - und das war nicht immer angenehm — um die Vielschichtigkeit des Privatlebens seiner Eltern. Zwar fehlte ihm die unerfreuliche Erfahrung, die Ben mit B.M. gemacht hatte, doch ebenso fehlte ihm deren beruhigende Folge: die vertrauensvolle lange Unterhaltung, die Ben mit seiner Mutter gehabt hatte.
Die Nicolson'sche Ehe war ein »makelloses Beispiel« für etwas, das nur wenige Menschen durchhalten konnten oder erstrebenswert finden würden. Vita und Harold waren in der Tat Eltern, »wie Gott sie nur einem unter Millionen schenkt«, und als Heranwachsende begegneten die Jungen vielen älteren Menschen von Format und In­telligenz, von denen sie ernst genommen wurden und die ihre Freunde wurden. Doch obwohl die Bindung zwischen den vier Nicolsons sehr stark war, scheint sie in strengem Sinne spekulativer Natur gewesen zu sein. Die platonischen Ideale von Beziehungen, so innig man im Herzen auch daran festhält, sind kein Ersatz für Realität. Vita hatte weder Sinn noch Talent für die Gemeinsamkeiten des Familienlebens. Sissinghurst selbst war eine Welt für sich: die Jungen konnten nicht nach Lust und Laune Freunde dorthin brin­gen. Obgleich jeder notwendigerweise »ein Zimmer für sich allein« hatte, gab es niemals ein gemeinsam genutztes Wohnzimmer der Fa­milie, noch äußerte jemand den Wunsch, eines einzurichten. Die oft ermüdende, geräuschvolle, sich über den ganzen Tag erstreckende Intimität des Familienlebens war Ben und Nigel unbekannt; Inti­mität war etwas, das mit der morgendlichen Post kam. Harold, der Spaß liebte und ihn sich zu verschaffen wußte, hatte vielleicht die Einzigartigkeit der Familie im Auge, als er im Mai 1944 an Nigel schrieb: »Ich meine, du und Ben, ihr habt in eurem Leben wirkliche Heiterkeit vermißt. Ihr habt Interessantes erlebt, viele Abenteuer, viel studiert und ein ausgefülltes Leben gehabt. Ihr habt die tiefe Zuneigung von Mama Und von mir gehabt. Aber wir sind nicht in der Lage gewesen, euch jene Heiterkeit zu vermitteln, über die junge Leute verfügen sollten.« (Nicht, daß Nigel und Ben noch so jung gewesen wären, um von ihren Eltern Heiterkeit oder etwas an­deres zu erwarten: Ben feierte 1944 seinen dreißigsten Geburtstag.)
Vita war sich der Auswirkungen ihrer ungewöhnlichen Erzie­hung auf ihre Söhne weniger bewußt. Sie war erstaunt, als Eddy Sackville-West 1945 über Ben und Nigel sagte: »Wie gehemmt sie sind, die zwei.«

Ihr Rücken machte Vita nun ernstlich zu schaffen. Der Arzt diagno­stizierte Arthritis. »Bedrückt: Gefühl, daß meine Jugend jetzt wirklich vorbei ist. und nichts als ein verkrüppeltes Alter vor mir liegt«, schrieb sie am 14. November in ihr Tagebuch. Evelyn Irons, die inzwischen Kriegskorrespondentin (und mit dem Croix de Guerre ausgezeichnet) war. kam zu Besuch und belichtete ihnen von der Begeisterung in Paris, wo sie gewesen war. Doch als kurz vor Weih­nachten Truppen und Panzer auf dem Gelände von Sissinghurst einquartiert wurden, versank sie wieder in Depression.

  • »Ich habe allen Spaß am See und sogar am Wald verloren, seit Sol­daten eingedrungen sind und sie der Abgeschiedenheit beraubt haben, die ich so liebte...
    Ich wünschte, ich könnte mir Klarheit darüber verschaffen, was ich über diese neue Welt denke. Ich glaube, man sollte in der Lage sein, sich anzupassen, und nicht versuchen, in eine überholte Tradi­tion zurückzukehren und darin zu leben.
    All das macht mich sehr unglücklich, Hadji. Und auch mein Rücken macht mir Kummer. Daß er weh tut, stört mich nicht, aber die Schwäche, die er in meinen Gliedern verursacht, setzt mir zu. Weißt du, ich war immer so stark...
    Ich spüre, daß ich und der See und der Wald für immer beschä­digt und verdorben sind — und das geht mir sehr nahe. Im Grunde unsere verlorene Jugend...
    Wenn ich doch bloß wüßte, daß ich gute Gedichte schreiben könnte, würde mir das alles nichts ausmachen. Aber selbst davon bin ich nicht mehr überzeugt.«

Einer ihrer Träume in diesem Jahr handelte davon, daß sie »Poesie schreiben konnte« und »schrieb und schrieb, bis ich fast starb... Es war einer der glücklichsten Träume, solange er währte, doch ei­ner der traurigsten beim Erwachen.« Doch ihr Gedicht über die Ge­burt Christi (»Es war recht, es war angemessen«), später Teil von >The Garden<, wurde am Weihnachtsabend von der BBC gesendet. Zusammen mit Harold hörte sie beim Jahreswechsel Hitler im Radio »schnattern«. In der letzten Nacht des Jahres 1944 hatte sie einen weiteren Tier-Traum: Sie versuchte, »meine eigene Kuh« zu erkennen, doch es näherte sich ihr die falsche:

  • »Diese falsche Kuh war hartnäckig, also gab ich ihr einen Leder­handschuh zum Kauen, um sie bei Laune zu halten. Dann stieß mich eine andere Kuh zur Seite, und wütend schlug ich ihr auf die Nase. Darauf blickte sie mich mit einem (unerträglichen) Aus­druck von Tadel an und entblößte ihr Euter, aus dem dunkles Blut floß... Der vorherrschende Eindruck, den dieser Traum zurück­ließ, war, daß die andere Kuh versuchte, meine Kuh auszustechen, und daß das blutende Euter meiner Kuh unerträglich mitleiderre­gend war.«

In diesem Winter mußte Mrs. Staples mit einer Blutvergiftung das Bett hüten. Die Wasserleitungen und Klosetts froren ein. Die akute Unbequemlichkeit seines Hauses erreichte einen Grad, den Harold fast nicht mehr ertragen konnte. Kurz vor Weihnachten war er durch den Schnee zum Priesterhaus (wo die Leitungen nicht einge­froren waren) hinübergegangen, um sich zu rasieren, stellte fest, daß er keine Rasierklinge hatte, und mußte den ganzen Weg zu­rück zum South Cottage noch einmal machen.

  • »Das überzeugt mich davon, wie widrig es ist, ein so kaltes und zugiges Haus zu be­wohnen, das es erfordert, zum Rasieren ein entferntes Cottage aufzusuchen... Im Winter ist Sissinghurst geradezu unerträglich primitiv.«

Er wünschte, Vita hätte

  • »ein Wohnzimmer, Speisezim­mer, Badezimmer und Schlafzimmer, alle miteinander verbunden und mit Zentralheizung«.

Doch ihn störten die Kälte und die Unbe­quemlichkeit weit mehr als sie, ungeachtet ihrer Arthritis. In die al­ten Schul-Pullover der Jungen und in einen mottenzerfressenen Mantel aus Kaninchenfell gehüllt, saß sie da und schrieb, und wenn die Arbeit ihr von der Hand ging, war sie zufrieden.
Für eine Überraschung war sie immer gut. Sie war es, die vor­schlug, zu ihrem Geburtstag im März in London in Kings Bench Walk eine Party zu geben. »Mar würde alles bezahlen: ich habe im Augenblick haufenweise Geld, wie Elvira dir bestätigen wird.« Evelyn Irons gegenüber brüstete sie sich fröhlich mit ihrer Party — »eine hübsche Party, vollgestopft mit jeder Art von Berühmtheit«. Die Party fand nach dem Dinner statt: am Vormittag hatte Vita drei Rundfunksendungen gehabt. James Lees-Milne schrieb in seinem Tagebuch:

  • »Eardley [Knollys] und ich gingen nach Kings Bench Walk zu einer Party, die Harold und Vita gaben, ein sehr seltenes Er­eignis. Harold in heiterer und ausgelassener Stimmung; Vita sehr schön, königlich groß und schlank, trug einen breitkrempigen Hut, der die Augen überschattete, und rauchte aus einer langen Zigaret­tenspitze. Sie ist nie übermütig.«[1]

Zehn Tage später kam Captain Nicolson - Ben — aus dem Krieg nach Hause zurück. »Haben ihn seit Oktober 1942 nicht gesehen. Er sieht ganz ungewöhnlich aus«, schrieb Vita. Er war in Italien von einem Lastwagen angefahren worden, trug Gips und um den Kopf einen schmutzigen Verband. »Mama wickelt Bandagen herum, um die Schmutzflecken zu verbergen«, schrieb Harold an Nigel (ließ sie »Julian« wieder auferstehen?): »Ben hält das alles für überflüssig... Abgemagert und abscheulich stolziert er durch die Straßen von London und erregt Mitleid und Entsetzen.«
Da der Krieg so gut wie beendet war, wurde die Verdunkelung auf­gehoben, und Vita machte zum ersten Mal seit fünf Jahren die Lampen im Garten an. Am nächsten Tag nahm sie ihr Turmzimmer wie­der in Besitz und »brachte sogleich einen kleinen Vers zu Papier«:

Es ist ein Schloß an meiner Tür.
Ein Schild »Privat« ist dort zu sehn.
Magst, Fremder, alle Wege gehn.
Die Dich in meinen Garten locken.
Doch hierher komme bitte nicht.
Wo ich zwar scheu, doch unerschrocken.

Sie schickte die Zeilen an Harold und schrieb dazu:

  • »Es ist nicht wahr, daß es mein Garten ist, weil in Wirklichkeit Hadji ihn nach seinen Plänen gemacht hat, aber Hadji wird es nicht so genau neh­men. Ich habe nur Dinge gepflanzt. Der Verdienst gebührt allein dir.«

Nun, da die Furcht von ihr genommen war, konnte sie wieder flüssig Gedichte schreiben — zu flüssig, wie sie meinte. Sie miß­traute der »erschreckenden Virtuosität«, die sie überkommen hatte.

  • »Meine Furcht ist, daß die Leichtigkeit der Qualität scha­det. .. Ich habe auch das Gefühl, daß mit der wachsenden Beherr­schung des Metiers Oberflächlichkeit einhergeht.«

Am »VE-Tag«, dem Tag von Deutschlands bedingungsloser Ka­pitulation am 12. Mai, saßen Ben und Harold im Garten und hörten im Radio die große Neuigkeit. Harold schrieb an Nigel:

  • »Mit gro­ßer Würde erhoben sich Ben und ich von unseren Sitzen und gingen durch den Garten, um Mama zu suchen. Sie war damit beschäftigt, die Akeleien an der Mauer zu befestigen. Feierlich stiegen wir die Turmtreppe hinauf und traten an die brüchige Brustwehr. Wir ban­den die Flagge an die Taue. Wir hißten sie. Und dort flatterte sie nach fünf traurigen Jahren im Frühlingswind.«

Vita, die gern den Siegesfeiern in London beiwohnen wollte, fuhr am Morgen mit Ben und Harold mit dem Zug nach London. Aber die Leute kamen erst am Abend auf die Straßen: nichts geschah; voller Ungeduld kehrte sie zurück zu Martha, dem Garten und dem Turm. Der nächste »große Tag«, wie Vita ihn in ihrem Tagebuch nannte, war der 17. Juni. Der andere Captain Nicolson - Nigel — rief an. »Er frühstückte in Neapel und war zur Teezeit in London.« Der Krieg war vorbei, und beide Jungen waren gesund heimgekehrt.