Die kluge Hera

Zur Komma-Zeit gab es in Ur ein parthenogenetisches Gewächs, Hera Ursula, Tochter zweier Mütter, die auch schon diesem merkwürdigen Stamme entsprangen; war sie die Tochter der einen, so war sie die Enkelin der anderen, darüber gab es oft Streit.
Zeit, Alter und richtiges matriarchalisches Verhalten störten die Kleine in ihrem Wachsen, jedoch nicht in ihrer Intelligenz.

Das Elternpaar - die Mutter war die Tochter und diese wiederum die Mutter - war sich nur in einem einig: Hera war sehr klug, altklug, da sehr alt; die Windeljahre mit 1000 beginnend, der Laie sitzt offenen Mundes vor soviel Neuronen-Charme, hatte sie mit 5000 ein ganzes Register von Überlegungen, und unter den blaßbleichen Binsenzöpfchen wühlten die Wahrheiten. Normalerweise hätte Hera ihre Mutter ehelichen sollen (Fälle, in welchen die Enkeltochter sich eher in die sogenannte Großmutter vernarrte, sich also geriatrisch binden wollte, gingen hart an die Grenzen des Zugelassenen) - diesmal wurde es aber schlimmer: Hera wünschte eine Verlobte von Anderswo, eine Fremde. Mit möglichst dunklen Augen und einer anderen Nase als jener, welche ihr viel zu voll erschien, von wegen immer gleicher Papyrus-Zöpfe, blauer Schlitz-Augen und einer Physiognomie, in der sich Beethoven und die Urfrau der Hottentotten nicht sehr glücklich vereinten.
Zumal da ich abnehmen will, sprach Hera. Ich will in meiner Tochter schlank werden. Dies klang für damalige Zeiten wie die Sprüche Giordano Brunos, Keplers oder Johannas Schafbein-Weisheiten. Dennoch: eine Verlobte erschien mit prächtig-bebender Nase, schweißelnd gerührt, überhaupt keinem Zopf, Kamel-Augen und einer roten Brille.
So saß man darnieder. Hera, sprach eine der Mütter, wir verdursten!
Geh uns bitte vom grünen Weine zapfen aus dem großen Faß mit den Sprüchen unter dem Hahn »Ich will kein Leben, ich will ein Schicksal«.
Die Kleine sputete sich auf das Allerliebste und kniete schon vor dem Fasse, als ihr entzückter Blick eine Axt traf, welche, in die Wölbung gezwungen, mit ihrer zweiten Hälfte gefährlich über dem Schicksalshahn hing. Eine Maurerin hatte sie wohl vergessen!
Hera sank auf eine Bank nieder, zum Zwecke der Betrachtung wohl vorgesehen, und lamentierte wie folgt: Ach! die Doppelaxt dieser brutalen Baumeisterin, ach! dieses Axtweib und ihr Gehirn-Sieb! Und da hängt nun dieses Mord-Utensil, wo ich gerade daran gehe, mich zu verloben, und dann geht meine kleine Partheno-Tochter zum Grünen Weinzapfen, und die Doppelaxt zerschmettert ihr das doppelweibliche Köpfchen, o Elend! o Jammer! o Kummer! o Mist!
Sie schluchzte und machte sich gründlich daran, sich die Augen auszuweinen, während oben die Gaumen weiter trockneten. Mary, sprach eine der Mütter, geh bitte schauen, was Hera treibt. Normalerweise sollte sie vom Lebenshahn zapfen - und kommt nicht! Mary hüpfte und traf ihre junge Herrin schluchzend unter dem Doppelbeil: Orphea, meine kleine Orphea wird sterben! Mary zog prompt ihr Schnupftuch, umhalste Heraen, und beide schluchzten und schaukelten auf der Bank, die reizenden Köpfchen unter dem Mörderbeil, hingegossen und erbärmlich in dieser Tragödie.
Sehr bald erschien Josefä, die Knechtin, erfuhr diesen Horror-Salat, zog ihr Schnupftuch und weinte, schaukelnd, in ihren Ärmel über soviel Schicksal. Dort oben ärgerte sich die energischste der Mütter, eigentlich die Tochter - über das Gaumentrocknen und eilte in den Keller, sah die drei Schaukelnden und das Beil, erfuhr die Tragödie, umschlang Josefa und jaulte mithin um Orpheen, das ungeboren-ermordete Kind!
Schließlich näherte sich die Mutter-Mutter, Marlene, betrachtete klug ist diese Hera, viel zu klug, um zu gebären! und schmiegte sich mit versonnener Träne an Mary.
Blieb oben übrig, verlassen und verdrossen, die verliebte Verlobte Andromeda, stieg zaudernd ob soviel Verschwinden verwundert über die Wendeltreppe, erfuhr vom Jammerhaufen Orpheens Verwandlung vom Leben in den Tod, knetete ihre Angebetete, lobte sie über Hopfen und Halm ob soviel Klugheit und zapfte den Wein, worauf alle Welt strahlend und prahlend wieder in den Livingroom ging und sehr feucht das Verlöbnis besiegelte.
An einem schönen Sommermorgen sprach Andromeda zu der klugen Hera: Gute, Süße! Ich gehe in den Wald zum Bäumehauen, und du könntest wohl den Weizen schneiden; er steht schon sehr hoch! Aber gerne, mein holder Zuckerfrosch! antwortete die kluge Hera, schreite nur aus, du Über-intelligente! und haue! Ich werde alles besorgen, vertraue deiner klugen Würfelmaus!
Kaum war Andromeda geschritten, als Heras Klugheit ihr zu schaffen machte: Was nun? dachte sie, was nun zuerst? Schneiden, arbeiten, schwitzen? Oder ein Mus kochen, es mitnehmen? Es hier essen? Es dort essen? Was ist klüger? Klug ist es, wenn ich meinen Körper begreife, ihn pflege und hege, kostbare Maschine! Schneckenhaus meiner Intelligenz! Hafer ist gut für diese Maschine, genährt wird sie ganz anders mähen, usw.
Sie kochte den Brei, hielt noch einmal ein Colloquium mit sich selbst über die Vorzüge des Vierschrotkorns und stapfte dann mit ihrem Kolben ins Feld. Dort stand der Weizen hoch und auch die Sonne.
Oh - Ach! sagte Hera zu ihrer Klugheit, es wäre unklug, diesen ungefrühstückten Leib der harten Bestrahlung auszusetzen. Ich werde essen!
Sie aß, versammelte sich in neuen Konzepten und ließ den armen, durch die Verdauung belasteten Körper in Übereinstimmung mit ihrer Intelligenz ins warme Gras sinken. Und so schlief sie lächelnd, träumte von ihrer Klugheit, von Andromedas Intelligenz und von einer geschminkten Pharaonin, die nur Buchstaben aß.
Darüber wanderte der Tag in dunkle Wolken, die Sonne ging zum Abendbrot, und Heimkehrerin Andromeda fand keine kluge Hera hinter dem Kachelofen. Oh, schöne Goldnuß! sprach sie, gute Münzmaus, du Arme! Du schneiderst und pflügst und rackerst! versengt von Klugheit und labst dich nicht, was sogar die milden Gestirne tun!
Gerührt ging sie ins Feld und sah dort Heraen, gekuschelt in den Halm, leicht schnarchend und vom Breie eingelullt, murmelnd und mit den Lippen knallend, da sie gerade mit der Pharaonin einen Alphabet-Auflauf verzehrte.
So ist das?! sagte Andromeda, gut, auch gut! Sie lief geschwind ins Haus, nahm ein Netz mit Glöcklein zum Vogelfang und wickelte die leicht-Schmatzende und Lallende samt ihrer Klugheit hinein. Dann verschloß sie Türen und Fensterläden und setzte sich mit der Katze hinter eine Sardine und das Märchen von der klugen Hera. Hinter jedem Komma lauert eine Überraschung, sagte sie zu der Katze. Und im übrigen war Sappho eine Berlinerin!
Hera erwachte im lichtscheuen Wetter, milchtrunken, sah die Gesichter der Steine und die zitternde Gerste, wollte sich die kluge Stirn reiben und konnte nicht. Verpackt, bimmelnd, brachte sie sich schüttelnd auf die Füße.
Oh - Ach! Was ist das? Bin ich es? Das kann ich kaum sein, diese Verworrene, Klingelnde, Geschnürte! Aber WER bin ich dann? Was ist nun klug? Klug ist, nach Hause zu gehen und dort anzufragen, ob die kluge Hera daheim ist. Ist sie nicht da, dann bin ich's. Ist sie da, dann bin ich's nicht.
Sie kam vor die Fensterläden und rief: Guten Abend, Wohlgemuth! Ist die kluge Hera daheim?
Aber ja, rief Andromeda, sie ist nach harter Arbeit zurückgekehrt und legt jetzt Tarot. Geh auch du nach Hause und befrage dein Schicksal.
Jaa - dann! Gute, gute Nacht! sagte die kluge, kluge Hera. Etwas enttäuscht, leicht zögernd, aber dann doch kräftig und stramm ging sie mit ihren Glocken und ihrem Netz auf den Weg, um sich selbst zu suchen und zu finden.
Wenn sie dort noch geht, hat sie sich nicht gefunden. Seht ihr sie aber nicht mehr, so ist sie beisammen, und wir können sehr fröhlich sein.

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