Ich wäre gern ihre >richtige< Mutter gewesen

Erfahrungen einer Pflegemutter

Als meine Mutter im Sterben lag, entstand in mir zum ersten Mal ein ganz intensiver Kinderwunsch. Ich war damals 28 Jahre alt und lebte in Berlin. Fast zur gleichen Zeit begann meine Liebesbeziehung mit Karin. Kinder waren Karin sehr fremd; sicher auch deswegen legte ich meinen Kinderwunsch auf Eis. Unser gemeinsames >Kind< wurde drei Jahre später, 1981, unser Projekt, das Frauenferienhaus Tiefenbach.

Gleich in der ersten Woche nach der Eröffnung des Frauenferienhauses kamen Sanni und ihre Mutter als zwei unserer ersten Gästinnen. Keine von uns ahnte damals, wie folgenreich diese Begegnung sein würde: Sanni wurde später für fünfeinhalb Jahre unsere Pflegetochter. Als sie das erste Mal zu uns kam, war sie acht Jahre alt, klein und dünn, mit verschmitzten Augen, quirlig und lebendig. Ich war begeistert von ihr, weil sie sehr sensibel, kontaktfreudig und schon sehr selbständig schien. Ich schloß sie sofort in mein Herz.
Vielleicht war es diese Begegnung, die mir meinen Kinderwunsch wieder bewußt machte. Ich beschloß, in unserem Landkreis einen Adoptionsantrag zu stellen. Am liebsten hätte ich ein Mädchen im Säuglingsalter gehabt, aber meine Hoffnung war gering: Mein Antrag stand an 25. Stelle.
Dann kam plötzlich der Anruf von Sannis Mutter. Sie wollte sich für ein Jahr von ihrer Tochter trennen, weil sie dringend Zeit für sich allein brauche. Sie fragte uns, ob wir Sanni vielleicht aufnehmen könnten, da es für sie als Lesbe ganz wichtig sei, daß Sanni weiterhin bei Lesben aufwachse. Eine Woche lang diskutierten Karin und ich heftig und leidenschaftlich. Vom Kopf her war die Entscheidung für uns sehr einfach: Eine lesbische Mutter braucht ein Jahr Pause von ihrer Mutterschaft. Andere Lesben springen ein und übernehmen für ein Jahr die Verantwortung für das Kind.
Wir lebten auf dem Land, waren zu zweit und arbeiteten zu Hause. Das waren gute Bedingungen. Gleichzeitig kamen Ängste in uns hoch. Bisher hatte ich nur mit dem Wunsch nach einem Kind gelebt. Plötzlich standen wir vor der konkreten Situation zu überlegen, mit einem fast zehnjährigen Mädchen zusammenzuleben, wenn auch begrenzt auf ein Jahr. Erfahrungen mit Kindern hatte ich viele, da ich ein deutsch-türkisches Kinderprojekt mit aufgebaut und mit zwei Kindern in einer Frauenwohngemeinschaft zusammengelebt hatte. Karin wußte mit Kindern wenig anzufangen. Sie konnte sich allerdings ein zehnjähriges Mädchen, das sie bereits kannte und mochte, besser vorstellen als einen Säugling oder ein Kleinkind. Mich quälten Zweifel und Ängste, daß wir mit Sanni vielleicht nicht klarkommen könnten, daß das Zusammenleben sich als schwierig erweisen könnte. Bisher hatte sie in einer Großstadt gelebt, in einer Umgebung, in der Drogen, Straßenstrich und Kriminalität zu ihrem Alltag gehörten. Sanni war ein >Straßenkind< und damit viel sich selbst überlassen gewesen - was natürlich auch bedeutete, daß sie bereits sehr selbständig war. Doch würde sie hier im tiefen, konservativen, katholischen Bayern mit ganz anderen Verhältnissen zurechtkommen? Und würden wir in der Lage sein, ihr dabei genügend Rückhalt und Unterstützung zu geben? War unsere Beziehung überhaupt offen genug, um Sanni Raum zu geben? Wie würde Sanni die Tatsache verarbeiten, daß ihre Mutter sich von ihr trennen wollte? Doch es war sicherlich kein Zufall, daß ich gerade in der Zeit, als mein Kinderwunsch wieder besonders stark war, die Möglichkeit hatte, Ersatz-Mutter zu werden. Wir entschieden uns für Sanni.

In den ersten Wochen befreiten wir Sanni von der Schule, damit sie sich an uns und ihre neue Umgebung gewöhnen konnte. Ganz plötzlich wurde sie in dieser Zeit schwerhörig. Oft saßen wir zu dritt zusammen und versuchten uns schreiend zu verständigen - eine anstrengende und nervtötende Kommunikation. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als die Schwerhörigkeit zwei Tage vor ihrer Einschulung genauso plötzlich wieder verschwand, wie sie gekommen war. Ihre extreme Unruhe hingegen dauerte an. Wie schwer fiel es ihr, während des Essens länger als ein paar Minuten sitzen zu bleiben! Es war ein ständiges Rein- und Rausrennen: oft lief sie - mitten im Winter - ohne Schuhe und Jacke aus dem Haus! Ata, unser Hund, wich nicht von ihrer Seite. Mir schien, als hätte er ihr oft geholfen, Einsamkeitsgefühle zu überwinden und sich in ihrem neuen Zuhause zurechtzufinden.
Es war für uns schwierig, Sannis Nervosität mit Ruhe zu begegnen. Zusätzlich belasteten uns Sannis Probleme in der Schule. Ich hatte bis dahin keine Ahnung gehabt, was ein Schulwechsel innerhalb Deutschlands bedeuten kann. Fachlich war Sanni mehr als ein Jahr zurück. Da sie aber in ihrer Entwicklung schon weiter als die Kinder in ihrer Klasse war, entschlossen wir uns, den Stoff mit ihr nachzuholen, damit sie in der vierten Klasse bleiben konnte. Diese Entscheidung bedeutete für Karin und mich, daß jeweils eine von uns monatelang jeden Nachmittag mit ihr über den Schulbüchern saß. Für uns alle drei war diese Zeit eine harte Geduldsprobe.
Überhaupt war es für Karin und mich eine neue Situation, jetzt viel weniger Zeit füreinander zu haben. Zwar blieben uns die Vormittage, wenn Sanni in der Schule war, und die Abende, wenn wir sie zu Bett gebracht hatten, doch selbst diese Zeit brauchten wir oft, um über Sanni zu sprechen, zu reflektieren und die vielen kleinen Alltagssituationen zu verarbeiten.
Da hauptsächlich ich die Rolle der Pflegemutter übernommen hatte, konnte ich besser als Karin akzeptieren, daß Sanni nun im Mittelpunkt stand und wir unser Leben nach ihr richten mußten - doch auch ich fühlte mich immer wieder überfordert. Ich war zu Sanni eine sehr nahe und intensive Beziehung eingegangen, ohne mich verliebt zu haben. Ich kenne es von mir, daß das Gefühl des Verliebtseins viele Schwierigkeiten trägt: die Fremdheit und die Andersartigkeit der Freundin. Gleichzeitig können sich beide immer wieder voneinander distanzieren, sich räumlich trennen, sich neu begegnen. Doch diese Beziehung war geprägt von meinem Verantwortungsgefühl, dem Bewußtsein der Abhängigkeit von Sanni als Kind von mir als Erwachsener und Sannis Schmerz über die Trennung von ihrer Mutter und dem nicht selbstgewählten Leben bei uns. Karin und ich waren froh, daß Sannis Welt von früh auf von Lesben geprägt war. So gab es zumindest in dieser Hinsicht keine Fremdheit zwischen uns.
Viel Nähe entwickelte sich zwischen Sanni und mir darüber daß ich mir jeden Tag Zeit nahm, wenn sie aus der Schule kam. Mich interessierten ihre Erlebnisse und Beobachtungen. Ich fühlte mit ihr, wenn sie befürchtete, eine Außenseiterin zu werden, kannte ich doch als Lesbe diese Erfahrung. Ich bewunderte ihr feines Gespür für Beziehungsstrukturen, für soziales Verhalten und Gerechtigkeit. Ihre durchgehende Ehrlichkeit von Anfang an erlebte ich als einen der wichtigsten Bausteine unserer immer enger werdenden Beziehung. Das ständig wachsende Vertrauen auf beiden Seiten wog viele Schwierigkeiten auf. Doch bei unseren beflügelnden Gesprächen fühlte sich Karin oft ausgeschlossen und überflüssig. Dieses Gefühl des Ausgeschlossenseins sollte ein Jahr später zu einer heftigen Beziehungskrise zwischen uns beiden führen.
Die Zeit verstrich - das Jahr, das Sanni bei uns bleiben sollte, war zur Hälfte vergangen, und ich spürte, daß mich die Angst vor einer Trennung immer wieder veranlaßte, mich emotional zu distanzieren. In mir wuchs der Wunsch, Sanni könnte länger - am liebsten für immer - bei uns bleiben, und trotz ihrer ambivalenten Gefühle wünschte sich Karin dasselbe. Auch Sanni und ihre Mutter beschäftigten sich mit diesem Gedanken. So entschieden wir uns zu viert, daß Sanni auf unbestimmte Zeit bei uns leben sollte.
Karin und ich beschlossen, einen Antrag auf Pflegschaft zu stellen. Dabei erfuhren wir, daß ein Kind, zu dem kein Verwandtschaftsverhältnis besteht, nur bis zu sechs Wochen woanders als bei den Eltern leben darf. Sanni war nun schon neun Monate bei uns, ohne daß irgend jemand nachgefragt hätte. Da Karin und ich uns beide als Pflegemütter eintragen lassen wollten - eine Regelung, die eigentlich gar nicht vorgesehen ist, weil die heterosexuelle Familie auch für Pflegschaften als Norm gilt -, mußten wir beide ein Gesundheitsattest und ein polizeiliches Führungszeugnis vorlegen. Außerdem wurden unsere Wohnverhältnisse von einer sehr netten Sozialarbeiterin, der wir uns gleich als Kolleginnen vorstellten, begutachtet. Zu unserem Erstaunen stellte sie keine Fragen zu unserem männerfreien Leben.
Kurze Zeit später waren wir ganz offiziell als Pflege->Eltern< akzeptiert und registriert und erhielten den amtlich festgesetzten Betrag von monatlich 520 DM Pflege- und Erziehungsgeld. Nachdem Sanni schon ein Jahr bei uns zu Hause war, blieb ihr eines Tages buchstäblich die Luft weg. Sie atmete nur ganz flach, bekam blaue Lippen und hatte plötzlich fürchterliche Angstzustände. Sie hatte Angst, auch von uns verlassen zu werden. Wir spürten, daß sie nicht einen Arzt brauchte, sondern uns. Eine Zeitlang schlief sie in meinem Zimmer, weil jede Nacht zu einer neuen Katastrophe für sie wurde. In ihren Angstzuständen war eine ihrer schlimmsten Phantasien, daß sie uns am nächsten Morgen erhängt auffinden würde. Die körperlichen Symptome verschwanden nach zwei Wochen, aber die abendlichen Ängste blieben. Das Zubettgehen wurde zum Ritual. Sie versicherte sich genauestens, was wir abends um welche Uhrzeit vorhatten zu tun. Bis in die tiefe Nacht hinein stand sie immer wieder auf, um sich zu vergewissern, ob es uns noch gut ginge und ob unsere Angaben stimmten. Im ersten Vierteljahr litten wir beide mit ihr, dann fing Karin an, sich kontrolliert zu fühlen. Ich dagegen konnte Sannis Angst weiterhin nachfühlen. Ich wollte, daß sie ihre Angst ausleben konnte und sie nicht unterdrücken mußte. Allerdings wußte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, daß ihre Angst ein ganzes Jahr dauern sollte! Ein ganzes Jahr, in dem wir keinen Abend ohne sie ausgehen konnten. Im nachhinein freuen Karin und ich uns, daß wir Sannis Angstjahr so gut miteinander überstanden haben. In dieser Zeit entstand auch neues Vertrauen zwischen uns dreien.
In den darauffolgenden Jahren gab es zwischen Sanni und mir Zeiten größerer Nähe und Zeiten, die von Distanz geprägt waren. Sanni fühlte sich immer wieder hin- und hergerissen zwischen mir als Pflegemutter und ihrer leiblichen Mutter, zu der sie die ganzen Jahre über Kontakt gehabt hatte. Ich hätte Sanni gern als meine eigene Tochter gehabt. Oft fühlte ich mich abhängig von ihrer Zerrissenheit und war verzweifelt und verletzt, wenn sie deswegen Distanz zu mir aufbaute. In diesen schwierigen Situationen war Karins vermittelnde Art ganz wichtig und half uns, wieder aufeinander zuzugehen.
Während des letzten Schuljahres verstärkte sich Sannis Kontakt zu ihrer Mutter. Bei beiden entstand der Wunsch, noch einmal zusammen zu wohnen, bevor Sanni ihren eigenen Weg gehen würde. In Sanni löste die Vorstellung, wieder bei ihrer Mutter zu leben, viel Freude aus. Wir wußten, daß dieser Schritt für Sannis Entwicklung wichtig war. Trotzdem war ich lange Zeit sehr verzweifelt über ihre Freude, zu ihrer Mutter zurückkehren zu können, und über die Leichtigkeit, mit der sie der Trennung von uns entgegensah.
Mittlerweile ist Sanni achtzehn Jahre alt und lebt seit drei Jahren bei ihrer Mutter. Heute ist meine Beziehung zu ihr mal sehr eng und intensiv, dann wieder gibt es Zeiten größerer Distanz - ganz wie damals, als ich ihre Pflegemutter war.

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