Mutter

 

»Während des Goldenen Zeitalters hieß jede im irdischen Garten Amazone. Mütter wurden nicht von Töchtern unterschieden. Sie lebten in Harmonie und teilten ihre Freuden. Sie zählten sich alle ruhigen und schönen Orte im Garten auf und luden sich gegenseitig ein, diese zu besuchen. Sie jagten gemeinsam. Sie sammelten gemeinsam und zogen gemeinsam umher. Sie beschrieben ihre Taten und Großtaten in Epen. Ihren Abenteuern waren keine Grenzen gesetzt, und Alter spielte in ihrem Leben und in ihren Gedichten keine Rolle. Jede begriff sich als Amazone.
Nach den ersten Niederlassungen in Städten ging alles weiter wie vorher. Die Amazonen lebten eher weit von ihren Städten entfernt als in ihnen. Nach dem Jagen oder Sammeln wurde die Nahrung vor den Toren zubereitet, und es gab ein Fest. Sehr oft war die Stadt mehrere Tage lang vollkommen leer und verlassen.
Dann kam eine Zeit, da manche Töchter und manche Mütter keine Lust mehr hatten, im irdischen Garten umherzuziehen. Sie begannen, in den Städten zu bleiben und verbrachten die meiste Zeit damit, ihre Bäuche wachsen zu sehen. Das führte so weit, daß sie sich weigerten, irgendein anderes Interesse zu zeigen. Vergeblich baten ihre Freundinnen sie, sie auf ihren Reisen zu begleiten. Sie hatten immer einen neuen Bauch zu beobachten. Und so nannten sie sich Mütter. Und sie fanden Qualifikationen, die dieser Funktion des Gebärens entsprachen, zum Beispiel die Vollmutter, die Erzeugende Mutter. Die erste Generation von statischen Müttern, die sich weigerten, ihre Städte zu verlassen, nahm ihren Anfang. Von da an nannten sie die anderen »ewige, unreife Töchter, Amazonen«
Sie hießen sie nicht herzlich willkommen, wenn sie von ihren Reisen zurückkehrten. Sie hörten ihren Entdeckungs- oder Forschungsberichten nicht mehr zu. Die Freude am Jagen, Sammeln und Umherziehen war verschwunden. Zu jener Zeit hörten die Mütter auf, sich Amazonen zu nennen, und die Mütter und die Amazonen begannen, getrennt zu leben«

(Julienne Bourge, Kommentare zur Vergangenheit, Gallien, Gloriose Zeit).
Aus dem Französischen von Gabriele Meixner und Verena Stefan