Vorwort

Im Honaunau-Nationalpark auf Hawaii stehen die Ruinen einer ummauerten Stadt, bewacht von grimmig dreinblickenden Göttern und umgeben von Palmen. Sie trägt den Namen »Stadt der Zuflucht« und wurde im 12. Jahrhundert gegründet. Wer aus politischen oder religiösen Gründen geächtet oder wer in der Schlacht geschlagen war, wurde zum Tode verurteilt, bekam aber eine Chance. Wer es lebend bis zur Stadt der Zuflucht schaffte, durfte innerhalb ihrer Mauern leben. Du bekamst einen ordentlichen Vorsprung, das letzte Stück der Flucht mußte allerdings schwimmend zurückgelegt werden. Wer überleben wollte, mußte stark sein, aber ohne Trauma kam niemand davon. Du warst gezwungen, dich mit den anderen Vogelfreien zusammenzutun, selbst wenn sie aus dem gegnerischen Lager kamen. Du mußtest Grips und Kraft einsetzen, um die Verfolger abzuschütteln, auf die Gefahr hin, während der Jagd deinen Sinn für Menschlichkeit zu verlieren. Alle, die einmal innerhalb der Mauern dieser Stadt waren, mußten versuchen, sich selbst anzunehmen, vielleicht zum ersten Mal überhaupt, und versuchen, sich gegenseitig zu lieben, was nicht einfach war, da die meisten als gebrochene Menschen dort ankamen. In unserer Zeit ist San Francisco für lesbische, schwule und bisexuelle Menschen die Stadt der Zuflucht.

Als meine lesbische Lebenspartnerin nach einer künstlichen Befruchtung ein Kind zur Welt brachte, konnte ich nicht länger als »normal« durchgehen. Ich wurde in eine Welt gestoßen, wo jede noch so alltägliche Handlung politisch war, ob ich wollte oder nicht. Alles und jedes ob ich unser Kind für eine Untersuchung zum Arzt brachte oder es im Kindergarten anmeldete - bedeutete eine Sichtbarkeit, die ich stets vermieden hatte, außerdem eine zermürbende Ungeschütztheit vor den Angriffen der radikalen Rechten. Mein Leben wurde zu einem Schnellkurs in Sachen »Das Private ist politisch«. Dieses Buch ist nicht objektiv. Es ist zum Teil meine eigene Geschichte, zum Teil die Geschichte der lesbischen und schwulen Bürgerrechtsbewegung in San Francisco. Während das Adoptionsverfahren lief, das mir bei erfolgreichem Ausgang die Anerkennung als Jesses zweite gesetzliche Mutter verschaffen würde, bildete sich innerhalb der Bewegung eine neue, umstrittene Kraft heraus. Sie organisierte sich in einer Gruppe namens Queer Nation. Die Geschichtsschreibung wird dies vermutlich die »dritte Welle« nennen. In den Vereinigten Staaten war die erste Welle die homophile Bewegung der fünfziger und sechziger Jahre, die eine Eingliederung, ein Verschmelzen mit der Gesellschaft anstrebte. Dabei ging es weniger um politische Inhalte als vielmehr um die praktische Frage des Oberlebens. Die zweite Welle, die lesbisch-schwule Befreiung der zweiten Hälfte der siebziger und achtziger Jahre, fand ihr Symbol in den Stonewall-Protesten auf der Christopher Street in New York City, als sich 1969 Schwule zum ersten Mal gemeinschaftlich gegen polizeiliche Brutalität wehrten. Am Tag nach Stonewall bemerkte der Dichter Allen Ginsberg, die »Schwuchteln« hätten diesen verletzten Gesichtsausdruck verloren. In der Nach-Stonewall-Zeit wurde die Teilhabe an der Macht das erklärte Ziel. Die späten achtziger Jahre brachten mit ACT UP[1] den ersten Schub der dritten Welle. ACT UP wurde gegründet, um im Kampf gegen Aids, die Krankheit, die zum Zeitpunkt meines Schreibens in den USA hunderttausend Menschen umgebracht hat, davon fast zehntausend allein in San Francisco, Druck auszuüben zugunsten einer verbesserten medizinischen Behandlung und Forschung. Die Mehrzahl der amerikanischen Aids-Toten sind schwule Männer. Die Taktiken von ACT UP gehen andere Wege als über die Wahlurnen und Gerichte, subversives Straßentheater und andere theatralische Aktionen werden bevorzugt und für die Medien inszeniert, da die Gruppe der Ansicht ist, daß der Marsch durch die Institutionen zu lange dauern würde, die während der Reagan/Bush-Regierungen und ihrer Kollaboration mit der radikalen Rechten unzugänglich geworden sind.
Bis Mitte 1990 hatten sich überall in den Vereinigten Staaten Dutzende Ortsgruppen von Queer Nation gebildet. Ausgehend vom Straßentheatermodell bei ACT UP baute Queer Nation ihre Taktik auf kompromißlose Sichtbarkeit und die frontale, »vor eure Nase« gehaltene Prämisse: »Wir sind nicht wie ihr. Wir werden nie sein wie ihr. Wenn wir versuchen, wie ihr zu sein, gehen wir drauf.« Queer Nation hat absolut nichts Diplomatisches an sich, aber die Gruppe ist auch alles andere als todernst. Esprit, Humor und Satire, der typische queerWitz eben, sind ihr Markenzeichen. Lesbische und schwule Politikerlnnen, welche die Kunst des Kompromisses beherrschen und geduldig versuchen, die Bevölkerung dahin zu bringen, lesbische und schwule Beziehungen und Familien anzuerkennen, werden von diesen Aktivisten als Abtrünnige betrachtet; die Macht von Queer Nation beruht auf dem Außenseiterstatus, außerhalb des Systems.
Die Tatsache, daß es immer noch gefährlich sein kann, öffentlich Händchen zu halten, ist Beweis genug für die Aktivisten, daß es nichts gebracht hat, innerhalb des Systems zu arbeiten, und daß es womöglich niemals etwas bringen wird. Diejenigen Lesben und Schwulen, die innerhalb des Systems gearbeitet haben, die jahrelang die Machtstrukturen der Gesellschaft unterminiert und Morddrohungen und Wellen des organisierten Hasses überlebt haben, sind inzwischen in der Politik und der Polizei, an Gerichten und Schulen, in Gewerkschaften und Kirche etabliert. Ihr Motto lautet: »Wir sind genau wie ihr. Laßt auch uns ein Teil von Amerika sein.« Sie glauben, in dem Maße, wie sie Teil des Systems werden, wird allein schon ihre Anwesenheit das System zwingen, sich weiterzuentwickeln. Und es hat sich weiterentwickelt, wenn auch langsam. Zwar gebrauchen beide Gruppen sehr unterschiedliche Taktiken, doch beide kämpfen gegen den gemeinsamen Feind der Verteufelung. Die Verteufelung wird von der radikalen Rechten betrieben und, ironischerweise, in den liberalen, abgeschotteten Villen von Hollywood, diesem künstlichen Zelluloid-Paradies der Weltpsyche.
Vor zwanzig Jahren hätte ich eine Adoption, wie ich sie plante, nicht im Traum für möglich gehalten. Eine Chance, vor dem Gesetz als Jesses Mutter anerkannt zu werden, gab es überhaupt nur dank der jahrelangen, geduldigen, mühevollen Arbeit von Anwälten der lesbischen und schwulen Bürgerrechtsbewegung wie Donna Hitchens und Roberta Achtenberg.[2] Doch meine Gefühlsachterbahn während des ganzen Verfahrens, das mir bei jedem Schritt von neuem klarmachte, daß ich vor dem Gesetz nichts war und gesellschaftlich bestenfalls ein Monstrum, trieben mich zu Queer Nation, deren besondere Spezialität es ist, Wut in medienträchtige Satire und Witz umzumünzen.

Dies ist auch die Geschichte der politischen Kinder von Harvey Milk. Er war der erste offen schwule gewählte Beamte der USA und wurde in seinem Rathausbüro von einem homophoben Politikerkollegen niedergeschossen.
Dies ist die Geschichte der dritten Welle der Befreiung, die sich in den Straßen und Einkaufspassagen mit öffentlicher Kunst und Theater zu Wort meldete, als die radikale Rechte und Hollywood die Mauern unserer Stadt nicht respektierten. Dies ist außerdem die Geschichte der gesetzlichen Anerkennung einer neuen Art von Familie und die Geschichte eines kleinen Jungen namens Jesse, der nun mal zwei Mamis hat und dem dieses Buch gewidmet ist.

Anmerkung des Übersetzers
Die »dritte Welle der Befreiung« und die Geschichte von Queer Nation sind eng miteinander verknüpft; Selbstbewußtsein und Selbstdefinition der politisch engagierten Lesben und Schwulen drücken sich auch in ihrer Wortwahl aus. Queer (ursprünglich merkwürdig, eigenartig, komisch, verquer) ist eine der »salonfähigen« abwertenden Vokabeln für Homosexuelle und (ähnlich wie im Deutschen schwul) zur kämpferischen Selbstbezeichnung aufgegriffen worden, im Sinne einer offensiven Umwertung des Schimpfwortes. Zu den Ansätzen von Queer Nation gehört auch die bewußt nichtseparatistische Zusammenarbeit von Lesben und Schwulen und eine Absage an die konventionellen Verknüpfungen zwischen biologischer und sozialer Geschlechtszuordnung sowie zwischen Geschlechtszugehörigkeit und Sexualität.
So sind auch die lesbischen Typisierungen femme und butch zu verstehen; in Stil, Kleidung und Verhalten orientieren sich Femmes an Merkmalen von Femininität, Butches an denen von Maskulinität. Damit wollen sie nicht die standardisierten Rollen für Frauen und Männer imitieren, sondern sich die jeweiligen Merkmale spielerisch aneignen. Unabhängig von Geschlecht und Sexualität kann also jede und jeder weibliche bzw. männliche Charakteristika sowohl anziehend finden als auch erlangen.
In diesem Buch werden die englischen Ausdrücke queer, femme und butch zur Vermeidung sprachlicher Verrenkungen beibehalten.

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Vorwort