Jesse schafft den Durchbruch

Um die Jahrhundertwende hieß die künstliche Befruchtung »ätherische Empfängnis«, als bräche ein wissenschaftlicher Peter Pan aus seinem Nimmerland durch in die Welt. Von allen Geschichten liebte Jesse am meisten Peter Pan und seine Kämpfe mit Käptn Hook. Mit drei Jahren, im Sommer 1991, spielte er gern Peter, in dem grünen Filzhütchen mit der Truthahnfeder, das Cheryl für ihn gemacht hatte. Doch als es Winter wurde, schlug er sich auf Käptn Hooks Seite. Wir haben einen Stapel Halloween-Fotos von ihm, auf denen trägt er einen roten Satinumhang, einen schwarzen Piratenhut mit weißem Schädel und gekreuzten Knochen darauf, schwarze Stiefel mit roter Spitze und einen silbernen Spielzeughaken, den er stolz hochhält. Wahrscheinlich erinnert er sich noch an den Umhang und die Stiefel und sogar an den Filzhut, aber vielleicht weiß er nicht mehr, daß Peter Pan in unsere Welt gekommen ist, um Geschichten erzählt zu bekommen, vor allem Geschichten über sich selbst.
Ich schreibe diese Geschichte, die kein bißchen erfunden ist, für Jesse, wenn er ein Junger Mann ist. Ich sehe ihn vor mir: siebzehn Jahre alt, in seine eigenen Revolutionen und Abenteuer verwickelt. Das wird im Jahre 2005 sein. Einiges hiervon wird dann vermutlich ziemlich merkwürdig und altmodisch klingen, aber es ist eine Geschichte über ihn und darüber, was seinetwegen aus mir geworden ist, und deshalb wird es ihn interessieren, genau wie Peter. Während ich dies schreibe, ist Jesse noch sehr klein, und bald ist Weihnachten. Wenn er ein Junger Mann ist, wird er alles über seine ätherische Empfängnis wissen wollen, wie er seinen Durchbruch in die Welt schaffte und zwei Mütter bekam. Bis dahin hat er bestimmt einzelne Abschnitte der Geschichte gehört, aber es ist wichtig, daß er sich ein vollständiges Bild davon macht, und dabei geht es um Bürgerrechte, politischen Kampf, Hollywood und das Aufischen von Miracoli.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert klingt es vielleicht nicht mehr seltsam, aber 1987 war es entschieden so. Cheryl beschloß, daß sie ein Baby bekommen wollte, und die Tatsache, daß sie lesbisch war, sollte sie nicht davon abhalten. Sie war immer ein unabhängiger Pioniergeist gewesen. Während ihrer Erziehung zu einer Fundamentalistin der protestantischen »Church of Christ« war ihr beigebracht worden, daß sie nicht von dieser Welt war, sondern Gott gehörte. Was andere Leute von ihr hielten, zählte nicht. Ich war skeptisch. Ich fand es schrecklich, in dieser Gesellschaft zu leben und anders zu sein. Ich verbrachte eine Menge Zeit damit, mich zu tarnen. Und was ich zu hören bekam, wenn ich unsichtbar war, bestärkte mich noch darin, mich nicht zu bekennen.
Obwohl ich mich nicht festlegen wollte, ein Kind mit ihr zu haben, informierte sich Cheryl über die Samenbanken in und um San Francisco und suchte diejenigen heraus, die lesbische oder alleinlebende Frauen nicht diskriminierten. In einigen Staaten der USA darf nur ein Arzt die Insemination vornehmen, und viele Ärzte weigern sich bei lesbischen Frauen. In anderen Staaten wird die Zustimmung eines Ehemanns verlangt; es ist ein Verbrechen, eine alleinlebende Frau künstlich zu befruchten, geschweige denn eine Lesbe. Cheryl entschied sich für Pacific Reproductive Services, deren Selbstdarstellung lautet: »Künstliche Befruchtung für die nichttraditionelle Familie«. Nach einer medizinischen Grunduntersuchung der zukünftigen Mutter durch den Hausarzt schickt Pacific Reproductive Services sogar Sperma auf Trockeneis an jeden Ort in den USA.
Cheryl brachte einen kleinen Katalog mit Samenspendern nach Hause. Sie saß auf der Couch und schlug ihn auf, so wie Jesse heute seine Abenteuerbücher aufschlägt. Jeder Spender hatte eine Nummer und eine detaillierte Beschreibung. Wir blätterten den ganzen Katalog durch und fanden schließlich einen Journalisten, der irische, holländische, englische und französische Vorfahren hatte. Wir entschieden uns sofort für ihn, weil er mir in Herkunft und Beruf ähnelte. Sein Haar wurde als fast schwarz beschrieben, aber Jesse ist blond, wie Cheryl. Es war ein unheimliches Gefühl, einen Katalog durchzublättern und jemanden auszusuchen, als steckten wir mitten in einem Orwellschen Experiment zur Gesellschaftsplanung. Es lief alles so kalkuliert ab, ich fand das heikel. Cheryl hingegen war nicht sehr romantisch beim Unternehmen Schwangerschaft. Sie sah sich auch nicht im Begriff, etwas «Radikales« zu tun. Sie lebte ihr Leben, fertig. Als sie sieben war, hatte sie beschlossen, zwei Kinder zu bekommen, einen Jungen und ein Mädchen, und später würden sie sich ein Boot besorgen, um den Amazonas hinunterzufahren. Irgendwann entschied sie dann, daß ich eine gute Partnerin bei diesem Ausflug sei, und damit hatte sich die Sache.
Und was die wissenschaftliche Seite der Wahl des Spenders betraf, so begriff ich mit der Zeit, daß Prinz Charles nicht weniger berechnend vorgegangen war, als er Lady Diana Spencer erwählte, bloß daß die beiden den Rest ihres Lebens als Touristenattraktion verbringen mußten. Außerdem erfuhr ich, daß zu vorchristlicher Zeit die Tempelpriesterinnen sich die Männer aussuchten, von denen sie Kinder haben wollten, und das waren keineswegs immer die Männer, mit denen sie zusammenlebten. Die Männer hatten absolut nichts gegen dieses Arrangement einzuwenden, und daraus folgte auch kein Einfluß auf die gesellschaftliche Position der Kinder, da sich die Erbschaft nach der mütterlichen Linie richtete.
San Francisco am Ende des 20. Jahrhunderts ist nicht gerade das Milieu heidnischer Tempelpriesterinnen, aber immerhin verschaffte mir diese Information eine Art Präzedenzfall, eine Verwurzelung in der Geschichte. Die Beschreibung der Spender war überaus detailliert, und wenn sich eine Frau für einen Kandidaten entschied, wurde eine präzise und vollständige Krankengeschichte geliefert. Die Samenspender unterzogen sich ausgiebigen ärztlichen Untersuchungen, desgleichen die leiblichen Mütter. Unweigerlich stellt sich die Frage, warum ein Mann sich dazu entschließt, Samenspender zu werden. Es gibt viele Gründe: finanzielle (der Spender wird für seinen Samen bezahlt), genealogische (der Mann möchte so viele Kinder wie möglich zeugen, um seine Gene im Genpool zu behalten), politische (der Mann möchte seinen Samen nichttraditionellen Familien, zum Beispiel lesbischen Familien, zur Verfügung stellen) oder gesellschaftliche (ein schwuler Mann möchte Vater sein, jedoch ohne die Farce einer heterosexuellen Ehe durchzuspielen).
Der Spender, den wir für Jesses »unterstützte Zeugung« aussuchten - wie die künstliche Befruchtung neuerdings genannt wird -, ist ein heterosexueller Mann, der damit einverstanden ist, daß Jesse ihn, falls er möchte, kennenlernt, sobald er achtzehn wird. Er ist ein sogenannter »ja-Spender«. Ein Anwalt, der als Mittelsperson agiert, hat seine Adresse. Falls Jesses Spender eine unheilbare Krankheit bekommt, kann er uns das mitteilen, so daß Jesse die Möglichkeit hat, ihn auch früher kennenzulernen. Ich bin schrecklich neugierig auf Jesses Spender, aber nur Jesse hat das Recht, sich mit ihm in Verbindung zu setzen; allerdings können wir ihn in Jesses Namen über den Anwalt erreichen. Wir hielten es für wichtig, daß Jesse seine biologischen Wurzeln herausfinden kann. Aber vielleicht ist es das gar nicht. Jeder Mensch ist anders. Bevor wir zu einer Samenbank gingen, sahen wir uns nach einem Spender um, der Lust hatte, ein »aktiver Vater« zu sein und sich an Jesses Erziehung zu beteiligen.
Das Problem war nur, die meisten Männer, die wir kannten, waren schwul, und obwohl viele von ihnen wunderbare Väter hätten sein können, machte die Aids-Epidemie es vielen von ihnen unmöglich, Samenspender zu sein. Achttausend schwule Männer waren in San Francisco schon an Aids gestorben, als Jesse zwei Jahre alt war, und zur gleichen Zeit spielte sich hinter den Kulissen ein lesbischer Baby-Boom ab. Lesbische Frauen gebaren und adoptierten Kinder und gründeten Familien mit schwulen Männern, doch die Tagespresse berichtete kaum darüber. Lesbische Anwältinnen kämpften vor Gericht für die Rechte lesbischer und schwuler Eltern, und sie taten es ohne großes Trara, um die Eltern und Kinder nicht zu einladenden Zielscheiben für homophobe Gruppen und Politiker zu machen. Es gibt einfach so viele von uns - als ein Resultat der Arbeit dieser Frauen, die uns dabei geholfen haben, unsere Familien aufzubauen, daß wir uns nicht länger verstecken können.
Bevor Jesse gezeugt wurde, war ich fest davon überzeugt, daß es akzeptabel, ja, edel sei, mir selbst und meiner Partnerin bestimmte Teile des Spektrums menschlicher Erfahrung zu verweigern, weil wir einer verhaßten Minderheit angehörten: die Mutterschaft zum Beispiel. Und doch wußte ich, daß auch in mir eine Mütterlichkeit steckte, die oft meine Freundinnen zu spüren bekamen. Ich fragte mich, ob mir ein Kind vielleicht helfen würde, mich wieder auf die Außenwelt zu beziehen und ein Teil von ihr zu werden. Vor über zwölf Jahren hatte ich mich in mein Inneres zurückgezogen. Das war ausgelöst worden durch den Tod der Frau, die ich liebte, außerdem durch die Hexenjagd, die der kalifornische Senator John Briggs gegen homosexuelle Lehrer schürte, und schließlich durch die Ermordung von Harvey Milk und George Moscone, zwei schwulen Kommunalpolitikern von San Francisco.
Doch ich vermied es, über mich nachzudenken. Statt dessen bedrängte ich Cheryl unablässig mit der Frage, warum sie ein Kind wollte. Das mußte politisch korrekt sein, theoretisch korrekt, gesellschaftlich akzeptabel. Es mußte rein und selbstlos sein. Es reichte mir nicht, daß sie sich immer schon ein Kind gewünscht hatte. Als Cheryl fünfundzwanzig war, sagte sie ihrer Freundin, daß sie ein Kind wollte. Die Freundin verließ sie. Cheryl erzählte auch allen folgenden Freundinnen dasselbe, und sie verließen sie eine nach der anderen. Inzwischen war Cheryl zweiunddreißig, und die biologische Uhr bereitete uns mit ihrem unüberhörbaren Ticken schlaflose Nächte. Eines Abends schließlich sah sie mich entnervt an und sagte: »Ich werde ein Kind bekommen. Ich will, daß mein Leben den Sinn hat, den nur ein Kind ihm geben kann.
Du kannst bleiben oder gehen. Ich bekomme das Baby mit dir oder ohne dich.« Ich wußte, sie meinte es ernst. Später gestand sie mir, daß sie geblufft hatte, aber ich bin froh, daß ich ihr glaubte. Mir wurde klar, daß sie jedes Recht hatte, ein Kind zu bekommen; daß auch ich geglaubt hatte, sie müßte besondere Gründe dafür vorbringen, weil sie lesbisch war; und daß der schlichte Wunsch, ein Kind zur Welt zu bringen, nicht automatisch selbstverständlich war. Ich wußte seit je, daß ihr Kinderwunsch keine Marotte war. Kurz nachdem wir uns kennenlernten, gingen wir in ihrem Haus auf den Dachboden. In einer Ecke lagen, sorgfältig verpackt, winzige Babyhemden. Die hatte sie jahrelang mit sich herumgeschleppt, von einer Wohnung zur anderen. Später zogen wir sie Jesse an. Inzwischen liegen sie wahrscheinlich wieder oben. Cheryl hebt alles auf. Sie hat immer noch den Zettel aus Jesses erstem chinesischen Glücksplätzchen: »Liebe ist eine Notwendigkeit für dich.« Sie hat sogar die Fläschchen aufgehoben, die Jesses Spendersamen enthalten hatten.
Wir waren seit zwei Jahren zusammen, und manchmal machte sie mich rasend. Sie sagte stets, was sie dachte, Diplomatie war nicht gerade ihre Stärke. Aber ich liebte sie. Ich überlegte mir alles lange im voraus, kalkulierte Reaktionen und plante Strategien. Es war geradezu eine Erleichterung, mit jemand wie Cheryl zusammen zu sein. Sie hatte ein gutes Herz, und das war keine Strategie. Sie fand immer Zeit für Leute, die ein bißchen verrückt waren oder zu kämpfen hatten oder gerade in einer Pechsträhne steckten. Sie ließ sich nicht durch Äußerlichkeiten blenden. Man könnte sie wohl eine gute Christin nennen. Das Baby war ganz sicher gewollt und würde geliebt werden, das war mir immer als das Wichtigste i erschienen. Ich war standhaft geblieben, weil ich nicht diejenige sein wollte, die eine Entscheidung fällte. Jedenfalls pflegte ich das zu behaupten.
Ich hatte Angst. Wenn ich das Baby so sehr liebte, wie ich es mir vorstellen konnte, dann würde ich es nicht ertragen, wenn die Welt es grausam behandelte. Ich halte es für unmöglich, durch dieses Leben zu gehen, ohne daß einem ein bißchen Grausamkeit nach den Waden schnappt. Ich wollte nicht so verletzlich sein. Ich wußte, wie tief meine Wut saß, und ich hatte auch Angst davor, sie loszulassen. Ich liebte Cheryl und meine Freunde und meine Familie, aber ich war froh, daß ich, wenn ich mich am Ende meines Lebens verabschieden mußte, nichts zurückließ, das mir allzu heilig oder teuer war. Ich wollte dann mit der Welt abgeschlossen haben. Die Lösung bestand darin, mich von dem Baby zu distanzieren. Ich beschloß, ja, ich würde Cheryl helfen, das Kind aufzuziehen, aber ich würde seine Tante sein. Es würde mich Tante Phyllis nennen, und alles war in Ordnung. Niemand würde wissen, daß er zwei Mütter hatte, nicht einmal ich selbst. Ich glaubte, das könne es ihm auch gesellschaftlich leichter machen. Cheryl würde den größten Teil ihrer Zeit mit ihm und den anderen leiblichen Müttern verbringen, während ich meiner Arbeit nachgehen, politische Satire schreiben und die Rolle der wundersamen, wohlmeinenden Gesellschaftsdame spielen würde. Das war mein Plan. Ich steckte ziemlich viel Kraft hinein, den Leuten klarzumachen, daß ein Mensch logischerweise nur eine Mutter haben konnte.
Nachdem das geklärt war, fing Cheryl an, Monat für Monat ihre Basaltemperatur zu messen. Plötzlich schien ihr Eisprung unser ganzes Leben zu beherrschen. Überall in der Stadt sitzen lesbische Frauen und tun dasselbe, sie martern ihre Freundinnen mit der besessenen Berechnung ihrer Zyklen. Mir ging auf, daß Cheryl seit längerem heimlich diese Kurven zeichnete, schon bevor ich zugestimmt hatte, ein Kind mit ihr aufzuziehen. Wenn sie sich einmal für etwas entschieden hat, gräbt sie sich notfalls durch einen Berg hindurch, um es zu Ende zu bringen. Ich glaube, das ist ihr angeboren. Die Familie ihres Vaters kam Anfang des achtzehnten Jahrhunderts aus Deutschland nach Amerika. Zunächst siedelten sie in Pennsylvania und wurden »Pennsylvania Dutch« genannt, und sie kämpften auch im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Aber ich sehe noch ein anderes Stück Geschichte in Jesse - Cheryls Mutter stammt von Daniel Boone ab, dem Entdecker und Pionier aus Kentucky. Das habe ich schon mal in Jesses Kindergarten benutzt, als Entschuldigung für seinen »bahnbrechenden« Charakter.
Während Cheryl ihren Zyklus berechnete, nahmen wir an einem Workshop namens »Lesben wollen Eltern werden« teil. Sechs Wochen lang trafen sich jeden Sonntag drei Paare in unserem Wohnzimmer, um den Ernstfall Elternschaft zu diskutieren und Pläne für die Zeit zu machen, wenn das Baby da war. Das einzige, was den Plänen fehlte, war Erfahrung. Wir gaben uns den Spitznamen »Maybe-Baby-Gruppe«. Die Treffen wurden von einer Frau aus der Lyon-Martin-Klinik geleitet; dieses Hospital, benannt nach zwei Veteraninnen der lesbischen und schwulen Bürgerrechtsbewegung, Phyllis Lyon und Del Martin, hatte lesbisches Personal und war vor allem für lesbische Patientinnen gedacht. In unserer Gruppe hörte ich zum ersten Mal den Ausdruck »nichtbiologische Mutter«.
Ich verkündete, daß ich als »Tante« angeredet werden wollte. Cheryl und die anderen Frauen nickten und lächelten über mich. Nicht gönnerhaft, aber weit entfernt war es nicht. Diese Frauen gehörten nicht gerade zu dem Typus, den man als radikal oder revolutionär bezeichnen konnte. Sie entsprachen dem Profil der meisten Lesben, die EItern werden wollten: Berufstätige, zum Teil Arbeiterinnen, die Monopoly oder Tennis spielen, zum Campen fahren, ins Kino oder tanzen gehen und gerne kochen. Sie würden kaum auf die Straße rennen, um sich einer spontanen politischen Demonstration anzuschließen, und wenn sie einen Abend mal so richtig ausflippen wollten, würden wahrscheinlich zwei Sitze in der ersten Reihe bei einem k.d. lang-Konzert dabei herauskommen. Ein Paar in der Maybe-Baby-Gruppe hatte sich noch nicht endgültig für oder gegen ein Kind entschieden. Catherine und Caroline waren beide Krankenschwestern und arbeiteten vorwiegend mit sterbenden schwulen Männern. Die nichtbiologische Mutter war vierzig und fand, sie sollte sich eher auf ihre Pensionierung vorbereiten, anstatt eine Familie zu gründen.
Drei Jahre später sah ich beide auf der Parade am Unabhängigkeitstag, mit der neun Monate alten Sophie auf Catherines Schultern. Das andere Paar stand kurz vor der Insemination. Zwischen Cheryl und der inseminierenden Frau entstand eine merkwürdige Dynamik: sie schienen ein Empfängnis-Wettrennen zu veranstalten. Meiner Meinung nach legte sich die andere ungewollt selbst dauernd Steine in den Weg. Sie war vollkommen darauf fixiert, ein Mädchen zu bekommen, denn sie lebte in einem separatistischen Umfeld, und das sollte auch so bleiben. Es wurde zum Thema endloser Mutmaßungen, wie es zu bewerkstelligen sei, ein Mädchen zu zeugen: ein uraltes Thema. Im Separatistinnenland - ein Nimmerland nur für Mädchen - dürfen Jungen nur an Veranstaltungen teilnehmen und mit den Frauen zusammenleben, bis sie das Alter erreicht haben, in dem sie nicht anders können, als unmißverständlich und unerträglich Jungenhaft zu werden, und ich nehme an, genauso wird es auch in Harems gehandhabt. Ich wünschte mir insgeheim einen Jungen. Es wäre wunderschön gewesen, von beidem eins ZU kriegen, aber wenn ich ehrlich war, wollte ich einen Jungen. Ich hatte Cheryl sogar mein Prinzchen genannt, bevor Jesse kam. Als ich Cheryl kennenlernte, verkündete sie, sie sei ein absoluter Cross-dresser die perfekte Inkarnation der Hosenrolle. Ich fand das bezaubernd, da sie eine ziemlich weibliche Figur und Gangart hat, und ihr Gesicht ist wunderbar rund und engelhaft. »Hosenrolle« hieß bei Cheryl, daß sie bequeme Arbeitskleidung anzog und sich so von allen sexuellen Komplikationen am Arbeitsplatz fernhalten konnte. Inzwischen zieht sie sich abwechslungsreicher an, aber als ich sie kennenlernte, fand ich ihre Arbeitsstiefel Größe sechs einfach unwiderstehlich.
Als ich der Maybe-Baby-Gruppe verriet, daß ich mir einen Jungen wünschte, wurde ich ziemlich neugierig von der Gruppenleiterin und den Teilnehmerinnen beäugt. Wenn ich allerdings bedenke, daß es, wie zur gleichen Zeit die Presse berichtete, in China verboten war, mehr als ein Kind zu haben, und daß es oft einfach von den Eltern umgebracht wurde, wenn es ein Mädchen war, dann muß ich zugeben, daß die in unserer Gruppe vorherrschende Sehnsucht nach Mädchen schon eine erfrischende Abwechslung war. Die Separatistin in unserer Gruppe ging so weit, den Samen vor der Befruchtung auf einen essiggetränkten Schwamm zu plazieren, was angeblich die männlichen Spermien abtötete. Außerdem benutzte sie frischen Samen, der laut lesbischer Überlieferung mehr aktive weibliche Spermien enthält. Frischer Samen ist schwieriger zu benutzen. Er lebt nur etwa zwei Stunden außerhalb des menschlichen Körpers, und es bringt eine irrsinnige Menge an Organisation und das Risiko des Spermientodes mit sich, wenn eine Mittelsperson etwa auf der Golden Gate Bridge im Stau steckenbleibt. Aber es gab Spekulationen darüber, daß Cryopräservation, das Einfrieren des Spermas, die Wahrscheinlichkeit, ein Mädchen zu bekommen, irgendwie negativ beeinflußte.
Gewisse heterozentrische Rätselrater außerhalb der lesbischen Gemeinschaft vertreten die bizarre Theorie, lesbische Frauen hätten mehr männliche Hormone und würden aus diesem Grunde überwiegend Jungen hervorbringen. ich glaube aber, das liegt am Timing und am Geld. Sperma kann ganz schön ins Geld gehen, jede Insemination kostet zwischen 60 und 120 Dollar. Obwohl Lesben oft lieber ein Mädchen bekommen würden, interessiert es sie letztlich am meisten, überhaupt schwanger zu werden, und deshalb warten sie eben so lange, bis ihre getreuen Begleiter, die Ovulations-Teststäbchen, hellblau geworden sind und die Ankunft des Eis signalisieren. Die männlichen Spermien mit dem Y-Chromosom sind leichter und bewegen sich viel schneller auf das Ei zu. Sie kommen dementsprechend zuerst an. Die weiblichen Spermien mit dem doppelten X-Chromosom sind schwerer und langsamer auf ihrem Weg zum Ei. Wenn eine weibliche Keimzelle das Ei erreicht und es ist bereits von einer männlichen befruchtet - Pech gehabt. Um ein Mädchen zu bekommen, muß die Befruchtung kurz vor dem Eisprung vorgenommen werden (den zu bestimmen schwierig ist), so daß die männlichen Spermien hinsausen, kein Ei vorfinden und im Nimmerland verschwinden, während die schlendernden weiblichen Spermien erst ankommen, wenn das Ei eintrudelt. Da die meisten lesbischen Mütter inseminieren, wenn sie sicher sind, daß der Eisprung gekommen ist, steigen die Chancen für Jungen natürlich ins Astronomische.
Früher lag an der Ecke Castro/Achtzehnte Straße im schwulen Viertel von San Francisco eine Apotheke namens The Star. Irgendwann hatten sie Ovulations- und Schwangerschaftstests auf Lager. Fast jeden Tag konnte man dort lesbische Frauen antreffen - alleine, paarweise oder in kleinen Gruppen, manchmal begleitet von einem schwulen Mann, die diese Testpackungen tiefernst betrachteten.
Cheryl war ausgiebig untersucht worden; alle Testergebnisse dokumentierten, daß sie kerngesund war. Als sie schließlich grünes Licht von der Gründerin von Pacific Reproductive Services, Sherron Mills, bekommen hatte, erwarb sie ihre Ovulationstests und begann das Verfahren. Jeden Morgen machte Cheryl den Eisprung-Test und stellte den Ovustick aufrecht in seinen Schlitz in einen kleinen weißen Pappständer auf dem Küchenfensterbrett. Wir führten lange, zähe Diskussionen darüber, für wie blau ich die Spitze des Teststäbchens hielt. Es begann mit einem wäßrigblassen Blau und wurde immer dunkler, je näher der Eisprung rückte. Auf der Schachtel war zum Vergleich eine Abstufung der Blautöne. Wir sahen überall nur noch Blau, wir betrachteten Blau, wir träumten Blau, und schließlich, an einem leuchtendblauen Morgen eines leuchtendblauen Tages, weckte mich meine perfekte Inkarnation der Hosenrolle. Sie hielt mir ein kleines Stäbchen aus dem Eisprung-Testset unter die Nase. Diese Frau hatte eine Mission, und das ist noch sträflich untertrieben.
»Wie blau ist das deiner Meinung nach?«
»Blauer als gestern, ganz bestimmt«, antwortete ich. Ich mußte in jedem Falle diese Antwort geben, sonst würde sie in ihren Arbeitsstiefeln Größe sechs durch die Gegend stampfen. Es hing doch alles davon ab, nicht dadurch den Eisprung zu verpassen, daß man dachte, am nächsten Tag wäre es vielleicht noch blauer, und dann war es nachher blasser und man hatte das Ei verpaßt. »Glaubst du, blauer wird es nicht mehr?« fragte sie bestimmt. Auch das hatte sie mich in den letzten Tagen mehrfach gefragt. »Ich weiß es nicht, Liebes. Es gibt so viele Schattierungen von Blau. Kornblume und Indigo, Pfauenblau und Rotkehlchenei. Nicht zu vergessen blaue Bänder und der blaue Mond. « Sie wedelte mit dem Stäbchen vor meiner Nase herum und wiederholte, heftig und immer ärgerlicher: »Aber ist das hier blau genug? Könnte es noch blauer sein?«
Cheryl war wirklich fest entschlossen, ein Glied in der Kette der Natur zu werden, und obwohl es mich ja auch etwas anging, erschien mir das Ganze ziemlich unwirklich. Ich nahm das Stäbchen mit der blauen Spitze in die Hand und betrachtete es, während ich schläfrig auf unserer Bettkante saß. Cheryl starrte das Stäbchen an, als hätte es ein Eigenleben. Mit einer Puppenstimme piepste ich: »Ich glaube, ich bin babyblau!« Ich habe diese furchtbare Angewohnheit, Menschen aufzuziehen, ganz besonders, wenn ich sie liebe und sie gerade absolut entschlossen und humorlos sind. Cheryl riß mir das Stäbchen weg, und ich folgte ihr, im Geishastil trippelnd, in die Küche und entschuldigte mich für meine mangelnde Sensibilität. Sie stapfte hinein, als zöge sie in die Schlacht. Die Ovusticks standen in ihren Schlitzen aufgereiht wie kleine blauköpfige Soldaten. Sie stopfte das eine von heute in seinen Schlitz, und im Vergleich zu den anderen sah es tatsächlich tiefblau aus. Cheryl tigerte vor dem Fenster auf und ab und durchbrach die Streifen des Sonnenlichts, das hereinschien. Ich nahm die Schachtel und verglich die Blautöne miteinander. Von dem Prisma, das im Sonnenlicht vor der Scheibe hing, strahlte das ganze Farbspektrum aus. Ich sah Cheryl an und lächelte.
Wunderschöne Farben auf einem erhitzten, verärgerten Gesicht geben einfach kein anziehendes Bild ab. Schließlich sagte ich - denn ich wollte die Spannung auflösen, außerdem glaubte ich es tatsächlich: »Es ist soweit! Das Ei ist angekommen! Die Befruchtung soll beginnen!« Es war ein Gefühl, als pfiffe ich das Krocketspiel aus Alice im Wunderland an. Wir riefen Sherron Mills' Büro an, um uns anzukündigen. Ich war noch nie da gewesen. Es war ein Ärztehaus und ein typisches Wartezimmer. Ich war enttäuscht, ich hatte etwas aus Raumschiff Enterprise erwartet. Wir wurden in ein hell erleuchtetes, neutral wirkendes Untersuchungszimmer geführt. Unterwegs bemerkte ich, wie eine Schwester ein zylindrisches Rohr öffnete, das etwa 1 Meter 2o hoch war. Als sie den Deckel vom Rohr hob, strömten Schlieren gasförmigen Nitrogens in die Luft. Ich sah, daß sich in dem Rohr, an Drahtaufhängungen, sorgfältig numerierte, fünf Zentimeter große Plastikampullen mit gefrorenem Sperma befanden. Bis dahin hatte ich nicht gewußt, wie Gefrierkonservierung funktionierte. Es sah sehr sciencefiction-mäßig aus. Cheryl war die Bienenkönigin, die ihre Drohnen ins Schlafgemach ruft. Wir betraten den Untersuchungsraum, wo Sherron die kleine Ampulle mit der Nummer von Jesses Spender auftaute. Bei diesem Auftauprozeß kehrt das Sperma wieder in seinen aktiven Zustand zurück. Sherron war eine angenehme Frau mit dunklen Locken, Typus perfekte, bedingungslos liebende Tante. Während sie den Samen vorbereitete, fragte ich sie: »Wie viele Kinder darf ein Spender zeugen?« »Nach vier Schwangerschaften nehmen wir den Mann aus dem Pool«, sagte sie.
Ich überlegte, wie merkwürdig es für einen »ja-Spender« sein würde, wenn vier Achtzehnjährige, die einander nicht kannten, aber unzweifelhaft Halbgeschwister waren, im Jahre 2006 eines schönen Tages an seine Tür klopften. Sherron füllte das Sperma in die Spritze und lächelte uns an: »Ich werde auch Vater der Lesbischen Nation genannt.« Ich fand das unbezahlbar, aber Cheryl interessierte sich kein bißchen für Witze oder postmoderne soziologische Konstrukte. Wir waren die Drohnen, das war's. Sherron plazierte den Samen in die Nähe von Cheryls Uterus. Dann hielt sie kurz inne und sagte entschuldigend zu mir: »Oh, Verzeihung! Ich hätte Sie fragen sollen, ob Sie es tun wollen.« Aha, es gab also eine Etikette dabei, dachte ich. Cheryl warf mir einen »Worauf warten wir noch?«-Blick zu. Mit ihrer fundamentalistischen Erziehung konnte sie an Rituellem nichts finden, während die Katholikin in mir das liebte. Ich quetschte also den letzten Rest Sperma in die Nähe ihres Uterus. Ich bin fest davon überzeugt, daß dieser letzte Spritzer es geschafft hat. Sherron setzte eine spezielle Cervixkappe ein, damit der Samen die besten Chancen hatte, in der Nähe des Muttermundes zu bleiben. Drei Jahre später fand ich die Cervixkappe auf dem Dachboden, sorgfältig weggepackt. Cheryl hebt wirklich alles auf. Während der Heimfahrt blieb Cheryl auf dem Bauch liegen. Kaum waren wir da, legte sie sich hin und stand zwölf Stunden lang nicht auf. Eine entschlossene Frau. Ich brachte ihr etwas zu essen ans Bett. Was meine Kochkünste betrifft, lautet das größte Lob, das ich mir selbst aussprechen kann: eßbar. Ich glaube, an dem Abend hatte sie Glück; sie kriegte ein überbackenes Käsesandwich, das nicht allzu verbrannt war, und eine Tasse Knorr-Champignonsuppe mit nicht allzu vielen Klumpen drin. Dann beschloß ich, ihr die Zeit zu vertreiben, indem ich ihr das Rennen durch die Eileiter vorspielte, mit geschlechtsspezifischen Stereotypen. Zuerst spielte ich die weibliche Keimzelle im Spendersamen, indem ich meine Fingernägel betrachtete und unentschlossen vor mich hin murmelte: »Ach, ich weiß nicht. Soll ich nun oder soll ich nicht? Ich würde so gern ein Ei befruchten, aber ich hab mir grade die Haare gewaschen ... « Dann war ich der kleine Junge, der losraste und allen auf der Erde und im Himmel zuschrie: »Ich komme! Ich bin als erster da! Ich bin's! Stella! Ich bin's! Vergiß die andern Jungs!«
Die nächsten Tage waren mühselig, und Cheryl war äußerst launisch. Wir lagen auf der Lauer, ob die Zeugung geklappt hatte. Mal war sie sicher, daß sie schwanger war, mal wieder nicht. Ich überlegte mir, das sei ein guter Zeitpunkt, an die Ostküste zu fliegen und meine Eltern zu besuchen.
Der Logan Airport in Boston war wie immer; die Taxis wurden immer noch von Wahnsinnigen gesteuert. Die Luft war frisch, das Laub golden und rot. Nirgendwo ist es im Oktober schöner als in Neuengland. Das Taxi donnerte durch die Seitenstraßen von North Cambridge, und ich bemerkte, daß in den Vorgärten Wahlkampfschilder an Stöcken in die Erde gerammt waren. In Massachusetts ist die Politik ein Sport, vor allem in der Gegend, wo mein Vater aufgewachsen ist, dem alten Wahlkreis von Tip O'Neill, aus dem John F. Kennedy in den Senat gewählt wurde.
Beim Tee erwähnte ich, daß Cheryl möglicherweise schwanger war. Vor Jahren, als ich endlich meinem Vater erzählte, daß ich lesbisch war, hatte er bloß gemeint: »Warum hast du denn nie was gesagt?« Offenbar stellte es kein Problem dar, daß unsere Familie zu den praktizierenden Katholiken gehörte. Wahrscheinlich zählte ich zum empfindsameren Typus, der Hölle und Fegefeuer wörtlich nahm. Wenn die katholische Kirche in den Vereinigten Staaten mal eine ehrliche Umfrage veranstaltete, würde sich vermutlich herausstellen, daß ihre meisten Schäfchen nicht nur für Geburtenkontrolle sind, sondern sie auch ständig praktizieren; daß sie nicht mehr der Meinung sind, ihre Schwestern, Brüder, Mütter und Väter sollten exkommuniziert werden, wenn sie sich scheiden lassen; und daß sie in den meisten Fällen eine »Leben und leben lassen«-Haltung zu den Homosexuellen haben - die sich ja schließlich in den Pfarreien und Klöstern tummeln und Broadway-Musicals praktisch aus dem Ärmel schütteln. Doch selbst meine Eltern waren sprachlos über meine kleine Ankündigung von Cheryls möglicher Schwangerschaft. Sie verhielten sich nicht ablehnend, aber sie waren verblüfft. Das konnte ich ihnen nicht verdenken. Ich war es auch.
Dann erklärte ich ihnen, wie alles zustande gekommen war, und sie meinten nur, es sei bestimmt interessant, in San Francisco zu leben. Sie sind immer Städter gewesen, das war ein Vorteil. Während meines Aufenthalts in Boston war ich ziemlich viel unterwegs, um sicherzugehen, daß mehrere Szenen aus meinem ersten Roman Ich bin ein Marilyn, den meine Lektorin Arm Godoff für Atlantic Monthly Press gekauft hatte, auch stimmten, denn ich hatte alles aus dem Gedächtnis beschrieben. Ich ging ins Kellergeschoß von Filene's und zu den Schwanenbooten. Als ich die Boote betrachtete, wie sie auf dem Wasser schaukelten, beschloß ich, wie meine biographische Notiz im Klappentext lauten sollte: »Phyllis Burke lebt mit ihrer Familie in San Francisco.« Ein klareres Coming-out wollte ich vermeiden, um nicht als Schriftstellerin gleich ins Ghetto gedrängt zu werden. Das Autorenfoto für das Buch zeigt mich allerdings in einer schwarzen Lederjacke - nur so ein kleiner optischer Hinweis für die Schwestern, aber darauf sehe ich immer noch weiblich genug aus, um als »normal« durchzugehen. Als ich von meinem Ausflug zu den Schwanenbooten zurückkehrte, tigerte meine Mutter in der Küche auf und ab. Cheryl hatte angerufen, und ich sollte sofort zurückrufen. Dringend. Ich tat es sofort und erfuhr, daß sie einen Schwangerschaftstest gemacht hatte. Diesmal war Grün die magische Farbe. Wenn das kleine Bällchen grün wird, bist du schwanger. Sie hatte den Test zweimal gemacht, aber die Bällchen waren höchstens pastellgrün. Wie grün sie meiner Meinung nach denn werden sollten? »Tannengrün«, antwortete ich. Panik vermutlich.
Mein Vater saß am Küchentisch und tat so, als läse er den Boston Globe, lauschte aber auf jedes Wort, das ich sagte. Meine Mutter, die als Kind aus Irland eingewandert war, scherte sich nicht um den äußeren Anschein. Ungefähr einen Meter entfernt stand sie mit aufgerissenen Augen da, ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht, teils angespannt, teils fasziniert, und ihre abenteuerlustige Ader setzte sich allmählich durch. Ich hängte ein, setzte mich an den Tisch und steckte meinen Teebeutel in die Tasse. Meine Mutter setzte sich auf ihren Stuhl, meinem Vater gegenüber.
»Cheryl glaubt, sie ist schwanger«, sagte ich. Ich lächelte meinen Vater an und verstand zum ersten Mal wirklich den Ausdruck »ein Windhauch hätte ihn umpusten können«. »Und wie wird das Baby dich nennen?« fragte meine Mutter. Sie ist immer so praktisch. Sie beschäftigte sich besonders eingehend mit ihrem Löffel, als sie den Zucker in ihrem milchigen Tee umrührte. »Tante!« sagte ich. »Aha.«
Doch da war noch was, das sie nicht losließ. »Was ist denn?« »Und was sind wir dann?« fragte sie. »Großtante und Großonkel.« »Prima«, sagte meine Mutter. »Oje«, sagte mein Vater. Und so tranken meine Mutter und ich Tee und mein Vater Kaffee. Wir beschlossen, es der restlichen Familie erst zu sagen, wenn es wirklich sicher war, und am nächsten Tag flog ich nach San Francisco zurück. Als ich zu Hause ankam, stand eine kleine gläserne Dessertschüssel mitten auf dem Küchentisch, und darin lagen zwei winzige blaßgrüne Bällchen. Die Prismen, die vor den Fenstern hingen, warfen Regenbogenfarben an die Wände und die Decke. Cheryl war nicht zu Hause, und ich saß allein an dem Tisch. Ich schnippte ein Kügelchen mit dem Finger an. Meine Hände begannen zu schwitzen. Das Bällchen war hart und sauste lärmend durch die Dessertschüssel. Es war ein sehr blasses Grün. Brunnenkresse. Weit entfernt von Tannengrün.
Cheryl kam mit einem anderen Schwangerschaftstest nach Hause. In diesem Set war die magische Farbe wieder Blau. Am nächsten Morgen stürmte sie ins Schlafzimmer, ich war noch nicht wach. Sie hüpfte auf mein Bett, so nah an der Verzückung, wie ich sie noch nie gesehen hatte, und trompetete, sie sei absolut und ohne jeden Zweifel schwanger. Ich weiß noch, wie mein Mund aufklappte, als ich zwischen Entsetzen und Erstaunen dasaß und nach den passenden Worten suchte. Innerhalb weniger Tage bestätigte Sherron Mills die Schwangerschaft. Normalerweise läuft die Befruchtung nicht so problemlos ab. Cheryl hatte einen sehr unregelmäßigen Zyklus, und deshalb war es eigentlich unglaublich, daß sie beim ersten Anlauf schwanger geworden war. Wer mystischer veranlagt war, sagte Dinge wie »Dieses Kind wollte unbedingt auf die Welt kommen«. Die plötzlich eingetretene Realität verwirrte mich etwas, aber nicht Cheryl. Sie baute einen kräftigen Wickeltisch und sammelte Säuglingskleidung, die aussah, als gehörte sie einer Puppe. Sie träumte von einer weißen Krippe, also kaufte ich ihr eine, mit einem dünnen blauen Streifen. Ich konnte mich nach wie vor für die Vorstellung begeistern, daß es ein Junge wurde. Cheryl war ekstatisch, und im Nu hatte sie mich angesteckt. Sie stellte Listen der Dinge auf, die demnächst gebraucht wurden: kleine weiße Baumwollhemden, kleine Bademäntel, Babyfläschchen und Schnuller.
Alles drehte sich nur noch um die Schwangerschaft, es war vereinnahmender als die Endphase der Arbeit an meinem Roman. Es gab Babyparties mit Geschenken, Ausflüge wurden veranstaltet, um Kinderwagen, klingende Mobiles und einen Laufstall zu kaufen.
Wir schlossen uns einer Selbsthilfegruppe von zehn lesbischen Paaren an, die schwanger waren. (Genau wie bei unserem heterosexuellen Gegenstück wird das Paar als schwanger bezeichnet, nicht nur die leibliche Mutter.) Cheryl war begeistert von dieser Gruppe. »Wenn du einmal schwanger bist«, sagte sie, »kannst du mit jeder anderen Frau reden, die auch schwanger ist, und ihr habt so viel gemeinsam, wovon sonst kein Mensch hören will. Gewichtszunahme. Aufstoßen. Hitzeanwallungen. Das ganze Drumherum der Schwangerschaft eben. Es ist wie beim Basteln, als ob du etwas zusammenbaust. Fachsimpelei sozusagen. Wenn schwangere Mütter fachsimpeln.« Unser gesamtes Leben sollte demnächst auf den Kopf gestellt werden, und Cheryl fand es wie Basteln. Bei einem der Treffen kam das Gespräch auf die Spender. Eine Frau hatte die Insemination mit dem Sperma eines Freundes vornehmen lassen, der sich als »aktiver Partner« an der Erziehung des Kindes beteiligen wollte. Der Bruder einer anderen Frau hatte deren Freundin als Samenspender gedient, was ihn praktisch zum Onkel des Kindes machte.
Ich vertiefte mich im Geiste gerade in die Windungen dieser faszinierenden Zusammenhänge, als die Frage auftauchte, welche Samenbank wir jeweils benutzt hatten. Im Verlaufe des Geplauders wurde mir plötzlich klar, daß unter den Kindern, welche die hier versammelten Frauen zur Welt bringen würden, durchaus Halbgeschwister sein konnten. Ich brachte das eher amüsiert zur Sprache, und Schweigen schlug mir entgegen. Sollten zwei der Mütter dieselbe Samenbank benutzt haben, so hielten sie die Nummern der Spender jedenfalls voreinander verborgen.
Wenn Frauen Mittelspersonen oder Samenbanken benutzten, stammte der Spender nicht aus ihrem Bekanntenkreis. Alles wunderbar- solange diese Regel auch eingehalten wurde. Eine aus der Gruppe suchte sich ihren Spender aus, weil sie ihn im Katalog der Samenbank erkannt hatte, sie gehörten zum selben Bekanntenkreis. Als ihr Bauch anfing, dicker zu werden, versuchte sie, ihm aus dem Weg zu gehen; sie wußte, sie würde ihm nichts vormachen können - und er brauchte zur Vergewisserung nur nachzurechnen, wann sein Samen verwendet worden war... Schließlich trafen sie bei einer Party aufeinander, und der Moment des Erkennens und Begreifens war unvermeidbar. Eine andere arbeitete in einer Samenbank und hatte eine Spermaprobe zum eigenen Gebrauch »veruntreut«. Eine weitere Frau aus der Gruppe hatte denselben Spender benutzt, und die Angestellte von der Samenbank wußte das. Als die Kinder zur Welt kamen, verkündete sie, die beiden seien Halbgeschwister. Das wiederum verärgerte die andere Geburtsmutter, der die Identität des Spenders nicht bekannt war. So was gehörte sich einfach nicht.
Ich fragte, wer außer uns denn noch bei Pacific Reproductive Services gewesen sei, doch in unserer Gruppe waren die Samenbank von Oakland und anonyme Spender mit Mittelsleuten am beliebtesten. Mir fiel auf, daß ich mich eher an die anderen nichtbiologischen Mütter hielt. Wir waren eine kuriose kleine Gruppe. Den meisten von uns war unsere Rolle nicht recht klar. Irgendwann einmal landeten alle nichtbiologischen Mütter in der Küche. Fast alle hatten die Hände in den Hosentaschen. Ruhig sprachen wir miteinander über die Gefahren des Zusammenlebens mit einer Schwangeren, während die biologischen Mütter im Wohnzimmer voll damit beschäftigt waren, Rezepte gegen morgendliche Übelkeit auszutauschen. Ein heißes Thema unter uns Nichtbiologischen war der Name des Kindes und ob, wie und wo wir unsere Nachnamen auf die Geburtsurkunde kriegen konnten. In einigen Staaten der USA ist es ein Verbrechen, einen Frauennamen dort einzusetzen, wo nach einem Männernamen gefragt ist, und im übrigen bringt es auch keinerlei gesetzlichen Schutz für die nichtbiologische Mutter mit sich. Fast genauso heiß war das Thema der Säuglingsbetreuung nach der Geburt. Ich verkündete voller Überzeugung, daß das Baby nach drei Monaten an Arbeitstagen zu einer Tagesmutter kommen würde.
Bei keinem unserer Pläne hatten wir je unsere Gefühle bedacht, wenn wir diese Babys zum ersten Mal im Arm halten würden. Im Wohnzimmer bei den Biologischen wurde es plötzlich laut, und wir gingen hin, um zu hören, was das Thema der Auseinandersetzung war. Stoffwindeln vs. Pampers hatten wir schon durch, das war äußerst kontrovers verlaufen. Diesmal ging es um Beschneidung. (Acht der zehn Paare erwarteten einen Jungen.) Wir Nichtbiologischen standen zögernd an der Türschwelle, und während ich den Frauen zuhörte, ging mir auf, daß dies vermutlich das erste Mal in der Menschheitsgeschichte war, daß eine derartige Gruppe über Beschneidung debattierte. So steuerte ich die Bemerkung bei: »Findet ihr das nicht auch urkomisch? Ein Zimmer voller Lesben, die sich die Köpfe darüber heiß reden, ob sie ihre kleinen Söhne beschneiden lassen sollen oder nicht?«
Nicht ein Lachen. Nicht ein Lächeln. Nicht mal von meiner Cheryl, die mich immerhin gewohnt war. Sie war stinksauer auf eine andere Biologische, die Beschneidung unerbittlich als barbarisch und zumindest patriarchalisch verurteilte, weil auf diese Weise der Patriarch den ersten Verrat der Mutter zuschieben konnte, die ihren Sohn den Männern für die Beschneidung und den Schmerz ausliefern mußte. Sie teilte Cheryl mit, daß sie, Cheryl, nicht einmal daran denken dürfe. Cheryl konnte es nicht ausstehen, wenn ihr irgend jemand erzählen wollte, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Ich verfügte über absolut keine Informationen oder Erfahrungen im Zusammenhang mit Vorhäuten und hatte bei dieser besonderen Gruppe auch eher meine Zweifel, wie fundiert ihr Wissen zum Thema war. Also schlug ich vor, ein paar Männer zu befragen, was aber nur dafür sorgte, daß sich die ganze Runde furchtbar aufregte. Cheryl und ich berieten uns trotzdem mit unseren Vätern, Brüdern, Cousins und Freunden. Jeder hatte seine Gründe für oder gegen die Beschneidung.
Der einfachste, nichtreligiöse Grund war, daß der Sohn seinem Vater gleichen sollte, was auf uns weniger paßte, und am überzeugendsten klang, daß ihn die anderen Jungen im Umkleideraum auslachen würden, wenn er nicht beschnitten war. Das fand ich erstaunlich. Was für eine Gesellschaft hatten wir geschaffen, in der ein kleines Stückchen Haut Anlaß dazu gab, daß jemand von Gleichaltrigen gehänselt wurde? Ich bekam sogar einen Anruf von meinem Cousin Richard, bei dem er mich ermutigte, unseren Sohn »aus athletischen Gründen« beschneiden zu lassen. Wir beschlossen, unsere Entscheidung zu vertagen. Schließlich war Cheryl da erst im zweiten Monat.
Wenige Tage später hatte Cheryl Blutungen. Wir holten den Arzt, und das Verdikt lautete, daß er vor Ablauf des ersten Vierteljahres nicht helfen könne. Cheryl lag da, rührte sich nicht und versuchte mit all ihrer Willenskraft, den Embryo an Ort und Stelle zu halten, doch die Plazenta drohte sich von der Gebärmutterwand zu lösen. Stundenlang hielt sich Cheryl vollkommen ruhig und konzentrierte sich darauf, das Baby in ihr am Leben zu halten. Sie bewegte sich nur, um die blutigen Binden zu wechseln. Damit begann eine der längsten und ermüdendsten Phasen in unserem Leben. Jeden Tag fürchteten wir, das Baby zu verlieren. Absolute Bettruhe wurde Cheryl verordnet, und absolut ruhig blieb sie liegen, Stunde um Stunde, Tag um Tag, Monat um Monat, gezwungen, mein zäh gebratenes Fleisch und zu weich gekochtes Gemüse zu essen. Nach der achten Woche war es Zeit für die erste Ultraschalluntersuchung. Wir wußten nicht, ob wir überhaupt einen Fötus sehen würden, Cheryl konnte ihn ja bei der Blutung verloren haben. Doch er war da. Ich fand, er sah aus wie ein kleines Meereswesen.
Cheryl kämpfte mit den Tränen, als sie den Herzschlag auf dem Ultraschallmonitor erkennen konnte, ein sternenförmiges Zerplatzen von Linien. »Das ist meine Belohnung«, flüsterte sie, die Augen fest an diesem Pulsieren auf dem Bildschirm. Da war es, immer noch lebendig, immer noch im Wachsen, aber noch nicht lebensfähig. Dieses Wort ließ uns nicht mehr los: »lebensfähig«. Wir sollten uns Gedanken darüber machen, was wir tun wollten, falls Cheryl im fünften Monat vorzeitige Wehen bekäme und das Baby tot geboren würde. Wollten wir eine Beerdigung veranstalten? Das tote Kind im Arm halten, ihm einen Namen geben? Und falls das Baby überlebte, konnte keiner voraussehen, in welchem körperlichen Zustand es zur Welt kam. Die frühe Blutung konnte Deformationen hervorgerufen haben, aber eine Fruchtwasseruntersuchung kam nicht in Frage, da sie das Risiko einer Fehlgeburt mit sich brachte. Wir zählten jeden Tag, jede Woche. Siebenundzwanzig Wochen, dann würde das Baby überleben, hieß es. Achtundzwanzig wären noch besser. Doch in der zwanzigsten Woche hatte Cheryl erneut Blutungen, und eine zweite Sonographie mußte vorgenommen werden. Der Arzt schwieg, während er nach dem Fötus suchte, und dann sagte er: »Da ist ja der gute alte Stiel auf dem Apfel!« Das war einer der wunderbarsten Sätze, den Cheryl und ich je gehört hatten, und ich fand es eine besonders rührende Bezeichnung für den Penis.
Inzwischen war die Frage, ob wir einen Jungen oder ein Mädchen bekamen, völlig unwichtig geworden. Wir hofften nur, daß das Kind gesund zur Welt kam. Daß es ein Junge war, machte alles zusätzlich schwerer, weil sich die Lungen bei einem Jungen langsamer entwickeln als bei einem Mädchen; ein Junge ist zwar auch mit achtundzwanzig Wochen lebensfähig, aber zweiunddreißig sind sicherer. Deshalb durfte Cheryl die nächsten drei Wochen in der Trendelenburg-Haltung verbringen, das heißt, ihre Hüften mußten höher liegen als ihre Schultern, damit durch die Schwerkraft frühzeitige Wehen verhindert wurden. Buchstäblich auf den Kopf gestellt zu sein und sich von mir bekochen lassen zu müssen, verbesserte Cheryls Laune nicht gerade. Wenn ich zur Tür hereinkam, begrüßte sie mich etwa so: »Kannst du nicht mal was anderes als Fleisch in die Pfanne werfen?«
Während Cheryls Schwangerschaft ging ich jeden Morgen zur Arbeit und setzte mich hinter meinen Schreibtisch in der Anwaltskanzlei, wo ich seit zwei Jahren Bürovorsteherin war. Das war vor meiner Lehrtätigkeit an der Universität. Ich hatte mich den beiden Besitzern der Kanzlei gegenüber nicht geoutet, weil einer von ihnen der sprichwörtliche Sportskamerad war. An einem meiner ersten Arbeitstage dort hatte Mr. O. in seinem Büro herumtrompetet: »Wir haben uns die Weiber vom Hals gehalten, und ich werde den Teufel tun, einen warmen Bruder reinzulassen.« Er war gerade dabei, mit seinen Kumpels die Wahl eines ansonsten akzeptablen Kandidaten in den Olympic Club zu verhindern; das war eine landesweit bekannte, exklusive, rein männliche Bastion der Privilegierten in San Francisco, deren Gründungsgedanke die Verbesserung der Lage des weißen Mannes war. Die Hauptattraktion des Olympic Club war ein Golfplatz von Weltklasse. Bedauerlicherweise - für den Olympic Club - befanden sich einige der Löcher auf öffentlichem Land, und die Rechtsrätin der Stadt Louise Renne sollte bald ein Verfahren wegen Ungleichbehandlung gegen den Club einleiten. Ich wußte, daß ich Mr. O. höchstwahrscheinlich ebenso sehr wegen meiner blauen Augen, blonden Haare und irischen Mutter genehm war wie wegen meiner Fähigkeiten. Schließlich sehe ich nicht aus »wie eine Lesbe«, jedenfalls nicht für die Leute, denen subtilere Anzeichen wie ein Amulett-Armband mit lauter winzigen Doppeläxten entgehen.
Als ich den Job als Bürovorsteherin annahm, schlängelte sich der scheidende Vorsteher an der Kaffeemaschine neben mich und flüsterte: »Stellen Sie niemals Schwule oder Lesben ein, Mr. O. haßt die.« »Alles klar«, sagte ich.
Ungefähr ein Jahr später hatte ich Mr. O. mit lauter Lesben umgeben, die außergewöhnlich gut bezahlt wurden, ohne daß ihm etwas auffiel. Einmal brachte ich auch einen als schwul identifizierbaren Sekretär ins Büro, für kurze Zeit. Mr. O. kam zu mir und sagte: »Wenn Sie einen Schwulen einstellen wollen, bitte sehr. Aber sagen Sie ihm, daß ich ihn einen warmen Bruder nennen werde, wenn er bleibt, oder so was Ähnliches.« Mr. O., von ziemlich plumper Statur, pflegte immer durch sein Büro zu stampfen, immer an dem Schreibtisch dieses Mannes vorbei. Einmal, als Mr. O. gerade den Raum verlassen hatte, schaute mich der schwule Mann, der übrigens einen wunderbaren Sinn für Humor hatte, an und schwärmte: »Ich stehe total auf Dickerchen!« Mir riß endgültig der Geduldsfaden, als Mr. O. anfing, Witze über »die aidskranken Schwuchteln« zu reißen. Mit ziemlich kühler Stimme teilte ich ihm mit, daß ein guter Freund von mir gerade an Aids gestorben sei, und er möge sich seinen Humor bitte für den Olympic Club aufheben. Als ich Mr. O. mitteilte, daß Cheryl schwanger war und daß wir das Baby gemeinsam aufziehen würden, gab es nichts in seinem Kopf, wodurch diese Tatsache einzuordnen war. Lesbisch konnte ich ja nicht sein, schließlich war ich Irin und hatte keinen Bart. Ich nehme an, er malte sich irgendein Szenario mit Nonnen in einem Kloster aus. Erst Jahre später fiel bei ihm der Groschen, als die Freundin, die meinen Posten übernommen hatte, seinen Sermon über »die Homosexuellen« zu hören bekam. Sie selbst war heterosexuell, und sie fragte Mr. O.: »Und was war mit Phyllis? Sie mochten Phyllis doch, oder?« Wann immer wir uns danach begegneten, schien er mir nie den Rücken zuzukehren, oder wenn, dann behielt er mich zumindest schräg über die Schulter im Auge, als wäre er nicht sicher, was ich alles tun könnte, wenn er nicht aufpaßte.
Jeden Tag während Cheryls Schwangerschaft verließ ich das Büro und die Predigten des Mr. O. und kam nach Hause, um mich davon zu überzeugen, daß das Baby weiter wuchs, daß es keine neue Blutung gegeben hatte. Cheryl hatte Glück: Ich lernte, wie man Gemüse dünstet, statt es zu kochen. Das Essen schmeckte zwar nach nichts, aber Cheryl aß jeden Tag ihr grünes und gelbes Gemüse, trank Milch wegen Kalzium, aß Fleisch und Fisch wegen Eiweiß. Wir wurden beide fett. Bei Paaren mit einer Schwangeren nehmen oft beide zu. In der Tat, »wir« waren schwanger. Unsere Ärzte waren am San Francisco Medical Center der University of California. Dr. Patty Robertson, selbst eine lesbische Mutter, war die Spezialistin für Schwangerschaften mit hohem Risiko und behandelte unseren Fall. Als wir die Achtundzwanzig-Wochen-Marke überschritten hatten, entschied Dr. Robertson, Cheryl dürfe nun an einem Lamaze-Kurs zur Vorbereitung der Schwangerschaft teilnehmen. Ich ging mit, fühlte mich dort aber ziemlich unwohl und kontrollierte mich ständig, umgeben von all diesen »normalen« Paaren. Bald wurde mir klar, daß sie davon ausgingen, Cheryl sei eine alleinerziehende Mutter und ich ihre beste Freundin. Sie hatten keine Ahnung, daß sie eine zukünftige postmoderne lesbische Familie vor sich hatten. Vielleicht hätte ich ein bißchen den Macho raushängen lassen sollen. Dabei hätte ich es belassen, Cheryl jedoch stellte die Lage immer klar, wenn die Gruppenteilnehmer sich vorstellten; sie verkündete, ich sei ihre Partnerin. Einige Paare fanden das überraschend, aber niemand verließ den Kurs. Ich dagegen war plötzlich argwöhnisch, auf der Lauer nach abwertenden Blicken oder Bemerkungen. Dies war das erste Mal, daß wir uns als schwangeres Paar in eine nichtlesbische Umgebung gewagt hatten. Ich verspürte starke Beschützerinstinkte für Cheryl, sie sollte keine üblen Schwingungen abkriegen. Cheryl war es scheißegal. Sie war voller Selbstbewußtsein. Ich legte mir ein gewisses Maß an »männlicher« Energie zu: jetzt würde ich mich um alles kümmern.
Aber wenn ich versuche, den Macho zu spielen, sieht das Ergebnis mehr nach Eva Peron aus als nach Daniel Boone. Cheryl fand es klasse. Das merkte ich daran, wie sie lächelte und sich herausputzte. Mittlerweile gab es die perfekte Inkarnation der Hosenrolle nicht mehr. Nun trug sie massenweise geblümte, pastellfarbene Sachen, obwohl sie sich bitterlich über die erhältliche Schwangerschaftskleidung beklagte und rundheraus ablehnte, irgend etwas zu tragen, das die Aufschrift BABY trug, garniert mit einem Pfeil, der auf ihren Bauch wies. Ich war fürsorglich und konnte zur Löwin werden, sobald ich das Gefühl hatte, Cheryl wurde in irgendeiner Weise schlecht behandelt. Im Grunde genommen war ich eine absolute Nervensäge, ich wußte es, und es war mir wurscht. Jedes Paar verkündete das Geschlecht seines Kindes. Viele der Männer plusterten sich buchstäblich auf, wenn sie einen Jungen erwarteten. War ein Mädchen unterwegs, wirkten die meisten Heterofrauen entweder entschuldigend oder trotzig. Die Mädchen-oder-Junge-Veranstaltung hatte die lesbische Gemeinde nicht erfunden. Während der Lamaze-Stunden paßte ich genau auf. Vor Cheryls Schwangerschaft hatte ich nicht mal eine Ahnung, was die Eileiter genau waren, geschweige denn, wie eine Geburt ablief Offenbar hatte es nie eine Rolle in meinem Leben gespielt. Seit zwanzig Jahren wußte ich, daß ich lesbisch war, und hatte vor langer Zeit akzeptiert, daß ich kinderlos bleiben würde. Die Kursleiterin malte Schaubilder und stürzte sich in eine ausführliche Metapher, garniert mit kleinen Zeichnungen, über das Erklimmen von Hügeln und das Erreichen von Hochplateaus. Man hätte meinen können, die Geburt wäre kaum anstrengender als ein Ausflug in die Berge. Meine Lieblingsübung war, wenn Mutter und Partnerin gemeinsam atmen sollten. Mittendrin konnte ich nur noch an Hochwürden Cecil Williams, einen schrillen afroamerikanischen Priester in San Francisco, und an seine letzte Weihnachtspredigt denken. Über Maria, die Jesus zur Welt bringt, verkündete er: »Ein Kind zu gebären tut weh! Laßt euch nicht erzählen, es ginge ohne Schmerzen ab!« Das Wort »weh« hallte und rauschte unter den Dachbalken seiner Kirche. Was wußte Cecil Williams, das dieser Lamaze-Kursleiterin unbekannt war?
Viele lesbische Frauen brachten ihre Kinder zu Hause zur Welt, mit Hebammen, aber das waren keine Risikoschwangerschaften. Bei Cheryl kam das nicht in Frage. Ich war sehr erleichtert, daß wir so um die politisch korrekte Methode herumkamen. Ich wollte das Krankenhaus, den Zugang zu den modernsten Geräten, blinkende rote und grüne Lämpchen und wenn nötig Schmerzmittel. Mitte Mai war die große Entscheidung fällig. Dr. Robertson lieh uns eine Videokassette von einer Beschneidung im Krankenhaus. Cheryl lag auf der aufgeklappten Couch im Wohnzimmer, und ich saß ihr zu Füßen, vor uns der Fernseher. Ich legte das Band in den Recorder. Eine sanfte männliche Stimme ertönte, sehr beruhigend, sehr informativ. Der Mann erläuterte die Technik der Beschneidung. Er betonte, der kleine Junge würde während der gesamten Prozedur keinerlei Schmerzen haben, da Babys Schmerzen nicht wie Erwachsene verspürten. Das kam mir zutiefst unlogisch vor. Eine lächelnde Schwester brachte den Säugling herein und schnallte ihn auf einem weißen Plastiksitz fest, der aussah wie ein Eimer. Dann nahm der Arzt ein scherenartiges Instrument und fing an zu schneiden. Cheryl weinte, die Tränen liefen ihr übers Gesicht, und ich konnte nur vollkommen verblüfft nach Luft schnappen, als ich das kreischende Kind und den stetigen Blutstrom sah, und die darübergelegte, ruhige Medizinerstimme erklärte, daß das Baby nichts fühle, als Haut und Blut sich von seinem Penis lösten. Ich stimmte in das Schreien des Babys ein und stellte das Gerät ab: ich wollte nicht, daß Cheryl vorzeitige Wehen bekam. Und das war's dann mit Jesses Beschneidung. Wir bemühten uns so sehr, ihn heil in diese Welt zu setzen, daß uns der Gedanke, etwas von ihm abzuschneiden, kaum daß er da war, einfach ungeheuerlich vorkam. Mein Standpunkt war: Was einmal ab ist, kannst du nicht wieder dranmachen. Außerdem hatte ich ein paar Wochen zuvor etwas Bemerkenswertes in der Lokalzeitung gelesen. Da wurde eine »Selbsthilfegruppe zur Vorhaut-Erneuerung« annonciert, inklusive Trauerarbeit. Das reichte mir.
Am 20. Juni gegen halb neun, vier Tage nach dem erwarteten Datum der Niederkunft, platzte Cheryls Fruchtblase. Ich raste durchs Haus, suchte Sachen zusammen und versuchte mich zusammenzureißen, aber ich fühlte mich wie im Zeichentrickfilm. Ich schwebte über mir und sah mich von oben. Wir fuhren über eine zuvor von mir ausgeguckte Route ins Krankenhaus. Cheryl war erleichtert und glücklich. Daran hätte ich merken müssen, daß ihre Wehen noch nicht weit genug waren, und prompt schickten sie uns wieder nach Hause. Wir spielten Mau-Mau, und gegen Mitternacht schlief ich auf der Couch ein. In den frühen Morgenstunden wachte ich auf Im Arbeitszimmer saß Cheryl an ihrem Sekretär und schaukelte beim Schreiben vor Schmerzen hin und her. Ich trat leise ein und las über ihre Schulter hinweg. Sie machte eine Notiz, wo die Versicherungspolicen versteckt waren. Sie hatte über die Möglichkeit nachgedacht, daß sie bei der Geburt starb. Darauf war ich gar nicht gekommen. Ich hatte mir nur Sorgen um das Baby gemacht, ob es alle Finger und Zehen haben würde und außerhalb des Mutterschoßes leben konnte. Falls Cheryl starb, gab es keine Garantie dafür, daß ein Gericht ihren Letzten Willen und ihr Testament anerkennen würde, wo festgelegt war, daß ich die Erziehungsberechtigte des Babys sein sollte. Kurz vor Sonnenaufgang setzten wir uns wieder ins Auto.
Diesmal schrie sie mich bei jeder Bewegung an, bei jedem Huckel auf der Straße. Sie schlug mir auf den Arm und beschuldigte mich, absichtlich durch Schlaglöcher zu fahren. Das sah wesentlich mehr nach Hochwürden Cecil Williams' Version der Geburt aus als nach dem Lamaze-Szenario. Im Krankenhaus verlangte eine Schwester, daß Cheryl zumindest einen Versuch unternahm, im Korridor auf- und abzugehen. Als sie das tat, spritzten Blut und Wasser über den Boden. Da steckte die Schwester Cheryl rasch ins Bett. Die Wehen dauerten den ganzen Tag und die ganze Nacht, zweiunddreißig Stunden lang. Als Cheryl so weit gedehnt war wie möglich, begann sie zu pressen. Sie preßte so heftig, daß ihr Nacken sich blähte und wieder flacher wurde wie der einer zustoßenden Kobra. Mir fiel eine merkwürdige Theorie ein, die von ein paar lesbischen Psychologinnen stammt. Anscheinend hat eine statistisch gesehen hohe Zahl lesbischer Mütter Probleme bei der Geburt; die Psychologinnen glauben, daß Lesben ihre Babys nicht an die Welt verlieren wollen. Die Wehen hörten nicht auf. Es war demütigend und verwirrend, mit anzusehen, welche Schmerzen Cheryl ertragen mußte, ohne daß ich es verhindern konnte. Sie schaute mich an und fragte: »Kannst du nicht etwas tun gegen diese Schmerzen?« Und ich konnte es nicht. Dr. Jeanette Brown, eine lesbische Mutter und Mitglied der Vereinigung »Ärzte von San Francisco und der Bay Area für Menschenrechte«, war die diensthabende Ärztin. Sie plazierte einen kleinen Monitor an Jesses Schädel in Cheryls Gebärmutter, um seinen Herzschlag und die Sauerstoffmenge auf Unregelmäßigkeiten hin zu überprüfen. Cheryl preßte noch zwei Stunden lang. Schließlich kam Dr. Brown zu mir und sagte: »Wir können sie nicht so weitermachen lassen. Wir müssen eine Zangengeburt vornehmen. Darin bin ich sehr gut. «
Wir machten uns bereit, und es fiel mir sehr schwer, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ich mußte einen Chirurgenkittel anziehen, der sich anfühlte wie ein schulterfreies Kleid. Ich stand vor der Tür zum OP, damit beschäftigt, den Kittel zu verschnüren, und versuchte einen Handel mit Gott: Wenn du machst, daß dieses Baby und Cheryl alles gut überstehen, dann gebe ich dir... Der übliche spirituelle Schacher. Doch dann brach ich ab und schaute auf die Uhr. Es war mitten in der Nacht, ungefähr Viertel nach drei. Ich konnte vielleicht zappeln und strampeln, aber ich wußte, letztlich war ich ohnmächtig und mußte hinnehmen, was immer kam, und so sagte ich das einzige kleine Gebet, das mir einfiel: Dein Wille geschehe, nicht meiner.
Der OP war steril und hell erleuchtet, drinnen tummelten sich Kinderärzte, Geburtshelfer, Krankenschwestern und ein Anästhesist. Ein kleines Wägelchen, um das Baby daraufzulegen, stand in einer Ecke. Ich hörte, wie jemand es »die Seifenkiste« nannte, und einen Augenblick lang zitterten mir die Knie. Cheryl lag unter den pilzförmigen Lampen auf dem Tisch. Jegliche Bewegung im Saal erstarrte, wie im Theater, kurz bevor der Vorhang hochgeht. Dann begann Jeanette Brown die Zangengeburt. Sie war eine kleine, aber äußerst kräftige Frau. Gemeinsam mit einer anderen Frau, einer Jungen Assistenzärztin, wurden die Zangen angesetzt. Die beiden arbeiteten mit ihrer ganzen Körperkraft. Ich hatte noch nie Frauen gesehen, die so viel Kraft anwendeten. Sie dehnten den Geburtskanal mit vorsichtiger Präzision, und die Muskeln an ihren Armen schwollen an, als sie sich voneinander weglehnten, je einen Griff der Zange fest umklammernd. Der Kopf des Babys schob sich vor, und mit einer flinken Bewegung hielt Jeanette ihn in ihren Händen. Jesse war voller Blut und Schleim, und seine Augen standen weit offen.
»O Gott. Er ist wunderschön«, sagte ich.
Der Anästhesist sah mich an und sagte gelassen: »Ihr Sohn wurde um drei Uhr einundfünfzig geboren.« Das ist der seltsamste Satz, den je ein Mensch zu mir gesagt hat. »Ihr Sohn.« Jesse schaute unglaublich durchdringend, hellwach in die Welt, und dann schnitten sie die Nabelschnur durch. Er wurde schnell auf das Wägelchen der Kinderabteilung gelegt, und ich folgte ihm. Ich sah, wie Jesse plötzlich schlaff zu werden schien. Vor mir verbargen der Kinderarzt und die Schwestern nicht, daß hier ein plötzlicher Notfall aufgetreten war, aber vor Cheryl. Es war offensichtlich, daß es dem Baby nicht gut ging. Schnell bewegten sich Hände überall um ihn herum und saugten Flüssigkeit aus seinen Lungen. Endlich atmete er allein, aber er war ein sogenanntes »schlaffes Baby«. Ich sah zu und atmete und atmete. Ich versuchte, ihm Atem einzuhauchen. Auf der Apgar-Skala - das ist eine Testskala für die Reaktionsstärke von Neugeborenen - erreichte er nur 4 von 10 Punkten. Er fing an zu atmen, seine kleine Brust kämpfte wie wild, während er versuchte, Luft in seine Lungen hineinzupumpen. Die Ärzte befanden, daß er vorerst wieder in Ordnung sei, schlugen ihn in eine Decke und brachten ihn zu Cheryl. Sie war besorgt, daß das Licht der Lampen zu hell für ihn sein könnte, und schaffte es, eine Hand zu heben, um ihn abzuschirmen. Dann nahmen die Ärzte ihn wieder weg, um ihn in die Säuglingsabteilung zu bringen. Ich sagte ihnen, wer ich war, und sie reagierten verblüfft. immer hatte ich unsichtbar sein wollen, weil ich dadurch so viel darüber erfuhr, was die Leute wirklich dachten, aber jetzt brachte das überhaupt nichts mehr. Ich streckte meine Hände nach dem Baby aus, und sie gaben mir das kleine Bündel, dessen Brust immer noch pumpte.
Auf dem Korridor vor dem Operationssaal fragte mich der Arzt, ob ich die Erlaubnis hätte, medizinischer Behandlung zuzustimmen, und ich bestätigte das. Ich zeigte ihm das offizielle Papier, das ich stets bei mir hatte und auf dem Cheryls Zustimmung zu dieser Erlaubnis stand. Der Arzt erklärte mir, sie müßten eine Rückenmarkspunktion bei ihm vornehmen. Cheryls Fruchtblase war zu einem so frühen Zeitpunkt der Wehen geplatzt, und das Baby hatte einen so niedrigen Apgar-Wert, daß sie eine Infektion befürchteten. Ich sollte etwas unterschreiben. Mein Schlafmangel machte es noch unwirklicher, als der Arzt mir erklärte, daß diese Untersuchung unbedingt durchgeführt werden müsse, aber daß ich wissen sollte, daß das Baby gelähmt sein könne, falls irgend etwas schiefging. Und ich mußte unterschreiben, daß mir das bewußt sei. Ich schaute durch ein kleines Fenster in der Tür in den OP und begriff, daß ich Cheryl unmöglich fragen konnte. Eine Schwester trommelte die Nachgeburt förmlich aus ihr heraus.
Ich unterschrieb und übergab das Baby den Ärzten. Ich dachte, ich würde ohnmächtig, aber die Angst läßt das Adrenalin weiterfließen. Die Schwestern riefen mich ins Schwesternzimmer. Cheryls Mutter rief aus Ohio an und wollte wissen, wie es dem Baby ging. Ich empfahl ihr zu beten und hängte ein. Bei der Punktion durfte ich nicht anwesend sein. Eine halbe Stunde lang lief ich den Korridor auf und ab und versuchte mir vorzustellen, wie ich Cheryl jemals sagen konnte, daß das Baby behindert war. Als ich an der Säuglingsstation vorbeikam, sah ich, daß er wieder im Brutkasten lag. Er atmete immer noch so angestrengt. Die Schwestern und der Arzt hatten vergessen, mir mitzuteilen, daß die Untersuchung problemlos verlaufen und negativ ausgefallen war. Das Baby schrie; ich ging hinein. Es brauchte einen Moment, bis ich die diensthabenden Schwestern davon überzeugt hatte, daß ich dazu berechtigt war. Ich schrubbte mir die Hände, zog einen Kittel an und ließ meine Hand durch die Tür des Brutkastens hineingleiten, wo ich sie ganz leicht auf seine Brust legte. Er hörte auf zu weinen, und das pumpende, mühevolle Atmen wurde langsam regelmäßiger.
Und dann stand das Telefon nicht mehr still. Jesses Ankunft wurde verkündet, über die lesbischen Buschtrommeln, wie ich das nenne. Dutzende Frauen, lesbisch oder nicht, brachten Geschenke für ihn. Drei Tage nach der Geburt sollten Cheryl und Jesse nach Hause kommen, und ich stellte überall im Haus Vasen mit weißen Nelken auf. Es war, als käme der Märchenprinz zu Besuch. Seine Wiege stand im Wohnzimmer bereit, in der Nähe unseres Schlafzimmers, bis er alt genug war, in seinem Kinderbettchen im Kinderzimmer zu schlafen. Ich nahm die Kleider aus der Krippe. Cheryl hatte alles vor einem Monat bereitgelegt, was er in seinem neuen Heim anziehen sollte: ein spitzes weißes Hütchen und einen Strampelanzug mit Druckknöpfen, einem lavendelfarbenen Saum, winzigen Fliederblüten und grünen Blättern, dazu die Stoffwindeln. Der Kommentar einer Freundin lautete nur, Cheryl habe die Sachen hingelegt, als wollte sie direkt hineingebären. Cheryl war überglücklich mit ihrem Kind im Arm, und als sie ihn mir gab, beobachtete sie mein Gesicht, aufmerksam auf jede Regung achtend. Sie sah etwas, das ich nicht sah, nicht sehen konnte. Ich zog Jesse seinen ersten Anzug an und setzte ihn in dem Krankenhausbett auf, um Fotos zu machen.
Eines der Bilder ist ein »Wunderfoto« geworden. Er sieht aus wie ein kleiner Buddha: das spitze Hütchen, die Arme vor der Brust, seine Knie aufgestellt, die Füße verschränkt. Drei hellrosa Kringel umgeben ihn, einer über seinem Kopf, zwei links und rechts. Echte Fotografen sehen das Bild und sagen: »Überbelichtet!« Cheryl sah es und sagte: »Guck mal, die Engel! « Dieses Foto stand später auffällig plaziert in vielen Häusern der Stadt. Es wurde an Schlafzimmertüren und Spiegeln befestigt, in Alben eingeordnet, gerahmt auf Kaminsimse gestellt. Einige meiner schwulen Bekannten, die ihre Freunde und Geliebten an Aids verloren, gingen besonders behutsam mit Jesses Bild um. Als uns die Ärzte sagten, wir könnten Jesse mit nach Hause nehmen, ergriff mich eine überwältigende Furcht. Er war so klein. Wo würden Ärzte und Schwestern sein, wenn er wieder Atembeschwerden hatte? Ich fuhr mit zitternden Knien und höchstens Tempo dreißig. Ich parkte vorm Haus, und als ich die Tür öffnete, drang der Duft der Nelken bis auf den Bürgersteig. Cheryl hatte nie strahlender ausgesehen - und ich nie tonangebender. Ganz eindeutig die Tante, klar. Wir brachten Jesse in unser Haus und saßen nebeneinander auf der Couch, den Säugling gemütlich zwischen uns und die Arme um die Schultern der anderen gelegt. Meine Mutter rief an und fragte, ob wir das Baby taufen lassen wollten. Ich teilte ihr mit, daß ich es nicht nötig fand, dem Teufel abzuschwören, weil meiner Meinung nach Kinder nicht mit Sünde auf die Welt kommen. Sie lachte, das würde auch heutzutage keiner mehr glauben, sie hätte nur gefragt, damit sie wisse, wann sie Geschenke zur Geburt schicken dürfe. Ich sagte ihr, ich würde ihn selbst taufen, auf der Stelle.
In der Dämmerung seines vierten Tages zündete ich eine Kerze an. Cheryl hielt Jesse zwischen uns, sicher in der Beuge ihres rechten Arms, und ich stand daneben, eine langstielige Nelke in der Hand. Mit ganz ruhiger Stimme sagte ich zu ihm: »Voller Respekt und Liebe heiße ich dich in dieser Welt willkommen. Wir haben dich gern in unserem Haus und fühlen uns geehrt, daß du da bist. Dein Name ist Jesse, das bedeutet Geschenk Gottes. Vielen Dank, daß du gekommen bist.« Cheryl küßte ihn auf den Kopf, und ich nahm die Blume und berührte mit den Blütenblättern den Hinterkopf seines blonden Schopfes, dann seine Stirn und seine Wangen. Er war so winzig, sein Rückgrat war immer noch zusammengerollt, ein Wesen der Sinne, vor dem Stadium der Gedanken, im Einklang mit all dem, was uns unzugänglich wird, wenn wir ein Teil dieser Welt werden. Er griff mit der erstaunlichen Kraft des Neugeborenen nach der Blume, so wie er sich an Cheryls Brust festklammerte, wenn sie ihn stillte, und dann sah er mich direkt an. Das war gar nicht so leicht. Er konnte seinen Kopf nicht drehen. Seine Augen mußten sich nach oben bewegen, er mußte es richtig wollen. Er sah mir direkt in die Augen, und ich empfand seine Gegenwart als etwas vollkommen von Cheryl und von mir Unabhängiges, mit seinem eigenen Schicksal. Ich glaube, daß er mich in diesem Moment erkannte, aber ich wußte noch nicht, wer er war. Er sank rasch zurück in das Nimmerland der Neugeborenen, aber er war gerade lang genug daraus hervorgekommen, um mich für sich zu gewinnen.