(*Erstveröffentlichung in: Studia Philosophica Vol. 40/1981
»Not lehrte zuerst denken,
es geht kein Tanz vorm Essen, und das
Denken vergißt das nicht. Damit
es in dasjenige, was nottut, zurückzukehren
verstehe und sich nicht versteige.«[1]
Die Erkundung des alltäglichen Bewußtseins ist unter verschiedenen Titeln ständiges Thema oder Nebenthema der Philosophie gewesen. "Alltägliches Bewußtsein" kann den Status eines menschlichen Bewußtseins bedeuten, das durch Alltägliches konstituiert ist, das sich also unmittelbar wahrnehmend und erkennend auf das alltägliche Geschehen bezieht. Auffassendes Bewußtsein und aufgefaßtes Alltagsgeschehen bilden eine Korrelation, die erkenntnistheoretisch zu durchleuchten, als eine eigene Aufgabe der Philosophie gelten kann. Wenn etwa Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik immer wieder fragt, wie die Menschen bestimmte Dinge im Alltag sehen, was für Auffassungen sie haben, etwa über das Gute, so ist dies nichts anderes als der Versuch, dem alltäglichen Bewußtsein im Sinne des Bewußtseins von dem, was unmittelbar ist, nachzuspüren. Auch etwa Hegels Rede vom gesunden Menschenverstand rekurriert auf ein alltägliches Bewußtsein. Heideggers "man" greift dieses "Bewußtsein" explizit auf, beschreibt und bewertet es. Daneben gibt es die dialektische oder kommunikative und interaktionistische Betrachtung des alltäglichen Bewußtseins, wie wir sie etwa bei Adorno, Habermas und anderen finden. Diese mehr geselischaftstheoretischen Versuche einer Rekonstruktion des alltäglichen Bewußtseinsgehen ursprünglich auf Hegel und auf materialistische Ansätze zurück. Nicht allein die Struktur eines sich selbst entfaltenden Bewußtseins (Hegel) ist Zentrum der Betrachtung und Analyse, sondern die Einbettung dieses Bewußtseins in die sozialen und ökonomischen Zusammenhänge. Das Bedingtsein des Bewußtseins wird in seiner geschichtlichen Entwicklung - die sich im individuellen Lebensprozeß und gattungsgeschichtlich manifestiert - aufgearbeitet.
Das Bewußtsein von dem, was alltäglich ist, wird sich für das Individuum im Rahmen seiner Rezeptions-, Interpretations- und Verarbeitungskapazität des Geschehens darstellen müssen: Was vermag dieses Bewußtsein vom alltäglichen Geschehen zu erkennen, zu analysieren und zu rekonstruieren? Das hängt davon ab, wie weit es sich von der es maßgebend betreffenden Realität zu distanzieren und abzusetzen vermag, und davon, über welche Sprache es dabei verfügt.
Dieses Absetzungsvermögen konstituiert, wenn wir uns an,das Hegelsche Modell halten, Selbstbewußtsein. Alltägliches Bewußtsein und Selbstbewußtsein treten einander gegenüber. Wird das Selbstbewußtsein vom alltäglichen Bewußtsein aufgesogen, dann ist nur die übermächtige Präsenz des Alltäglichen vorhanden, als Not des Selbstbewußtseins. Selbstbewußtsein gewinnt Dasein nur, wenn es sich frei aus dem Bewußtsein des Alltäglichen zu lösen vermag. Das Risiko der Selbsttäuschung ist dabei ständig mitgegeben, insofern das Bewußtsein zwar meinen könnte, frei zu sein, in Wirklichkeit aber nur unreflektiertes Reagieren auf das ist, was auf es einstürzt. Ziel wäre die Konstitution eines selbsttäuschungsfreien Selbstbewußtseins, das sich seiner faktischen Bedingtheit bewußt bleibt, ohne über sie hinwegzuschweben oder in ihr zu versinken.
Die Aufzeichnung einer Phänomenologie des Selbstbewußtsein im Alltag kann nicht bloße Deskription sein, sondern orientiert sich implizite immer an normativen Vorstellung über das Selbst. Was es bedeutet, ein Selbst zu haben, läßt sich nur formulieren in Auseinandersetzung mit Kategorien der philosophischen Anthropologie. Diese beinhalten eine auf Sinn bezogene Deutung des gegenständlichen Wissens der Wissenschaften und der überlieferten Kultur vom Menschen. In ihrer zusammenfassenden Deutung von dem, was menschlich ist, eröffnen die anthropologischen Kategorien zugleich etwas von dem, was sein kann oder auch sein soll. Sie zielen damit auf eine Auslegung des Sinns menschlichen Seins überhaupt. Aber wie sich der Mensch und als was er sich jeweils versteht, ist abhängig auch von seiner gesellschaftlichen und geschichtlichen Verstehensmöglichkeit.
Ließe sich also ein grundsätzlicher Maßstab für Selbstbewußtsein herstellen, so wäre zu prüfen, wie weit die heutige Situation des Menschen aufgrund seiner Alltagserfahrung fähig ist, diesem Maßstab zu genügen. Im besonderen ließe sich dann zum Beispiel die Differenz der Alltagserfahrung der Geschlechter, oderetwa die zwischen Kopf- und Handarbeiter darstellen. Die Wirklichkeit der so Differenzierten ist keine zufällige. Sie hat ihre geschichtliche Notwendigkeit und hängt ab vom Wandel der Konstitutionsbedingungen des Selbstbewußtseins, wozu auch die jeweilige gesellschaftliche Wirklichkeit gehört.
Daß der Mensch von Hause aus alltäglich ist, bedeutet nicht, daß er sich einer bestimmten Alltäglichkeit immer schon angeglichen hat, etwa jener der durchgängig organisierten Konsumwelt, die sich heute ausbreitet und aufdrängt. Gegenüber dieser gewissermaßen schlechten Alltäglichkeit kann er, indem er sein Selbstbewußtsein zurückgewinnt und mobilisiert, die Maßstäblichkeit einer anderen Alltäglichkeit entwerfen und anstreben. Dies kann wohl nur geschehen, wenn die sinnleeren Fixierungen und dominanten Vorstellungen lebensweltlicher Offenheit, wie sie der herrschende Alltag extensiv aufebaut hat, erobert und entsetzt werden. Der heute herrschende Alltag präsentiert sozusagen in höchster Potenz nur die leere Fülle der Struktur aller Alltäglichkeit.
Was charakterisiert strukturell den Alltag auf seiner objektiven und gegenständlichen Seite? Da zeigt sich erstens die All-täglichkeit des Geschehens, das meint: die stete Wiederkehr desselben. Zweitens: Das Gewöhnliche und Unspektakuläre dieser Wiederkehr. Drittens: das Zeitausfüllende und Zeitraubende dieses unspektakulär Wiederkehrenden, und damit das Lebensraum, Lebenszeit und Lebensqualität Konsumierende und Verstellende.
Was charakterisiert das Bewußtsein, das vom Alltäglichen geprägt ist, also das Alltägliche auf der Seite des Subjekts? Es ist erstens geprägt, besetzt und blockiert durch das alltägliche Geschehen. Zweitens: Es ist abgestumpft zum undifferenzierten und dumpfen Präsentsein. Drittens: Es hat die Ausrichtung auf einen Entwurf der möglichen und selbstzuschaffenden Alltäglichkeit verloren und geht auf in reiner Selbsterhaltung. Selbsterhaltung meint dabei: Sich-Durchhalten im Alltäglichen, ohne dennoch restlos zu diffundieren in den herrschenden Alltag, Über- Leben des Alltäglichen - nicht mehr als das. Sich selbst erhalten heißt, den Status quo des biologisch-psychischen Substrats aufrecht erhalten. Darin liegt gewissermaßen die menschliche Analogie zum biologischen Selbsterhaltungstrieb. Sich selbst erhalten akzentuiert das Erhalten, nicht das Selbst. Dieses Selbst, das sich erhält, hat aber auch die Möglichkeit, sich selbst zu bestimmen. Insofern ist Selbsterhaltung bezogen auf Selbstbestimmung und Autonomie.
Selbstbestimmung impliziert Freiheit. Das ist Freisein von Fremdbestimmung, ist aber auch die Kapazität und Kompetenz, sich selber auf der Basis des Selbstverhältnisses, frei zu etwas bestimmen zu können. Im Gedanken der Selbstbestimmung lebt das Anliegen der Aufklärung, nämlich Emanzipation als Bildungsideal weiter. Der Gedanke an Selbstbestimmung darf wohl als ein wesentlicher Inhalt der abendländischen Philosophie überhaupt gelten, insofern sie Sein und Wesen des Menschen herauszudenken und herauszuentwickein versucht hat. Auch Phasen doktrinärer kollektivistischer Theorievisionen haben das emanzipatorische Ziel der Selbstbestimmung nicht beiseitezuräumen vermocht. Die Frage ist überhaupt, ob sich angesichts der abendländischen Probleme ein Modell theoretischer Konzeption des Menschseins denken läßt, das ohne Selbstbestimmung auskommt. Wenn wir heute von Selbstbestimmung reden, schließen wir an die philosophischen Leistungen und Inhalte eines Descartes, der Philosophie des deutschen Idealismus und der Existenzphilosophie an. Es wäre eine eigene Aufgabe, die philosophisch-historische, sozial- und bildungsgeschichtliche Genesis dieser Selbstbestimmungsidee nachzuzeichnen.
Eine andere Problematik ergibt sich bei der Frage nach der Realisierung der Idee der Selbstbestimmung, wenn wir also fragen, wie es mit der Umsetzung des Ideals in die Wirklichkeit steht. Nicht umsonst hat Kant den Primat der praktischen Philosophie vor der theoretischen betont, und auch Aristoteles hält in der Nikomachischen Ehtik eindringlich fest: wir philosophieren nicht, um zu wissen, was gutes Handeln ist, sondern um gut zu handeln. Zumeist haben es aber die Philosophen beim Wissen bewenden lassen und sich mit der theoretischen Philosophie begnügt. So finden wir den Gedanken der Selbstbestimmung großartig ausgedrückt - wir möchten auch diese Begrifflichkeit nicht missen - aber der Maßstab dieser Selbstbestimmung liegt in Form und Grad ihrer Realisierung. Selbstbestimmung ist kein absoluter Begriff, sondern steht in Relation zu jenem Fremdbestimmenden, welches das eingrenzt, was wir selbst bestimmen können. Die soziale und ökonomische Verflochtenheit des Menschen, sein Bedingtsein durch Sprache und existentiale Faktizität, definieren den Spielraum seines Sichselbst- bestimmen -Könnens mit. So läßt etwa der Gedanke der Selbstbestimmung keine Differenz zwischen Rassen und Geschlechtern unter Menschen zu. Die Idee der "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit" ist seit langer Zeit gedacht, aber wir sind weit davon entfernt, ihre Konkretion in der realen Welt erreicht zu haben. Die Gleichheit von Mann und Frau ist als Idee selbstverständlich, aber weder rechtlich noch wirklich realisiert. Auf dem Wege zur Konkretion dieser Selbstbestimmung genügt es nicht, über den Alltag zu philosophieren, sondern es ist nötig, aus dem Alltag (sich)
heraus zu philosophieren.[2] Aus dem Alltag philosophieren, das kann nur heißen, philosophieren aus den alltäglichen Verrichtungen heraus, aus der täglichen Routinearbeit, aus dem ewigen Einerlei sich Tag für Tag erneuernder Handlungen, die unmittelbar notwendig sind. Um allerdings aus diesem Alltag (sich) heraus philosophieren zu können, bedarf es der Gewinnung einer bestimmten Distanz zu den unumgänglichen Handlungen. Die notwendige Distanz verschafft überhaupt erst den Blickpunkt auf das, worin wir alltäglich befangen sind, auf unser alltägliches Tun.
Dieses Verständnis des Mitteninneseins im Alltag und der Möglichkeit, für sich Distanz zu ihm gewinnen zu können, ist die Voraussetzung für ein Selbstverständnis, das auch zu einer eigenen Bestimmung des Alltags verhilft.[3] Um die alltäglichen Bedürfnisse seiner selbst oder einer Familie befriedigen zu können, ist aber unter Umständen eine alltägliche Arbeit und Belastung gefordert, worin sich keine Distanz zum Alltag und keine eigene Bestimmung des Alltags eröffnen kann.Verstanden wird das alltägliche Tun als Routine. Aber dieses Tun geschieht nur scheinbar um seiner selbst willen, sondern immer um eines bestimmten Zieles willen. Dieses "Um-willen"[4] wird sich als Hinter-Grund der alltäglichen Notwendigkeit erweisen lassen und die Struktur von Alltag zeigen: Sich alle Tage über den Tag hinausbringen in das nicht sicher gegebene Morgen.
Im Alltag tut man alltäglich dasselbe, ohne einen Schritt weiterzukommen. Schreibe ich dagegen einen Text oder stricke ich einen Strumpf, so komme ich nur insofern wieder auf die Sache zurück, wiederhole ich sie nur in soweit, als ich sie zum Weiterschreiben und Weiterstricken benötige. Ich führe diese Unternehmungen weiter, komme auch immer ein Stück weiter und komme endlich auch zu einem Ende, ohne selber am Ende zu sein. Der Alltag aber führt zu keinem Ende; führte er dazu, höbe er sich auf. Der Alltag erreicht also kein Ziel, er ist reine Wiederholung. Das implizite "Nahziel" des »nicht sicher gegebenen Morgen« wirft das alltägliche Tun immer wieder zur alltäglichen Wiederholung in den Alltag zurück. Wo eine solche Sinnbestimmung überhaupt unreflektiertes, durch Notwendigkeit diktiertes Lebensziel bleiben muß, geht das Individuum im Alltag unter. Hierwird eine Strukturvon Alltag sichtbar, welche in besonderer Weise eine Antwort auf die Frage nach Sinn (d. i. nach den Zielen) alltäglichen Tuns offenbart.
Für das alltägliche Bewußtsein besteht der Alltag aus Handlungen, die - ohne nach Sinn eigentlich befragt zu werden - täglich vollzogen werden müssen, um zum nächsten Tag zu führen. Hier verkümmert Menschsein zum Selbsterhaltungsinteresse des Individuums und der Gattung. Dieses Alltagshandeln erscheint deshalb ohne Sinn, weil nur das Interesse an Selbsterhaltung es in Gang hält. Das »Erreichen des Morgen« wird zur unmittelbaren Aufgabe, die an das Menschsein offenbar "gestellt" ist. Darin einen weiterreichenden Sinn finden zu wollen, scheint zunächst sinnlos. Darin ein externes Ziel sehen zu wollen, kann nur zu Überlegungen führen, die Camus angestellt hat, und die das Absurde aufgedeckt haben. Dieses scheinbar sinn- und ziellose Alltagsgeschehen, wenn es gemeinhin als solches genommen wird, verbirgt und trübt auch noch sein immanentes Ziel: den Tag verlängern über den Tag hinaus ...
Und gerade dies wäre also das Charakteristikum des Alltags: indem wir das immanente Ziel der Alltagshandlungen verfolgen, verfolgen und verwirklichen wir zugleich das alltägliche Prinzip der Sinn- und Ziellosigkeit des Alltags. Dem Alltag unterworfen sein, heißt alltäglich das Prinzip des Alltags gedankenlos wiederholen. Es ist evident, daß mit dem beschriebenen alltäglichen Tun in der Regel nicht das berufsmäßige Tun des etablierten Philosophen gemeint ist, sondern das Tun des Arbeiters, des Angestellten und der Hausfrau. Bei diesen läßt es wiederum in der Regel die erforderte Notwendigkeit nicht zu, den Alltag in Frage zu stellen. Viel zu sehr sind sie den internalisierten Normen unterworfen, die von ihnen - auch unbewußt und ohne daß sie eine Sprache dafür hätten fraglos die Alltagsroutine abverlangen.
Sisyphos: Mythos des Alltäglichen
Die spezifische Charakterisierung dieses sinnlosen alltäglichen Prinzips zeigt der Mythos von Sisyphos. Sein anschauliches Korrelat in der Wirklichkeit findet dieser Mythos exemplarisch in der Situation der Frau. »Der Held des Alltags ist Sisyphos, der mutig und unverdrossen alltäglich aufrichtet, was jeden Tag wieder vernichtet wird.«[5] Wenn man mit diesem Pathos von Sisyphos spricht, wird man ihn einen Helden nennen, mit einem anderen Pathos ist er das Opfer. Bekannt ist Camus' Interpretation des Sisyphos. Was Camus an Sisyphos interessiert, ist ein einziges Moment: die Rückkehr ins Tal, die Katabasis zu seiner Qual. Hier ist Sisyphos »seinem Schicksal überlegen«.[6] Sisyphos »kennt das ganze Ausmaß seiner unseligen Lage«. Er weiß darum. Aber um der »Unseligkeit« seiner Lage inne zu werden, braucht er den Abstand, braucht er ein Ausruhen, »gleichsam ein Aufatmen«, braucht er darüberhinaus die »zuverlässige Wiederkehr« der »Pause«. Und er hat beides: die Gewißheit der Wiederkehr der Stunde des Aufatmens. Diese Stunde »ist die Stunde des Bewußtseins«. In dieser Stunde wird sich Sisyphos der Wahrheit seiner Lage bewußt. Und diese Wahrheit ist »niederschmetternd«. Aber, so Camus, »die niederschmetternden Wahrheiten verlieren an Gewicht, sobald sie erkannt werden.«[7] Diese Wahrheit ist auch die, daß dieser Sisyphos »aus dieser Welt einen Gott vertreibt«, daß er »aus dem Schicksal eine menschliche Angelegenheit« macht, »die unter Menschen geregelt werden muß«.[8] Faktizität hin oder her,fürden, der »die Götter leugnet und die Steine wälzt«,[9] bedeutet der Stein und der Berg »eine ganze Welt«,[10] zu der er ja sagen kann. Das »wiegt« ihm »die unsagbare Marter« auf, »bei der sein ganzes Sein sich abmüht und nichts zustande bringt«.[11] »Der Kampf gegen Gipfel vermag ein Menschenherz auszufüllen. Wir müssen uns Sisyphos als einen glücklichen Menschen vorstellen.«[12] Müssen wir das? Es gehört viel Phantasie dazu. Nichts gegen die Phantasie, aber gegen die eine Phantasie kann ich eine andere stellen, und der Mythos und Camus ermutigen mich dazu: »Über Sisyphos in der Unterwelt wird uns nichts weiter berichtet. Mythen sind dazu da, von der Phantasie belebt zu werden.«[13]
Beleben wir erneut diesen Mythos von Sisyphos, aber halten wir uns auch an Faktizitäten. »Der Held des Alltags ist Sisyphos.«[14] Nehmen wir an, es sei so. Bei Camus wird sich Sisyphos seiner Lage bewußt. Das bedeutet für ihn eine Erleichterung, und es versetzt ihn in die Lage, sein Schicksal zu »verachten«. »Es gibt kein Schicksal, das durch Verachtung nicht überwunden werden könnte.«[15] So tönt es im ungebrochenen Pathos des Existentialisten. Nehmen wir an, es treffe zu, daß auf den Frauen »das Gewicht der Alltäglichkeit« vor allem lastet.[16] Wenn es so ist, dann sind die Frauen die eigentlichen Helden des Alltags. Sie sind Sisyphos. Sisyphos ist eine Frau. Und sie ist nicht nur der Held des Alltags, sondern das Opfer des Alltäglichen. Sie richtet in der Tat alltäglich auf, was jeden Tag wieder vernichtet wird, aber nicht mutig und unverdrossen, sondern wissenslos und unmittelbar. Man kann auch sagen, sie ist weder Opfer noch Held, weil sie nicht darum weiß und weil niemand da ist, der ihr Opfersein überhaupt anerkennt. Sie erschöpft sich in Wiederholungen, aber ohne daß daran etwas Tragisches oder Deprimierendes für sie selber wäre. Sie kann Tragisches oder Deprimierendes gar nicht als ihr eigenes Sein erkennen, weil sie kein Bewußtsein ihres Seins hat, kein Bewußtsein ihrer selbst, kein Selbstbewußtsein. Die Frau als Sisyphos ist daher Sisyphos ohne Pathos. Ohne Pathos heißt hier: ohne reflektierten Genuß der eigenen Situation und des eigenen Leidens; aber auch ohne Sprache dafür. Die Erfahrung der Vergeblichkeit, die der mythische Sisyphos und auch der in Camus' Interpretation macht, kann von der Frau aus Mangel an Reflexion nicht gemacht werden. Zudem ist, was sie tut, von den anderen betrachtet, für die sie es tut, durchaus nicht vergeblich, sondern nützlich und notwendig. Die "Vergeblichkeit" für die Frau besteht allein darin, daßsie diese Vergeblichkeit nicht einsehen kann, daß sie produziert und reproduziert, was alltäglich vernichtet wird, und was nicht für sie ist, jedenfalls nicht in erster Linie, sondern für andere; was nicht sie bestimmt, sondern, was andere bestimmen. Der Mann rollt den Stein den Berg hinauf und findet dank seiner ihm anhaftenden und prägenden Bildungsgeschichte ausreichend Distanz, diesen Vorgang als einzelnen und diese Praxis im allgemeinen zu bedenken und daraus Motivationen und Begründungen für weiteres, und sei es auch das gleiche Handeln, zu ziehen. Auch wenn der Mann sein Tun als das Absurde erkennen wird, kann er es dennoch tun und u. U. noch - gemäß dem historisch durchgängigen Grundmuster seines Verhaltens - einen Sinn in seinem Leben ansetzen: noch das Grundlose wird als Grund gesetzt. Damit hat der Mann einen Halt in der Existenz. Die Frau dagegen ist das haltlose Geschöpf schlechthin. Ihr Stein, den sie alltäglich rollt, lastet unmittelbar auf ihr. Distanzschaffende und ihren Topos bestimmende Reflexion vermag sienichtzu leisten. Ihr Bewußtsein bleibt ohne Bildungsgeschichte. So prallt für die rein Unmittelbare die Sinnfrage ab: sie ist die sinn-lose Existenz schlechthin. Sinn-losigkeit ist als weibliche Existenzweise zu charakterisieren. Die Frau ist das Absurde und lebt für sich selbst ohne die Präsenz von Sinn. Wie steht es jetzt um Sisyphos? Nun ist seine, respektive ihre Lage, in der Tat niederschmetternd und nichts sonst. Sie hat nicht die Pause und das Aufatmen, nicht die Distanz und das Ausruhen. Sie hat nicht die »Stunde des Bewußtseins«. Sie wird so die niederschmetternde Wahrheit ihrer Lage nicht erfahren. Der Alltag ist für sie total. Sie kann deshalb ihr Schicksal auch nicht verachten und schon gar nicht besiegen. Wir können uns aus den genannten Gründen Sisyphos nicht »als einen glücklichen Menschen« vorstellen, es sei denn, wir meinten das Glück des Sklaven, der um sein Sklavendasein nicht weiß. Camus meint jedenfalls nicht das Glück der Bewußtlosen. Sein Glück meint pathetisch das Glücklichsein quia absurdum, und das ist durchs Bewußtsein vermittelt.
Bei Camus ist Gott aus dieser Welt vertrieben. Dadurch wird Schicksal für ihn »eine menschliche Angelegenheit, die unter Menschen geregelt werden muß«.[17] Das »Universum des Menschen« wird seine Sache. Des Menschen Sache vorgeblich. In Wirklichkeit des Mannes Sache. Für die Frauen bleibt Schicksal eine fremde Macht. Ob nun von den Göttern oder den Männern verhängt, bleibt sich gleich. Die Frau steht auf der Negativseite. Und wo sie zustimmt, daß kein Gott sei, ist sie mit der Tatsache konfrontiert, daß das Universum des Menschen die Frau ausschließt. Das Universum des Menschen ist ein männlicher universe of discourse, in dem Frauen keine Stimme haben. Darüber zumindest sind sich die Männer einig. Die Frau bestimmt nicht selbst, wer sie ist, und was sie tun will und nicht tun will. Der Andere weist ihr ihr Tun und ihre Handlungsräume zu. Auf den Anderen hin ist das ganze Sein der Frau instrumentalisiert. Sie wird dabei und dadurch selber zum Instrument, zum Objekt. Sie ist niemals wirklich Subjekt, niemals wirklich ein Selbst. Von Selbstbestimmung gar kann bei ihr nicht die Rede sein.
Wie kann eine Frau heute allenfalls zu Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung gelangen, die ihr von männlicher Seite abgesprochen oder verweigert werden? Sie könnte sich einer Möglichkeit bedienen, die in der Philosophie kein neuer Gedanke ist. Die klassische Interpretation der Hegelschen Dialektik des Selbstbewußtseins kann ihr mit Modelicharakter den Weg weisen. Das Bewußtsein, das sich zugleich als das Andere seiner selbst erfährt und anerkennt und zugleich im Anderen sich selbst erkennt, kann als Modell dienen, das Selbstverständnis der Frauen für sich selber zu konstituieren. Wenn das Moment der Anerkennung vom anderen realen Selbst verweigert wird, dann muß es über das eigene Selbst gewährleistet werden. Voraussetzung dafür ist, daß ich das Selbst als dialogisches verstehe, d. h. als ein solches, das in sich selber ein kommunikationsfähiges Ich und Du ist, wo Argument gegen Argument steht und darüber hinaus durch dasselbe Vernunftvermögen als Urteilskraft das bessere Argument erkannt und ihm zur Geltung verholfen wird. Dieser Sachverhalt wäre gebunden an Wahrhaftigkeit im Umgang mit sich selbst. Das Ich und Du in mir selbst müßten kompetente, redliche und zuverlässige und zudem durch außen nicht verführbare Dialogpartner sein. Das Selbstbewußtsein der Frau muß über das eigene Selbst sich bilden, wobei dies letztere auch und gleichzeitig zu bilden wäre. Das Ganze wäre der Weg zu einer selbsteigenen Vernunft, die ständig auch selbstkritisch bliebe, da sie als sie selbst die Strukturfair konkurrierender Kommunikationspartner hätte und die Fähigkeit zu einem "inneren" Diskurs wäre. Das Ganze wäre die Kompetenz von Vernunft. Mit dem Anspruch, diese Kompetenz zu haben, könnte sich die Frau, auch ohne Anerkennung durch den Mann, als vernunftfähig verstehen, sie könnte ein Selbstbewußtsein in diesem Sinne entwickeln und müßte daran festhalten, auch wenn ihr dies von Individuen und Institutionen abgesprochen würde. Sie ist ausschließlich an sich selber verwiesen, solange ihr mit schlechten Gründen, wider besseres Wissen und gegen alle Vernunft Vernunft abgesprochen wird. Mit guten Gründen, mit besserem Wissen und mit aller Vernunft sollte sie sich aus der Erfahrung mit sich selbst ein Selbstbewußtsein zur Pflicht machen, das die kontinuierlich fortgesetzte Kompromittierung der Vernunft bei Frauen als bare Unwissenheit oder als Strategie zur Machterhaltung entlarvt.[18]
Der Prozeß dahin ist langwierig und schwer, steht doch das jetzige falsche Bewußtsein von Frauen über sich - das aus der Identifikation mit ihnen von Männern zugesprochenen Qualitäten und Mängeln resultiert dem massiv imwege. Es gilteine Kompetenzzu entwickeln gegen dasfalsche eigene, in Wahrheit aber fremdbestimmte Selbstverständnis und gegen das falsche Verständnis der Frau durch das andere Geschlecht.
Es geht um nichts weniger als um die Kompetenz[19] eines wahren Selbstbewußtseins von der eigenen Vernunft. Ob diese eigene Vernunft dann eine spezifisch weibliche ist, oder aber allgemeine Vernunft, die weder weiblich noch männlich ist, das muß sich erst noch erweisen. Vernunftbegabung allein als männlich anzusehen, ist mit Sicherheit falsch.
Mythenloser Alltag
Die Frau ist das Alltägliche, sie reflektiert es nicht. Gelingt ihr allerdings in einem Selbstfindungsprozeß der Schritt in die Reflexion ihres alltäglichen Tuns, wird sie zur Erkenntnis gelangen, daß ihr Tun in sich das Absurde ist. Es ist das immer Gleiche, ohne eigentliches Ziel: das Getane des Alltags wird immer wieder zerstört, muß immer wieder aufgebaut werden und erschöpft sich darin. Wenn sie dies reflektiert, wird sie von ihrer Situation pathetisch betroffen. Ergreift sie die Möglichkeit, sich über dieses "Leiden" im Bewußtsein hinwegzusetzen, so imitiert sie als Bewußtsein das männliche Bevvußtsein: was sie tut, ist pathetisches Sich-Erheben als reines Bewußtsein über alltägliche Praxis.
Die Frau wird aber erkennen müssen, daß dies nicht ihr Weg sein kann. Auch wenn sie wahrhaftig und redlich reflektiert, wird sie durch Reflexion allein nicht der alltäglichen Praxis entrinnen können, kaum sie zu mildern vermögen. Alltägliche Praxis hat ihre Wirklichkeit darin, ausschließlich die Handelnde zu bestimmen. Theorie und Reflexion verkürzen davon nichts und heben nichts auf.
Die Frau kommt dazu, an ihrem Sein zu leiden, wenn sie aus ihm ausbrechen will. Ihr einfaches Sein ist unmittelbares Innesein in den alltäglichen Verrichtungen. Ihr Ausbruch aus ihrem einfachen Sein besteht darin, dies zu realisieren, das heißt aber noch nicht, daß sie ihm faktisch schon entronnen wäre. Es kann sein, daß die Frau an ihrem Sein auch unreflektiert leidet. Dann leidet sie aber kreatürlich, dumpf und unbewußt. Sie leidet grundlos, weil sie den Grund ihres Leidens nicht erfaßt. Ihr Gang durch das Bewußtsein ihrer eigenen Situation bedeutet für die Frau überhaupt erst einen Schritt in die Erkenntnis über sich selbst und einen Weg ins Selbstbewußtsein. Die Frau stößt auf sich, erfaßt ihre Situation, denkt über sich nach und setzt sich mit sich auseinander. Kurz: Sie kommt zu sich.
Wenn sich der Frau in der Reflexion das Mühevolle der alltäglichen Praxis zeigt, realisiert sie auch, daß sich dieses auch in der äußersten Selbsterkenntnis nicht aufheben läßt. Indem sie dies anerkennt, will sie sich der Realität nicht entfremden, sondern ihr im Gegenteil ein Zugeständnis machen. Und dieses Zugeständnis an die Realität nun nicht heroisieren zu wollen, sondern es als das notwendige Tun mit dem Bewußtsein (und auch der Wehmut) der nicht zu erlösenden Existenz zu relativieren, ohne an dieser Existenz zu verzweifeln, wäre das eingesehene und dennoch einfache Tun des weiblichen Daseins.
Ein weiterer Schritt zum weiblichen Selbstsein wäre zu gewinnen, wenn das alltäglich die Frau definierende Tun nicht als "weiblich von Natur" angesehen würde, sondern wenn es als ein aus nicht nur ehrenwerten Gründen der Frau angelastetes Rollenverhalten durchschaut würde.
Der Frau ist das Alltägliche als Besorgnis für sich und andere aufgebürdet aus dem männlichen - ja eigentlich naiv menschlichen - Interesse einer Befreiung davon. Die Befreiung vom Alltäglichen dient dann allerdings nur der männlichen, nicht der menschlichen Freiheit. Dies mag an organisatorischen und ökonomischen Maßstäben gemessen höchst effizient sein, ist aber anthropologisch und ethisch gesehen falsch und unrecht. Die Frage, zu der die Einsicht in den vitiosen Zirkel des Alltäglichen zwangsläufig führt, ist, ob ein solches Leben die Mühewert ist, gelebtzu werden. In dieser Frage erweist sich das Phänomen Alltäglichkeit allerdings als ein allgemein menschliches Problem. Hier haben wir es akzentuiert am Problem der weiblichen Existenz; das Phänomen der Alltäglichkeit ist an der Situation der Frau entwickelt worden.
An der Frage, ob das dem Alltag ausgelieferte Leben lohne, gelebt zu werden, erweitert sich uns die Frage von einer spezifisch auf die Frau bezogenen zu einer allgemeinen, den Menschen als solchen betreffende Frage. Anders gesagt: Die Problematik der durch den Alltag belasteten Frau erweist sich als nicht mehr nur spezifisch für diese, sondern sie kann exemplarisch genommen werden für den Menschen überhaupt.
Auf die Explikation der Frage am "Menschen überhaupt" können und wollen wir aber an dieser Stelle nicht eingehen. Am weiblichen Dasein zeigt sich das Alltägliche in seiner besonderen Aufdringlichkeit und Härte. Grund genug, gerade hier aufzuweisen, daß die Frage nach Sinn, Existenz und Tun des Menschen eine grundsätzliche ist. Bei der Frau stellt sich die Frage darum exponiert, weil die hinter der Frage stehende menschliche Not, für die Existenzweise der Frau zur Nötigung geworden ist. Dies insofern, als sich die Not nicht nur als "Naturnotwendigkeit" bedürftiger Wesen im anthropologischen Sinne erweist, sondern als der Frau allein von dem anderen Geschlecht aufgenötigte gesellschaftliche Position. Der Frau wurde aufgebürdet, was alle zu tragen hätten. So hat sich die eine Hälfte der Menschheit von einer bestimmten Mühe entlastet, zuungunsten der anderen Hälfte, deren Leben damit in der Regel zu einem routinierten und lastvollen Einerlei für andere geworden ist. Ein Rollenverständnis ist damit entstanden, das eindeutig durch alle Bevölkerungsschichten hindurch den einen einen Freiraum gegenüber dem Alltag ermöglicht, den anderen nicht. Die Benachteiligten sind die Frauen. Aus der ursprünglich zweckdienlichen Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau, die sich an der biologischen Unterschiedlichkeit orientierte, ist ein rigides Machtverhältnis geworden, das gerade wegen dieser Macht nicht, oder nur mit größter Anstrengung, aufgehoben werden kann. Es ist kaum zu erwarten, daß jemand Macht freiwillig abgibt, auch wenn andere sie als usurpiert erachten. Daß Frauen heute für den Abbau männlicher Vorherrschaft kämpfen, kommt nicht von ungefähr, auch wenn es gegen ihr vermeintliches und ihnen zudiktiertes Wesen geht. Die biologische Verschiedenartigkeit des zweigeschlechtlichen Gattungswesens Mensch darf nicht Legitimation sein zu einer geschlechtsspezifischen Verteilung von Macht. Historisch gesehen ist und war dies dennoch der Fall. Alle patriarchalischen Gesellschaften haben die Frau auf die negative Seite der gesellschaftlichen Verhältnisse gedrängt und sie dort angesiedelt. So kommt es denn, daß die Frauen sich im Hause wohlzufühlen scheinen. Die ihnen dort erwachsende Geborgenheit - und die angeblich spezifischen Wünsche und Sehnsüchte der Frauen darnach - täuschen über die bestehende Fremdbestimmung hinweg. Indem hier den Frauen das dem anderen Geschlecht und überhaupt dem Allgemeinen Dienliche nicht nur angedichtet, sondern dieses auch gehegt und gepflegt wird, zeigt sich die besondere Ironie und der besondere Zynismus der Situation der Frau gegenüber.
Von der halben zur ganzen Vernunft
Die Vernunft ist wohl die letzte Bastion, die die Männer werden halten wollen.
Auch wenn einmal die Frauen alle Bereiche mitbestimmen und gestalten, wird "man" vermutlich noch bestrebt sein, die Vernunft als Naturschutzpark der "Herrlichkeit" überdauern zu lassen, als Zeuge vergangener, alleiniger Macht. Dies scheint mir mit ein Grund zu sein, warum die Frauen auch Vernunft ausbilden sollten in sich; schon allein deswegen, um einsehen und vernünftigerweise wollen zu können, daß sie menschliche Wesen sind, die nicht mehr dulden, daß man sie zum "zweiten Geschlecht" macht. Zur Ausbildung fraulicher Vernunft gehört auch die Rekonstruktion ihrer Geschichte und die Bestimmung ihrer Gegenwart. Die Geschichte der Frauen ist die Geschichte ihrer Unterdrückung. Davon ist ihr Wesen geprägt, und davon ist die Form geprägt, mit der sie gegen diese Unterdrückung angehen.
Jetzt sind wir in einem Stadium, in dem Frauen ein Bewußtsein erlangen über ihre reale Situation der Abhängigkeit. Die Frauen beginnen, sich nicht mehr einverstanden zu erklären, und sie nehmen zum Teil dadurch noch größere Diskriminierung auf sich, als vorher. Aber sie sollten wissen, daß das eine notwendige Phase ist.
Die Frauen haben begonnen, sich auch der bewußtseinsbildenden Formen menschlicher Äußerungen zu bedienen; sie schreiben, malen, filmen, philosophieren, machen Politik und sprechen Recht. In der Philosophie stoßen sie auf besonders heftigen Widerstand. Es ließen sich Zitate von Philosophen, die das allgemeine Vorurteil, Frauen könnten nicht denken, meinen noch »wissenschaftlich« untermauern zu können.[20]
Was ist zu tun von Frauen, die diesem männlichen Herrschafts- und Ausschließlichkeitsanspruch in Sachen Philosophie die vernünftig begründete Annahme entgegensetzen, daß Frauen ebenfalls zu denken vermögen oder allgemeiner ausgedrückt, daß Vernunftbegabung eine menschliche und nicht allein männliche Disposition ist? Frauen hätten ein Selbstbewußtsein, vernunftbegabte Lebewesen zu sein, zu entwickeln. Vor über zweitausend Jahren als spezifisches Merkmal der Menschengattung zugesprochen, war es schon damals von den Hohepriestern der Vernunft nur ihnen selbst, den männlichen Artgenossen, eigen. Das hält sich durch die Jahrtausende.
Das Selbstbewußtsein, über Vernunft zu verfügen (vernünftig denken und handeln zu können), gehört mit zur Identität von Frauen, die sich als Intellektuelle verstehen und wissen.[21] Gemäß modernen Selbstbewußtseins- und Identitätstheorien konstituiert sich Selbstbewußtsein und Identität aber nur über Anerkennungsprozesse. Die Frauen geraten damit in ein Dilemma. Wenn Selbstbewußtsein und Identität nur über Anerkennungsprozesse verlaufen, Denken bei Frauen im allgemeinen aber nicht anerkannt wird, befinden diese sich in der Not, Selbstbewußtsein als denkende Wesen überhaupt gar nicht erst ausbilden zu können. Sie sind dadurch entweder genötigt, sich selber als nicht der Vernunft fähig zu erachten und anzunehmen, oder aber sie finden theoretisch und praktisch eine Möglichkeit, sich selber, über sich selber, als selbstbewußte und vernünftige Personen zu verständigen und auszuweisen.[22]
Als weitere Stufe in diesem langwierigen Prozeß zur allgemein gültigen - d. h. auch in der Männerweltgültigen-Ausbildung des Selbstbewußtseins der Frau wird sich dann die "Anerkennungsgemeinschaft" miteinander im Diskurs stehender vernunftbegabter Frauen konstituieren müssen. Damit kann sich dann der Anerkennungsprozeß der (weiblichen) Vernunft aus der dialogischen Selbstbewußtseinsimmanenz des Hegelschen Modells befreien und sich in wirklichen äußeren Anerkennungsprozessen real sich anerkennender vernünftiger Wesen festigen.
Da sind fragmentarisch angezeigte Schritte der weiblichen Seite auf dem Wege zu einer alles betreffenden ganzen Philosophie oder Philosophie des Ganzen, die es noch nicht gibt. Das Männliche allein ist jedenfalls nicht das Ganze.
Ansätze
Wir Frauen sollten keine Untersuchung, keine theoretische Abhandlung, kein Gespräch, keine Diskussion mehr beginnen, »ohne deutlich zu machen, welchem Problem unseres eigenen Lebens sie entsprechen, in welchem Moment unseres Lebens sie uns beschäftigen«.[23] Erst dann können wir den Zusammenhang zwischen allgemeinen, konzeptionellen, abstrakten Aufgaben und deren individueller, konkreter Basis, die sich ihre Sprache erst suchen muß, erkennen und bewußt behalten.
Dabei müssen wir das Abgleiten in traditionelle Gleise der Problembehandlung verhindern, da das oft nur eine klischéehafte Verdeckung von Problemen bedeutet, was einen immanenten Machtfaktor perpetuiert und zementiert. Wenn heute einige Frauen einen Diskurs führen, dann heißt das nicht, daß ihr Diskurs auch schon zu einem Machtfaktor wird. Heute bestimmt die Quantität den Machtfaktor. Konsequenterweise wäre die Teilnahme einer ständig zunehmenden Zahl von Frauen an einem im übrigen noch zu bestimmenden - Diskurs zu wünschen. Die Gesellschaft wird beherrscht durch Diskursgruppen. Unter Diskurs ist hier der gängige, inzwischen - und dies nicht nur von Frauen - rein als männlich vermutete Diskurs gemeint. Dieser Diskurs eröffnet oder verschließt. Für die daran Beteiligten eröffnet er Macht, Weltsicht, Erkenntnis. Die Nicht- Beteiligten schließt er aus. So wirkt er auch als "Geschlossene Gesellschaft". Ausgeschlossen sind die Frauen.
Argumentationsmuster, Argumentationsstrategien, zweckrationales Denken: das lernen die Männer, um sich jederzeit und allerorts durchzusetzen.
Die Herrschaft der Männer über die Frauen hat sich u. a. auch dadurch hergestellt, daß sie einen Wissensvorbehalt für sich beanspruchen und hartnäckig hüten.
Das bedeutet für die Frau eine Domestizierung auf vom Mann zugemessene Räume ("Frei-und Spielräume"), z. B. heute: kunstgewerbliche Aktivitäten, Zeichnen mit Kindern usw.[24] Die Frau wird ferngehalten von Öffentlichkeit, d. h. von den Schaltprozessen und Schalthebeln, die das wissenschaftliche, politische und gesellschaftliche Leben bestimmen. Selbst was Emanzipation von Frauen sein kann, wird ihnen vorgedacht von Männern. Das trifft selbst für die wohlwollenden Argumentationen von Bornemann und Marcuse zu. Und dies sind nur die positiven Versuche von männlicher Seite her, die Lage der Frauen in patriarchalischen Gesellschaften zu bedenken. "Denken ist weder weiblich noch männlich", sagen Männer und in den Bahnen des männlichen Diskurses denkende Frauen. Das ist eine Behauptung und nichts sonst. Einer solchen Behauptung muß eine Frage vorangestellt werden: Die Frage, ob dann, wenn Frauen denken, sie in der gleichen Form denken wie Männer und höchstens nur andere Inhaltedenken oder: ob nichtdieganzanderen Inhalte andere Formen (Methoden) des Denkens erzwingen (mit sich bringen). Die ganz anderen Inhalte sollten in erster Linie die jedenfalls behauptete ganz andere Kondition, die Condition föminine sein, nicht beliebige Inhalte. Die historische Aufgabe der Frau ist es, ihr eigenes Sein begreifen zu können.
Condition féminine und condition humaine
>Wenn die Condition féminine als Selbstverständnis von Frauen anteilsmäßig gerecht und demokratisch mitbeteiligt würde im gesamtgesellschaftlichen Leben, so würde sich die Condition humaine insgesamt und von Grund auf verändern. Diese Veränderung ist aus der Sicht der Frauen unumgänglich, wenn die aufklärerischen Ziele mit der menschlichen Vernunft alle Menschen zur Selbstbestimmung führen sollen. Auf den Frauen lastet der Alltag in seinem ganzen Ausmaß. Aber nicht genug damit, daß der Alltag auf die Frauen abgewälzt wird, dieser Alltag ist überdies noch ganz und gar der männlichen Ordnung unterworfen, welche sich ihrerseits herleitet aus den männlichen Pflichten und auch Bedürfnissen und deren Domestizierung und Kultivierung. Das Essen bereitet die Frau - zur rechten Zeit - und sie tanzt, wann immer es gewünscht wird.
Job-rotation, das Modell des zeitweisen Rollentauschs in der Wirtschaft, könnte auch ins Spiel gebracht werden bei den rigiden Rollenzuweisungen von Mann und Frau. Die Auflösung der Rollen würde zu einer Veränderung in den Fixierungen der "Wesensmerkmale" der beiden Geschlechter führen. Die Mit-Übernahme der Last des Alltags durch den Mann ergäbe als Folge ein total verändertes Bild des gesamtgesellschaftlichen Lebens: die Form der gesellschaftlichen Arbeit, Politik und Ökonomie würden sich ändern. Frauen könnten sich verstehen als an der Seite von Männern lebend, arbeitend und denkend, oder Männer an derjenigen von Frauen, nicht aber diese jenen unterstellt und in ein Ghetto verbannt.
Zur bestehenden Condition féminine gehört auch, daß die Männer um die ungleiche und ungerechte Rollenverteilung wissen. Das zeigt der hartnäckige Widerstand, Frauen allgemein zu allen Möglichkeiten des Lebens zuzulassen. Die Ausnahmen, die inzwischen geschehen, können als ein erster Schritt dermännlichen Menschlichkeit hin zuranerkennung auch weiblicher und schließlich zur Konstitution der menschlichen Menschlichkeit verstanden werden, sie können aber auch nur ein Alibi sein. Es ist wahrscheinlich, daß solche Ausnahmen vom Allgemeinen gezielt als Alibis, als Zeichen, gesetzt werden, um von der allgemeinen Situation der Frauen abzulenken. Die allgemeine Situation wird verdeckt durch Hervorheben einzelner Frauen in besonderer Stellung. Der weithin schallende Lärm um diese Ausnahmen bestätigt die Regel des Normalfalles "Frau". Die Ausnahme- Frauen sollen als Identifikationsziele jene Kräfte binden, die in den gewöhnlichen Frauen den Aufbruch zur Selbstbestimmung einleiten könnten. Das Geblase affirmativer Schallmeien über die vorgeblich bereits eingeläutete Gleichberechtigung der Geschlechter übertönt nur die weiterhin dauernde Überlistung des "schwachen" Geschlechts. Die Gedanken drängen hier keineswegs zur Wirklichkeit, sondern schweben als "herrliche" Morgenröte über den alltagsgeplagten Frauen. Die Frauen müssen ihre herkömmliche "Identität", die nur eine ihnen zugeschriebene, eine fremdbestimmte und unter Druck angenommene ist, sich selber fragwürdig machen und sie allenfalls aufzugeben bereit sein, schon bevor sie eine "eigene" Identität haben.
Steiniger Boden
Über den Alltag läßt sich Verschiedenes sagen, auch von der Philosophie her. Ich habe hier von einer bestimmten Un-würde des Alltags gesprochen, und zwar um zu bekunden, daß seine Würde nicht außer Acht gelassen werden kann. Der Verzicht darauf, in vorbestimmten Sinne - gemäß geläufigem Diskurs - sensu strictissimo zu philosophieren, fällt nicht unbedingt leicht. "Angenehmer" wäre es gewesen, über die Konstitution passiver Synthesis der Alltagsrezeption oder dergleichen zu sprechen. Stattdessen habe ich an Selbstbestimmung erinnert.
Wie sieht denn die heutige Alltagswelt aus, gegenüber welcher die Philosophie zur Selbstbestimmung verhelfen, und damit eine andere Alltäglichkeit schaffen will?
Nehmen wir für eine Phänomenologie der heutigen Alltagswelt etwa die Charakteristika, die Habermas gibt. Er registriert Phänomene, die eine »Oberforderung von sinnlich zentrierten zeitlichen und räumlichen Kapazitäten der Lebenswelt« bedeuten. Dazu zählt er: Die Zerstörung der urbanen Umwelt, die Zersiedlung, Industrialisierung und Vergiftung der Landschaft. Hier machen sich »Maßstäbe der Bewohnbarkeit sichtbar, Grenzen der Deprivation sinnlich-ästhetischer Dauerbedürfnisse«. Mögen solche Dauerbedürfnisse auch historisch entstanden sein, so bestimmen sie offenbar doch entscheidend unsere lebensgeschichtliche Maßstäblichkeit. »In der Furcht vor Kernkraftwerken, Atomabfall oder Genmanipulation steckt gewiß ein gutes Stück Realangst, in ihr spiegelt sich aber auch das Erschreckende vor einer neuen Kategorie buchstäblich unsichtbarer, schwer kontrollierbarer Langzeitrisiken, die die biologisch programmierten Schwellen der Sinneswahrnehmung und die Grenzen unseres historisch entwickelten Fassungsvermögens, beispielsweise für anlizipierte Zeit, für persönliche Identität, für das Ausmaß moralisch verantwortbarer Handlungsfolgen usw. überschreiten.«[25]
Habermas spricht von einer »Verödung der kommunikativen Kapazitäten der Lebenswelt«, die ins Auge springt. Wir können sie feststellen in der Instrumentalisierung der Berufsarbeit, der Mobilisierung am Arbeitsplatz, der Verlängerung des Konkurrenz- und Leistungsdrucks bis in die Primarschule hinein, in der Monetarisierung von Diensten, Beziehungen und Lebenszeiten, in der konsumorientierten Umdefinition des persönlichen Lebensbereichs.
Die Chance der Selbstrealisierung und Selbstbestimmung im Alltag erfordert die Bewältigung des sich heute alltäglich Aufdrängenden. Außen über Sinne und Verstand, innen über die Psyche attackiert uns fremdbestimmtes Geschehen. Aus dieser Alltäglichkeit befreit uns das Denken erst, wenn es zur Loslösung vom Gewicht der unmittelbaren Lebensnot führt. Erst die Entlastung vom hautnahen Alltag gibt uns die Möglichkeit zu fragen, welchen Sinn wir dem Leben geben, wie wir uns im Leben einrichten, und unter weichen Bedingungen wir Arbeit und Freizeit organisieren. Selbstbestimmung realisiert sich außerdem nur in der Erfahrung der bewußten Mitgestaltung. Verschwindet diese - nämlich die Möglichkeit, in die Wirklichkeit einzugreifen und sich gerade dadurch selbst zu bestimmen - so zerfällt Selbstbewußtsein. Seine Genesis besteht im Prozeß des Sich-selbst-bestimmen-Könnens durch das Bestimmen der Wirklichkeit. Dies freilich nicht in "idealistischer" Lesart, sondern aufgrund der konkreten Abarbeitung der Wirklichkeit im Erleben und Handeln, d. h. im kommunikativen und interaktiven In-der-Welt-Sein.
Der heute stattfindenden Destruktion von Eingriffsmöglichkeiten in die Wirklichkeit, ja selbst von bewußter Rezeption und Erfahrung dieser Wirklichkeit, - beides betrifft die Frau wieder besonders gravierend (Anbindung an den Herd und die Familie) - kann am allerwenigsten durch den Verzicht auf Aufklärung und "Entwicklung des Bewußtseins zur Freiheit" (Hegel) entgegengewirkt werden. Unter der Proklamation der "Tendenzwende" und einem Verzicht auf die konkrete Verwirklichung der Freiheit und Lebensqualität aller, sind in erster Linie die nicht schon Emanzipierten betroffen - allen voraus die Frauen. Für sie bedeutet die Rehabilitierung des Konservativen zugleich die Wiederbelebung und Perpetuierung des steinerollenden Opfers. Bedenklich wäre es, wenn die Denkenden diesem Verzicht auf Befreiung von lastender Alltäglichkeit das Wort redeten. Ihr Philosophieren über Alltäglichkeit geschähe dann im Freiraum des freischwebenden Denkens, das behäbig und distinguiert auf dem sisypheischen Buckel alltäglicher gesellschaftlicher Arbeit und Not aufruht.
Aus dieser Not heraus denken Frauen. Für sie ist der Alltagsboden, gerade in der Philosophie, steinig. Daher: Sisyphos ohne Pathos und ohne allzuviel Hoffnung für die nächsten 2000 Jahre. Aber sei's drum: »In der Welt muß man selber nach dem Rechten sehen, als einem zu Erwartenden und Betreibbaren, dann ist Segen dabei und Optimismus mit Trauerflor, kämpfend.«[26]
Sisyphos ohne Pathos
Thesen zu: Selbsterhaltung und Selbstbestimmung im Alltag
- Die Deskription, phänomenologische Analyse und Rekonstruktion des alltäglichen Bewußtseins, wie sie in den Gesellschaftswissenschaften und der Philosophie heute im Gange sind, zeigen einerseits f ür diese Wissenschaften selbst das Bewußtwerden eines thematischen Mangels (und Nachholbedarfs) - andererseits das Dominantwerden von Alltagsproblemen in der Bewältigung gegenwärtiger Wirklichkeit für die Individuen.
- Die Sprache, in weicher der Alltag bewältigt wird, die Sicht, in die er sich zusammenfügt, sind außerhalb der wissenschaftlichen Analyse Ausdruck der Reflexionskapazität individueller Verstehensmöglichkeit. Zugleich sind sie auch Signum für die Darstellung und Selbst-Darstellung des individuellen Selbstbewußtseins. Sein Grad der Herausbildung läßt sich im Modell des Absetzungsvermögens vom unmittelbaren Alltagsgeschehen begreifen.
- Die Befangenheit im Alltag kann - wenn sie als solche erkannt wird - dazu führen, eine bestimmte Alltäglichkeit zu akzeptieren, sie zu riegieren oder sie verändern zu wollen. Vorstellungen sowohl von herrschender als auch von anzustrebender Alltagswirklichkeit richten sich an normativen Bestimmungen aus. Vorstellungen über die dem Menschen angemessene, sein Menschsein mitkonstituierende Alltäglichkeit sind den Normbestimmungen philosophischer Tradition, bzw. philosophischer Antizipation von Wertentwürfen entnommen.
- Im Begriff des autonomen Selbstbewußtseins hat die Bestimmung der menschlichen Existenz im Alltag einen gültigen definitorischen Rahmen gefunden, der je für bestimmte Gesellschaften und Zeiten zu konkretisieren ist. Selbstbestimmung meint selbsttäuschungsfreies und autonomes Bestimmenkönnen seiner selbst im Rahmen heteronomer Beanspruchung.
- Gegenüber solcher Zielvorstellung der menschlichen Existenz läßt sich für ihre Bestimmung im Alltag der Begriff der Selbsterhaltung setzen. "Selbsterhaltung" meint das Aufrechterhalten und Durchhalten des Daseins im unmittelbaren Besorgen des Alltags.
- Geht die menschliche Existenz in der Selbsterhaltung auf, so hat die Alltäglichkeit keinen Sinn über sich hinaus. Im sinn-losen Einerlei des unmittelbar Betreffenden, wird der Alltag zur Not des gebundenen Menschen, dem der Entwurf vom Sinn unmöglich bleibt.
- Die treffende Charakterisierung des sinn-losen Alltäglichen zeigt der "Mythos von Sisyphos". Exemplarisch findet er sein Korrelat in der Situation der Frau.
- Die Frau ist Sisyphos ohne Pathos. Ohne distanzschaffende und ihren Topos bestimmende Reflexion und Sprache produziert und reproduziert sie, was von ihr selbst und anderen alltäglich vernichtet wird. Ihre Selbstbestimmung bleibt in die Selbsterhaltung eingeschlossen, und diese ist heteronom dominiert, wesentlich durch den Mann, dessen Diskurse und dessen Macht.
- Philosophie ist, aufgrund ihrer maßgebenden Tradition (z. B. Kant) wesentlich an Aufklärung und Selbstbestimmung interessiert. Man könnte dies den Primat der praktischen Philosophie nennen. Aber Selbstbestimmung ist definiert durch Form und Qualität ihrer Realisierung in den Individuen.
- Die Frau ist wesentlich von der Realisierung der Selbstbestimmung ausgeschlossen. Für sie wird Selbstbestimmung lediglich affirmativ durch männlichen, und das heißt offenbar "menschlichen" Diskurs postuliert.
- Die Aufgabe der Frau ist, ihrerseits einen vernünftigen Diskurs - nämlich den der "anderen Hälfte der Vernunft" - auszubilden, damit sie ihr von ihr selbst in ihrer Sprache verstandenes Selbstbewußtsein und ihrevon ihrselbst angestrebte Selbstbestimmung erreichen kann.
- Dazu mag sie der Dialektik des Selbstbewußtseins (nach Hegel) im inneren Diskurs als einem ersten Schritt sich bedienen, um dann ihr Selbstbewußtsein dem Anerkennungsprozeß erst unter Frauen, und dann auch dem männlichen, d. h. bisher allgemein menschlichen Diskurs auszusetzen.
- Der damit eingeleitete Prozeß zur möglichen Neubestimmung menschlicher Vernunft und menschlicher Existenz ist langwierig und schwierig. Für die Frau gilt es, eine Kompetenz zu entwickeln, gegen das falsche eigene, in Wahrheit aber fremdbestimmte Selbstverständnis, und gegen das falsche Verständnis der Frau durch das andere Geschlecht.
- Durch die Integration derauch von der Frau bestimmten Condition féminine in die Condition humaine wird sich diese aufgrund erweiterter Kompetenz sowohl männlichen als auch weiblichen Selbstbewußtseins neu bestimmen.
- Die Chance der Selbstbestimmung und Selbstrealisierung im Alltag erfordert die Bewältigung des sich heute alltäglich Aufdrängenden. Erst die Entlastung der Frau vom hautnahen Alltag gibt ihr die Möglichkeit, im Philosophieren über richtige und menschenmögliche Alltäglichkeit solidarisch die Wirklichkeit mitzugestalten. Mit der konkreten Abarbeitung der lastenden Wirklichkeit wird sie bei sich selbst beginnen müssen, bevor der Stein des Sisyphos sein Opfer unter sich begräbt.