Vorwort

Mit dem Titel Was Philosophinnen denken wird ein Erfahrungs- und Forschungsfeld eröffnet und mit dem vorliegenden Buch öffentlich gemacht. Philosophie trat bisher stillschweigend immer als Philosophie von Männern auf. Was Philosophinnen dachten, mußte dabei verschlossen bleiben. Daß sie dennoch denken, ist also nicht selbstverständlich, und was sie denken, ist weitgehend unbekannt. Und doch denken sie und denken die unterschiedlichsten Dinge zu verschiedenen Themen in je anderen Formen. Davon sich untereinander zu informieren und anregen zu lassen, ist ihr erstes Interesse. Das Gedachte allgemein zugänglich zu machen, ist wichtig. Auch deswegen dieses Buch. Es soll deutlich gemacht werden, daß Philosophinnen nicht länger von der institutionalisierten Philosophie ausgeschlossen bleiben dürfen. Das "sapere aude", das Wagnis und die Verpflichtung des Wissens und Forschens, gilt heute insbesondere für Frauen. Sie können unter Umständen das Fehlende, Ausgelassene, Verdrängte und Verschwiegene, das Ungedachte und Unterdrückte in der Geschichte unserer Kultur aufspüren. Neue Wege und Auswege müssen gefunden werden in unserer bedrängten Welt. Die Verstiegenheiten und Ausweglosigkeiten des bisherigen Denkens und Handelns müssen korrigiert werden.

Wenn die Zeit gekommen ist, wo Frauen gemeinsam mit Gedachtem an die Öffentlichkeit treten, dann haben sie auch ihr Verhältnis zu dieser Öffentlichkeit zu bestimmen. Die Bestimmung einer solchen Relation gehört nicht nur zum Programm der Bestimmung neuer weiblicher Identität, sondern sie wird uns auch abverlangt von der sich ständig wandelnden Wirklichkeit. Identitätsfindung wird zur Alltagsaufgabe. Ganz elementar erfordert das Bestimmenkönnen dieser Relation von den Frauen, daß sie sich überhaupt zu etwas in Beziehung sehen und setzen wollen. Dabei geht es nicht einfach um einen weiteren Standpunkt, also denjenigen der Frauen. Wenn von Standpunkten geredet wird, dann wird der herrschenden Sprachregelung nach von einer »Objektivität« der Wirklichkeit ausgegangen, zu der dann auch noch Meinungen abgegeben werden, eben Standpunkte geäußert werden können. An der »Objektivität« wird dabei nicht allzusehr gerüttelt; sie ist der Maßstab, der bleibt. Wenn Frauen aber Relationen herstellen, dann fragen sie, wie die »Maßstäbe« entstanden sind, und wer sie gesetzt hat, dann sind sie mit der sogenannten Objektivität nicht ohne weiteres einverstanden. Nehmen wir neuere Theorien zunächst in dem, was sie sagen, dann entsteht Objektivität durch Kommunikations- und Interaktionsprozesse - durch Reden und Handeln der Maßgebenden. Diese bestimmen und interpretieren die Wirklichkeit. Die Maßgebenden sind überall die, die den Diskurs führen, in der Wissenschaft, in der Wirtschaft, in der Politik, in den gesellschaftlichen Institutionen bis hinein in die Familie.
Die überall normenschaffenden Kräfte sind männliche Wesen. Sie kreieren die »Objektivität«, die sich allenthalben als »die Öffentlichkeit« präsentiert. Von hier her werden den Individuen und Gruppen, zu denen auch die Frauen gezählt werden, die Plätze zugewiesen. Von dieser »Öffentlichkeit« her wird das »Wesen« von allem bestimmt: das Wesen der Frau, der Familie, der Erziehung, der Arbeit usw.
Das konnte allerdings nur so lange gutgehen, als die andere Hälfte der »Öffentlichkeit« hingegeben schlief, und von den Männern im halbbewußten Dauerschlaf gehalten wurde. Einer der gewaltigsten Normenschöpfer der Neuzeit sagte unmißverständlich - und das hat auch einige Frauen aufgeweckt: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit...«
Sinnvoll verstehen läßt sich diese Definition der Aufklärung allerdings nur, wenn wir daraus entnehmen, daß es das eigene Verschulden der mündigen Frau ist, wenn sie sich weiterhin mit der Unmündigkeit abfindet, in der sie gehalten wird. Der Zugang zum Wissen ist möglich, also soll er auch benutzt werden; wo er nicht möglich ist, soll er gefordert und möglich gemacht werden.
Frauen müssen sich die Bedingungen für Öffentlichkeit selber schaffen, zum Beispiel, indem sie sich über eigene Wege Information und Wissen erschließen und über eigene Wege wieder ihre Informationen zur Veränderung und Mitgestaltung der Wirklichkeit öffentlich zu machen versuchen. Dabei mögen sie Herrschaftsfreiheit anstreben. Herrschaftsfreiheit heißt für sie, die Herren-herr-schaft aufheben. Eine »Frauschaft«, eine pure Dominanz der Frauen, ist damit nicht gemeint. Also kein Matriarchat im schlechten Sinne, als einfache Umkehr der Machtverhältnisse soll errichtet werden, vielmehr eine gleichberechtigte und damit gerechte Gestaltung der Öffentlichkeit ist angestrebt. Erst so ist Öffentlichkeit umfassend: ein Offenlegen dessen, was ist und gilt, dessen, was werden soll und Geltung beanspruchen darf - in Wissenschaft und Wirtschaft, in der Politik und Gesellschaft, in unserer Welt.
Öffentlichkeit bedeutet philosophisch akzentuiert: das Erscheinenkönnen von Ideen, Handlungen, Gegenständen und Personen dort, wo alles sichtbar und bestimmend wird. Wer die Öffentlichkeit beherrscht, wirkt normensetzend und normenverändernd.
Von den Frauen ist hier nicht nur das Hinaus-treten gefordert, in das, was öffentlich herrscht, sondern auch das Herein-ziehen des öffentlich Herrschenden in das Eigene der Frau, das Konfrontieren und Transformieren des öffentlich Geltenden in uns und durch uns selbst.
Politisch akzentuiert meint Öffentlichkeit den Kampf um die Öffentlichkeit. Der Kampf beginnt an der Bewußtseins- und Selbstbewußtseinsfront. Ohne Kampf geht es vermutlich für die fried- und friedenliebenden Frauen nicht ab. Der Kampf geht um die Wirklichkeit der Frau, um die »Menschenrechte« der Frau. Kämpfen werden dafür letzten Endes nur die Frauen selber. Hier müssen die Frauen parteilich sein.
Mit der veränderten ökonomischen Situation wird der Kampf härter. Der Spielraum, die Narrenfreiheit und die Erwerbsfreiheit in den hochindustrialisierten Ländern gelten nur, solange der Markt es zuläßt. Jetzt wird es wieder ernst; die trostlosen Rückschläge für die Sache der Frauen häufen sich. Die Frau wird wieder ausgeschlossen, zurückgedrängt an den Herd und in die sogenannten Frauenberufe oder Hilfsberufe. Jene paar Quadratmillimeter öffentlicher Mitverantwortung werden den Frauen wieder streitig gemacht. Der Zusammenhang ihrer Anliegen mit den Bewegungen der sozio-ökonomischen Basis ist klar ersichtlich; die Schwachen und das »schwache Geschlecht« trifft es zuerst.
Aus diesen Erfahrungen müssen wir lernen, einmal mehr. Der Weg der Frau in die Öffentlichkeit führt sie dazu, »öffentlich von der Vernunft Gebrauch zu machen«, natürlich von ihrer eigenen Vernunft, nicht von einer fraglos vorgegebenen. Dieser Weg darf durchaus phantasievoll sein und zu vielem Gängigen und Allzulinearen quer liegen. Oder, mit einem andern Akzent versehen: Solidarität - und hier die von Frauen - stellt sich über Veröffentlichung und Öffentlichkeit her. Wenn die Öffentlichkeit »Prinzip der Rechtsordnung« ist und zugleich »Methode der Aufklärung« (Kant), dann ist es sowohl rechtens als auch von emanzipatorischem Interesse, daß nicht im dunkeln bleibt, was hin zum »guten Leben« verändernd wirken kann.

Was Philosophinnen dachten, verschwieg die zünftige Philosophiegeschichte. Uninteressiertheit, standes- oder gesellschaftspolitische Gegebenheiten und Machenschaften haben das Vergessen noch befördert. Die gesellschaftliche, soziale und ökonomische Situation von Frauen ließ jahrhundertelang eine Entfaltung zur Selbständigkeit und zum Denken erst gar nicht zu.
Daß Philosophinnen denken, ist nun aber an der Zeit. Ihr Denken schwebt nicht der Wirklichkeit hinterher, wie die Hegelsche Eule der Minerva, die erst bei Einbrechen der Dämmerung, wenn eine Gestalt des Lebens alt geworden ist, ihren Flug aufnimmt. Grau in Grau läßt sich die Welt nicht nur nicht verjüngen, sondern auch nicht erkennen. Das Denken von Frauen eilt als Philosophie über die inzwischen mehr als genug männlich analysierte Wirklichkeit hinaus. Diese ist es, die zum Gedanken drängt, den Philosophinnen zu denken sich aufmachen. Ihr Denken ist die Lerche, die den Tag beginnt, und die Schwalbe, die den Sommer macht; denn indem es, wenn auch singulär, hervortritt, ist die neue Qualität in der Bestimmung der Wirklichkeit sichtbar geworden. Die weisen Abenddämmerungsvögel aber lassen wir in ihre Nacht entfliegen.
Wenn die erweiterte Wirklichkeit in ihrem Verlauf bedacht wird, dann kann dazu nicht abschließende Theorie, sondern viel eher begleitende und progressive Reflexion die Weise der Wirklichkeitsbestimmung sein. Die Philosophie komme immer zu spät, wurde gesagt. Das soll anders werden. Eine von Frauen getragene Philosophie soll zur rechten Zeit erscheinen und die Wirklichkeit so verwandeln, daß sie als menschliche und nicht mehr nur als männliche hervortritt.

Den philosophierenden Frauen wird die Sprache zum Problem. Sie haben kein eigenes Medium zur Verfügung für die Äußerung ihrer Gedanken. Sie müssen sich der allgemeinen Sprache bedienen. Daß diese eine Männersprache ist und in weiten Teilen sexistisch geformt, ist heute zu einem Gutteil aufgezeigt. Frauen befinden sich dadurch, um das von ihnen Gedachte hervortreten zu lassen, in der nahezu paradoxen Situation, die herrschende Sprache benutzen zu müssen, um sie zugleich gründlich zu befragen und zu verändern.
Sprachkritisches Denken aus der Sicht der in der Sprache Unterdrückten wird damit zu einem philosophischen Problem. Das Ausbrechen aus der gängigen Sprache und aus den üblichen Methodenbereichen wird Voraussetzung einer neuen Philosophie. Was Philosophinnen denken, darin liegt die vielschichtige Programmatik, die im Erfahrungs- und Erkenntnisbestand von Frauen angelegt ist. Es geht um das, was sie überhaupt denken, als Frauen, als weibliche, begabte Lebewesen, gegenüber dem, was bisher als vernunftbegabt, nämlich männlich-menschlich galt. Hier kommt es darauf an, dieses weiblich begabte vernünftige Lebewesen in den Blick zu bekommen, seine Erfahrungsgehalte »systematisch« und »historisch« zu Tage zu bringen.
Es gilt aber auch, öffentlich zu machen, was sie heute denken, diejenigen, die hier mit dem Anspruch, der Wirklichkeit der Frau gerecht zu werden, sich hinauswagen in die wahrhaft feindliche Männer-Gegenwelt. Es gilt zu zeigen, was sie heute aus dem viel-dimensionalen Problemfeld von »Existenz« und »Wesen« der Frauen zu ergreifen in der Lage sind, gegen die Hindernisse ihrer äußeren - ökonomischen und sozialen- und inneren sozialisierten und psychologischen - »Wesensart«.
Was Philosophinnen zu denken haben, sind die vielfältigen »enzyklopädischen«, nämlich über das Ganze der Wirklichkeit sich ausbreitenden Gedankenzeiträume fraulich-menschlicher Erfahrungsgehalte und Denkmöglichkeiten. In diesem Buch finden wir aus dem weiten programmatischenzyklopädischen Feld und Umfeld von Frauen-Philosophie und Frauen-Forschung Beiträge, die sich in eine eigen-sinnige Topographie konstellieren. Erste Entwürfe oder Konzepte, die Perspektiven für die weitere Arbeit eröffnen, verbinden sich mit ausgereiften, tragenden Gedanken, die ein Problemfeld eindringlich darstellen und darin orientieren helfen.
Einige Beiträge weisen darauf hin, wie verschiedenste Wissensgebiete wieder in einen Zusammenhang zu bringen sind. Es soll darauf aufmerksam gemacht werden, daß die ins Extrem getriebene Wissensaufteilung nicht nur dem Wissen die Möglichkeit einer integrativen Funktion raubt, sondern Wissen endgültig der Lebenswelt entfremdet, und damit den Menschen zum unwissenden Wesen inmitten einer hochgezüchteten und abgekoppelten Wissenskultur entmündigt. Es wird erkannt, daß wir als Subjekte bereits zu Analphabeten geworden sind im Hinblick auf das vorhandene objektive Wissen. Wenn die Fähigkeiten zur Integration des zerstreuten Wissens und die Möglichkeiten zur Rückbindung des Wissens in den alltäglichen Lebenszusammenhang aus unserer Welt verschwunden sind, dann ist es endlich an der Zeit, auch diejenigen, und zwar nach deren eigenem Ermessen, an der Lebensgestaltung teilnehmen zu lassen, die bisher davon ausgeschlossen waren.

Der vorliegende Band ist eine Dokumentation der Vorträge, die auf den beiden Symposien der Internationalen Assoziation von Philosophinnen (e.V) (IAPH) in Würzburg 1980 und Zürich 1982 gehalten wurden. Der Aufsatz von Hannelore Schröder und die beiden Gedichte von Elfriede Huber-Abrahamovicz sind aufgenommen, da sie zum Vortrag vorgesehen, die beiden Autorinnen aber verhindert waren. Der Würzburger Vortrag von Ursula Menzer erscheint hier nicht, da er bereits in der ersten Publikation der Internationalen Assoziation von Philosophinnen, im Jahrbuch I, VON WEGEN INS 3. JAHRTAUSEND, Verlag Tamagnini, Mainz 1982, abgedruckt ist. Einigen Vorträgen folgt eine von den Autorinnen redigierte Kurzfassung der Diskussion, die dem jeweiligen Vortrag folgte. Nicht alle Diskussionen in Zürich konnten auf Band aufgenommen werden. Die mühsame Arbeit der Tonband-Transkription leisteten Brigitte Buchmann und Urs Schällibaum.
Die beiden hier dokumentierten Symposien konnten nur zustande kommen, weil viele Helferinnen und Helfer mitgewirkt haben. Ihnen allen sei hier gedankt: den Vorstandsmitgliederinnen der IAPH, und für Würzburg außerdem Wiebke Schrader und Christa Schneider; für Zürich Myrtha Meuli und Kurt Weisshaupt (Organisation); Marie-Claude Bétrix und Eraldo Consolascio (Plakate); Franz Züsli-Niscosi (Universitätssekretariat). Finanziell wurde das Zürcher Symposion unterstützt von der Schweizerischen Geisteswissenschaftlichen Gesellschaft (Schweizerische Akademie der Geisteswissenschaften), dem Migros-Genossenschafts-Bund und dem Schweizer Verband der Akademikerinnen. Egon Ammann und Marie-Luise Flammersfeld verdanken wir die spontane Aufnahme dieser Dokumentation ins Verlagsprogramm des Ammann Verlags.
Für alle Unterstützung und Sympathie, die auch unsere weitere Arbeit möglich macht, sagen wir Dank.

Brigitte Weisshaupt

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