Das Erschrecken, wenn ich mich wieder einmal auf ihren Spuren ertappe. Anfangs noch fröhliches Wiedererkennen: genau deshalb interessiert mich diese Frau, das war eine von uns, 70 Jahre vor uns. Meine Freundin Denny hat den Ausschlag gegeben. Eines Abends - Denny und Kathrin hatten ihre Lieder gespielt in einer Bremer Kneipe, und hinterher war Kathrin mit Andreas nach Hause gefahren - saß Denny in einer Runde guter und weniger guter Freunde, redete und lachte, und es war so, wie wir es uns tausendmal erzählt hatten: wenn du Erfolg hast, wenn du oben bist, wenn du dich gut fühlst, wenn du etwas gemacht hast, was du vorzeigen kannst, dann sind alle um dich herum, jeder mag dich, jeder scheint teilzuhaben an deinem guten Stern. Zwei Tage später oder schon am nächsten Morgen liegst du auf der Nase, fühlst dich krank, kannst nicht einmal den Kopf heben, um aus dem Fenster zu sehen. Da willst du nicht schreiben oder Musik machen, dein Hirn ist leer und dein Herz unglücklich, und das einzige, was du möchtest, ist, dich wie ein Kind in geöffnete Arme flüchten können, dich an einer Schulter ausruhen, dich streicheln lassen. Jemand soll da sein, der für dich Tee kocht, dem es nichts ausmacht, daß du jetzt nicht strahlst und lachst, der diesen Tag mit dir übersteht. Aber wie ein Spuk sind sie alle verschwunden, die Freunde, die Geliebten, die dich noch abends vorher umringt haben. Jetzt weißt du es wieder, daß du allein bist, und es nützt dir nichts, daß jemand dich auf der Straße anspricht und den Termin von deinem nächsten Auftritt wissen will.
Das Auseinanderklaffen von öffentlichem und privatem Erfolg: »Jeder liebt meine Gedichte, aber keiner mein Herz«, hat sie einmal gesagt, Else, wobei offenbleibt, ob mit >Herz< sie selbst oder ihr Briefroman, dem sie den Titel Mein Herz gegeben hat, gemeint ist. Sie hat es geäußert zu einer Zeit, als sie sich endgültig mit dem Gedanken an Scheidung von Herwarth Walden auseinandersetzen mußte. Aus späterer Zeit wird berichtet, sie habe nicht nur einmal das Geländer vor ihrem Pensionszimmer kurz und klein geschlagen aus Enttäuschung, aus Liebeskummer, aus Einsamkeit.
Als Aussteigerin habe ich sie beschrieben. Das war ein Artikel, der im Dezember '80 erschienen ist. Damals wußte ich noch nicht viel von ihr. Mein vages Interesse hat sich erst in den folgenden Monaten gefestigt, mit der genaueren Beachtung von Erfahrungen anderer Frauen, bei Denny z. B., bei mir selbst. Ich stehe vor dem Spiegel. Während ich damit beschäftigt bin, einen Ohrring im rechten Ohr einzuhaken, habe ich mich ganz im Blick: ich trage einen dunkelblauen Kittel mit weiten Ärmeln und Stickerei an den Bündchen, samtigweite Pluderhosen über Stiefeln, Ringe an den Händen. So sehe ich oft aus. Der Schreck, der mich durchdringt: Else. Ich schüttle solch aufgesetzte Parallelität von mir ab. Ein paar Tage später sage ich nachmittags beim Tee zu Isabel, mit der ich zusammenwohne: ich glaube, ich möchte ein Buch über die Lasker-Schüler schreiben.
Keine Germanistenlektüre. Es ist Ende April. Aus Isabels Bücherregal hole ich mir den Gedichtband und die paar Briefe, die in der WOLKENBRÜCKE abgedruckt sind - ich hatte sie nach dem Aussteiger-Artikel wieder zurückgestellt; selbst habe ich kein Buch von Else. Zwei Nächte später ist das erste Kapitel fertig. Ich lege es weg, will erst einmal einen Plan machen für das ganze Buch. Einen Monat darauf stelle ich beides in der SCHREIBEN-Zeitung vor, will Reaktionen testen, auch mich mit diesem Schritt nach draußen vor eigenem Rückzug bewahren. Ich werde ermutigt. Aber ich weiß zu wenig, um einfach weiterzuschreiben. Die nächsten Monate bin ich auf Suche. Der Berliner Stadtplan gibt vage Orientierungsmöglichkeiten - aber: wann ist die U-Bahn gebaut, wann elektrifiziert worden? Telefonanschlüsse in Privatwohnungen? Was heißt das: Rohrpost? Gaslampen, elektrisches Licht, Tauchsieder? Das Café des Westens, die Kaiserbüste auf dem Telefonhäuschen, Anton, einer der Kellner: die rege Germanistentätigkeit, aus der eine Vielzahl von Sammlungen über den Expressionismus und alles Drum und Dran hervorgegangen ist, macht mich dankbar und verunsichert mich gleichermaßen. Ich weiß zu wenig. Mit den Dissertationen über Elses Sprachstil will ich nichts zu tun haben und doch: hier ein paar auffällige Wortkombinationen, dort ein Querverweis... Mein Kopf besteht aus einem Sammelsurium ohne Beginn und Ende. Das könnte ich genausogut auf die Müllhalde bringen.
Juli in Kreta. Eines Morgens gehe ich los, mein Schreibbuch und ein Handtuch in der Umhängetasche, auf der Suche nach einer ungestörten Stelle am steinigen Strand. Mein Sohn sitzt bei einem Freund auf dem Balkon. Sie wollen das Meer malen. Vorher, als ich aufgewacht bin, hat er mir eine Zeichnung gezeigt, die er von mir gemacht hat während ich schlief. Ist es der schwarze Filzstift - oder warum schießt mir sofort diese Ähnlichkeit mit Elses Tuschzeichnungen durch den Kopf? Mein Sohn ist achteinhalb. Elses Sohn war zehn zu dem Zeitpunkt, als meine Erzählung beginnt. Else hat sein zeichnerisches Talent von Anfang an bewundert und zu fördern versucht. Was mache ich außer daß ich beeindruckt bin? Als ich zurückkomme, habe ich schlechtes Gewissen wie immer, wenn ich mich zum Schreiben zurückgezogen habe. Aber immerhin: fünf engbeschriebene Seiten aus dem zweiten Kapitel. Szene im Café des Westens, hier an der kretischen Südküste geboren. Verrückt. Den Rest der Zeit hocke ich auf der Terrasse unseres Stammlokals, nur noch ein paar unnötige Liebesgedichte sammeln sich in meinem Buch. Sendepause. Ich weiß wirklich nicht genug. Lebe im Café, das voll ist von Touristen, finde nicht von dort weg. Ende August, zu Hause, kommen noch ein paar Seiten zum zweiten Kapitel dazu. Dann ist endgültig der Punkt erreicht, von dem aus ich mich nicht mehr weiterwage. Florians Zeichnung habe ich gerahmt und über mein Bett gehängt. Diese Mischung aus Stolz und Unbehagen, wenn ein Besucher die Lasker-Schüler Anklänge bemerkt! Wie lebe ich denn mit meinem Kind? Ist das, was ich ihm biete, inmitten all dieser vor sich hinwerkelnden Erwachsenen, wirklich so viel kindgemäßer als das Leben von Elses Sohn Paul? Vielleicht war der sogar besser aufgehoben in diesen Landschulheimen?
Nein - ich möchte mein Kind nicht in ein Internat geben. Auch nicht, wenn ich klage, daß ich immer nur nachts zum Schreiben komme. Immerhin verdiene ich das, was wir zum Leben brauchen, indem ich mich als Lehrerin verdinge. Nicht mit voller Stundenzahl - es ist ein Kompromiß, der manchmal viel Kraft kostet. Aber ich bin nicht Else. (Daß wir überlegt haben, Florian Paul zu nennen! Es war, zugegeben, die Idee von Florians Vater, aber ich fand sie nicht übel, damals.) Ich versinke wieder in Büchern. Die Unzulänglichkeit der örtlichen Bibliotheken macht mich ganz krank. Ich will endlich Peter Baums Spuk-Roman lesen. Ein Freund, der an der Universität Kiel arbeitet, macht sich für mich dort auf die Suche. Nichts. Und ich schaffe es nicht, diese dummen Zettel für eine Fernleihbestellung auszufüllen! Ich lese in immer weiteren Kreisen, fange an, mich für alle möglichen Biographien zu interessieren, will Wegweiser finden. Hinter Christa Wolfs Kein Ort. Nirgends renne ich fast ein Vierteljahr lang her, ständig ist es ausgeliehen, als ich es endlich vorbestellt habe und es für mich bereitliegt, bin ich verreist, als ich zurückkomme und nachforsche, ist es wieder weg! Im September ruft Jean Pierre aus New York an. Wir haben uns nicht gesehen diesen Sommer, jetzt will er wissen, ob ich vorwärtskomme. Ich kann nichts dazu sagen. Er hat noch ein paar Aufträge fertigzumachen, dann, im Oktober, als er da ist, fangen wir an, meine alten Thonet-Stühle auseinanderzunehmen und zu restaurieren. Beschäftigungstherapie? Für einen brauchen wir drei bis vier Tage. Wenn er fertig ist, kann man ihn streicheln und bewundern. Die Unruhe, die uns beide umgibt. Wie soll Jean Pierre mit seinen Bronzeskulpturen weiterkommen, wenn er hier sitzt, mit mir Stühle repariert und mich, trotz der ganzen Fürsorge, mit der er mich umgibt, nicht zum Weiterschreiben verleiten kann? Wir stecken fest. Er fährt wieder weg, und ich verspreche ihm vage, Weihnachten zu ihm nach Princeton zu kommen, falls nicht - ach, ich weiß: ich werde wieder nicht fahren... Drei Stühle sind fertig, ich habe noch fünf davon. Den vierten nehme ich noch auseinander, aber ich weiß schon nicht mehr, wo ich die Schrauben gelassen habe.
Mit den Frauen der SCHREIBEN-Redaktion gerate ich in Streit. Ich sage, daß mir das alles über den Kopf wächst, daß ich keine fremden Manuskripte mehr lesen, keine Briefe mehr beantworten will, daß ich Zeit für mich brauche, daß ich auch mal wieder etwas selbst schreiben will, auch wenn es nichts zu tun hat mit diesem Buch. Es soll alles anders organisiert werden - und als sie anfangen umzuorganisieren, fühle ich mich ausgeschlossen und mißverstanden. Nur zu Denny bleibt das Verhältnis ungestört. Nein, es ist kein guter Herbst. Ich will es mir nicht eingestehen, aber es hat mit Else zu tun. ich treffe sie überall in der Stadt, auch in mir selbst, aber ich kann sie nicht packen und zu Papier bringen. Als mir Anfang November die Nachricht ins Haus flattert, daß mir der Bremer Senat für die Durchführung dieses Buchprojekts ein Literaturstipendlum - fünftausend Mark! - zugedacht hat, weiß ich gar nicht, ob ich mich freuen soll. Ich rufe die zuständige Sachbearbeiterin an, frage, was jetzt von mir verlangt wird. Sie ist nett, sagt, daß das Stipendium nicht an bestimmte Konditionen gebunden sei, daß es genüge, wenn ich nach Ablauf eines Jahres die Kommission über den Fortgang meiner Arbeiten unterrichte. Richtig beruhigt bin ich nicht. Vor einem halben Jahr hatte ich das erste Kapitel fertig und den Kopf voller Pläne. Jetzt bin ich ganze zehn Seiten weiter, und verdammt! - ich weiß wirklich noch immer nicht genug, um weiterzuschreiben.
Das Leben in der Öffentlichkeit von Cafés, Restaurants, Kneipen. Räume, in denen sich Menschen drängen, ab und zu um eine Art Podest, auf dem jemand sitzt und Musik macht oder Texte vorliest, vorspielt - das Leben in der Öffentlichkeit von Menschenmasken, hinter denen du zwar Rollen, aber keine Gesichter erkennst; es wird viel getrunken, heftig diskutiert, und wenn du gegen zwei oder drei Uhr ins Bett fällst, weißt du, daß du den nächsten Tag überstehen wirst, irgendwie, und was dich erwartet am Abend. Das ist so, ob du in Köln bist oder in Hamburg, in München oder Bremen, in Berlin oder Wien - du weißt, mit welchen Leuten du in welcher Kneipe rechnen kannst, nach wenigen Wochen hast du es herausgefunden und kannst dich darauf einstellen. Café Größenwahn, Konditorei Josty, Romanisches Café - es fällt nicht schwer, sich als Nachgeborener in diese Scene hineinzudenken, da sie doch vom Prinzip her nicht anders aufgebaut war als die, die du selber kennst. Mag sein, daß das Publikum vielseitiger, interessanter, ausgeflippter war als man es heute trifft - weniger bürgerliche Möchtegernaussteiger vielleicht als gegenwärtig, weniger unzufriedene Lehrer oder Juristen möglicherweise, mehr wirklich entschiedene Bohemiens, Rebellen - wer weiß? Als Erich Mühsam noch Mitglied der Neuen Gemeinschaft war, war er für die Zeitgenossen eben auch noch nicht jener Erich Mühsam, der von offiziellen Geschichtsbüchern heute totgeschwiegen und von progressiven Anti-Lehrbüchern wieder hervorgeholt wird.
Spätherbst und Winter ist die Zeit, da ich mich kurz vor Mitternacht aufmache, um noch in einer der Kneipen um die Ecke ein Bier zu trinken oder ein Glas Wein. Ich weiß schon, wen ich da finde am Tresen, es gibt keine Überraschungen, man kennt sich. Zweite Heimat derer, die nicht ins Bett wollen. Und wenn ich nach Hause gehe später, ist wieder nichts passiert, was die Welt aus den Angeln heben könnte. Ja, ich weiß schon, warum sie sich fortgesehnt hat, Else, warum sie nach London wollte zu Jethro Bithell, ihrem Earl of Manchester, dort, in einem Traumzimmer auf dem Teppich tausendundein Märchen zu erleben, liebentlang. Und auch, warum sie dann doch nur in ihre Wüstenoasen gereist ist, um nachts auf mondbeschienenen Dächern spazierenzugehen und dem Gesang ihres arabischen Liebhabers zu lauschen. Und warum sie den Tibetteppich gewebt hat - wo sie doch, heute nennen wir es >positive Rückkopplung< bekommen hat von vielen, die ihrem Denken nahestanden. So allein sie war meistens, sie war nicht allein. »Die gefühlsmäßige Aufnahme setzt die Ausschaltung der Erfahrung durch den Verstand voraus« - das hat Herwarth Walden geschrieben, viel später, aber ist nicht der Zeitpunkt, wann ein Satz endlich in Worte gefaßt und gedruckt wird, unwesentlich, wenn du siehst, es handelt sich hier um ein Programm, um etwas, was sich wie ein roter Faden durchzieht durch alle Handlungen und Äußerungen eines Menschen, einer Gruppe?
Kein Problem, mir Walden vorzustellen. Ein paar Fotografien, ein paar seiner sprachspielerisch-gewandten Texte, Manifeste im eigentlichen Sinn waren es, ein paar Aussagen von Zeitgenossen über ihn - ein in sich geschlossenes Bild, auch wenn ich Mühe habe, an seine Musikstücke heranzukommen. Ist einer, der freiwillig nach Rußland gegangen ist bevor der braune Terror hierzulande endgültig das Ruder in der Hand hielt, immer noch einer von denen, über die zu sprechen sich nicht mehr lohnt? Wieviele wissen heute noch, wie viel wir ihm zu verdanken haben? Einer dieser Jungen, Unruhigen, Frühreifen, immer bereit zum Schritt ins Ungewisse. Er war erst Anfang Zwanzig als er sich mit Else verband, und sie hat wohl recht, wenn sie schreibt, daß er viel zu jung Verantwortung auf sich geladen habe. Das war ja nicht nur Verantwortung in künstlerischer Hinsicht, das hatte auch mit ihr selbst zu tun, mit ihrer Unrast, ihren Krankheiten, ihrem Drogenkonsum, mit der Erziehung ihres Sohnes. Walden seinen Weg als Musiker und Komponist geradlinig weitergehen sehen - undenkbar. Undenkbar nicht nur nach allem, wie er sich in den Jahren bis nach dem Ersten Weltkrieg für die europäische Kunst eingesetzt hat. Aber Elses Traum war diese Musikerkarriere. Sie hätte sich eingefügt in das, was noch in Elses Kopf übriggeblieben sein mag von dem Wunsch nach familiärer Harmonie, aus der heraus die Kraft für wirkliche Kunstschöpfungen entstehen kann. Ich kann sie verstehen, daß sie sich, nachdem sie vorher ohne großes Bedauern auf die Enge eines honorablen Familienlebens an der Seite ihres ersten Ehemanns verzichtet hat, jetzt an die Beziehung zu Walden klammert, mit dem zusammen sie zu sich, der Dichterin, der Extravaganz in Person, gefunden hat. Mit dem zusammen sie dem Risiko der nirgends abgesicherten Existenz trotzen gelernt hat. Mit Walden hat sie das, was vorher durch Peter Hille in ihr ausgelöst worden sein mag, durchlebt. Ob sie bei ihrem Bemühen, diese Bindung zu halten, mehr an sich selbst oder mehr an Walden gedacht hat - es ist schwer nachvollzichbar. Später mag sie selber erkannt haben, daß hier zwei Wege in unterschiedliche Richtungen weiterverlaufen mußten - zum Zeitpunkt, da Walden den STURM gründete, war sie noch blind für diese Entwicklung. Daß er selbst, Walden, jetzt um so stärker nach einer Frau suchte, die ihm nicht täglich von neuem Verunsicherung brachte oder ihn in Krisen stürzte, sondern die ihm helfend zur Seite stand, seine eigenen Aktivitäten stützte, einen sicheren häuslichen Rahmen und damit die notwendige Arbeitsatmosphäre gewährleisten konnte - das weibliche Gegenstück zu Else also - es ist alles nachvollziehbar. Ein kleingeistiger Patriarch muß er deshalb trotzdem nicht gewesen sein.
Angelesenes Bücherwissen. Was weiß ich von den Wünschen und Sehnsüchten, die, auch Anfang 1910 noch, zwischen den beiden standen, sie verbanden, sie trennten? Ich wage immer noch nicht weiterzuschreiben. Daß sie sich verliebt, immer wieder, spontan; ihre Schwärmereien für die jungen, Blondlockigen und für alle, die sie, berechtigt oder unberechtigt, für Künstler hält. Wie sie sich ihres Alters, ihrer Erfahrung, ihrer Narben bewußt wird, und die Trauer, wenn sie sehen muß, daß Tino von Bagdad zwar Herzen erobern, daß Else Lasker-Schüler sie aber nicht halten kann. Ich will sie ja begleiten bis zur Scheidung, bis zum bitteren Ende, bis zur neuen Hoffnung, die sie auf Benn setzt aber: »Keiner soll mein Wegrand sein« - wie ich sie hasse, diese einsamen Wölfe, die nichts verstehen, nichts von dem, was eine Frau dazu bringt, sich zu öffnen und zuzuwenden, Wärme zu suchen, Liebe zu geben! Dieser kaltherzige Mustermediziner - nein ich weiß, ich tue ihm Unrecht. Aber ich bin parteiisch. Elses Weg ist schon ein Stück zu meinem eigenen geworden. Manches sehe ich mit Augen, die nicht ihre sind zwar, aber auch nicht mehr meine. Dieser Benn, gerade 26 Jahre alt, siebzehn Jahre jünger als Else, seinen ersten Gedichtband hat er herausgebracht, und Else ist begeistert. Morgue - wie affektiert das klingt! Und sie lobt ihn über den grünen Klee bei jedermann. Sie klammert sich an diese Entdeckung. Doch ihr Temperament, ihre Liebesfähigkeit sind wieder einmal mit ihr durchgegangen. »Ich bin dein Wegrand./Die dich streift,/ Stürzt ab.« In solchen Fällen pflegen Männer es mit der Angst zu bekommen. Die kalte Dusche trifft Else in der Öffentlichkeit, in derselben Öffentlichkeit, in die hinein sie ihre Liebeserklärungen zu machen gewohnt ist. Keiner soll mein Wegrand sein. Ich hätte ihn keines Blickes mehr gewürdigt. Aber sie, besessen, umdichtet ihn weiter. Haben die Kommunikationsformen damals sich wirklich so von den heutigen unterschieden? Ich kann nicht drei Jahre ihres Lebens beschreiben, beschließe ich - zumindest nicht in der Genauigkeit, wie ich sie erstrebe. Auch Benn will ich mir ersparen. Bin ich die Wächterin ihrer Entgleisungen? Ich komme trotzdem nicht voran. Kein Wort formt sich in meinem Kopf zum erlösenden Neuanfang. Wenn ich mir die Fingernägel lackiere, denke ich an Else. Meine Kittel, meine Pluderhosen - ich ziehe sie immer seltener an. Ich vergesse ganz, daß ich sie schon trug vor dieser Zeit meiner Identitätsprobleme. Es ist Februar, und ich stecke immer noch im zweiten Kapitel fest. Aufgeben? Nein. Vage Bestätigung, wenn man mich fragt, ob ich vorwärtskomme. Ein Jahr brauche ich schon noch, sage ich vorsichtig. Im Winter gibt es immer so viel zu tun für die Schule; um Weihnachten herum die ganzen Korrekturen, dann Zeugnisse, Abiturvorschläge auszuarbeiten, Prüfungsvorbereitungen... Und dieses Gefühl, allein zu sein, trotz des Kindes, trotz der Freundinnen und Freunde. Dabei keine Lust, mich eben mal schnell zu verlieben. Kurzfristig.
Es gab Zeiten, da war ich Jägerin aus Leidenschaft, Spielerin. Jetzt verlangt es mich nicht mehr nach diesen Zärtlichkeiten, die das Morgengrauen kaum überdauern, die mich noch vor gar nicht langer Zeit fröhlich durch den nächsten Tag laufen ließen im Bewußtsein der erfolgreichen Eroberung und der siegreichen Unabhängigkeit. Vielleicht bin ich einfach nur älter geworden, müder? Aber Else: waren das bei ihr in der Hauptsache platonische Schwärmereien? Welche Grenzen sind da wo von wem gesetzt worden? Ihre Gedichte triefen ja von Erotik; mit unserem heutigen Blick weisen sie uns auf eine Vielzahl sexueller Eskapaden hin; das Spiel, das wir heute spielen, ist direkter, eindeutiger, zielgerichteter - oder baue ich jetzt an einem Altar, obendrauf Else, die Heilige? Vielleicht hat sie auch da die Grenzen ihrer Zeit zu durchbrechen gewußt? Sie, eine von uns, vor uns. Schwer nachzuvollziehen heute, daß Verliebtsein nicht auch sexuell ausgelebt wird. Darüber findest du nichts in den klugen Büchern der Germanisten. Eine Sammlung von Nachrufen nach ihrem Tod - oh ja, da zücken die, die von zwei Weltkriegen noch übriggeblieben sind, noch einmal ihre Federn, tauchen sie ein in die Tinte der Vergangenheit. Aber die bürgerliche Moral gebietet auch heute noch Schweigen über gar zu Intimes.
Da ist keiner, der eingesteht, daß ihre Zärtlichkeiten ihn verzaubert hätten, daß sie ihn mitgetragen hat mit ihrem Körper in die Welt ihrer Märchenpaläste, daß er es gespielt hat mit ihr, das Liebesspiel, von dem ihre Sprache so reich zu berichten wußte. Der Sänger Höflichkeit oder wirklich nur meine verdorbene Fantasie der Achtziger Jahre? Wo ich doch weiß, daß die Art, wie Männer heute darüber sprechen, noch immer nicht frei ist von Chauvinismus und Prahlerei; wo die Armut unserer eigenen Sprache es auch verlangen sollte, darüber zu schweigen... Was will ich denn? Wünsche ich mir wirklich, daß da einer geschrieben hätte: ja, auch ich habe es mit ihr getrieben, und es hat Spaß gemacht - sie war sehr fantasievoll... ? Aber trotzdem kann ich nicht umhin, es als elegantes Rückzugsgefecht aufzufassen, wenn ich, z. B. von Benn, dann lese: sie war knabenhaft schlank damals, und so weiter. Da haben sich Dramen abgespielt zwischen dieser knabenhaft schlanken Else und diesem Dr. Benn! Aber wir kennen diese vornehme Art des Sich-nicht-mehr-erinnern-wollens. Fragt eure Freundinnen, sie werden euch Bände erzählen! Es ist immer das Gleiche: die Männer, entweder sie waren nie wirklich verwickelt oder sie holen die Geschichte hervor in einem Ton, der jeden Anflug von Gefühl von Anfang an zu einer Peep-show werden läßt. (Von langfristigen Beziehungen spreche ich hier nicht! Nur von dem, was wir Abenteuer nennen, und was trotz alledem etwas rücksichtsvoller behandelt werden könnte.) Nein - ich bin wieder sehr puritanisch geworden. Inwieweit das mit Else zusammenhängt, wage ich nicht zu entscheiden. Vielleicht ist auch nur das Maß an Enttäuschungen voll? Elses Toleranzschwelle scheint da höher gewesen zu sein. Ich grenze mich ab.
Mit dem Termin für eine Lesung ist da plötzlich Druck von außen, auf den ich reagiere. Ich lasse mir zwar noch ein Hintertürchen offen, sage, daß ich unter Umständen ja auf jeden Fall etwas aus dem ersten Kapitel vorlesen kann, aber unvermutet finde ich doch den drive. Mitte April soll es sein, vorher möchte ich noch Skiferien machen - also, in einer Nacht schreibe ich fast zehn Seiten weiter, das zweite Kapitel steht jetzt im Grundgerüst. Ich lese es den SCHREIBEN-Frauen vor, ihre Nachfragen helfen mir noch zusätzlich auf die Sprünge. Plötzlich bin ich mittendrin. Es geht, auch wenn ich noch immer nicht alles gelesen habe, was ich brauche, um wirklich sattelfest zu sein! Und mit einemmal weiß ich es: die Struktur, die ich diesem Buch geben werde, soll einer Art Kalender entsprechen. Die Tagebuchnotizen und Briefe - ich kann sie nicht alle verwerten, muß auswählen. Ich werde mich endgültig von der Idee, Else zwischen Herbst 1909 und Herbst 1912 begleiten zu wollen, verabschieden; ich habe im Oktober 1909 begonnen, ein halbes Jahr später erfolgt die Gründung des STURM, ab dann waren die Weichen gesetzt, unwiderruflich, für beide, für Walden, für Else.
Was auch immer sich in der Zeit bis zum tatsächlichen Scheidungstermin abgespielt hat, es war nichts als eine Variation dessen, was die beiden sich liefern in den Monaten bis zum Sommer 1910. Wie Else mit sich selbst zurechtkommen lernen muß, wie sie sich von neuem neu findet, sich nicht aufgibt - alles das liegt in wenigen Monaten konzentriert. Daß der innere Kampf länger gedauert hat, vielleicht lebenslänglich nicht endete - das ist eine Kombination, die sich ergeben soll am Ende. Am Ende meiner biographischen Skizzen. Ich werde mir die meiner Ansicht nach entscheidenden Monate herausgreifen, ich werde nicht flüchtiger, ungenauer werden, als ich es vorhatte, nur um quantitativ mehr hineinpacken zu können. Wenn ich weiter so vorgehen sollte, wie ich es geplant hatte, und dennoch drei Jahre beschreiben wollte - nicht nur, daß es sich für mich zu einem Lebenswerk ausarten würde, aber ich könnte wohl nicht unter tausend Seiten bleiben - tausend Seiten, wer will denn das noch lesen?? Ich habe mir hundertfünfzig Seiten vorgestellt ursprünglich, ich bin immer noch der Meinung, daß das reicht, daß das realistisch ist. Zwanzig Seiten mehr oder weniger - geschenkt. Ich weiß, daß ich ziemlich diszipliniert arbeiten kann, wenn notig. Manchmal, wenn nichts sich für mich weiterbewegt, liegt es daran, daß ich keine Form wahrgenommen habe, innerhalb derer ich mich bewegen kann. In diesem Fall muß es so gewesen sein. Von dem Moment an, da ich mich für den Rahmen entscheiden konnte, war es kein Problem mehr, die Binnenstruktur zu finden. Alles weitere ergab sich wie von selbst. Jetzt heißt es nicht mehr: ich sitze am zweiten Kapitel, sondern: November, Dezember, Januar... Bis spätestens Juni ist alles entschieden. Wahrscheinlich eher vorher.
April (mein April, nicht der von Else): vor einem Jahr hat das alles angefangen, bisher habe ich nur zwei Kapitei geschafft, aber was sich in meinem Kopf alles angesammelt hat, ist nicht in Kapiteln zu beschreiben. Ich fühle mich ungeheuer mutig - mutig genug, um dieser Lesung am 15. April ruhig entgegenzusehen. Trotzdem: am Nachmittag vorher der Gedanke, daß sie, wie sie ihre Lesungen zelebriert haben soll, traumhaft und unerreichbar gewesen sein muß. Himmelnochmal ich bin nicht sie, will es auch nicht sein. Ich werde meine eigenen Texte lesen, und dann, vielleicht, falls die Zuhörer überhaupt mitmachen wollen, ein Stück aus dem zweiten Kapitel. Aber: ist es denn so schlimm, sich ein Vorbild zu nehmen? In diesem Fall, ja, es ist schlimm. Es gibt genügend andere Beispiele. Mir fallen ein: Gabriele Wohmann, Ingeborg Drewitz, Peter Handke, Peter Weiß - die sind alle so groß; berühmt meine ich, und mit Else haben sie nichts zu tun. Mit mir etwa? Doch. Ich habe von ihnen gelernt. Aber sicher nicht mehr als von Else. Oder von Denny. Denny - was ist mit Denny? Sie und Kathrin machen heute abend Musik, öffentlich, wenige Straßen weiter. (So - ist es jetzt schon soweit, daß wir uns gegenseitig das Publikum wegschnappen? - Vergiß es. Vergiß es bloß. Wir wissen doch, wie das läuft.) Denny hängt nicht mehr so durch wie im letzten Jahr. Sie hat die Erfahrung gemacht, daß es wirklich auch Männer gibt, die nicht spurlos verschwinden, wenn es dir schlechtgeht. Wie abhängig wir sind in unserem Glauben an uns selbst von dieser Sicherheit konstanter Zuneigung... Das Auf und Ab: jetzt lebt Kathrin allein mit ihren Kindern, Andreas ist ausgezogen vor kurzem. Liebe, die trotzdem immer noch da ist, auch wenn du sie nicht täglich ertragen kannst: Else zieht von Walden fort, kommt wieder zurück, Walden zieht aus, kommt zurück, ein paar Wochen schweben sie gemeinsam über Wolken, bis wieder ein neues Gewitter hereinbricht, einen von beiden zu Boden schlägt. Die Unfähigkeit, das alltägliche Nebeneinanderherlaufen zu ertragen.
Der Traum vom Absoluten, Außergewöhnlichen, das sich nicht abnutzt. Die Welt in dir nicht in Übereinstimmung bringen können mit deiner Realität. Als ich die Caféhausszene vorlese, vergesse ich, daß da Leute sitzen, die zuhören. Was auf dem Papier steht, ist plastisch geworden, greifbar; es berührt. Ich höre es hinterher, lese es zwei Tage später in der Zeitung. Ob ich Schauspielunterricht genommen hätte, fragt mich die Journalistin in einem späteren Gespräch. Nein, seit den Laienspielaufführungen meiner eigenen Schulzeit habe ich mit Schauspielerei nichts mehr zu tun gehabt. Wenn ich darüber nachdenke, muß ich sagen, daß ich mich auch mehr interessiere für das In-Szene-Setzen an sich, für den Rahmen, der gebaut wird, als für das Hineinschlüpfen in eine Rolle. Ich hätte aber nicht gelesen, ich hätte gespielt, beharrt sie. Ich kann bloß sagen: gespielt habe ich nicht. Wenige Tage später tippe ich das Dezember-Kapitel in die Maschine: Paul - nein, Florian, wie er immer ganz begierig ist, von meinen Kinderzeiterinnerungen zu erfahren. Als ich ihn abhole von seinem Vater, wo er die Osterferien verbracht hat, freue ich mich darauf, ihn jetzt wieder bei mir zu haben. Wir kuscheln lange auf seinem Bett bevor er einschläft. Mit seinen ruhigen Atemzügen fallen mir selbst die Augen zu. Es ist gut so für den Moment. Ich muß nicht immer hinter irgendwelchen Telefonaten, hinter irgendwelchen Manuskriptseiten und Büchern her sein. Von seiner kleinen Schulter, neben die ich meinen Kopf gelegt habe, strömt Sicherheit aus und Urvertrauen gleichermaßen. Auch tagsüber trägt er diese Sicherheit mit sich, Als ich ihn auf einer Veranstaltung, auf der wir als Verlagsgruppe Texte vorgelesen haben, aus den Augen verliere, bin ich es, die sich Sorgen macht. Eben ist er doch noch zu uns auf die Bühne geklettert... Ich brauche eine Stunde, bis ich ihn mitten in den Zuschauerreihen wiederentdecke, von wo aus er das weitere Programm verfolgt. Er ist nicht damit einverstanden, daß ich ihn jetzt da herausreißen, nach Hause bringen will, weil er am andern Tag früh aufstehen und zur Schule gehen muß. Er ist gar nicht müde! Ich weiß - mein Nachtrhythmus hat sich längst schon auf ihn ausgewirkt. Ist es richtig, ihn so sehr an meinem Leben teilnehmen zu lassen?
Else, wie sie ihren Sohn, wenn er bei ihr in Berlin ist, überall mit hinschleppt. Vollkommen verwöhnt, frühreif ist er im Urteil der Zeitgenossen. Aber damals ist man mit Kindern sowieso noch anders umgegangen als heute. Ich kenne viele Leute, die ihre Kinder mitnehmen, wo immer sie hingehen. Das ist doch ganz normal! Es soll trotzdem nicht so weitergehen. In diesem Zwei-Frauen-ein-Kind-Haushalt ist er zu stark ausgeliefert. Ich habe mit Hilke gesprochen. Hilke hat zwei Söhne. Wir kennen uns nur flüchtig, aber wir mögen uns. Wir haben beschlossen zusammenzuziehen. Wir haben ein Haus gefunden, das ich kaufen will. Bei den hohen Mietpreisen momentan ist solche Idee gar nicht so absurd. Die fünftausend Mark aus dem Literaturstipendium werden gut angelegt werden. Sie werden mithelfen, uns und unseren Kindern ein Mehr an Geborgenheit zu schaffen, von wo aus wir dann alle ganz anders aktiv sein können. Wenn wir von dem, wie wir uns unser Zusammenleben wünschen, sprechen, geraten wir in Euphorie. Zukunft, die plötzlich Gestalt annimmt. Eine richtige Familie werden wir sein - drei Söhne! Wir haben die Details schon im Kopf lange bevor auch nur ein Vorvertrag für das Haus zustandekommt.
»Ich muß mir eine Existenz gründen«: Else, wie sie verzweifelte Hoffnung setzt auf eine Varieténummer, mit der sie glaubt, Paul und Walden und sich ernähren, die Miete bezahlen, für sie alle Freiraum schaffen zu können. Ausruhen will sie, reisen, leben. Wieder Kraft schöpfen für ein wirkliches Miteinander. Aber: wie sehr sie auch immer wieder schwärmt vom Elternhaus in Elberfeld, ihre Vorstellung von gesicherter Existenz hat mehr mit innerer Harmonie zu tun, mit dem Gleichgewicht, das sich erst einstellen kann, wenn du weißt, wovon du deinen Kaffee, dein nächstes Paar Strümpfe bezahlen kannst, wenn du weißt, daß es jetzt vorbei ist mit dieser täglichen Warterei auf die Pfennighonorare, die dir eine Abdruckerlaubnis oder eine öffentliche Lesung bringen. Für Hilke und mich steht fest, daß sich innere Harmonie nicht ohne geeignetes Drumherum verwirklichen läßt. Wenn wir zu fünft nur drei Zimmer haben, treten wir uns auf die Füße und werden nervös. (Und wo soll ich dann, bitteschön, nachts hingehen, wenn ich ein paar Seiten weitertippen will?) Und ich tippe viel in dieser Zeit. Ich merke nun, daß die Monate, in denen ich nur gelesen habe, in denen ich kein Wort zu Papier brachte und mich so gelähmt gefühlt habe, keine verlorene Zeit waren. Beim Schreiben tauchen oft Texte vor mir auf, die sich wie von selbst in den Zusammenhang fügen, meine Ideen vervollständigen, weiterführen. Stellen, die ich nachschlagen muß, finde ich auf Anhieb - es ist wie eine Garnspule, deren richtiges Ende ich jetzt in der Hand halte und die nun von allein vor sich hinrollt. Ich brauche keine Einlesephasen mehr, muß mich nicht jeden Tag von neuem in den Text, in die beschriebene Situation hineinorientieren - ich setze mich vor die Maschine und schreibe, als ginge es nur darum, ein schon fertiges Manuskript noch einmal abzutippen. Jean Pierre, als er sich telefonisch nach dem Fortgang meiner Arbeiten erkundigt, rät mir, doch endlich diesen Job in der Schule aufzugeben. Er ist überzeugt davon, daß ich nur deshalb so lange nicht vorwärtsgekommen bin, weil ich den Kopf nie ganz freihabe. Er hat recht und auch nicht. So lange etwas in mir selber nicht klar ist, suche ich mir tausend andere unaufschiebbare Aufgaben, türme sie vor mir auf als Ablenkungsmanöver. Die paar Stunden, die ich im Moment unterrichte, würde ich sonst mühelos füllen mit Geschirrspülen oder ziellosem Hin- und Hergerenne zwischen Kaufhausregalen. Ich kenne mich. Außerdem tut es mir auch ganz gut, meinen Aktionskreis nicht nur auf den eigenen Schreibtisch beschränkt zu sehen, auch regelmäßig Menschen zu treffen, die nichts zu tun haben mit dieser Geschichte, mit diesem Bohémeleben der Else-Figuren. Es ist alles gut so, sage ich ihm, ich komme vorwärts. Im Sommer, denke ich, bin ich durch. Jean Pierre - auf der anderen Seite der Erde, von anderen Sternen beschienen? Eine Woche später ruft er wieder an, unglücklich, mutlos. Er hat sich an der rechten Hand verletzt, das muß operiert werden, jetzt kann er nichts anfassen, nicht arbeiten. Das heißt, daß er seine Aufträge nicht fertigbekommt. Das heißt, wir werden diesen Sommer wieder nicht zusammen verbringen. Wenn ich jetzt nicht diesen Job hätte, könnte ich zu ihm fahren... Wenn ich das Buch nicht schreiben würde, könnte ich wenigstens in den Ferien zu ihm fahren. Es ist diese Art von Besessenheit, die wir teilen, die uns nicht trennt, obwohl sie uns trennt. Ich werde trotzdem in die Bretagne fahren, in dieses einsame Haus, wohin Jean Pierre erst im Herbst zurückkehren wird, ich werde Florian mitnehmen und Else.
Es läuft weiter wie gehabt. Anfang Juni hat das Februarkapitel Normallänge. Ich klappe die Ordner zu, bringe die Bücher zurück in die Bibliothek - ich habe jetzt erst einmal keine Zeit mehr für sie, wir müssen endlich anfangen, das Haus umzubauen, Ende des Monats wollen wir einziehen, und die Bücher, sie sollen nicht in Umzugskartons verschwinden und dann nicht mehr auffindbar sein, wenn die Leihfrist abgelaufen ist. Ich beschließe drei Wochen Pause, und dann, sofort nach dem Umzug, Endspurt in der Bretagne.
Ich sitze auf dem Fußboden, liste auf: hier müssen Kacheln abgeschlagen, Wasser- und Gasleitungen verplombt werden; die ganze Elektrik: alte, zweipolige Leitungen; dort, in dem kleinen Raum, soll einmal das Bad sein, man muß den Fußboden herausreißen, den Putz von den Wänden klopfen; unterm Dach gibt es Balken, zugemauert, übertüncht, die sollen freigelegt werden; die Heizungsrohre werden an dieser Seite nach oben gelegt... Je länger ich plane, desto schlechter fühle ich mich. Bin ich wahnsinnig geworden? Das schaffen wir nie in drei Wochen. Aber die Wohnungen sind gekündigt, und: wir wollen es doch gar nicht anders. Das Zurückschrecken vor dem Neuen. Mit einemmal der Zweifel, ob du wirklich in der Lage bist, die gewohnte Rolle abzustreifen. Schließlich sind wir nur zu zweit, zwei Frauen. Die Verantwortung, die wir seit Jahren für die Kinder haben, erscheint uns plötzlich gering gegenüber dem, was uns durch dieses Umbauvorhaben offensichtlich abgefordert wird. Hinterher, wenn etwas nicht stimmt, sind wir schuld - bei einem Haus zeigen sich Fehler schneller als bei Kindern. Es ist niemand da, der für uns entscheidet. Wir sind mißtrauisch, wir zweifeln, wir haben keine Vergleichsmöglichkeiten. Die Summen, von denen Freunde uns erzählen, klingen sowieso astronomisch. Andere haben in jahrelanger Kleinarbeit alles selbst gemacht, von der Heizungsinstallation bis hin zur letzten Fußleiste. Wir wollen in drei Wochen einziehen, aber wir sind keine Millionäre. Und wir wollen auch selbst arbeiten. Ich flüchte mich ans Telefon, rufe Jean Pierre an. Der, der am weitesten weg ist, ist mir immer noch der nächste. Seine Stimme klingt als säße er im Nachbarhaus. Natürlich kann er nicht sofort kommen. Wenn er im Sommer nicht seine eigenen Entwürfe umsetzt, hat er das ganze Jahr nur für andere gearbeitet. Es muß ja nicht alles sofort sein, sagt er. Laß mir noch was zu tun übrig, im September, wenn ich komme. Und es geht. Andreas, der im Ausbildungswerk arbeitet, wird die Elektrik machen. Er kommt mit den Kollegen für Installation und Maurerarbeiten, um alles anzusehen. Hinterher weiß ich gar nicht mehr, was ich will. Abends ruft Karl mich nochmal an, der Maurer. Er hat sich Gedanken gemacht, beruhigt mich. Ich habe plötzlich das Gefühl, daß ich ihm vertrauen kann. Es war richtig.
In diesen Wochen vergesse ich Else. Die Schreibmaschine ist eingestaubt. Ich habe Blasen an den Händen und manchmal morgens das Gefühl, die Arme nicht heben zu können. Es ist eine gute Zeit, in der wir uns aneinander bewähren, Hilke und ich, die Kinder, die Freunde, die kommen, um ein Zimmer zu tapezieren oder Schutt zu räumen, die Männer vom Ausbildungswerk, die für uns arbeiten und unsere Freunde werden. Karl vor allem. In der ersten Juliwoche, wir sind eingezogen, aber überall stehen noch Balgen mit Sand, liegen Rohre und Werkzeuge, die Türen sind noch nicht wieder eingehängt, und der größte Teil unserer Sachen steht kreuz und quer auf dem Dachboden - wir bewohnen ja erst die obere Hälfte des Hauses in der ersten Juliwoche ist Schluß mit all dem. Urlaubszeit; aber Karl kommt noch, trinkt mit uns Kaffee, am ersten Tag, am zweiten Tag. Auch für ihn ist das nicht nur ein Auftrag, den er vergißt, weil er jetzt Ferien hat. Er erzählt von seiner Jugend in Polen, von seinen Kindern, die jetzt groß sind, von der Arbeit im Ausbildungswerk. Er hat viel zu sagen. In einer Stunde mit Karl lerne ich manchmal mehr als in einem Semester an der Universität. Ich bin nicht traurig darüber, daß die Bauerei nach den Ferien noch weitergehen wird.
Am zweiten Abend nach unserem Umzug krame ich meine Schreibmaschine hervor. Mein Schreibtisch steht vorläufig in Florians Zimmer. Florian ist in Finnland. Es kam ganz plötzlich, er ist eingeladen worden von Freunden, mit ihnen den Sommer dort zu verbringen. Florian war begeistert - dann kannst du wenigstens in Ruhe an deinem Buch arbeiten, hat er gesagt, wie um mich zu beruhigen. Es hat mir einen Stich gegeben, aber ich habe ihn doch ohne schlechtes Gewissen fahren lassen können. Jetzt will ich am Februarkapitel weiterschreiben, mir beweisen, daß ich schon zu Hause bin, daß ich schon arbeiten kann inmitten all dieser Kartons und wild in der Gegend herumstehender Möbel. Zwei Seiten schaffe ich, nicht mehr. Die innere Harmonie stellt sich nicht ein auf Befehl. In meinem Kopf spukt ein blonder Junge herum, der ist biegsam und frech und schön. Er hat mir von Castaneda erzählt und von Träumen, die ich einmal selbst gehabt habe. Er hat mich angerührt mit seiner Ernsthaftigkeit, berührt mit zarten Händen, und ich habe - ich konnte nicht anders - an Else gedacht und mir vorgenommen, mich nicht zu verlieben. Nichtsdestotrotz hat er sich eingenistet in meinem Kopf, und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll. Selbstbestätigung? Ist es das, was Else immer wieder in solche Affairen tappen läßt? Ich halte mir einen Spiegel vors Gesicht, zähle die Falten in meiner Haut. Selbst wenn sie unsichtbar wären, sie sind doch da, die Verletzungen - die Wunden aus den vergangenen Jahren. Ich bin auch froh um die Erfahrungen, will gar nicht mehr zwanzig sein. Es macht mich nur traurig, wenn ich jemanden treffe wie diesen Jungen, so unbefangen, so aufmerksam und begeisterungsfähig, und wenn ich merke, daß ich, trotz allem, immer noch nicht viel klüger bin. Nur einfach zu alt, um mich noch einmal so ganz und voll einzulassen.
Wie steht sie denn da, dann, im Alter? 58 ist sie, als der Sohn stirbt, 64, als sie Berlin verlassen muß der Nazis wegen. Unbehaust war sie seit langem, seit ihrer Trennung von Walden eigentlich. Jetzt hat sie noch dreizehn Jahre vor sich, in der Schweiz, in Jerusalem endlich. Richtig gut ist es ihr wohl nie ergangen. Ich beneide sie nicht. Nicht um die späten Jahre, aber auch nicht um die frühen. Und die Fröhlichkeit in ihren Essays und Erzählungen erscheint mir, so nachträglich betrachtet, doch häufig sehr aufgesetzt. Im Grunde, glaube ich, war sie unglücklich. Auch schon in den Jahren ihrer Kindheit, die sie, aus der Perspektive der sich gegen das Erwachsensein sträubenden Frau, verklärt. Warum, habe ich noch nicht herausgefunden.
Ich will wegfahren, schnell. Habe entsetzliche Sehnsucht nach diesem bretonischen Häuschen, den riesigen Bäumen, die es umgeben, dem Grün der Landschaft, der Ruhe des nahen Meeres, nach dem Feuer im Kamin am Abend und all diesen lieben Erinnerungen. Trotzdem plötzlich Zweifel: jetzt, da Florian nicht mit mir fahren wird, da ich nur noch mit Else reisen werde, da ich allein sein werde mit ihr - werde ich das aushalten? Ich weiß, sie wird mich keinen einzigen Tag loslassen, sie wird sich festkrallen in mir, ich werde unfähig sein, mich mit irgend etwas anderem zu beschäftigen, werde von morgens bis in die Nacht hinein ihre Konflikte durchleben. Es wird niemand da sein, der mich ablenkt, mich herausreißt wenigstens für eine Stunde zwischendurch, ich werde niemandem erzählen können, was in mir vorgeht. Der Zwiespalt: so sehr ich mich zurückziehen will, um diese Geschichte endlich ungestört zu Ende bringen zu können, so sehr fürchte ich mich plötzlich davor. Als Antje sagt, daß sie Lust hätte mitzukommen, freue ich mich. Sie wird ein paar Grafikentwürfe fertigstellen in diesen Tagen - wir werden also beide arbeiten. Ich erzähle ihr, wie mich die riesigen Bäume fasziniert haben, wie ich in meinem Zimmer unterm Dach gesessen und die Erzählung von Jonas geschrieben habe, ständig mit den Augen in den sich hin- und herwiegenden Wipfeln. Wie diese Bäume für mich zum Inbegriff einer gelungenen Flucht aus der Stadt geworden sind. Else, wie sie sich lustigmacht über die Ästhetiker und ihren Hang, sich aufs Land zu begeben:
»Zieht sich Gott etwa auf ein Dorf zurück? Wie der ästhetisch Schaffende seine Romanseele lüftet auf der Weide in Worpswede oder Lüneburger Heide. Oder wie durch Vorstadt Maie, Amadeus Müller führet sein Naturhaar durch das Freie... «
Sei's drum. Ich sitze jetzt abends unter einem Mimosenbaum, um den letzten Sonnenstrahl, der übers Hausdach noch herüberkommt, einzufangen, und so, weit weg von allem, was mich ablenken könnte, bin ich bereit, ihr wiederzubegegnen. Wenn ich den Brief an Jean Pierre zu Ende geschrieben habe. Und ich bin ihr bald näher als je zuvor. Ich wühle in ihren Büchern, greife ein Gedicht heraus, das ihr in dieser Zeit in den Kopf gekommen sein könnte, nach allem, wie ich ihre Lage versuche nachzuvollzieben - und finde ein paar Tage später meine Vermutung bestätigt beim Durchblättern ihrer Erstveröffentlichungen im STURM. Mit Ich bin traurig ist es mir so ergangen, mit der Anspielung auf die Bibelgedichte und dem Rückgriff auf Senna Hoy im März-Kapitel. Ich schwöre, ich habe es nicht gewußt bevor ich es aufschrieb. Am selben Tag stolpere ich in Mein Herz über eine Passage, in der sie von Goldwasser-Trinken erzählt, ähnlich wie ich sie im Januar-Kapitel untergebracht hatte. Verwirrung und Ungläubigkeit: führt sie mir die Hand? Bin ich in ihre Haut geschlüpft? Werde ich langsam verrückt? Vor zwei Jahren habe ich hier den Kohlhaas von Elisabeth Plessen gelesen. Die Stelle, wo Elisabeth Plessen kurz vor Beendigung des Buches beschreibt, wie sie wegfährt von zu Hause, nach Italien, um diesem Kohlhaas-Gespenst zu entkommen, das sie doch nicht abschütteln kann, bevor sie seine Geschichte zu Ende gebracht hat: es hilft nichts, ich weiß es. Ich kann kein anderes Buch mehr lesen - zu einem Patricia Highsmith-Krimi brauche ich eine Woche, weil ich ständig nach drei Seiten oder nach zehn, es macht keinen Unterschied, irgendetwas nachschlagen muß über Else oder über Berlin oder über einen der Freunde. Lese außerdem nur noch, was ich selbst geschrieben habe, bessere hier ein Wort aus, dort einen Satz. Schreibe seit Monaten nichts mehr, was nicht mit ihr zu tun hat, habe meine eigene Sprache verloren, selbst in Briefen stoße ich auf Wortschöpfungen, die an sie erinnern, ich bin vollkommen infiziert inzwischen, da ist nichts mehr übriggeblieben von mir selbst.
Sie interessiere sich sowieso nur für ihre eigenen Dichtungen, hat sie einmal gesagt. Ironisch oder nicht - sie muß von sich selbst besessen gewesen sein. Ähnlich wie ich es jetzt von ihr bin. Keine Vorstellung, was ich mit mir anfangen kann, dann, wenn ich ihre Geschichte hinter mir habe. Werde ich wieder meine eigenen Worte finden? Werde ich in der Lage sein, mich einzulassen auf Bücher, auf Geschichten - auf Menschen - die nichts mit ihr und nichts mit mir in ihr zu tun haben? Wie lange danach wird sie mich noch festhalten?
Ich sitze mitten im Februar 1910, es ist Sommer, Juli, und die bretonischen Hortensien blühen vielfarbig wie je. Keine Zeit, sie auf Farbfilm zu bannen. Ein einziges Mal raffen wir uns auf in diesen Tagen, um einen Abendspaziergang am Meer zu machen. Und der Februar nimmt und nimmt kein Ende. Zu Hause war ich der Meinung gewesen, ich hätte alles, was da sich zusammengebraut hat, schon aufgeschrieben. Jetzt erscheint es mir ungenügend und langweilig. Und ich weiß wieder einmal nicht, was ich sinnvollerweise auswählen, was fortlassen soll. Wenn ich an eine Stelle komme, an der ich konstruieren muß, erfinden, stocke ich. Ich mißtraue mir, will nicht auf Fantasieflügeln auf und davon fliegen. Der Anspruch: es soll nachprüfbar sein, wenigstens in groben Zügen. Nachvollziehbar. Einleuchtend. Lege ich ihr falsche Worte in den Mund? Reagiert sie glaubhaft? Ist überhaupt noch etwas von ihr übriggeblieben, das sie als wirklich lebendige Figur erscheinen läßt? Wenn ich vergleiche, was ich vor einem Jahr geschrieben habe und was ich jetzt aus ihr mache, muß ich mir eingestehen, daß sie anfängt, mich zu langweilen. Ich kenne sie jetzt. Ist es nicht immer dasselbe, was sie sagt, wie sie sich verhält, wie sie mit den sie umgebenden Menschen umgeht? Sie kann so nicht gewesen sein. Nicht nach dem, was sie geschrieben hat zu dieser Zeit. Was mir hilft, ist Antjes Interesse. Kaum habe ich ein paar Seiten getippt, ist sie da, will wissen, wie es weitergeht. Daß sie sich beim Lesen nicht zu langweilen scheint, hindert mich letztlich daran zu kapitulieren. Ich kann ja, mit etwas Abstand, später, überarbeiten.
Jetzt muß ich da erst mal durch. Nebenbei und zur Abwechslung fange ich an, den Gartentisch zu streichen. Irgend etwas machen, was hinterher schöner und besser ist als vorher. Was mir, während ich mich damit beschäftige, Zeit gibt zum Weiterdenken. Was als sichtbares Zeichen zurückbleibt, wenn ich längst wieder fort bin. Ein Satz von Noel, Jean Pierres Bruder, gräbt sich in mir ein: Vergiß nicht, daß du auch lebst. Sonst stellst du irgendwann einmal fest, daß du über deiner Arbeit dein Leben vergeudet hast. Er sagt es, als er kommt und mich müde und schlaff vorfindet, ratlos und ohne Schwung, und nicht wie jemand, der gerade Urlaub macht. Als ich Tassen auf den Tisch stelle, um mit ihm Tee zu trinken, klappe ich die Briefe an Karl Kraus zu, über denen ich hängengeblieben bin: bis zum 27. März 1910 war alles klar, dann - und das sind drei wichtige, entscheidende Briefe - fehlt die Datierung. Die nächste Nachricht, die zeitlich wieder einzuordnen ist, stammt vom 6. Oktober. Ich kann keine anderen Bücher zu Rate ziehen, kann nicht gegenlesen, habe zu wenig Material mitgenommen. Ich stecke fest. Genau um diese drei Briefe geht es jetzt, um das Gefühlschaos, das sie enthalten, um Trennung und gescheiterte Pläne, um Versöhnung und Zukunftsangst. Der große Krach - wann hat er stattgefunden? Ist es richtig, ihn, der sonstigen inhaltlichen Kontinuität, die aus den Briefen herauszulesen ist, folgend, für Ende März anzusetzen, die Versöhnung, vorübergehend wie vorher schon häufiger, dann für April anzunehmen? Oder drehe ich jetzt Geschichte nach meiner Interpretation, nach meinen Wunschvorstellungen, biege ich sie so lange zurecht, bis sie mir ins Konzept paßt? Kann ich das noch verantworten?
Anhaltspunkt: Else, nachdem sie in Nr. 4 des STURM ihr Gedicht >Ich bin traurig< veröffentlicht hat, hat erstmalig zu Nr. 5 keinen Beitrag geliefert. STURM Nr. 5 erschien am 31.März 1910. Zugegeben, das ist eine Konstruktion. Aber es wäre möglich, daß ihre Enttäuschung über Waldens Untreue, von der sie Karl Kraus berichtet, genau zeitlich übereinstimmt damit, daß sie sich zurückzieht aus seinem Projekt, vorläufig natürlich nur. Ihre Essays aus Nr. 6 und Nr. 7 dann könnten von der momentanen Beilegung dieser Krise zeugen. Ich will es ja nicht beweisen. Aber es ist ein Denkmodell. Eine Möglichkeit. Die Tatsache, daß sie enttäuscht war und daß die beiden sich schließlich getrennt haben, bleibt bestehen, selbst wenn jemand kommt, der nachweisen kann, daß alles ein Vierteljahr später geschehen ist.
Warum wird mir an dieser Stelle ausgerechnet der Seiltänzerakt, die ganze Akrobatik meines Unterfangens so bewußt? War ich skrupelloser vorher? Will ich jetzt, da ich das Ende so greifbar vor mir sehe, noch einen Grund finden, doch nicht aus dieser Geschichte hinaustreten zu müssen? - Ich beschließe: nein. Ich will mich nicht drücken. Als wir zurückfahren nach Hause, habe ich den Anfang des letzten Kapitels auch schon im Ordner. Es wird schnell gehen jetzt. Ein paar Tage gebe ich mir zum Neueingewöhnen - ich weiß ja, wie es ausgehen wird. Ich kann die noch nötige Arbeit schon in Stunden zählen.
Einen Abend brauche ich noch. Und hinterher viel Zeit für mich, um herauszufinden, was davon alles zu mir gehört. Der Neuanfang, den jedes Ende mit sich bringt? Vielleicht verpasse ich ihn, bin schon mitten in einem neuen Projekt bevor es mir bewußt wird. Mit Else ist es mir so ergangen. Zwei Tage nachdem ich den letzten Satz geschrieben habe, bitte ich Hilke, mir die Haare abzuschneiden, radikal. Es ist der 31. Juli 1982.