April 1910

Doch, der Winter ist vorbei. Else und Kete sind über trockene Wege gewandert, die Arme ineinandergeschlungen, haben den Tiergarten durchstreift, immer wieder ihr Gespräch unterbrochen, um sich gegenseitig aufmerksam zu machen auf eine Stelle, an der das Grün zu ihren Füßen besonders hoffnungsvoll schimmert, auf die ersten Gänseblümchen, auf Weidenkätzchen und Blattknospen. Kreuz und quer sind sie gelaufen, haben sich über den Himmel und die milde Sonne gefreut und über den Frühlingsduft, der sie umgibt wie zarter Schleier. in einem Gartenlokal sitzen sie jetzt, vor einer Hecke aus lichtgrünem Blattwerk, beugen die Köpfe über dem Tisch zusammen. Ketes blondes Haar, im Nacken zu einem lockeren Knoten gebunden, flimmert silbrig um ihr zartes Gesicht. Das Kinn in die Hand gestützt, wendet sie den Blick nicht von Else, beobachtet sie aufmerksam mit gegen die Sonne etwas zusammengekniffenen Augen: Lichtreflexe auf glattem schwarzem Haar; unruhige Finger, die an einem Limonadenglas spielen, an der Tischdecke zupfen, ein Zigarettenpäckchen umschließen; Augen, die gegen den Frühlingstag noch schwärzer erscheinen als sonst, den Kontrast zu dem winterblassen Gesicht verstärken; die Stimme ungewohnt matt. - Und dann? fragt Kete, in die Pause hinein, die entsteht, als Else sich eine Zigarette anzündet. - Dann habe ich Kraus gebeten, [1] mir den Brief zurückzuschicken. Verstehst du, ich kam mir plötzlich so hysterisch vor, so ungerecht. - Ungerecht? - Ja. Als ich sah, wie niedergeschlagen Herwarth war, wie bedrückt, wie abgearbeitet, er hat mir so leid getan plötzlich. - Das heißt, ihr seid also wieder versöhnt? Else schleudert die Zigarette in hohem Bogen über die Hecke, schaut ihr lange nach, wie sie da vorne auf dem Kiesweg liegt und Rauchzeichen sendet. Dann streift sie mit einer ruckartigen Bewegung das Haar aus der Stirn und sagt, während sie sich zurücklehnt: du weißt ja, wie das so geht zwischen uns... Kete nickt. Jeder weiß es. Daß das Ehepaar Walden seit längerer Zeit von Entzweiung zu Versöhnung zu neuer Entzweiung und neuer Versöhnung wechselt, ist kein Geheimnis. Nicht immer ist der jeweilige Anlaß dieser Auseinandersetzungen für Außenstehende ganz durchschaubar. Sie Selbst, Kete, hat mitunter Schwierigkeiten, Elses wirren Erzählungen zu folgen. Aber dieses Mal ist es ihr nicht schwergefallen, Elses Reaktion nachzuvollziehen. Sie weiß, wie die Freundin sich abmüht seit Wochen, um ihren Teil zur finanziellen Absicherung des Familienlebens beizutragen. Sie weiß, wie sehr sie darunter leidet, bisher nur gegen verschlossene Türen geraten zu sein. Sie versteht, daß Waldens Seitensprung sie gerade in dieser Situation so enttäuscht und verbittert. Daß das geringe Interesse, das Walden Elses Plänen gegenüber zeigt, jetzt, zusammen mit dieser Affaire, ihr völlig den Boden unter den Füßen weggezogen haben muß. Um so weniger will es ihr einleuchten, daß schon drei Tage später wieder alles beim alten sein soll. - Wir lieben uns doch, hört sie Elses Stimme in ihre Gedanken hinein, wir wollen uns doch nicht gegenseitig zerstören. Kete nickt. Wahrscheinlich ist es das, was diesen Knoten so unlösbar erscheinen läßt. Daß keiner der beiden bisher sich wirklich vom anderen freigemacht hat innerlich, Walden nicht, trotz aller Versuche, eigene Wege zu gehen, und Else schon gar nicht. - Else, sagt Kete vorsichtig und streckt ihre Hand über den Tisch, legt sie auf die der Freundin und fängt deren Blick mit ihren klaren grünen Augen ein, meinst du nicht, daß ihr trotzdem beide ganz heftig daran arbeitet, euch kaputtzumachen? Jeder sich selbst und den anderen? - Das ist nicht wahr. - Else schüttelt den Kopf. Sie will noch mehr sagen, aber Kete fährt fort, ohne ihr Zeit zu weiteren Einwänden zu geben. Ihre Stimme gleicht einer ruhigen Altglocke, die streichelt und besänftigt gleichermaßen, und Else, die diesen Glockenton liebt, sitzt kerzengerade und aufmerksam. Sie hört zu und macht keinen weiteren Versuch zu unterbrechen. Von der langen Zeit spricht Kete, die Else und Herwarth jetzt zusammenleben, von den vielfältigen Anstrengungen, die sie gemacht haben, jeder für sich und doch immer wieder gemeinsam, einen Weg zu finden, sich zu verwirklichen, sich nicht einschließen zu lassen von den festgefügten Mauern der Konvention. Wie sie wachsam geblieben sind und aufmerksam für das, was um sie her vorgeht. Wie sie jeder bereit waren, für den anderen sich einzusetzen, zu streiten, Barrikaden zu stürmen, wie sie sich allmählich einen immer unüberschaubarer werdenden Freundeskreis erschlossen haben, in dem jeder für sich seinen Platz hat und - Kete wiegt den Kopf bedächtig hin und her, sie ist jetzt an den Punkt gekommen, um den es ihr eigentlich geht, schau, sagt sie leise, und trotz dieser langen Geschichte, trotz dieser ganzen Entwicklung, die ihr zusammen gemacht habt, hat keiner von euch sich aufgegeben. Jeder ist er selbst geblieben, ihr seid nicht miteinander verschmolzen, ihr wart immer frei genug, genau das zu tun, was ihr richtig fandet. Das war vielleicht das Grundprinzip eures Zusammenlebens bisher. Ihr solltet es beibehalten. Else, noch ganz im Bann ihrer Stimme, nickt überrascht. Sie weiß nicht so richtig, worauf die Freundin hinauswill. Ja, sagt sie und kneift die Augen zusammen, weil sie trotz angestrengten Nachdenkens sich keinen Reim auf Ketes Schlußfolgerung machen kann, warum glaubst du denn, daß wir jetzt momentan etwas anders machen als vorher? - Mir kommt es so vor, sagt Kete und streift mit dem Blick den Weg entlang, wie er sich hinter dem Café in den Büschen verliert, als hättet ihr angefangen, euch gegenseitig erziehen zu wollen. Vielleicht kommt das daher, daß ihr finanziell so fürchterlich unter Druck steht. Aber, schaul du rennst hinter einer Sache her, und Herwarth rennt hinter einer Sache her. Jeder ist überzeugt, daß seine Idee die bessere ist. Früher hättet ihr euch gegenseitig geholfen - Das mache ich doch jetzt auch. Ich arbeite doch mit am Sturm. - Ja. Ja und nein. Sag lieber, du entziehst dich nicht ganz. - Weil ich meine Sache im Moment für wichtiger halte. Und der Sturm ist Herwarths Kind. - Und wenn du Streit mit ihm hast, stellst du deine Mitarbeit ein. - Aber er hilft mir überhaupt nicht. Wenn er sich nur ein bißchen für mich einsetzen würde, hätte ich Stellung. Kete schüttelt den Kopf: ich will auf etwas anderes hinaus. Ich denke nämlich, ihr könnt euch gar nicht füreinander einsetzen, weil ihr viel zu mißtrauisch seid. Jeder hat Angst, daß der andere ihn verläßt. Die Bestätigung, die ihr euch nicht gegenseitig gebt, holt ihr euch von anderen. Ob das jetzt Paula Richter ist oder dein Tristan. - Das ist etwas anderes, das weißt du. Ich mache da nie ein Geheimnis daraus, wenn ich mich verliebe. Aber Else fährt sich mit den Händen durchs Haar, starrt sekundenlang vor sich hin: weißt du, Kete, ich glaube, ich war gar nicht so wütend, weil er ausgerechnet mit Paula... ich glaube, ich war hauptsächlich darauf eifersüchtig, daß er jetzt den Sturm hat und ich sitze immer noch da und kriege meine ganzen Ideen an niemanden los. Wenn ich nur einen Monat lang auftreten könnte, müßte Herwarth keine Literatur mehr machen, sondern könnte wieder Klavier spielen, und wir wären alle Sorgen los. - Er will aber jetzt Literatur machen. Sie sehen sich an, greifen dann beide zur gleichen Zeit nach dem zwischen ihnen liegenden Zigarettenpäckchen, lachen. Else, die schneller war, hält Kete die Schachtel unter die Nase: nach ihnen, bittesehr. Sie geben sich gegenseitig Feuer, sitzen dann zurückgelehnt und rauchen schweigend. - Mir fällt da gerade etwas ein. - Kete läßt den Rauch langsam zwischen fast geschlossenen Lippen hervorquellen: bist du sicher, daß du nicht eifersüchtig bist darauf, daß Herwarth jetzt auch Literatur macht? - Ach wo. - Else zuckt die Schultern: er dichtet ja nicht. - Sie lacht. Ein nicht ganz geglücktes, nicht ganz echtes Lachen. - Dann laß ihn doch Literatur machen. Mit allen Konsequenzen. - Mit allen Konsequenzen? Was meinst du? - Na, als Herausgeber einer Zeitung wird er den ganzen Tag beschäftigt sein. Es ist ein fulltime-job, verstehst du? Er wird sich ein Büro mieten müssen. Er braucht eine Sekretärin... - Du meinst, du meinst, es wird nicht möglich sein, in unserer Wohnung, wie jetzt... ? Else schluckt, daran hat sie gar nicht gedacht bisher. Daß da andere Arbeitsbedingungen notwendig werden könnten, daß da wirklich Eingriffe stattfinden würden in ihrer beider persönliches, ganz privates Leben. Doch, sie hat ihn vor sich gesehen, wie er Manuskripte vor sich hat, wie er liest, korrigiert, lektoriert, wie er plant, aber daß all das mit ernsthafter beruflicher Anstrengung gekoppelt sein wird, langfristig, daß ihr gegenwärtiges Leben sich, so, wie sie es führen momentan, kaum mehr beibehalten lassen wird - all das hat sie bislang nicht so konsequent vor sich gesehen. Sie sitzt da, raucht sich mit einer schnellen, nervösen Bewegung eine neue Zigarette an, starrt vor sich hin. Vielleicht - vielleicht hat sie es geahnt, vielleicht war da unbewußt in ihr diese Angst vor dem Neuen, Ungewissen, was sie so sehr auf den eigenen Plan, mit einer kurzfristigen Varieténummer genügend Geld zu verdienen, bestehen lassen hat, vielleicht hat sie es sich nur nicht eingestanden, daß Herwarth mit dem Sturm jetzt so ganz anders würde leben müssen, als sie es sich für sich selbst wünscht? Schweigend, mit weit aufgerissenen Augen sitzt sie Kete gegenüber, und es ist, als hätte sie jetzt gerade, in diesem Moment zum ersten Mal einen Blick in eine Realität gewagt, die ihr vorher verschlossen schien. - Kete, sagt sie und schaut hilfesuchend auf die Freundin, die, die Ellbogen auf den Tisch gestützt mit ineinander gefalteten Händen, so ruhig und sicher ihr gegenübersitzt: heißt das, du meinst, es ist nicht nur das Büro und die Sekretärin... ? Dieses sanfte, unergründliche Lächeln, allwissend, [2] hinreißend schön, aus grünen Augen in blonden Farben: Kete lächelt fast ohne eine Miene zu verziehen. Sie sitzt lange stumm da, als müßte sie jedes Wort genau überdenken, und dabei weiß Else doch, daß Kete sich längst klar ist darüber, was sie ihr sagen will. - Sag doch, drängt sie, ist es - meinst du, es ist besser, wenn ich mich mit dem Gedanken vertraut mache, daß wir tatsächlich in nächster Zeit verschiedene Wege zu gehen haben? Aber Kete, immer noch lächelnd, schüttelt den Kopf. Auch diese Bewegung ist sanft und kaum wahrnehmbar. Nur in ihren Augen scheint plötzlich ein Funke erwacht, der irgendwo zwischen Wissen und gekonnter Berechnung beheimatet sein muß. Else kann den Blick gar nicht von ihr wenden. Mit erwartungsvoll geöffneten Lippen sitzt sie, bereit, jedes Wort, das die Freundin sprechen wird, aufzunehmen und nachzuformen. - Es ist doch, sagt Kete endlich, eigentlich gar nicht so schwer vorherzuberechnen: Herwarth, wenn er tun kann, was er für nötig hält, auch, um sich von dir abzugrenzen wird, nach einer gewissen Zeit, in der er dieses und jenes ausprobieren wird jedenfalls, um so fester zu dir gehören. Falls - sie zieht die Augenbrauen in die Höhe, wiegt den Kopf - ihr beide es dann wirklich noch wollt. - Sie greift über den Tisch nach Elses Hand, hält sie fest. Versteh mich richtig, Else, ich kann auch nichts vorhersagen. Ich kann nicht in die Zukunft sehen. Aber es würde mir einleuchten nach allem, was du erzählst von euch, daß ihr wirklich euch wieder zusammenfinden könnt, nicht nur für einen Tag oder für zwei, wie jetzt, wenn ihr erst beide wieder jeder für sich Boden unter den Füßen habt. Dazu gehört Zeit. Und die Möglichkeit zu experimentieren. Und Vertrauen, setzt sie hinzu, als sie den Zweifel in Elses Augen entdeckt. - Das ist Pokern, was du da vorschlägst. - Vielleicht. Vielleicht ist das Pokern. Aber du hast gute Karten. Du hast doch jede Menge eigene Pläne, oder? Else nickt stumm. Dann, in einem plötzlichen Impuls, steht sie auf und legt Kete beide Arme um den Hals: Hedda Gabler. Ich habe es schon immer gesagt. Ibsen würde seine Freude an dir haben. - Mag sein. - Kete, die ihrerseits nun auch die Arme um die Freundin gelegt hat, Elses Kopf ganz nah zu dem ihren herunterzieht, flüstert ihr ins Ohr: aber das Puppenheim hat er für dich geschrieben. Du mußt immer wieder von dort ausbrechen, mußt dir immer wieder neu klarmachen, daß die
se Zeiten vorbei sind, auch wenn sie so herrlich bequem waren. Wir - und damit steht sie auch auf, greift nach ihrer Tasche - können dorthin nicht mehr zurück. Und sei's nur, weil unsere Männer heute ihre Rollen nicht mehr richtig stilgetreu spielen können. Sie gehen zurück durch den frühlingsduftenden Park. Langsamen Schritts, die Arme ineinander verschlungen, schweigend. In Elses Kopf tönt vielfältiges Echo von Ketes dunklen Glockenworten. Als sie das Viertel der eleganten Wohnhäuser durchquert und hinter sich gelassen haben und wieder eintauchen in den geschäftigen Lärm der Weltstadt, läßt Else Ketes Arm los, läuft ein paar Schritte voraus, hebt die Arme über den Kopf, wirbelt einmal im Kreis um sich selbst, und, innehaltend und darauf wartend, daß Kete sie wieder einholt, fragt sie. weißt du, was ich möchte? - Sie wartet gar nicht auf Antwort und fährt fort: ich möchte, ich möchte mir einen Hut kaufen. Auf der Stelle. Einen schwarzen Hut mit einer breiten Krempe, wie Peter Hille ihn trug. Seit ich ihn kenne, wünsche ich mir so einen Hut. Schwarz muß er sein. Auch wenn jetzt Sommer wird. Schwarz, breitkrempig, weißt du, welchen ich meine? Kete nickt und lacht und läßt sich mitziehen. - Und, sagt Else, während sie zwischen den Passanten hindurch auf ein Geschäft zusteuert, in dessen Auslagen Seidenstoffe und Putzmacherzeug liegen, heute abend, hast du Zeit? Heute abend gehen wir in den Gott der Rache. Ich muß diese Bordellkupplerin noch einmal sehen, Tilla [3] Durieux, so frech und keck und so voll im Bewußtsein ihrer Macht, daß sie vernichten kann je nach Berechnung. Eine hervorragende Rolle für eine hervorragende Frau, findest du nicht auch? Wie sie sich verändert in jedem neuen Stück, ich kann gar nicht genug davon bekommen. Die Klinke der Eingangstür zu dem Geschäft, in dem sie den Hut kaufen will, schon in der Hand, zögert sie noch einmal, schaut an Kete vorbei die Straße hinunter, alle die Menschen, die bunten und grauen, die ihr entgegenkommen und an ihr vorbeilaufen, und fragt leise: es sind die Frauen, nicht wahr, wir sind es doch, die die alten Rollen nicht mehr richtig stilgetreu spielen können?