Oktober 1909

Im Zimmer ist es dunkel geworden. Die Umrisse der Möbelstücke sind weichgezeichnet, alle Ränder abgerundet, Kanten aufgelöst als flössen sie in Schleier. Die Decke hat sich herabgesenkt, der große Raum engt sich zur Höhle.
Else reißt die Augen auf. Noch muß sie das, was sie umgibt, nicht ahnen. Der Tisch vor dem Fenster, der Stuhl mit der hohen Lehne, sogar die Bücher und Blätter auf beiden - auch jeder andere würde sie erkennen.
Der Rest weicht dem Blick. Weiter hinten im Raum sind die grauschwarzen Schleier tröstlich. Sie liegt und starrt an die Tür. Bewegt sich die Klinke? Vom angestrengten Schauen wird der Blick starr. Else senkt die Lider. Mit der Hand tastet sie sich die Plüschlehne entlang, so bleibt sie, die Knie angezogen, den Kopf auf der Armlehne des Sofas, mit halbgeschlossenen Augen, lauscht.
Ein Amsellied fliegt ihr durchs geschlossene Fenster entgegen. Melodietöne, starke, sanfte. Kann das sein? jetzt? Mit einem Ruck setzt sie sich auf. Das Amsellied im Ohr macht sie ein paar Schritte aufs Fenster zu, stützt sich mit der Hand auf den Tisch, sucht mit den Augen in den Abend hinaus. Regenwetter, Pfützen im Licht der Straßenlaterne. Sie hat's ja gewußt. Täuschung. Es wird doch Winter. Als sie sich ins Zimmer zurückdreht starrt es ihr stockschwarz entgegen. Aus der heimeligen Schleierhöhle ist ein schwarzes Loch geworden. Wenn sie nichts dagegen tut, werden die Gnomen und Zauberhexen, die wilden Dschungeltiere ihres Lebens gleich hinter den Möbeln, den Bildern und Spiegeln hervorkommen und über sie herfallen. Zerreißen wollen sie sie in jedem Moment, in dem sie nicht auf der Hut ist. So war das schon immer. Man muß wachsam sein. Oder sie mit Träumen besänftigen. Manchmal gelingt ihr beides nicht. Dann kann sie nur noch fliehen.
Entschlossen geht sie zu dem riesigen halbblinden Wandspiegel. Auf der Konsole schräg vor ihm findet sie den porzellanenen Kerzenleuchter, Streichhölzer liegen daneben. Else greift nach der Schachtel, entzündet die Flamme. Ein kleines flackerndes Licht gibt seinen Schein in den Spiegel, verdoppelt sich. Lichtinsel.
Das hat sie noch einmal geschafft, gerade noch rechtzeitig. Sie wirft sich einen verschwörerischen Blick im Spiegel ZU, reckt die Arme über den Kopf. Heute - heute nicht, denkt sie. Und laut sagt sie, mit ein er Wendung des Kopfes nach hinten, ins Zimmer, zum Bett hin, zum Sessel, zur Tür: ihr bleibt wo ihr seid. Ich befehle es euch. Mir ist nicht nach Spielen. Sie kichert, dreht sich um sich selbst, verneigt sich mit weit ausladender Gebärde vor der da im Spiegel, macht ein paar Tanzschritte auf den niedrigen Tisch vor dem Sofa zu, da hat sie die Flöte hingelegt, vorhin, vorhin oder gestern mittag, oder letzte Woche, eigentlich liegt sie immer da auf dem Tisch, die gute, die Flöte. Sie setzt sie an die Lippen, spielt. Da ist es wieder, das Amsellied, zieht sich trillernd durch den Raum, trillert und schluchzt, schluchzt klagend, schluchzt noch einen langen wehmütigen Triller - nein, ihr ist nicht nach Spielen. Sie läßt die Hände sinken, neigt den Kopf. Heute - heute nicht. Einen Moment steht sie verloren im flackernden Kerzenlicht, dann wendet sie sich wieder dem Wandspiegel zu. Geht ganz nah an ihn heran, preßt sich sekundenlang die Nase platt, und in geringem Abstand, die Augen weit geöffnet, seufzt sie sich entgegen: schauerlich. Schauerlich. Aber es soll nicht vorbei sein. Und wenn ich tausendmal alt werde und faltig und runzlig und blaß, - ich bin immer noch schöner als diese, diese - ihr fällt kein passendes Wort ein - diese neunmalkluge Haremsdame mit den Perlen, die sie sich in die Ohren stechen läßt, diese blasierte Allerweltspuppe, die immer lacht und kein Fünkchen Genie hat - oh, kein Fünkchen Genie. Nicht den leisesten Hauch von Genialität hat sie an sich. Deshalb braucht sie es auch so nötig, sich im Abglanz fremden Lichts zu halten, diese, diese -
Sie sieht an sich herunter und unterbricht ihre Klage. Sehe ich etwa aus wie vierzig? Vierzig Jahre: das sind doch Matronen. Wohlanständige Ehefrauen mit wohlerzogenen Kindern und deren wohlerzogenen Kindermädchen, und dazu genauso wohlanständige Ehemänner, und die, die halten sich heimlich, aber davon weiß man wirklich nichts, ganz und gar nicht wohlerzogene Mädchen. Nicht Kinder, sondern Ehemännermädchen. Und die Ehefrauen, die haben dabei trotzdem alles, was sie brauchen. Selbst wenn sie's wüßten, das, was ihre Ehemänner mit diesen ganz und gar nicht wohlerzogenen Ehemännermädchen machen, müßten sie um nichts fürchten. Ach, und die Liebe? Die Liebe?
Sie streicht sich die lange weite schwarze Bluse um die Hüften herum glatt, an ihren Handgelenken klimpern dünne Reifen, die weiten Ärmel fallen dabei über die Bündchen auf die Handrücken. Vierzig? Was ist das schon? Ein paar Fältchen um die Augen, na und? Und kein einziges graues Haar, da kann man mit der Lupe suchen. Mit der rechten Hand streift sie das Haar aus dem Gesicht. Kurzer Pagenkopf wie sie ihn sich schon als Kind gewünscht hat. Da war das noch lange nicht en vogue. Doch: ihre Träume - wann waren die schon zeitgemäß?
An den vor den Spiegel gehaltenen Händen blitzen rote und grüne Splitter, ringgeschmückte Finger vollführen einen kunstvollen Tanz durch die Luft. Als wenn's drauf ankäme. Plötzlich steht sie, mit hängenden Armen und fröstelt. Es ist kalt. Else kniet sich vor den Ofen, öffnet das eiserne Türchen. Natürlich, kein Fünkchen Glut mehr. Wie tot, murmelt sie, gestorben, aschentot, totenkalt. Wenigstens Holz hätte er bereit legen können. Aber er hat ja nicht einmal die Asche geleert. Soll ich alles selbst machen? Das Nest warmhalten, damit er nicht friert, wenn er endlich nach Hause findet? An mich denkt er gar nicht. Ich sitze hier und - na warte, es wird einen Sturm geben. Einen Sturm. Sie lacht. Da ist keine Bitterkeit in diesem Lachen. Wenn du wüßtest, wie ich dich liebe. Ich trage mein Herz auf der Zunge, hab es dir tausendmal gedichtet - und du glaubst es nicht. Hältst es für lyrische Pose. Dabei lebe ich in meinen Worten und trage sie vor mir auf einem goldenen Tablett wie mein Herz. Aber komm du nur nach Hause -
Sie schlingt sich einen Schal um die Schulter, zündet die Lampe auf dem Fenstertisch an. Ich werde dich nicht suchen gehen im Café. Ich will sie nicht sehen heute, alle diese Gesichter. Ich hasse sie. Heute.
Auf dem Tisch liegt viel Papier. Die Blätter, die auf den Stuhl und auf den Boden gefallen sind, werden dazu gelegt, sorgsam geschichtet. Obenauf der Brief, heute morgen fand sie ihn zwischen viel anderer unwichtiger Post, hundertmal gelesen wurde er inzwischen, sie weiß ihn auswendig Wort für Wort und kann ihn doch immer wieder von neuem lesen und sich an ihm freuen.
Dieser Brief! Briefe können wie Spiegelbilder sein. Wie wenn du an einem ruhigen Teich stehst und du bückst dich und schaust hinein in sein Wasser: das ist dein Gesicht, das dir da entgegenblickt, ein bißchen verschoben und welligbewegt, nicht ganz du, so, als wäre eben die Anregung zu diesem Bild von dir ausgegangen, und du findest dein Bild wieder, findest dich wieder. Du kannst dir Grimassen schneiden und dich auslachen, und dein Bild hält deinem Lachen stand. Es wendet sich nicht ab, solange du es ansiehst. Und die Glockentöne, die du in deinen Brief gepackt und weggeschickt hast, klingen dir wieder entgegen mit der Antwort. Und du bist ganz verliebt, nicht nur in den, der dir so zu antworten weiß, sondern auch in dich, die du diese Antwort hervorgerufen hast mit deinem eigenen Brief, deiner eigenen Antwort. Briefe schreiben ist auch eine Art von lebendig sein.
Ja, nickt sie, als sie dasitzt und liest, es ist wirklich wie mit dem zweiten Gesicht. Ist es nicht faszinierend, daß unter diesen vielen tausend Masken ab und zu ein Mensch auftaucht, ein lebendiger Mensch aus Fleisch und Blut, einer, der versteht, der aus Worten die richtigen Gedanken herausspürt, der seine Gedanken mit ganz äl-inlichen Worten lebendig machen kann, der nicht zurückschreckt vor diesen eigenwilligkunstvollen Gebäuden, der selbst ein Baumeister ist, ein Künstler, ein Schloßherr. Einer, der seine Träume pflegt. Und der damit sein Leben lang ein Knabe bleiben kann, ewig 14jährig. Ein Freund. Ein Ebenbild. Ach, - und daß er bereit ist, das Bild in seinem Kopf auszutauschen, wenn er sieht, daß es in Wirklichkeit ganz anders, ganz ungedacht neu sich zusammensetzt. Vertrauensvoll das Bild wechseln können, das ist Freundschaft, echtes Indianertum. Welch ein Glück!
Dear fourteenjähriger boy, schreibt sie. [1] Das klingt wie das Lächeln, das dieser Brief in ihr Gesicht gezaubert hat.   [2] Ich sagte Ihnen ja immer, ich bin Jussuf [3] aus Egypten,  schon der mageren Kühe wegen; jetzt ist das Lächeln verlöscht auch trage ich den lammblutenden Rock, auch warfen mich meine Brüder in die Grube und ich kenne Potiphars Weib, das mich mißbrauchte und - die schwungvollen schwarzen Linien, die die Feder aufs Papier geworfen hat, scheinen nachzuzittern, es zittert auch Elses Hand.  Sie legt die Feder neben das Blatt, starrt ein Loch in die dunkle Fensterscheibe. Oktober, und was für eine bleierne Nacht. Immer kommt alle Bedrohung im Herbst, immer. Als wenn nicht der Gedanke an den nahenden Winter schon allein schlimm genug wäre. Manchmal ist es wirklich fast menschenunwürdig schwer, sich in dieser kargen Umgebung nicht aufzugeben. Nur träumen kann man da noch, ja - es gibt sie doch, diese andere Welt, strahlende funkelnde Glückswelt, man muß sie nur in sich tragen und auch in anderen ausdeuten wollerl, das gibt Kraft, immer wieder, und sie können einem nichts anhaben, die Kalten, Stolzen, die nichts verstehen, die nie hinter den Dingen sehen.
Sie nimmt die Feder wieder zur Hand, Träumedeuten, schreibt sie, ist meine besondere Begabung. Und nachts trage ich den königlichen Turban im Schlaf und schenke Walzen aus.
Es stimmt, stimmt alles. Er wird es schon verstehen. Und dennoch: daß Sie mich anders denken konnten - ich kann doch nur ein Bursche sein oder ein Königssohn. Und Sie? Ich möchte Sie sehn - im schwarzen Nachtfenster lächelt er ihr zu, nein, er lächelt gar nicht, er nickt nur ein ganz klein wenig mit dem Kopf als freue er sich, sie so dasitzen zu sehen, diesen Brief schreibend. Seine hellen Augen ruhen in ihrem Gesicht, er hat einen schmalen Mund und eine schmale, gebogene Nase und sein glattes Gesicht ist weich und kantig zugleich. So muß er aussehen, dieser kluge, offene Mensch, der sie so gut versteht. Sie hat keine Mühe, sein Bild in Worten aufs Papier zu formen, Jethro Bithell, schreibt sie, eine Vogelnase und schmale Lippen -, er sieht sie immer noch an und jetzt lächelt er doch. Ist er einverstanden mit ihr? Natürlich ist er einverstanden mit ihr, er ist ja ihr Freund. Jeder seiner Briefe spricht auch in all den ungesagten Worten nichts als Verbundenheit, Gleichheit der Wahrnehmungen. Wie anders sie das hier erlebt jeden Tag mit dem Mann, den sie liebt. Immer kritischer Abstand, als wäre von dem ganzen Sternenhimmel ihrer Liebe nichts mehr geblieben als dikker Nebel, den jeder in eine andere Richtung zu durchtrennen habe, um überleben zu können, - und das bei all dem, was sie immer noch zittern macht, ihn immer noch nach ihr suchen läßt. Als würde diese Liebe so ängstigen, als gäbe es auf der Welt nichts sehnlicher herbeizuwünschen, als sich täglich unähnlicher zu werden? Ist es nicht so: was in einer Freundschaft als höchstes Gut, ja Ursache und Grund überhaupt gilt, [4] die möglichst große Nähe und Gleichheit, wird für die Liebenden zur tödlichen Fessel? So, wie sie jetzt hier gefesselt ist in Berlin und fort will seit Monaten, irgendwohin reisen, zu jemandem, der von all dem nichts weiß, der in einer fremden Stadt lebt, die mit Abenteureraugen entdeckt und vereinnahmt werden kann, der seinen Teppich im Zimmer zur Verfügung stellt für den Bau eines neuen Luftschlosses, der da ist und warm und nah und Märchen erzählen kann und den Winter in eine blühende Oase verwandelt. Wie sehnsüchtig sie fort will!
Ich bin müde, schreibt sie, vielleicht werde ich mich bald in irgendeinen Graben werfen und höhnisch verdorren. Ich bin zu traurig. Ich weiß nicht hin und her, ich kann nicht mehr wirklich leben und ruiniere gesunde Leben und möchte es nicht und kann sie nicht retten.
Gott, - wem schreibt sie das? Er kann doch nichts dafür, daß sie sich so zerrissen fühlt, er doch wirklich nicht. Ob sie den Brief jetzt nicht mehr wegschicken kann? Nein die hellen Augen schauen ihr noch immer aufmerksam prüfend durch die Nacht entgegen, da lächelt sie aufs Papier und träumt: wir wollen lieber durch die Straßen über die Plätze von Bagdad gehen an meinem Palast vorbei. Ich kenne noch einen Palast, den ich wie meinen liebe: in London der Palast der Königin Anna, der blickt: tausend Totenaugen ins Wasser. Mein Palast ist lieblicher gewesen, so - sie zeichnet ihn, mit Kuppeln und einer Palme - mit einer Palme, nun ist er auch ein Greis und schon ganz grau. Aber die Gärten sind voll von bunten Brunnen. Ich könnte ja wahnsinnig werden, daß ich hier in dieser nüchternen Stadt sitze - schon wieder, ach, sie kann den Gedanken nicht mehr von sich wegschieben. Es ist schon so spät, und je weiter die Zeit in die Nacht vordringt, desto unruhiger wird ihr ums Herz. Es ist nicht mehr die Zeit für Briefe.
Lieber boy Jethro Bithell, ich schreibe in diesen Tagen Dir nicht, eben geht ein Cornet durch meinen Kopf: das Gedicht gehört Ihnen. Es ist sehr kalt geworden. Ich werde mich gleich vor den Ofen legen, mich zudecken mit Decken und in die Welt fliegen als in Gedanken. Sie zeichnet noch ein bißchen darunter, Sterne, einen Sichelmond, einen fliegenden Vogel, und dann, in schnellem Entschluß, mit Schwung, mittenhinein: Tino.
Sie schraubt das Tintenglas zu und steckt den Brief in ein Kuvert. Adressieren kann sie es morgen. Wie fürchterlich kalt ihr ist! Ja, sie will den Ofen noch anheizen. Sie läuft aus dem Raum und mit Schwung durch den Flur und die Treppe hinunter zum Keller. In der einen Hand hält sie die Lampe, in der anderen einen Pappkarton, den will sie voll Holz packen. Sie lädt ihn ganz voll bis oben hin, auch noch ein paar Handvoll kleine Späne obendrauf und weiß dann gar nicht, wie sie ihn aufnehmen soll, denn er ist viel zu schwer, als daß sie ihn jetzt noch mit einem Arm fassen könnte, - und was soll sie dann mit der Lampe machen? Da steht sie nun und denkt angestrengt, aber es will ihr nichts einfallen, wie sie es fertigbringen könnte, doch beides auf einmal und ohne daß die Lampe verlischt in die Wohnung zu schaffen. Es ist wirklich zum Verzweifeln! Warum hat der Mensch auch in solchen Notfällen nur seine beschränkten Mittel! Und weil ihr im Moment nicht einmal ein Zauberspruch durch den Kopf weht, mit dessen Hilfe sich alles in Wohlgefallen auflösen ließe, setzt sie die Lampe wieder auf dem Boden ab, bückt sich und lädt sich fünf, sechs dicke Scheite in die Arrnbeuge, ein paar Zweige und Späne noch dazu, und dann, im Aufstehen, greift sie mit der freien Hand nach der Lampe und tastet sich vorsichtig den Weg zurück nach oben. Gut, daß sie nicht bis zum dritten Stock muß. Erleichtert lehnt sie sich von innen gegen die Wohnungstür, einen kurzen Augenblick nur, dann kauert sie vor dem Ofen und ist ganz beschäftigt mit Holz und Feuer. Kleine, leckende Fläminchen knacken übers dürre Holz, dann, als würden sie sich festsaugen und vollpumpen mit Kraft, prasseln sie los immer höher, gelbblaue Spitzen, die immer größer und heller werden und schneller. Sie sitzt und guckt von unten, schließt dann beruhigt das Türchen und legt von oben noch zwei größere Scheite nach. Ihr ist, als wäre in Sekundenschnelle die Kälte um sie zu einem großen Kreis in die äußeren Ränder des Zimmers geflüchtet. Da atmet sie tief durch: wenigstens einer der nächtlichen Feinde besiegt.
Sie holt sich eine Decke vom Bett, legt sie um die Schultern, steht ein wenig zögernd vor dem Schreibtisch, sucht mit den Händen durch Papiere. Schließlich greift sie sich ein Notizbuch, einen Bleistift. Damit setzt sie sich in die Ecke des Plüschsofas, zieht die Beine hoch, wickelt sich ganz in die Decke. Still ist es um sie herum, so still, daß das gleichmäßige Ticken des Weckers auf dem kleinen Tischchen vor ihr zu dröhnen scheint im Halbdunkel und das Knistern der Holzscheite im Ofen ihr fast die Ohren verletzt. Sie beugt sich vor, wirft einen Blick auf das Zifferblatt: halb eins ist es schon, - ach Großväterchen, tickst du mir wieder die Stunden fort, die Minuten rinnen in die ewige Zeit, jede ist kürzer als die vorhergehende und dennoch so traurig. Immer wieder fühle ich das, mein Herz ist eine traurige Zeit, die tonlos tickt,  - [5] schon meine Mutter hatte goldene Flügel, die keine Welt fanden - ich erlebe es wirklich so, alles war Wahrheit, was sich rnir zu Gedichten formte. Meine Lieder trugen des Sommers Bläue und kehrten düster heim - und meine Arme, die sich heben wollen, sinken... Herwarth, [6] warum, warum mußt du heute abend so entsetzlich lang ausbleiben, warum hält es dich dort ohne mich, warum eilst du nicht, fliegst nicht mit goldenen Flügeln, - brauchst du mich nicht wie ich dich?
Der Komet, der durch den Kopf geht: du nahmst dir alle Sterne über meinem Herzen, alle Sterne über meinem Herzen, du - ach, ich wollte, ich könnte dir noch einmal ein Liebeslied schreiben! Nein, ich kann es, ich werde es tun, nicht nur ein Liebeslied, viele, viele: es ist immer noch so - wie ein heimlicher Brunnen murmelt mein Blut, immer von dir, immer von mir. [7] Schöner werden sie sein, inniger, sternfunkelnder, blauer, sicherer, ruhiger - wenn ich es richtig überlege, diese Traurigkeit ist unnötig, wir sind doch zusammen, wir haben Pläne, wir leben, Herwarth - Goldwarth, und: wir lieben uns. Aber, trotzdem, doch, es ist trotzdem so: du nahmst dir alle Sterne über meinem Herzen Ach, krause Kreise, meine Gedanken kräuseln sich, puh.
Sie wirft die Decke von sich, springt auf die Beine, breitet die Arme aus und tanzt, tanzt auf den Ofen zu nach einer Melodie aus Weckerticken und Feuerknistern, sie dreht sich um sich selbst, bleibt dann plötzlich stehen, die rechte Hand ausgestreckt zur Türe hin, sagt sie mit einer glockentonweichen, dunklen Stimme [8]: du nahmst dir alle Sterne über meinem Herzen meine - Gedanken kräuseln sich - ich - muß tanzen. Ha. Das ist es. Genau so gräbt es der Bleistift in das aufgeschlagene Notizbuch. Herwarth. Und dann, ohne Zögern und Überlegen: immer tust du das, was mich aufschauen läßt, mein Leben zu müden. Ich kann den Abend nicht mehr über die Hecken tragen, - oh, ist das nicht entsetzlich: das ist bitterste Einsamkeit und bodenlose Müdigkeit. Und Else ist müde, sie bricht fast zusammen vor Kälte, vor Anstrengung, vor Sorgen.
Seufzend legt sie das Notizbuch beiseite, bückt sich nach der auf den Boden geglittenen Decke, wirft sie aufs Bett. Mit müden Füßen schlurft sie über den Flur zur Küche, tastet sich im Dunkeln zum Fensterbrett. Da steht ein Topf mit Milch, den hebt sie sich mit beiden Händen an den Mund, trinkt ein paar Schlucke. Eine kleine Welle verharrt sie am Fenster, sucht in die Dunkelheit hinaus, dann stellt sie den Topf an seinen Platz zurück und trägt sich mit müden Schultern und traurig hängenden Händen wieder ins Zimmer zurück, wo sie beginnt, sich langsam auszukleiden. Während sie wie ein sein Herbstlaub verlierender Baum Kleider und Schmuck um sich herum auf den Boden fallen läßt, beobachtet sie den Schatten ihrer Bewegungen an den Wänden. Schnell läuft sie barfuß auf die Lampe zu und löscht sie mit einem kurzen Griff. Auch die Kerze vor dem Spiegel bläst sie aus und flüchtet sich dann in ihr Bett, rollt sich ganz in die Decken und Kissen und nah an die Wand, dorthin wo Puppen und Stofftiere aus ihrer Kinderzeit ihren Platz haben, da liegt sie in ihrer nachtschwarzen Höhle, wagt kaum zu atmen und lauscht auf das Knistern des Feuers, das ab und zu noch die schmerzhafte Stille durchseufzt. Lang-bange Minuten, dann schläft sie.
Einmal schluchzt sie im Schlaf, dreht sich, nein, wirft sich auf die andere Seite, da fühlt sie einen warmen Arm um sich und einen weichen Atem an ihrer Wange. Du, flüstert sie und gräbt wie ein Kind ihren Kopf in diese Schulter, ich hab dich ja gar nicht kommen gehört. Sie liegen eng beieinander und er hält sie fest. Seidenweiche Nähe.
Als Else erwacht, hängt der Tag trüb vorm Fenster, und sie schließt schnell wieder die Augen, blinzelt dann gegen das Licht und weiß nicht, soll sie sich umdrehen und weiterschlafen oder sich mit der Wirklichkeit des angebrochenen Tags abfinden, ganz wach werden, aufstehen.
Mit der Hand tastet sie neben sich, dreht dann den Kopf nach der Seite, schaut mit großen Augen: die andere Decke ist zurückgeschlagen, der Platz neben ihr leer. Schlagartig ist sie hellwach, schwingt sich aus dem Bett, läuft in die Küche: Herwarth! Da sitzt er am Tisch, die Morgenzeitung aufgeschlagen vor sich, eingehüllt in Zigarettenrauch. Bist du schon aufgestanden -? Sie steht hinter ihm, ratlos, hilflos. Ich muß gleich weg, sagt er und wendet ihr nicht einmal das Gesicht zu. Aber, sie schluckt, aber es ist doch noch so früh, und du warst so lang aus heute nacht, und ich hab dich doch schon so lange gar nicht mehr richtig gesehen. - Sie legt ihm die Hände auf die Schultern, drückt ihr Gesicht an seine Wange. Da läßt er die Zeitung sinken, faßt Else mit einem Arm um die Hüfte und rückt mit dem Stuhl so weit nach hinten, daß sie sich ihm auf den Schoß setzen kann. Ich wollte dich nicht wecken, sagt er, du hast ja geschlafen wie ein Engel, als ich heimkam heute nacht und jetzt auch. Sie küßt ihn auf die Stirn und über die Nase bis zum Mund, sekundenlange Windstille, seine Hände spielen ihren Rücken entlang, seine Lippen liebkosen ihr Hals und Schultern. Du, sagt er weich, vielleicht sollten wir noch zusammen frühstücken wenigstens, du hast ja recht, es ist wirklich früh, eine halbe Stunde Zeit habe ich noch, und ich hab dir ja gar nicht erzählt, was gestern alles passiert ist.
Und während Else sich um den Ofen bemüht und Kaffeewasser aufsetzt, Tassen zurechtrückt und den Milchtopf vom Fenster auf den Tisch stellt, sitzt er da, raucht in hastigen Zügen und sprüht ein Wortfunkenfeuer, das jenes im Ofen weit übertrifft an Kraft und Schnelligkeit, weil es angefacht ist mit Wut und Ärger. Else hat Mühe, den Ursprung der Flammen zurückzuverfolgen, der Brandherd will ihr nicht gleich vor die Augen treten, und alles, was sie begreift, ist, daß der, der hier vor ihr mit zusammengezogenen Brauen und nervös auf den Tisch trommelnden Fingern sitzt, unzufrieden ist und fast auseinanderzubersten droht vor angestautem Zorn. Sie begreifen es nicht, sie begreifen es einfach nicht, sprüht er sie an, daß aus Wiederholungen niemals Kunst werden kann. Tönen lautstark von der Aufgabe der neuen Zeit und sehen nichts, hören nichts, nichts, was vorgeht hier und in ganz Europa. Weil sie blind sind und taub. Das einzige, was sie können, ist schwätzen. Und in diesem Geschwätz wiederholen sie tagein, tagaus das, was immer schon da war. - Er stockt einen kurzen Moment, schiebt die Tasse mit dem Kaffee, die Else vor ihn hingestellt hat, beiseite und zündet sich an der Glut der zuendegerauchten eine neue Zigarette an. So kommen wir nicht weiter, murmelt er, es wird mir von Tag zu Tag klarer. Das ist doch als würde ich jeden Tag in dieser Redaktion mit bloßen Händen Mauern abtragen wollen, und jeden Morgen wenn ich hinkomme, ist das kleine Stück, das ich tags zuvor glaubte geschafft zu haben, wieder neu hochgezogen und mit Stacheldraht umgürtet, auf daß das Erbe, unser ehrwürdiges Kulturerbe, keinen Schaden erleide, und damit ja keine frische Zugluft die Ruinen zum Einsturz bringen möge. - Er schweigt, trinkt seine Tasse mit einem einzigen Zug leer, nimmt die Brille ab und wischt sich mit der anderen Hand die Augen. So sitzt er, den Kopf in die Hand gestützt. Dann, ganz plötzlich, reißt er sich hoch, schaut auf Else hinunter, die ihm gegenüber Platz genommen hat und jetzt mit fragend hochgezogenen Brauen und weit geöffneten Augen in seinem Gesicht sucht, und ein ganz kleines ironisch-weiches Lächeln hat sich über seine Lippen gebreitet- sie werden es uns nicht austreiben, sagt er, die nicht, so nicht, im Gegenteil. Mir ist etwas eingefallen, für dich, ich spiel's dir vor, komm. Er greift nach ihrer Hand und zieht sie über den Flur in das andere Zimmer, das er so wenig benutzt in den letzten Monaten. Ein Flügel steht dort an der Wand, und Herwarth öffnet blitzschnell den Deckel und, bevor er sich Zeit nimmt, den Stuhl zurechtzuziehen und sich hinzusetzen, liegen seine Finger schon auf den Tasten, greifen Akkorde, wütend und bestimmt, so, sagt er, hör, hör genau, so und dann so, das ist das Thema. - Die Finger der rechten Hand springen zwischen Einzeltönen - und dann, der Rhythmus kann vielleicht noch schärfer sein, so, nein, nicht so, das ist banal, das ist Marschmusik, stärker, fordernder, So, - die linke Hand greift ein, Synkopen drängen einander - und jetzt, dieser Melodiebogen und - Schluß. Weißt du, was ich meine? Ich hatte es schon tagelang im Kopf, aber erst gestern, genau während dieses Streits, war's mir klar.
Und Else, die atemlos den Tanz seiner Hände verfolgt und den Tönen gelauscht hat, steht ganz still neben ihm und ihr Gesicht zeigt für lange Sekunden ungläubig-staunende Freude. Dann legt sie ihm die Hand auf den Arm und bettelt: spiel's nochmal, du, bitte, ich kann's gar nicht glauben, das ist ja wundervoll, Wunder voll, unser Kriegslied... Du - sie strahlt ihn an, unser Kriegslied [9]. Und wie machst du das bei den beiden letzten Strophen? Da muß doch, - wenigstens in der letzten reicht es ja nicht, wenn du nur den Rhythmus veränderst? - Das ist kein Problem. - Und während Herwarth sein Spiel wiederholt, steht sie und hat die Augen geschlossen und flüstert mit in den Nacken gelegtem Kopf: Unsere Willen sind zwei harte Degen und sie haben nie verfehlt gestritten, und wir dringen bis zum Erzkreis vor, in seiner Mitten fällt nach dürren Ewigkeiten Freudenregen - halt, jetzt - ja, nickt er, paß auf, so: vor unserm Schilde stürzt das blinde Dämmergraugebilde. - Ja, genau so, das ist fantastisch: und die Nacht des Tages voll in Lichterstaunen. Gott, Herwarth, das ist - das ist ja ein ganz anderes Gedicht geworden! Sie sitzt auf seinem Schoß, küßt ihm ungestüm die Stirn.
Du bist großartig. Und er, in einer Mischung aus Spitzbüberei und Ernst, kneift ein Auge zu, blinzelt und sagt dann, ohne den leisesten Anflug von Lächeln in der Stimme: ich weiß. Aber du auch. Sie wissen es nur noch nicht.
Er schiebt sie von sich weg, steht auf. Ich muß los, es hilft alles nichts.
Und er ist im Flur, hat die Jacke an, den Mantel über dem Arm und den Schlapphut auf dem Kopf bevor Else überhaupt im Türrahmen erscheint. Wir werden es ihnen beweisen, sagt sie, und hält ihn noch einen Augenblick lang im Arm. Da hat er die Hand schon auf der Klinke, und im Hinausgehen dreht er noch einmal den Kopf zurück, ruft: Um eins im Café - bist du da? - Zu die Tür, hinter der Else steht mit dunklem Blick und flüstert: und ich dachte, du liebst mich nicht mehr.