November 1909

[1] Das Café ist ein Barometer: in dieser Zeit stehen die Zeiger auf Veränderung. Es wogt und rauscht, funkelt, dräut sich zusammen, entlädt sich - je nach Tageszeit. Manchmal vormittags scheint die Stille um die wenigen Gäste fast unglaubwürdig, eine trügerische Ruhe vor dem Sturm. Der setzt in den Nachmittagsstunden ein, nicht immer plötzlich, aber immer unaufhaltsam. Am frühen Abend, zur Zeit der Theater- und Varieté-Vorstellungen, ebbt die Bewegung noch einmal ab, das Café ist zwar die Stätte, an der Pläne geschmiedet, Ideen geboren werden, umgesetzt aber werden sie andernorts. Das Theater, das im Café gespielt wird, ist das Theater des Lebens, es findet außerhalb der Vorstellungszeiten statt. Um Mitternacht drängt sich das Publikum, das wieder zu Darstellern geworden ist, um die vielen kleinen Tische. Was sich hier zusammensetzt, ist ein Mosaik aus all den Versuchen zu sehen, zu hören, zu sagen, zu schreiben, zu spielen, zu bilden, zu malen, was lang eingeschlossen war in den Konventionen einer von innen heraus verfaulenden Gesellschaft. Das Ziel ist erst einmal der Weg: Abstand nehmen, in Frage stellen, verwerfen und zum Ausdruck bringen, wofür bislang keine Töne gefunden waren. Das wispert und raunt nicht mehr leise und verhalten, es sprudelt und drängt und streitet und kämpft. Der Kampf findet auf allen Ebenen und zu allen Tageszeiten statt, und er unterscheidet sich von dem, was Menschen sonst so geschäftig werden läßt, dadurch, daß bei aller Kunst, die zum Leben und Überleben notwendig ist, an erster Stelle eben nicht das Leben, sondern die Kunst zu stehen pflegt. Deshalb ist die Ruhe des Morgens, wie das Café sie dem Uneingeweihten vermittelt, nur eine scheinbare, denn niemand kann sagen, ob nicht das, was auf das so offenkundig gelangweilte Gesicht des in der Ecke vor einem Glas Wein sitzenden Herrn in der Samtiacke ein ironisch-mokantes Lächeln gezaubert hat, in den Nachtstunden Anlaß sein wird zu einem euphorischen Fest oder wenigstens einer scharfzüngig geführten hitzigen Diskussion. Das Café ist der Austragungsort. Es wird nicht beredet, was in den Zeitungen steht, sondern es steht in den Zeitungen, was beredet wurde. Und wer darüber spottet, ist lebenslänglich gezeichnet, abgeschrieben. Da wird plötzlich klar, daß es eine geschlossene Gesellschaft ist, die im Café verkehrt, bei allen Streitereien, Eifersüchteleien, bei aller abschätzenden und auch abschätzigen Beobachtung, bei allem Ehrgeiz, allem Neid: unausgesprochene feste Regeln türmen sich unversehens zur Mauer, Abwehr und Schutz, Heimat der Heimatlosen, der aus Normen und Gesetzmäßigkeiten Ausgetretenen, der Ruhelosen, Suchenden, sich Angriffen stellenden Angreifer. Was sie verbindet ist, sollte es einer, der von außen kommt, wagen, den Giftpfeil zu schleudern, immer stärker als persönliche Animositäten. Es ist der Bruch mit den unhinterfragten Werten des Hergebrachten, mit der Garantie der ruhigen Sicherheit des Bewahrens und Beibehaltens, das sich selbst zum Zweck geworden ist. Nicht selten, daß Prozesse, die im Caf6 ihren Ursprung hatten, tatsächlich im Gerichtssaal ausgetragen werden. Denn was da in den Köpfen gärt und kocht, wird auf die Straße hinausgeführt, der Öffentlichkeit bekanntgegeben, vorgespielt, ausgestellt, auf den Tisch geblättert. Und die Zeit, in der bürgerliches Ordnungsdenken sich durch schlichte Nichtbeachtung von Unruhestiftern über alle Verunsicherung hinwegsetzte, ist vorbei. Aus den einzelnen, wenigen, die nicht einverstanden waren, sind viele geworden, die Neues entwickeln. Die unzähligen Versuche, Altes zu ersetzen, haben die Verteidigungsbereitschaft der Wächter und Wahrer herausgefordert. Wer Frack trägt und eine dicke Brieftasche, kennt den Streitwert, um den es geht. Berlin ist die Hauptstadt des Reiches - was hier sich an kulturellem Leben entwickelt, strahlt weit. Soll, kaum daß das erste Jahrzehnt dieses Jahrhunderts sich seinem Ende zuneigt, eine Meute von Kaffeehausliteraten über Gut oder Schlecht entscheiden? Wo bleibt der gute Geschmack? Wo bleiben Adel und Finanzaristokratie? Diese ewig betrunkenen, an keine inneren Werte mehr gebundenen, Stellung, Herkunft, Sitte und Moral mißachtenden Exzentriker, dieses arbeitsscheue Volk, das sich anmaßt, eine neue Kunst hervorzubringen - soll das zum Repräsentanten des Geschmacks der guten Gesellschaft werden? Das ist Sittenverfall, das ist Revolution, das ist Größenwahn. Das Café ist seine Wiege.
In seinem vorderen Teil sind nur wenige Tische besetzt, als Else sich durch die Glastüre schlängelt und nach schnellem Blick in die Runde an den Marmortischen vorbei und zwischen den spiegelverzierten Säulen hindurch sich auf eine der hinteren Nischen zubewegt. Angekommen, läßt sie sich mit einem fast verschluckten Seufzer, der, auch wenn er an niemandes Ohr dringt, doch deutlich über ihr Gesicht gebreitet erscheint, auf der zweisitzigen Bank nieder. Sie schiebt einen mit Palletten besetzten schwarzen Tuchbeutel auf der Tischplatte gegen die Wand und läßt, zurückgelehnt, für einen kurzen Moment ihre weit offenen Augen den Raum durchwandern.
Ihr Blick bleibt aber nicht bei den wenigen Gästen. Er ruht sich in den Spiegeln aus, auf Köpfen und Schultern, die über Büchern und Zeitungen, Papieren und Stiften gebeugt sind. Seltsames Volk, denkt sie, wir alle, mit dieser zweiten Heimat hier an marmornen Tischen. Hier treiben wir unser Leben voran, setzen produktiv um, was wir in unseren Köpfen von draußen mit hereingebracht haben. Laut sagt sie zum schwarzgekleideten Kellner, der vor ihr aufgetaucht ist, ja, Anton, eine Schale Kaffee möcht ich bitte und ein Glas Wasser, ein großes, und, ob, ich hätte ja zu gern ein Kotelett mit Salat und Pflaumen, aber ohne Kartoffeln, und nur, wenn es mir auf einem echten Silbertablett gebracht wird und mit einer goldenen Gabel. Was, staunt sie, das geht nicht? Auch heute geht das nicht? Jetzt frage ich doch schon täglich danach und bald ist Weihnachten - soll Tino von Bagdad denn Hungers sterben? Wir sind nun einmal das Leben en miniature nicht gewöhnt. Mit ihren dunklen Augen sucht sie dem Kellner ein verständnisvolles Lächeln ab: ich werde meinen Diener beauftragen, die Schatztruhen zu öffnen, ach, ich habe es hundertmal getan, aber er weigert sich, er rückt mir den Schlüssel nicht heraus und behauptet, er hätte die Aufgabe zu verhüten, daß ich das Familienerbe an die Falschen verteile.
Sie seufzt tief. Und mit einem kleinzuckenden Lächeln: aber sonst ist er ein guter Mensch. Ja... bringen Sie mir also Kaffee und Wasser, wie immer.
Ihre rechte Hand mit den dünnen Reifen klirrt auf den Tisch. Dann nimmt sie sie hoch, streift sich das Haar aus den Augen und schaut sinnend hinter dem schwarzen Kellner her, der in der Küche verschwindet. Schöner Mensch, murmelt sie, wie er geht, er könnte mein Stallbursche sein.
Sie sitzt eine Weile versunken, dann holt sie aus ihrem Beutel Papier und Stift, und will gerade anfangen zu zeichnen, als eine Stimme zu ihr sagt: sind Sie beschäftigt oder darf ich mich zu Ihnen setzen?
Elses Augen blitzen empor, funkeln und strahlen: Sie? jetzt schon? Das finde ich aber eine Überrschung. Ja, natürlich, setzen Sie sich. Sie brauchen keine Angst zu haben, ich bin immer beschäftigt - also, machen Sie mir die Freude.
Als er sich ihr gegenübersetzt, mustert sie ihn liebevoll. Der graue Anzug, die Uhrkette, die in der Westentasche verschwindet, die Anstecknadel mit Perlenknopf am Kragen.  Sie sehen wieder sehr weltmännisch aus, heute.  [2] Er lacht, lehnt sich zurück. Weltmännisch... wenn Sie das sagen, klingt das fast wie ein Lob. Nein nein, kein Lob, nur eine Feststellung, es steht ihnen. Sie - ach was: erzählen Sie mir etwas. Irgend etwas, ja? Wenn Sie sprechen, bin ich immer in einer ganz anderen Welt. Was wollen Sie denn hören? Else kneift die Augen zusammen: Sie haben Herwarth gesehen, nicht wahr? Sie haben sicher von dem Prozeß [3] gesprochen, wissen Sie, ich glaube, er schätzt das nicht richtig ein, er ist wie ein Kind, aber - sie lehnt sich auch zurück, schließt die Augen für einen kurzen Moment: es hat keinen Sinn. Sprechen wir über etwas anderes.
Mit Ihrer Stimme, fährt Else fort, geht es mir immer ganz seltsam. Ich habe Ihnen das sicher schon erzählt, wenn Sie sprechen, höre ich fast überhaupt nicht zu, lasse mich nur vom Klang wiegen und schaukle wie auf Wellen.
Er lacht, dreht sich halb zum Kellner um, der Kaffee und Wasser vor sie beide hinstellt. Als er wieder nach vorne geht, flüstert Else: er ist auserwählt. Sehen Sie nur, er hat einen königlichen Gang. Und seine Hände, wenn er die Kaffeetassen auf dem Tisch hin- und herrückt, verraten ihn auch. Irgendwanneinmal werde ich ihm ein Zeichen geben und er wird es verstehen.
Sie nicken sich verschwörerisch zu. Ich muß Ihnen etwas sagen. - Else hört auf, in ihrer Kaffeetasse zu rühren und greift nach seiner Hand. - Sie wissen ja Bescheid, mit der Juristerei, meine ich. Es ist schon gut, daß wir selbst auch fachkundig kontern können. Es geht ja nicht nur um Herwarth. Die Sache an sich, ich hätte mir nie gedacht, daß wir wirklich als Gefahr betrachtet werden. Aber es ist revolutionär, Umsturz auch wenn ich nichts von Politik verstehe. Damals, als Sascha fortgegangen ist, [4] kam es mir so vor, als wenn das ganz verschiedene Bereiche wären, Politik und Kunst, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben müßten. Das hat sich geändert, wenigstens in meinem Kopf und, wissen Sie, seit ich heute morgen aus dem Haus gegangen bin, muß ich immer an Sascha denken. Ich fühle, daß es ihm sehr schlecht geht. Einen Moment hält sie inne, dann fragend: kennen Sie das, diese Art von telepathischen Verbindungen zwischen Menschen, die sich nahestehen? Manchmal treffen die Gedankenströme wie Blitze aus heiterem Himmel ineinander, ohne äußeren Anlaß, ohne etwas, was greifbar wäre. Als meine Mutter starb, - sie bricht ab, senkt den Kopf. Er hält ihre Hand fest in seiner, wartet. Mit einem Ruck reißt sie den Kopf hoch. Sascha, flüstert sie, selbe Ziele, aber der Kampf hat dafür nicht ausgereicht.  [5] Vier Jahre ist das jetzt her. Wir konnten ihn nicht halten. Wir haben seiner Sehnsucht nicht genug entgegengesetzt. ich hab ihn angefleht, aber er war so fest entschlossen. Wenn Sie ihn gesehen hätten, eine lodernde Fackel war er geworden, die brannte auf sofortigen Umsturz. Als er die Nachricht bekam, war er bereit. Und ihre Stimme wird noch leiser - er war so überzeugt, daß er bald wieder bei uns sein würde. Die neue Welt, ach...
Ihre Hände krallen sich ganz fest in die seinen: wir müssen Sascha befreien. Helfen Sie. Wir arbeiten zu langsam. Wir sind so gedankenlos.
Es hat sich schon so viel getan in den letzten Jahren. Sie wissen doch selbst, daß der Kreis immer größer wird. Sie wissen das doch: Es braucht keinen formalen Zusammenschluß, keine Partei mit politischen Parolen. Trotzdem sind es immer mehr, die die Botschaft aufnehmen. Auch wenn es eine Revolution ist, die nicht mit Attentaten Fanale setzt oder in Straßenschlachten erstickt wird.
Er schaut sie prüfend an, nicht ganz sicher, ob sie ihm zuhört. Sie sitzt zurückgelehnt jetzt, mit blicklosen Augen quer durch den Raum, wie er das von ihr, die meist so wach in ihre Träume verstrickt durch den Tag fliegt, ohne daß ihrem scharfen Gespür auch nur Nuancen von Veränderungen entgehen, selten nur kennt. Abwesend greift sie nach ihrer Tasse, nippt am inzwischen kalt gewordenen Kaffee: wir werden lauter werden müssen und samtpfötiger gleichzeitig. Ich will versuchen, Senna freizukaufen. Meine nächsten Bücher bringen Geld. Genug Geld für einen echten russischen Anwalt. Den brauchen wir doch oder? Sie hat die Stirn in Falten gezogen, wartet gespannt.
Er nickt. Die deutsche Botschaft hüllt sich ja in Schweigen. - Die Herren dort lassen sich nicht zu einer verbindlichen Antwort herab. Es ist ja politisch, Gott, er lacht auf unübersehbar politisch, nicht nur einfach verrückt. Armes Deutschland.
Plötzlich zieht er seine Uhr: ich muß schon wieder los seine Stimme ist ganz nüchtern jetzt wir sprechen darüber weiter, heute abend, oder, falls wir uns nicht sehen, die nächsten Tage. Ich werde mich umhören. Wir müssen Verbindungen knüpfen und Namen sammeln, die nicht so einfach abgetan werden können, Persönlichkeiten müssen wir auftreiben, bei denen wir so lange in der Tür stehenbleiben, bis sie wissen, worum es geht und sich bereiterklären, sich für Senna zu verwenden. Und - Sie können doch sicher Petitionen schreiben. Wenn jemand von uns das kann, dann sind Sie es. Und alle zusammen, wir werden ihn da herausholen, auch wenn es nicht von heute auf morgen geht. Senna ist zäh. Er wird durchhalten, wenn er weiß, daß wir ihn nicht im Stich lassen. Sagen Sie jedem, der ihn kannte, daß er ihm schreiben soll. Je mehr Briefe wir dort hinüberschicken, desto größer wird die Chance, daß der eine oder andere ihn auch wirklich erreicht. Solange wir nicht aufgeben, wird er sich selbst nicht aufgeben. Und - er sagt das schon im Stehen, hat den Mantel vom Haken genommen, den Hut in der Hand, vergessen Sie nicht: für die andere Seite gilt das genauso: mit einem, der noch Menschen hinter sich hat, müssen sie anders umgehen, als mit einem, nach dem kein Hahn kräht. Er legt ihr kurz die Hand auf die Schulter, Else greift mit beiden Händen nach ihr, drückt einen schnellen Kuß darauf: ich bin Ihnen so dankbar. Sie wissen gar nicht, wieviel Mut Sie mir machen. Sie sind - Sie sind fast ein Indianer. Ein Freund. Leben Sie wohl. Arbeiten Sie nicht zuviel. Ich ich trinke noch eine Tasse Kaffee für Sie mit. Er dreht sich noch einmal um und lacht: aber dann bitteschön auch auf meine Rechnung, Madame, und ist schon an der Tür, bevor sie auch nur noch einmal antworten kann.
Sie sinkt zurück in das Polster ihrer Sitzbank, räkelt die Arme über den Kopf und bedeutet im selben Augenblick dem Kellner mit einer Bewegung von Ring- und Mittelfinger der rechten Hand, daß er zu ihr kommen möge. Ich habe soeben, sagt sie, als er vor ihr steht, ein fast königliches Geschenk erhalten. Denken Sie, icli stehe in der Gunst dieses Herrn, der Ihr Etablissement gerade, ohne seine Rechnung zu begleichen - was Ihnen sicherlich aufgefallen ist - verließ. Ich darf diese Rechnung nach Gutdünken erweitern. Was sagen Sie jetzt? Ich bin sicher, Sie werden das Angebot zu nutzen wissen. Das werde ich. Bringen Sie mir - sie sieht ihn von unten herauf an, hebt die Schultern und läßt sie resignierend wieder fallen ach, ich weiß ja, es hat keinen Sinn. Es gibt eben keine Silberteller und keine goldenen Gabeln hier. - Sie reckt das Kinn nach vorne, sitzt ganz gerade: bringen Sie mir - ein Glas Wasser, bitte. Und noch eine Tasse Kaffee. Und - sie macht mit der Hand eine abwehrende Bewegung als wolle sie ihn verscheuchen - vielleicht könnten Sie so freundlich sein, weitere Besucher von diesem Tisch fernzuhalten? Ich sitze absichtlich hier hinten, verstehen Sie, ich bin sozusagen gar nicht da. - Sie winkt ihn zu sich herab bis er den Kopf beugt und sein Ohr ihrem Mund nähert, da flüstert sie: ich muß allein sein. Beschützen Sie mich, ja? Sie brauchen sich nur in meiner Nähe aufzubauen, Ihr Rücken ist breit genug. Ich kann heute keine Audienzen mehr geben. Und - sie stockt, aber er verharrt noch zu ihr herabgebückt - irgendwann einmal verrate ich Ihnen ein Geheimnis. Etwas, das nur für Sie bestimmt ist. Jetzt lächelt er, glättet sich die Serviette über dem Arm und schlägt die Hacken zusammen: Madame, Sie können sich auf mich verlassen. Ihr Diener, Madame. Ich werde Sie verteidigen wie meine eigene Mutter. Ihre eigene Mutter? Meinten Sie nicht eher wie Ihre eigene Tochter? Gestatten Madame, ich habe keine Tochter. Dann, sie atmet tief und erleichtert durch und kichert: dann ist ja alles gut.
Wieder allein sitzt sie mit geradem Rücken, das aufgeschlagene Notizbuch vor sich, den Stift in der Hand. Nein, zeichnen mag sie jetzt nicht mehr. Worte braucht sie, durchsichtige, klare - oder lieber doch Linien, sanfte, die sich ineinander verschlingen im Spiel, bis auch fremde Augen ihre Absicht verstehen lernen? Sie zögert, starren Blicks sitzt sie, sieht ohne zu sehen, horcht angestrengt, die Geräusche um sie her sind nur Kulisse. Der Stift in der Hand verharrt in Wartestellung.
Einen Ausdruck finden für das, was sich in deinem Herzen bewegt, bunt und schillernd und totengrau zugleich, bekannte Beschreibungen ablehnen, denn das Bild, das sich in dir formt, setzt sich zusammen aus nur dir eigenen Perlenschnüren, die mußt du verstricken. lmitate aus fremdem Besitz kannst du, solange du um Echtheit kämpfst, nicht verwenden, du willst ja nicht Nviedergeben, willst ganz Anderes, willst mit deinem Blick das Andere hervorkehren. Du drehst jedes Wort hin und her, betrachtest es von allen Seiten, rüttelst an ihm bis es sich dir kahl entgegenstreckt und du es umgeben kannst mit anderen Hüllen, die sich aus dem Zusammenklang, der Harmonie der von dir auserwählten Worte ergeben, die du im Kreis um dich versammelst bis sie sich von selbst ineinanderfügen, dem von dir gesuchten Bild entsprechen. Das ist immer Spiel und Ernst, Finger durch Glasperlen und bunte Kieselsteine gleiten lassen, solange bis du ihre Lage fixierst, festhalten möchtest, wie du sie absichtsvoll-unabsichtlich zueinander geordnet hast. Was dann bleibt, muß jeden spielerischen Versuch vergessen lassen können. Für das, was andere herausfinden, mußt du geradestehen können. Schreiben: Elses Spiel mit Worten gleicht dem artistischen Glitzerballspiel des jongleurs, viele, viele Glitzerbälle, die in die Lüfte wirbeln und, kunstvoll in ständiger Bewegung gehalten, gar nicht mehr zur Erde zurückwollen, ganz leicht nur antippen an behutsamen Fingern, um wieder loszutanzen im alle Blicke fesselnden Reigen. Sie weiß um ihre Schätze und hat gelernt, sie zu hüten. So vermehren sie sich ihr unaufhörlich. Senna, schreibt sie dann, Blonder, Lockiger, du, mit den blühenden Lippen, wild-sanfter Geliebter [6], leidenschaftlicher, zarter - Senna: ob er kommt dieses Jahr? Sein Herz pocht ganz nah, ganz nah - sie legt sich die Hand auf die Brust, atmet ruhig, fühlt das eigene Herz, so stark als schlüge es für zwei. Herzecho. Dein Herz ist ein Wirbelwind,  [7] dein Blut rauscht wie mein Blut, fast vier Jahre lang muß ich dich mir träumen jetzt und fühl dich nicht weniger stark seither. Sascha, es gibt Verbindungen, die sind nicht durch Raum und Zeit voneinander zu lösen: dich hinzaubern und vergehen lassen, immer spiele ich dieses Spiel. [8] Ich muß es ja spielen, ach, wenn wir zueinanderlaufen könnten.
Das Herz klopft ihr weiter so unruhig, sie muß sich am Wasserglas festhalten, ganz fest, das ist nicht auszuhalten so. Diese Angst, diese entsetzliche Angst. Wenn er nicht wiederkommt, wenn er stirbt, wenn er nie mehr diese Moskauer Gefängnismauern verlassen kann, wenn sie ihn zugrunde richten? Sie sinkt in sich zusammen, schließt für ein paar Sekunden die Augen: wenn sie jetzt nicht aufhört, daran zu denken, was alles sein könnte, muß sie schreien. Sie wird schreien vor Wut, schluchzen vor Schmerz, sie wird Gläser und Tassen gegen Spiegel werfen, sie wird toben - es muß etwas geschehen. Und: wie entsetzlich, sich mit diesen Gedanken hinzusetzen, um Gedichte schreiben zu wollen. Sascha, die Gedichte für dich können nicht aus Verzweiflung geboren werden: wie sollten sie dich jemals widerspiegeln, mich in meiner Liebe zu dir zeigen können, wenn da nichts ist als Verzweiflung und Untätigkeit und Wartenmüssen und Angst, Angst, Angst.
Was hat er gesagt, unser Freund, vorher, bevor er das Lokal verließ: das ist ja politisch, unübersehbar politisch, und nicht nur einfach verrückt. Wie recht er hat, einfach verrückt warst du nie, einfach verrückt, Senna-Sascha, du bist ein politischer Fall, wir hier sind nur die Verrückten. Verrückt, weißt du, etwas abgerückt von allem, Künstler eben.
Jetzt geht es wieder besser. Sie blättert sich eine neue Seite auf, ganz oben in die linke Ecke malt sie ein großes K, mit vielen Schnörkeln und Sternen, und aus dem K wachsen noch andere Buchstaben, bis da steht: KÜNSTLER. Hm [9].
K wie Künstler, Kuchen, Kinderspiel, Kerzenlicht, Kranksein; K wie Klavier, Küsse, Kummer; K wie Korallen, Knospen, Kindesweh, Kaviar, Knaben, Könige, Kronen, Kennwort: K wie Kuckuck. Kennwort Kuckuck. Kuckuck. Von Kuckuck - ha: Herr von Kuckuck.
Sie lacht. Herr von Kuckuck, schreibt sie, sitzt immer auf dem Fenstersims und schnappt mit seinem zugespitzten Mund alle meine todtraurigen Worte auf, die - die ich in einer Ecke stapeln möchte, stapeln möchte, nein, sie streicht die letzten Worte, fährt fort: die sonst im Zimmer liegenblieben, und ich würde schließlich in der Überschwemmung von Todtrauer ertrinken. Das ist gut: in der Überschwemmung von Todtrauer ertrinken, das geht ihr manchmal wirklich so mit all den traurigen Worten, die sich ihr vors Herz drängen. Wenn sie sich hineinwerfen würde in diesen See, könnte sie die Sonne am anderen Ufer nicht mehr greifen. Hilfe von außen braucht sie schon oft, damit die Totenschleier, die den Himmel umhüllen an bestimmten Tagen, in bestimmten Nächten, sie nicht zu sehr ängstigen, damit sie selbst sich ihnen nicht verstrickt, ach: Herr von Kuckuck: Mein Mann kann von Kuckuck nicht ausstehen, sagt: »Er ist eine Beleidigung neben dir.« Aber ich muß immer einen Hofnarr haben, das ist so ein altes, erdübertragenes Gesetz. Ja, Herwarth, du Ernster, Brillanter, das ist der Unterschied zwischen uns: wir wehren uns auf so verschiedene Weise. Wenn sie dich nicht verstehen, nicht verstehen wollen, fängst du an zu diskutieren, und du bist hervorragend vor allen im Einsatz deiner Worte, besonders wenn du getroffen bist, wenn du Ziele verteidigst, Freunde verteidigst, dann bist du hart, hart wie Fels - und umkleidest diese Härte mit deiner eigenen Art von Witz: du bist ein Meister der Wortkunst, und du scheust dich auch nicht vor Polemik. Manchmal, nicht immer, witterst du im voraus den Angriff. Dann baust du deine Wortspeere vor dir auf, und du bist unübertrefflich im Wurf. Was du nicht kannst, ist spielen. Auch deine Ironie spielt nicht. Man muß dich gut kennen, um mit ihr umzugehen. Du schüchterst eher ein, als daß du dich verwundbar zeigen kannst. Und nur deine Freunde wissen, daß deine Stärke auch deine Schwäche ist. Und ich - ich habe da meine Narren. Meine Sklaven und alle die bunten Wesen, die meine Paläste bewohnen und darüber wachen, daß das Böse in der Welt nicht an mein Innerstes dringt, mich nicht zu Tode erschreckt. Daß ich auf Dächern wandeln und auf Wolken schweben kann. Die Pfeile, die andere gegen mich richten, ritzen so nur ganz wenig meine Haut. Ich lebe meist in ganz anderen Welten und pendle von Berufs wegen. Und um dir zu begegnen, du wagst dich ja nur selten bis ins Innere meines Palastes vor, wie so viele. Hast Angst vor Spiel, und bist doch durch und durch Künstler selbst. Künstler.
Sie schreibt wieder: ich trage goldene Pantoffel, aber in meinen seidenen Strümpfen sind schon Löcher. Herr von Kuckuck wird merkwürdig düster - er erzählt von Prinzessinnen, die in Goldpantoffeln und Seidenstrümpfen scheuern müssen und sich die Hände blutig reiben und aber der Himmel ihnen alle Sterne schulde. Ich glaube, ich bin am Anfang aus einem goldenen Stern, aus einem funkelnden Riesenpalast auf die schäbige Erde gefallen - das, Herwarth, glaubst sogar du. Und Bulus Mohamed Hassan [10] glaubt das auch. Er weiß, daß wir eines Tages zusammen dorthin reiten werden, wo die Sterne näher sind. Ich habe ihm oft erzählt von den Königen in der Wüste, und von der Zauberin in Bagdad, die mir gesagt hat, ich hätte viele Tausendjahre als Mumie im Gewölbe gelegen. Und ich sei Jussuf, wie ich es seither immer wieder betone, und die Welt, ach, die Welt: Herwarth, manchmal ist es zum Wahnsinnigwerden, wie wenig Humor du hast und wie andere Wege deine Phantasie geht.
Der Stift in der Hand fängt an zu tanzen, kritzelt über Papier, strichelt festfeine Linien: Herr von Kuckuck, wie er aussieht? Eine lange, lange Nase, die in diesen gespitzten Mund übergeht, der Kopf über einem dünnen Hälschen sitzt auf schmalen Schultern, ein gekrümmtes Körperchen, ein wenig bucklig vornübergebeugt, aber ganz gerade Spinnenbeine, himmellang, - ja: eine Burleske, die plötzlich auf geraden, rabenschwarzen Beinen steht. Else hebt den Kopf und sieht den Kellner eine Platte mit Kuchen an ihr vorübertragen. Mmm - schreibt sie schnuppernd: Ich rieche zu gern Ananas, rieche sie viel lieber als ich sie essen möchte - ich glaube, wenn ich mir täglich eine Ananas kaufen könnte, abends, spätabends würde ich sie mit meinem Liebsten teilen, ihn füttern mit kleinen Stücken, auch Bulus Mohamed Hassan, ich glaube: dann würde ich die hervorragendste Dichterin sein. Alles hängt von Kuckucks Budget ab. Mein Mann, der wünscht sich gar nichts mehr, er denkt morgens schon heimlich an seine Zigarette, die er im Bett rauchen wird. Ohne Zigarette, Herwarth, nicht auszudenken. Ich bekomme dann immer diesen Duft in die Nase. »Bist du aufgewacht?« Mein Mann fragt und hebt den Zigarrenbecher vom Boden auf - seine Ananashand strelclielt mein Gesichtdiefinger tragen alle Notenköpfe -sie singen-und immer wenn das hohe C kommt, sägt mein Arm über seine Brust und seinen Leib - eine Schlangenbändigerin bin ich mit seinen Gedärmen... ich gleite die Kissen herab, mein Kopf liegt in einem weißen Bach, alle Fische tragen Ketten um den Hals und schwimmen hinter mir über die flaue Matratze. Ich habe solche Angst, ich verkrieche mich in der Achselhöhle meines Mannes. Auf dem Sofa sitzt ein Jüngling, er hat große, braune, spöttische Augen, die lächeln schüchtern. »Wer bist du!« ruft mein Mann. »Ich bin der Schatten Ihrer Frau.« - ja, warum nicht? Sie verfolgen mich überallhin, diese Schatten, diese Jünglinge. Herwarth!
Herr von Kuckuck wird noch ein bißchen ausstaffiert mit einem langen Schwalbenschwanz, der ihm keck bis über die Knie hängt - ob er eine Brille bekommen soll? Nein, das würde sein schönes Profil ruinieren, Kuckuck brauchtnichts mehr, ersieht wundervoll aus. Ist selbst auch ein Künstler, ein Genie, ein Narr. Oh - solches Leben.
Else hat vergessen, ihren Kaffee zu trinken. Jetzt ist er lau und duftet kaum mehr. Sie nippt an der Tasse, leckt sich über die Lippen, trinkt einen zweiten Schluck. So ist das eben: immer versinkt die wirkliche Welt vor der farbigen Schönheit der anderen, und wenn sie dann wieder hervorgeholt wird, ist sie lau und grau und höhnisch wie nie zuvor.
Puh, keine traurigen Gedanken mehr. Es ist ja schon Abend, die Straßenlaternen draußen sind längst an. Jetzt wird es gemütlich hier und auch bald lauter und voller.
Notizbuch und Stift werden vorläufig in die Tasche zurückgesteckt, dafür nestelt sie ein kleines silberüberzogenes Etui hervor, das einen Taschenspiegel birgt und einen kleinen Kamm, mit dem Else sich durchs glatte Haar fährt. In der Innenfläche der Hand hält sie sich den Spiegel vors Gesicht, schaut sich lang und aufmerksam in die Augen. Ach was, vierzig Jahre, vierzig. Man muß es einfach nicht jedermann auf die Nase binden. Sie zupft sich das Haar an den Seiten zurecht, klappt das Etui zu und steckt es wieder ein. Als sie Peter Baum [11] durch die Tür kommen sieht, steht sie auf und durchquert mit großen, schwungvollen Schritten den Raum, den Freund zu begrüßen, der ihr den Arm um die Schulter legt und ihr die Wangen küßt. Ah, sagt er, ich fürchtete fast, du seist irgendwo, im Kino, im Theater, im Kabarett, irgendwo, nur nicht hier. Aber so, komm, da können wir ja erst einmal in aller Ruhe miteinander schwatzen. Oder - er sieht sich suchend-fragend um - bist du etwa in Gesellschaft?
Nein, nein, Else schüttelt den Kopf, ausnahmsweise oder wie immer allein, wie man's nimmt. Ich saß da hinten, den ganzen Nachmittag und habe mit mir selbst meditiert, bis, Blümner war hier, aber nur kurz. Er ist so beschäftigt immer. Wollte aber vielleicht im Laufe des Abends noch einmal vorbeikommen. Willst du wieder da nach hinten gehen oder sollen wir uns hier mehr in die Mitte setzen? - Peter Baum deutet auf ein Tischchen, von dem aus nur der hintere Teil des Cafés nicht zu übersehen ist, - oder warum denn nicht gleich direkt hierher ans Fenster? Da haben wir sie dann alle beisammen, da entgeht uns nichts und niemand und wir können uns über die Garderoben mokieren, ohne uns die Köpfe verrenken zu müssen. Else lacht: jetzt kenne ich dich schon so lange, aber ich wußte gar nicht, daß dir das auch Spaß macht, ich habe immer gedacht, das sei allein meine Spezialität, meine weibliche Neugier, meine Eifersucht auf die schönen Damen, die jeden Abend mit einem neuen Liebhaber hier aufkreuzen und jeden Abend einen neuen Brillanten angesteckt bekommen, ohne daß sie viel dazutun müssen, aber...
Er geht ihr voran, legt seinen Mantel über den Stuhl, der dem Durchgang am nächsten steht, setzt sich neben Else, die ganz ans Fenster gerückt ist und in die schwarze Scheibe starrt, ohne mit dem Blick weit in die Straße hinein zu kommen.
Mädchen, sagt er, schau mich doch mal an. Laß mal ab von da draußen, du, ich kenn dich doch, du hast doch was, das machst du mir nicht weis, du -- er faßt ihr unters Kinn, dreht ihr Gesicht zu sich her.
Unser Buch aus England ist immer noch nicht da, und [12] die Wupper,  [13] die ist doch so gut geworden, aber ich renne mir die Hacken ab, um sie auf die Bühne zu bringen. Du weißt ja, jeder, der sie liest, ist begeistert. Nur - sie ist so schwer zu spielen, es muß ganz genau gemacht werden, weißt du und der Dialekt - Er schüttelt den Kopf: glaub ich dir ja alles, Else, aber hör mal, hör mir mal gut zu: ich freu mich, daß ich dich hier sehe, wo ich jetzt so lang nicht in Berlin war, und daß ich deine Wupper mag, brauch ich dir doch nicht zu erzählen, wirklich, trotzdem: ich hab dich was gefragt, Mensch, Deern, sei doch mal ehrlich, du hast doch todtraurige Augen und - die Wupper, sag mal, er räuspert sich - hast du, bist du jetzt soweit, daß du - ich meine, hast du... Heimweh? --
Sie schlingt ihm plötzlich die Arme um den Hals und drückt ihre Stirn an sein Kinn: Ach Peter, du bist so furchtbar lieb. Immer bist du so lieb, du, ich muß dir einen Kuß geben dafür, was du alles immer verstehst, ohne ein Wort... Aber: ich kann dir doch jetzt nicht die ganze lange Geschichte erzählen, kann ich nicht, einfach nicht, weil ich dann sofort anfangen muß zu weinen, es ist alles so entsetzlich, entsetzlich, verstehst du? - Sie hat die Augen weit aufgerissen, ihr ganzes Gesicht ist eine einzige Frage und die Antwort darauf gleichzeitig: entsetzlich. Also, er drückt sie mit dem Arm an sich, jetzt bestellen wir uns erst mal ein schönes Glas Wein, dicken, roten Burgunder, nich? Und dann, und dann ganz in Ruhe, fangen wir nochmal von vorne an, wenn du magst, - oder?
Doch doch, sie nickt heftig. Ich bin ja so froh, daß du wieder da bist. Weil sonst - ach, es ist alles wie immer, alles, du - du hast nichts versäumt.
Naa? Er winkt den Kellner an den Tisch heran, bestellt Wein. Das, sagt er dann, glaub ich dir ja nun ganz bestimmt nicht, daß nichts Passiert ist, hier.
Else schüttelt den Kopf: so hab ich das nicht gemeint. Natürlich - es passiert immer und ständig etwas, das weißt du doch, im Gegenteil, jeden Tag gibt es eine neue Katastrophe, aber sie schluckt, hebt die Schultern - das ist es ja. Das genau habe ich sagen wollen: es ist alles wie immer. Nur ich - manchmal denke ich, ich werde wahnsinnig. Ich halte das nicht durch, ich - wir haben keinen Pfennig Geld im Moment. - Na, - er nimmt sein Glas hoch, das der Kellner gerade gebracht hat, hält es in Augenhöhe und verzieht dabei das Gesicht, er muß lachen. Lach nicht, sagt sie, es ist schlimmer als je zuvor. Wir haben seit zwei Monaten keine Miete mehr bezahlt. Und Paul braucht neue Schuhe und warmes Zeug für den Winter überhaupt und - sie sieht ihm zu, wie er ganz, ganz langsam einen Schluck Wein aus dem Glas saugt und ihn lange im Mund hält bevor er ihn hinunterschluckt. Else, sagt er dann, das mit dem Geld, also, ehrlich, das wäre ja ein ganz neuer Zug an dir, wenn das Geld wirklich der Grund wäre dafür, daß du so unglücklich bist... und du bist doch unglücklich? --
Sie hat die Ellbogen aufgestützt, das Kinn auf die linke Hand gelegt, mit der rechten dreht sie eine Haarsträhne zwischen den Fingern. Sie sitzt und schweigt, zieht sich das Haar vor die Augen, immer wieder. Dann schüttelt sie den Kopf: Nein. Ja, doch, ach - ich weiß es nicht. Irgendwie ist alles wie verhext. Wir streiten jeden Tag. Wenn wir überhaupt miteinander reden. Er ist so verbohrt. Und alles, was ich sage, ist falsch. Er hört mir überhaupt nicht zu. Und er muß doch was machen, er ist so - er weiß eigentlich selbst nicht, was er will, glaube ich. Sie dreht ihr Haar mit den Fingern und starrt in ihr Glas. Dann ruckt sie mit dem Kopf herum, schaut den Freund an, wie er da neben ihr sitzt und sie aufmerksam beobachtet. Weißt du, was das schlimmste ist? Er will nichts mehr von seiner Musik wissen, nichts mehr. [14] Er sagt, er will keine Musik mehr machen. Er könnte - ach, Peter, verstehst du das? Daß einer sein ganzes Können genau auf dem Gebiet, wo seine Gaben liegen, wo er wirklich begabter, besser ist als alle anderen, einfach - nein, nicht nur vernachlässigt, einfach, einfach fortwirft, abschütteln, vergessen will, das ist doch, das ist doch Ignoranz. Findest du nicht auch? --
- Naja. - Er kramt aus seinen Taschen eine Pfeife und einen Tabaksbeutel hervor, legt beides auf den Tisch vor sich hin und fängt an, langsam und ein wenig umständlich, Tabak in den Pfeifenkopf zu stopfen. Als er damit fertig ist, lehnt er sich zurück. Weißt du, sagt er, Herwarth ist, also ich meine, Herwarth hat viele Begabungen. Er ist nicht einfach bloß Komponist oder Pianist oder wie immer du das nennen willst. Das ist zwar das Gebiet, auf dem er es bisher am weitesten gebracht hat, aber - ich fände es eigentlich schade, wenn er sich wirklich festlegen würde. - Aber er könnte Geld verdienen, Peter. Ich ach, weißt du, das ist ja das Schlimme, ich weiß ja, was er alles kann. Ich bin ja auch immer ganz fasziniert, was für ein Gespür er hat. Malerei oder Theater oder Sprache oder Bildhauerei, was auch immer er anpackt, auch wenn er's selbst nicht praktiziert, er ist unfehlbar in seinem Urteil, er weiß, worum es geht, er ist wirklich phänomenal. Aber er verausgabt sich. Er organisiert, er redet, er kämpft immer für andere. Er selbst kommt überhaupt zu nichts mehr. Er steckt immer mittendrin. Peter, er lernt die einzelnen Rollen bei den Theaterproben schneller als die Schauspieler! Und es ist ihm völlig gleichgültig, wenn wir beim Kaufmann inzwischen nichts mehr anschreiben können. Jetzt bei dem Prozeß mit Nissen - ach, er vertraut darauf, daß schon alles gutgehen wird, er ist viel zu beschäftigt, um sich um solche Kleinigkeiten zu kümmern. Er ist wie ein Primaner, himmelhochjauchzend, entflammt und entflammbar und kein bißchen auf der Erde. Und ich - plötzlich schlägt sie sich die Hände vors Gesicht, schluchzt: ich bin mit einem Mal die Ängstliche, Vorsichtige, ich bitte, mahne, versuche zu bremsen, ich du, mir fällt nichts mehr ein, mir fällt selber nichts mehr ein, verstehst du, ich bin leer, ich bin die Dichterin Else Lasker-Schüler, die nur noch daran denkt, wie sich am besten Geld verdienen läßt, Dichterin? Das war einmal. Ein Hausdrachen bin ich geworden... --
- Kind, Mädchen, jetzt übertreibst du aber. Du - er rückt wieder ganz eng an sie heran - du und ein Hausdrachen. Komm, prost, vergiß es. Sein Glas klirrt gegen das ihre. Hausdrachen, er schüttelt sich. Wir trinken noch einen, nich? Ich kann dich einladen, ausnahmsweise. Wir haben gut gewirtschaftet in den letzten Wochen. Sein Lachen ist warm. Und wie er jetzt hinter den Rauchschwaden seiner Pfeife verschwindet, verbreitet er gutmütig-beruhigende Gelassenheit. Mußt das alles nicht so schwarz sehen, du. Vielleicht - er bläst Else den Rauch ins Gesicht - vielleicht ist das Problem einfach das, daß du dich zu sehr verantwortlich fühlst. Aber er ist doch erwachsen. Er weiß schon, was er tut. Und du, du sollst auch tun, was du für richtig hältst. Du mußt das Machen, ohne immer daran zu denken, daß du Herwarth und Päulchen ernähren mußt. Und überhaupt: das kannst du mir nicht sagen, daß dir nichts mehr einfällt. Dir! Was, zum Beispiel, hast du denn heute den ganzen Tag getrieben? Du bist doch nicht hier gesessen und in Wehmut versunken?

  • Ach wo. Jetzt muß Else selbst auch lachen. Nur ein bißchen. Der Hausdrachen hat - ich zeigs dir. Sie wühlt in ihrer Tasche nach dem Notizbuch. Da: ich habe eine Vision unseres Ehealltags entworfen.
  • Herr von Kuckuck? Hm. Laß mich mal lesen. Das er lacht sein lautes, brummiges Lachen, köstlich, goldene Pantoffel und seidene Strümpfe mit Löchern. Na also, und - seine Augen fliegen über die Zeilen und Else beobachtet ihn aufmerksam - herrlich: schwimmen hinter mir über die flaue Matratze... Schatten Ihrer Frau, siehst du, ich wußte ja, daß du wieder mal maßlos übertrieben hast. Du und keine Phantasie mehr! --
  • Aber, Else schüttelt den Kopf, tatsächlich steht ja da nicht, wie es ist, sondern wie ich denke, daß es sein könnte, oder? -- - Eben. Genau darauf kommt es doch an. Solange wir alle noch träumen können... --
  • Ja, sagt sie da und atmet tief durch und kuschelt sich an seinen Arm, ich weiß schon, du hast recht. Wie immer, ach - was täte ich wohl ohne dich, hier in dieser entsetzlichen, in dieser entsetzlich interessanten Stadt? --
  • Du hättest einen weniger, der dir sagt, daß deine Wupper wirklich ganz, ganz großartig ist, nicht nur, weil sie sich schön liest, sondern weil sie stimmt, einfach stimmt. Brummt er und zieht weiter heftig an seiner Pfeife. Einfach stimmt. Er nickt vor sich hin. Schau mal, stößt er sie mit dem Ellbogen an, wer da gerade hereinspaziert. Damit dürfte dann unser intimes Tête à tête für heute beendet sein. Er weist mit der Pfeife gegen die Tür, wo Herwarth Walden und Rudolf Blümner stehengeblieben sind und mit den Augen die Gäste absuchen. Else hebt die Hand und im gleichen Augenblick haben die beiden Männer sie erspäht und kommen auf sie zu.

Die Begrüßung ist laut und stürmisch. Else sitzt da, klein und sehr aufrecht und läßt ihre Augen von einem zum anderen wandern. Blümner, der jetzt lacht und dabei ganz viele kleine Falten um die Augen herum bekommt, steht groß und wie ein Felsen neben dein schmächtigen Herwarth Walden, der sich das Blondhaar über die hohe Stirn nach hinten streicht, während die hellen Augen hinter seiner Brille auf die ihm ganz eigentümliche Art aufstrahlen beim Wiedersehen mit dem auch ihm so lieben Freund. Und Peter Baums spitzer kurzer Bart wackelt beim Reden und Lachen auf und ab als vollführe er einen Freudentanz. Dann, sie haben sich lange und herzlich die Hände geschüttelt als hätten sie sich nicht nur ein paar Wochen, sondern Jahre nicht gesehen, setzen sie sich. Peter Baum wieder neben Else, Blümner und Walden ihnen gegenüber. Walden hat ein paar Zeitungen auf den Tisch geworfen vorher, die nimmt er nun an sich, rollt sie zusammen, stapelt sie gegen das Fenster. Nichts von Belang, sagt er mit einem Blick zu Else hin und lehnt sich zurück. Berlin hat nichts zu melden, was in die offizielle Presse gehört. Man sollte es nicht für möglich halten... Aber, er greift in die Manteltasche und zieht ein rotes Heft [15] heraus, das ist gekommen, aus Wien. Mit der Nachmittagspost. Und gleichzeitig ein kurzer Brief auch von Kraus.  Er schreibt, er überlegt, ob er nicht doch im Januar nach Berlin kommen soll, wie wir es ihm vorgeschlagen haben. Er meint, eigentlich müßte er sowieso einmal wieder pausieren für ein paar Wochen, die k.-und-k.-Luft aus seinen Lungen herausblasen, damit er wieder streitfähiger würde. Ich habe ihm sofort geantwortet und ihm versichert, daß er im Verein jederzeit auf ein dankbares Publikum rechnen kann. Er reicht Else das Heft über den Tisch. Sie legt es vor sich hin und streichelt mit den Händen liebevoll über den roten Einband. Kraus in Berlin, sagt sie, doch, hoffentlich kommt er. Das wäre ein echter Lichtblick. Ich werde ihm selbst auch nochmal schreiben.  [16] Als sie das Heft öffnet, fällt eine Postkarte daraus hervor und auf den Boden. Else bückt sich und hebt sie auf. Von Päulchen, ruft sie, das ist aber eine Überraschung! [17] Was schreibt er denn? Ihre Augen fliegen über die Karte: am Donnerstag kommt er, Donnerstag, Herwarth, das ist ja, das ist ja übermorgen! Oh, wie ich mich freue. Übermorgen kommt mein Kind nach Hause! - Sie hält die Karte fest in der Hand, liest jedes Wort, das da in großen Kinderbuchstaben steht, sorgfältig noch einmal. - Er hat eine so schöne Schrift! Ganz gleichmäßig ist sie geworden, gar nicht mehr so kindlich wie früher. Und - sie dreht die Karte um, hält sie ein wenig von sich fort - ist das nicht niedlich? Schau mal, das Pferdchen hier, mit dem Wagen, wie das so stolz übers Blatt läuft, das ist ja. ein richtiges kleines Kunstwerk. Findet ihr nicht auch? Sie streckt die Hand mit der Zeichnung über den Tisch damit die Freunde sie begutachten können. - Ein richtig großer Junge ist er schon. Du freust dich doch auch, Herwarth, wenn er jetzt endlich wieder nach Hause kommt, oder? - Sie sehen sich an und in dem Lächeln, das sie sich über den Tisch senden, sind tausend Worte eingeschlossen. Wenn Paul da ist, wird vieles wieder anders werden. Das Leben mit Paul, das ist die tägliche Erinnerung an den anderen Teil, der in ihnen schlummert. Das ist Erleben auf einer anderen Ebene, spielen und Spaß haben miteinander und sich gegenseitig Geborgenheit vermitteln, ein Zuhause haben bei sich, was sie leicht vergessen, alle beide. Und entdecken und wachsen und beschützen und erzählen, angenommen werden und gefordert, anders, ganz anders als es zwischen Erwachsenen stattfindet. Da kommt ihnen vieles wieder in den Sinn, was sonst verschluckt wird von allem Möglichen, scheinbar viel Drängenderem, Wichtigerem. Ob er noch immer auf dem Klavier weitermachen will? Herwarth reckt das Kinn nach vorne. - Paul ist, in diesem Punkt fast beharrlicher als seine Mutter, ein steter und aufmerksamer Zuhörer seines Spiels. Früh schon hat er angefangen, sich selbst Melodien auf dem Klavier auszudenken, hat mit kindlichem Eifer vor sich hingeklimpert bis er, wißbegieriger geworden, sich von Walden Stunden erbeten hat, die sie beide, unregelmäßig zwar, wie so vieles in ihrem Leben, schließlich auch in Angriff genommen haben. Es war dabei, als würden sie beide lernen, jeder vom anderen, und das Band zwischen ihnen hat sich dadurch noch fester geknüpft. Zwischen Vater und Sohn könnte es nicht enger geschlungen sein.
- Sicher wird er das wollen. Eririnerst du dich nicht mehr, in dem Brief, den er uns gleich anfangs geschickt hat, hat er doch geschrieben, daß es ihm fehlt, das Zusammenspiel mit dir, daß er gar keine Lust hat, immer nur von diesen alten Notenblättern abzuspielen, die sie dort für ihn haben, und daß er lieber ganz aufhören würde zu spielen, wenn er nur solche Stücke lernen müßte. Else stützt das Kinn in die linke Hand. Sie sieht sich zu Hause, mit dem Rücken am Fensterrahmen lehnend, die Augen geschlossen, und wie die Sonnenstrahlen, die sie von draußen einhüllen, kommen aus dem Inneren des Zimmers die Töne des Klavierspiels zu ihr herüber, umgeben sie mit einer seidenweichen Decke aus Träumen, vierhändig hervorgezaubert, mühelos scheinbar, einmal keck und spritzig zum Mitsingen auffordernd, dann wieder fast wehmütig ins pianissimo versinkend, ein ganz leises, zartes Gebilde, ein bißchen traurig nach Auflösung suchendundwumm, ein Akkord, hingepfeffert, und noch einer urid viele, ohne Ende, das reißt ihr den Kopf hoch und die Augen auf, und Pauls fröhliche Stimme mischt sich dazwischen: das haben wir selbstgemacht, Mama, der Vater und ich, jetzt gerade. Ist das nicht schön? Hat dir das gefallen? Ah - das hat Spaß gemacht. Ja, sagt sie und muß wieder lächeln in der Erinnerung, Herwarth, ganz bestimmt. Ich bin sicher, daß er sich schon darauf freut. Sie streift sich das Haar aus der Stirn und legt Päulchens Karte wieder in das rote Heft zwischen die Seiten, bevor sie es zuklappt und von sich wegschiebt. Ich kann i etzt gar nicht in Ruhe lesen. Ich werde mir das für heute abend im Bett aufbewahren. Und morgen - ach, wenn Paul übermorgen kommt, dann ist da ja noch fürchterlich viel zu tun, morgen...
Vorläufig wird noch einmal Wein nachgeschenkt. Sie stoßen an auf Peter Baums Heimkehr nach Berlin und darauf, daß sie nun wieder gemeinsame Pläne in Angriff nehmen können. Der Nissen-Prozeß wird mit keinem Wort erwähnt. Jetzt hier, zusammen, gibt es Wichtigeres zu bereden.