Es geht ums (Über)Leben

Von der Notwendigkeit einer Feminisierung der Politik

Verhalte dich wie eine, die die Welt retten wird

»Ja, sagt ihr, das ist ja alles schön und gut und sehr eindrucksvoll und kosmisch -
aber mir ist nicht ganz klar, wie mir ein flüchtiger Eindruck von der impliziten
Ordnung oder von der Tendenz gewisser Resonanzen »zu existieren«
dabei helfen kann, daß Hermann endlich seine Socken aufhebt, und Mr.
Smithjones mich bei der Arbeit nicht mehr in den Hintern kneift,
ich nachts allein auf der Straße weniger nervös bin,
ein angemessenes Gehalt bekomme, einen Babysitter finde.
Ich sehe nicht, wie das die Kriegsmaschinerie abschaffen oder oder oder ...
eben einfach eine ganz gewöhnliche alte feministische Revolution
bewerkstelligen kann. - Ich verstehe Euer Argument. Aber wir haben ja
gerade erst angefangen zu begreifen, welch weitreichende
Implikationen unsere Politik hat.«
Robin Morgan
Anatomie der Freiheit

Die italienische Feministin Rossana Rossanda hat die Frage und zugleich das Dilemma formuliert, vor der wir Frauen stehen: »Wie kann die Frau, wenn sie nur das Trugbild des Mannes [1] ist, ein neues Realitätsprinzip begründen?« So ist es: Auf der Grundlage einer feministischen »Welt als Wille und Vorstellung« lassen sich keine konkreten Handlungsanweisungen für neue Strukturen des menschlichen Zusammenlebens und des Umgangs mit der Natur entwickeln. Dies aber teilt der Feminismus mit allen utopischen Entwürfen: Kein einziger setzte sich je in unmittelbare Politik um, sondern führte günstigstenfalls der Politik Impulse zu, wirkte katalytisch ein auf Prozesse gesellschaftlicher Veränderung und half neue Wertsysteme entwickeln. Warum sollen die Frauen ein geschlossenes System präsentieren, wenn dies den Männern bisher auch nicht gelungen ist?

»Verhalte dich wie eine, die die Welt retten wird. Denn genau das wirst du tun.« So beschreibt Robin Morgan den Stand- und Ausgangspunkt weiblicher Beteiligung am Veränderungsprozess unserer Gesellschaften. Ob weibliche Politiker allerdings als Hoffnungsträgerinnen taugen, daran habe ich meine Zweifel. Zu sehr erlebe ich selbst schon seit vielen Jahren, daß eine 70- bis 80-Stunden-Arbeitswoche das kaputtzumachen droht, wofür sie eigentlich da ist: ein humanes Leben. Es ist ja auch nicht nur die Arbeitszeit und das Arbeitspensum, das uns prägt und beschränkt, dazu kommt die viele Reiserei, die Hektik, die immer lauernde Entwurzelung aus Familie und Freundeskreis, die vielfältigen Zwänge zur Anpassung, die häufig extreme Vereinzelung als Frau ... Ich wehre mich also gegen Ansprüche, aus meinem Leben gewissermaßen Handlungsanweisungen ableiten zu können, wie politisches Engagement und menschliches Leben sich so zusammenfügen, daß daraus eine nachahmenswerte menschliche Existenz erwachsen und reifen könnte. Natürlich können wir Politikerinnen aber insofern Hoffnung auslösen, als wir gesellschaftliches Bewußtsein aufnehmen, reflektieren, verbreiten und in politisches Handeln umsetzen können, das dann in die Gesellschaft zurück fließt. In Kochrezeptmanier ist dies jedoch schwerlich zu haben. Dennoch - wenn man sich umguckt, dann tut sich in puncto »Frauen und Macht« doch einiges, was mein Herz erfreut, denn ich sehe Ansätze zur Veränderung. Ich lese in den Zeitungen: Die Frechen Frauen, in Hamburg poltern los: »Uns stinkt das Gelaber schon lange!«, und begründen ihre Frauenliste. - Ein Porträt der Kandidatin für die österreichische Bundespräsidentschaft, Freda Meissner-Blau, im ersten Wahlgang ausgeschieden, die »für die vielen wählbar« sein möchte, die so wie ich nicht wollen, daß öffentliche Lüge, Korruption und das Vertuschen von Skandalen zum österreichischen Weg wird«. [2] Eine Konfrontation zweier engagierter Frauen, Renate Schmidt, SPD (aus Nürnberg) und Gesundheitsministerin Rita Süßmuth, CDU, im Parlament über die angemessene politische Reaktion auf das Reaktorunglück in Tschernobyl findet ihren Niederschlag. Dem Pressedienst »Frau in Bonn« vom 20. Mai entnehme ich den Bericht einer IBM-Managerin, der darlegt, daß »Frauen ihre Weiblichkeit nicht mehr aufzugeben (brauchen), um in Führungspositionen zu gelangen, denn zunehmend gefragt sind ihre typisch weiblichen, integrierenden Fähigkeiten, wenn es gilt, Mitarbeiter zu führen und zu motivieren«. Drei Frauen sind es, die im Jahr 1986 den Gustav-Heinemann-Bürgerpreis erhalten, neben der langjährigen Gesundheitsministerin Käte Strobel die Gewerkschafterin Gerda Linde und die Entwicklungshelferin Karin Schüler. Frauen sind die treibende Kraft der Opposition gegen die chilenische Militärdiktatur, berichtet das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt. Sie mobilisieren »die Widerstandsreserven der Phantasie« und haben das »√úberlebenskommando ergriffen, es den vielen demoralisierten Männern aus der Hand genommen«. Und Frauen sind es, die in den Kirchen von Hessen und Nassau mobil machen: »Die Frauen machen klar, daß sie aus der Männer- nicht eine Frauenkirche machen wollen; daß es bei der Forderung nach gerechtem Proporz im Kern um mehr geht als Wiedergutmachung Jahrhunderte alter Verletzung, Missachtung und Unterdrückung: Nämlich um die Erneuerung von Kirche im Sinne der provokativen Botschaft des Evangeliums, daß in der Nachfolge Christi Gleichheit herrscht und nicht Hierarchie.« [3]

»Herr, schütze uns vor Machtverlust«

Am fünften Sonntag nach Ostern, dem Sonntag Rogate, mußten sich die Pfarrer mit einem Text auseinandersetzen, der dem ersten Timotheusbrief entstammt: »So ermahne ich nun, daß man vor allen Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen, für die Könige und alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit. (Aus 1. Timotheus 2-6) Dies tat der bayerische Landesbischof Hanselmann an einem heiklen Ort, nämlich nahe der geplanten Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Der Landesbischof handelte sich öffentliche Kritik dadurch ein, denn kurz zuvor war in Tschernobyl der Leichtwasserreaktor durchgeschmolzen, und seine Predigt gewann an ungeahnter Aktualität. Unter der oben zitierten heiklen √úberschrift las ich eine Textauslegung in der Zeitung. Ich will sie hier nicht wiederholen, aber ich frage mich: Will ich tatsächlich, als Frau in dieser Gesellschaft, »ein ruhiges und stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit«? Unter dem, was in unserer Demokratie »Obrigkeit« bedeutet? Natürlich will ich das nicht. Ich orientiere mich mehr an jenen »anderen Ergebnissen«, von denen Susanne Asal in ihrem Artikel über »Drei Frauen in Mexiko« berichtet: »Das Land der Fußball WM putzt sich heraus und demonstriert Einigkeit, Geschlossenheit, Stärke. Aber einige Frauen werden nicht müde, die Kehrseiten aufzuzeigen. Sie handeln, wie das offizielle Mexiko, aus einem Verständnis von Nationalstolz. Nur kommen sie zu anderen Ergebnissen. Warum gerade Frauen? Weil sie Mütter sind, sagen sie, und weil sie Ungerechtigkeit besonders schlecht vertragen«. [4] Und zu »anderen Ergebnissen« kommt auch Annegret Stopczyk mit ihrem Artikel »Ausstieg aus der Atomenergie - Ausstieg aus unserer Kulturtradition«, [5] wo sie die Abstraktion vom konkreten Leben und die Idealisierung der Atomenergie als den technologischen Höhepunkt der »Aufopferung für hohe Ziele« anprangert. Die Männerpolitik erhält ein Gegenmodell. Meine wachsende Euphorie über die veränderte gesellschaftliche Wahrnehmung der weiblichen Lebensrealität und des weiblichen Bewußtseins wird aber spürbar gedämpft durch einige Artikel männlicher Politstrategen. √úberwältigend in der Tat ist die sprachliche Unsensibilität, mit der von ihnen der ideologische Stellungskrieg verbal geführt wird. Da ist die Rede von einem »linken Block«, da soll mit bestimmten Themen der »Durchmarsch« versucht werden, da wird Wahlkampf als »Krieg um die Köpfe« bezeichnet, da werden »Begriffe besetzt« und und und ... Hier treten Manager auf, die sich weit aggressiver geben als die oft attackierten Verkaufspraktiker für Versicherungspolicen oder Buchgemeinschaften, und ihre Werbefeldzüge gleichen eher dem Anwerben von Söldnerheeren zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges als aufgeklärten Kampagnen für eine bessere Demokratie. Hiermit können Frauen nichts anfangen, aber sie sind auch gar nicht gemeint, denn nichts ist so eindeutig weggefiltert aus den Strategien der Parteimanager wie die aus den anderen zitierten Zeitungsberichten ablesbare veränderte Realität des weiblichen Lebens, des weiblichen Bewußtseins und der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung dieser Veränderungen. Wäre ich nicht Politikerin, ich müßte an den Parteien, auch meiner eigenen, zweifeln, wenn nicht verzweifeln, weil sie offenbar weniger als andere gesellschaftliche Gruppierungen »reflektieren« - im doppelten Wortsinn -, wie die Gesellschaft sich wandelt. Bei den Politstrategen scheint man tatsächlich zu beten: »Herr, schütze uns vor Machtverlust!«, damit wir ein ruhiges und stilles Leben führen können. Unter Männern, versteht sich.

Ein zweiter Apfel für Adam

»Ach, hätt' ich, hätt' ich, hätt' ich meiner Tochter
doch geglaubt!«
Carl Orff
Die Kluge
nach: Brüder Grimm Die kluge Bauerstochter

»Ein Mensch kann durch den Akt des Ungehorsams,
dadurch daß er einer Macht gegenüber nein
sagen lernt, frei werden; aber die Fähigkeit zum
Ungehorsam ist nicht nur die Voraussetzung für Freiheit,
Freiheit ist auch die Voraussetzung für Ungehorsam.
Wenn ich vor der Freiheit Angst habe, kann ich nicht
wagen, nein zu, sagen, kann ich nicht den Mut aufbringen,
ungehorsam zu sein.
Tatsächlich sind Freiheit und Fähigkeit zum Ungehorsam
nicht voneinander zu trennen.«
Erich Fromm
Über den Ungehorsam

In dem von Carl Orff vertonten Märchen der Brüder Grimm »Die kluge Bauerstochter« findet ein armer Bauer, der vom König ein winziges Stückchen Land geschenkt bekam, beim Umgraben einen goldenen Mörser. Aus Dankbarkeit bringt er ihn entgegen dem Rat seiner Tochter zum König, und dort passiert genau das, was die Tochter ihm prophezeit hatte: Der König verlangt, auch den Stößel zu erhalten, schilt den Bauern einen Betrüger und steckt ihn in den Turm. Dort sitzt er bei Wasser und Brot und jammert darüber, dem Rat seiner klugen Tochter nicht gefolgt zu sein. »Ach hätt'ich, h-ätt'ich, hätt' ich meiner Tochter doch geglaubt.« Der König stellt die Klugheit der Tochter auf die Probe und findet sie bestätigt. Darauf heiratet er »die Kluge«, verstößt sie aber bald, weil sie einem anderen armen Menschen einen klugen Rat gegeben hatte. Er erlaubt ihr aber, das Liebste, was sie hätte, aus dem Palast mitzunehmen. Daraufhin steckt sie den König, nachdem sie ihn mit einem Schlaftrunk betäubt hat, in eine große Kiepe und schleppt ihn bei Nacht aus dem Schloß. Dieses Märchen in seiner Vertonung durch Orff sahen wir vor vielen Jahren im Münchner Marionettentheater, und es hat meinen Kindern großen Eindruck gemacht. Es gibt nicht viele deutsche Märchen, in denen Frauen so listig, selbstbewußt, klug und menschlich dargestellt sind. Die Tugend, deretwegen der König die Kluge heiratet, entzündet sich im Grunde an einer Form von Ungesetzlichkeit und Ungehorsam: Sie wollte den goldenen Mörser behalten. Nicht aber aus Unehrlichkeit wollte sie ihn dem König nicht geben, sondern aus der Einsicht heraus, daß bei den herrschenden Machtverhältnissen ihr ihre Ehrlichkeit ohnehin nicht geglaubt werden würde.
Auch die Tragödienheldin Antigone setzt sich über das Gesetz hinweg - mit tödlichen Folgen für sie selbst, ihren Verlobten und die Königin. Kreon spricht aus, warum er ihre Gesetzesübertretung - daß Antigone nämlich ihren Bruder gegen den Willen Kreons begraben hatte - mit ihrem Tod bestrafen will: »Wenn sie sich ungestraft das leisten darf / bin ich kein Mann mehr, dann ist sie der Mann!« Entgegen dem Ratschlag seines Sohnes Haimon und des Chores, der wie so häufig die Funktion des Sehers wahrnimmt, setzt Kreon. seine Macht als Herrscher durch, ohne nach der Moral seiner Handlungsweise zu fragen, wie ihm von Antigone nahe gebracht wird. Er verletzt das Humanum, Antigone verteidigt es. daß der weibliche Ungehorsam als Tugend in die Geschichte eintrat, verdanken wir dem Mythos von Eva, der Schlange und dem Apfel vom Baum der Erkenntnis. »Ihr werdet keineswegs des Todes sterben, sondern Gott weiß: An dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist«, so sprach die Schlange zum Weibe. Eva sah, »daß von dem Baum gut zu essen wäre, und daß er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte«. [6]
Diese Klugheit wollte sie aber keineswegs für sich allein behalten, sondern sie gab auch Adam einen Apfel, damit er ebenfalls klug werde. Eva und Antigone haben den Mut und die innere Freiheit aufgebracht, sich über ein abstraktes Gesetz hinwegzusetzen. Den Mythos neu zu lesen, wie Christa Wolff empfiehlt, wäre wohl in beiden Fällen angezeigt, denn mit Eva kam weniger die Sünde als die Freiheit zum Ungehorsam in die Geschichte. Jenen Autoren, die sich mit utopischen Ansätzen für neue Weltentwürfe abgeben, um nach Wegen aus den Ausweglosigkeiten unserer Gegenwart zu suchen, scheint der Blick für solche weiblichen Tugenden völlig zu fehlen. Wer sich mit Zukunft und Utopie befaßt, hat es immer mit der ganzen Menschheit zu tun; diese scheint nur aus Männern zu bestehen wie die Geschichte zeigt. Sind die Denker und Schreiber männlich, kommt es ihnen schon gar nicht in den Sinn, darüber nachzudenken, ob Frauen möglicherweise eine andere Menschlichkeit für die Zukunft entwickeln möchten als der männliche Mensch. Dabei sind die Zeiten sehr wohl danach, daß nach utopischen Entwürfen gefragt wird, auch wenn Jürgen Habermas in seinem Band »Die neue Unübersichtlichkeit« zu dem Ergebnis kommt, daß das 19. Jahrhundert im Grunde das Zeitalter der Utopien gewesen sei und daß der Begriff in der Folgezeit zu einem politischen Kampfinstrument verkommen wäre, den jeder gegen jeden nutzte; erst Bloch und Marcuse hätten die Utopie »vom Beigeschmack des Utopismus gereinigt und als unverdächtiges Medium für den Entwurf alternativer Lebensmöglichkeiten rehabilitiert«. Heute aber seien die utopischen Energien aufgezehrt. Der Begriff der Zukunft erwecke negative Assoziationen. und sei durch Unübersichtlichkeit gekennzeichnet. »Unübersichtlichkeit ist indessen auch eine Funktion der Handlungsbereitschaft, die sich eine Gesellschaft zutraut. Es geht um das Vertrauen der westlichen Kultur in sich Selbst.« [7]
Daß aber bei dem, was eine Gesellschaft sich zutraut, die Frauen möglicherweise eine tragende Rolle erhalten könnten, auf diesen Gedanken kommt auch Habermas nicht. »Die neue Unübersichtlichkeit« läßt immerhin vermuten, daß das Strukturelement der Unübersichtlichkeit unklar, offen, nicht hierarchisch und unbürokratisch genug ist, um auch Frauen zu faszinieren. Niemand unterschätze aber die neuerliche Verfestigung im konservativen Gegenlager: Sind konservative Werte in Gefahr und damit die gesamte schöne Männerhierarchie, dann werden die Systembewahrer aggressiver. Sie finden die Frage schlicht unerlaubt, ob sich vielleicht eine Utopie des Menschseins entwickeln ließe, deren moralischer Anspruch sich auf die Tugend des Ungehorsams gründet. Dabei pfeifen es die Spatzen von den Dächern, daß der »Neuen Unübersichtlichkeit« mit den alten Denkschablonen nicht beizukommen ist. Einen Quantensprung im Bewußtsein hat nämlich aufgrund der Erkenntnisse der modernen Physik unser aller Weltbild gemacht. Auf Kopernikus, Galilei und später Newton gründet sich das nachmittelalterliche mechanistische Weltbild, Descartes und andere untermauerten es philosophisch, die Aufklärung und der in der Industrialisierung aufblühende Fortschrittsglaube krönte es zur Gewissheit im Weltbild des späten 19. Jahrhunderts: Alles ist machbar. Wenn die durch den Kapitalismus gegebene Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgeschafft ist, werden paradiesische Zustände wieder einkehren. Durch die Entdeckung der Quantenmechanik und die Entwicklung der Relativitätstheorie ist dieses Weltbild in den Grundfesten erschüttert worden: Nichts ist absolut, nur abstrakt sind Elemente aus den vernetzten Systemen zu lösen, die Systeme selbst sind komplex. Der Biochemiker Frederic Vester folgert, »daß selbst die jedem so absolut unumstößlich erscheinenden Größen und Begriffe der physikalischen Welt - wie Lichtgeschwindigkeit, Elementarladung, Gravitationskonstante, Atomdurchmesser, Raum und Zeit - in Wirklichkeit gar nicht konstant sind, sondern in ihrer Wechselwirkung mit Raum und Zeit Veränderungen unterliegen, durch die ihre Relativität und damit auch die gegenseitige Abhängigkeit aller dieser Größen voneinander bedingt wird«. [8] Vester schließt, daß wir zu einem neuen Verständnis von Wirklichkeit kommen müssen, das erkennt, wie auf direkte Eingriffe in das System indirekte Wirkungen entstehen, die die Welt des Lebendigen als ein äußerst komplexes System bedrohen. Aus der Biologie leitet er den Schluß ab, daß nur offene Systeme überlebensfähig sind; er möchte die »Bewertungsinstanz Leben« eingeführt sehen und ruft nach einem »zweiten Apfel für Adam«, da dieser sich zu einem Lebewesen entwickelt habe, das »von der Weisheit seiner inneren Natur« ebenso getrennt sei wie »von der Weisheit der (ihn) umgebenden Biosphäre« [9] und doch die Erkenntnis von »einer neuen Verantwortung für diese Umwelt, die er gestaltet und von der er ein Teil ist« [10] erlangen müsse.
Mich verblüfft an Vesters Denkmodell, daß er »diverse Dogmen als Erfindungen eines unbeweglichen menschlichen Geistes« außer Kraft setzen und durch »dynamische Normen« ersetzen will, daß er aber nicht mit einem Wort erwähnt, jener »menschliche Geist« sei ein männlicher Geist gewesen, und eine »dynanilsche Norm«, die das Leben zum Bewertungsmaßstab macht, müsse die Abspaltung des Weiblichen rückgängig machen und dieses wieder neu integrieren. Gegen Vesters Bild vom »zweiten Apfel für Adam« müssen Eva und die Schlange her! Wenn schon Lichtgeschwindigkeit, Elementarladung, Gravitationskonstante, Atomdurchmesser, Raum und Zeit nicht konstant sind, warum eigentlich sollte dann nur das gute alte Patriarchat immer noch unverändert fortbestehen? daß ein verändertes Weltbild und die dadurch veränderten Denkstrukturen nach völlig neuen Kommunikationsmustern verlangen, scheint mir ausgemacht. Der an seinem Schreibtisch vor sich hin brütende Wissenschaftler alten Schlages ist als Erfinder dafür aber gänzlich ungeeignet. In sich aufnehmen und verarbeiten müßten die männlichen Denker, die aufgrund der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse an einem neuen Weltbild malen, aber noch ein weiteres Faktum: Wenn die forschende Person Bestandteil des zu erforschenden Systems ist und es also den Forschungsgegenstand »an sich« nicht länger gibt, dann ist es nur logisch, daß weibliche Forscher aufgrund ihrer Andersartigkeit zu anderen, aber genauso richtigen Ergebnissen bei der Beantwortung bestimmter Fragestellungen kommen wie die männlichen Forscher; wenn nichts mehr absolut existiert, stürzen auch die absoluten männlichen Denkgebäude ein. Diese Folgerung ist so logisch wie der Lehrsatz des Pythagoras. Dem Physiker Fritjof Capra geht es in seinem Buch »Wendezeit. Bausteine für ein neues Weltbild« darum, aus der veränderten Weltsicht ganzheitliche ökologische Anschauungsweisen zu entwickeln. Aus einem Netz von ineinandergreifenden Ideen und Modellen, in das auch mystische Elemente aus der chinesischen Philosophie (»Yln« und »Yang«) einbezogen sind, möchte er eine Synthese herstellen, die holistisch die Spaltung von Geist und Materie überwindet und unsere gegenwärtige Krise zu bewältigen beginnt. Capra widmet sein Buch den Frauen in seinem Leben, ganz besonders seiner Großmutter und seiner Mutter; er glaubt an die feministische Bewegung als »eine der stärksten kulturellen Zeitströmungen«, die »sich tief greifend auf unsere weitere Evolution auswirken« [11] werde. daß der Autor sich ernsthaft auf eine Auseinandersetzung mit dem Feminismus einließe, wird man nicht sagen können. Im Gegenteil: Auch er will uns immer noch die Männer als Hüter des technischen Sachverstands verkaufen, die nach wie vor den monopolistischen Anspruch darauf erheben, die Gesellschaft zu organisieren - nun aber vernetzt, holistisch und organisch, während den Frauen das Feld der privaten Beziehung zur Pflege der emotionalen Werte zugewiesen bleibt. Capras Wunsch nach Versöhnung des abstrakt männlichen Geistes mit den persönlichen Glücks- und Wertvorstellungen, auch seine Sehnsucht nach einer neuen Versöhnung des rationalen Denkens mit dem Göttlichen sind verständlich und ehrenwert. Aber so billig werden die Denker unserer Zeit nicht mehr davonkommen: Wir Menschen sind keine sympathisch schwingenden Teilchen in einem globalen kosmischen Netz, das wohl auch nur in der Theorie ein wunderbar harmonisches Ganzes ist. Vernetzt sind wir allerdings doch: Das Ausbeutungs- und Destruktionssystem funktioniert weltweit und hat inzwischen längst den Kosmos erobert, um dort den »Krieg der Sterne« zu inszenieren. Wer aber in solchen Zeiten von der großen allgemeinen Harmonie schwärmt, beschränkt seinen Handlungsrahmen schuldhaft. Sicher ist das denkende und handelnde Subjekt Bestandteil des Erkenntnisprozesses. Damit ist aber seine Existenz als historisches und gesellschaftliches Wesen nicht aufgehoben. Für die Konsequenzen des Erkenntnisprozesses und der Handlungen im »Hier und jetzt« bleibt der Mensch verantwortlich. Systemtheoretisch ist es ja ganz nett, wenn der »Sender« integraler Botschaften sich in seinen vernetzten Systemen quasi verflüchtigt; politisch-moralisch haben wir es aber weiterhin damit zu tun, daß wir die Stationierung von Atomwaffen im Weltall, die Risiken der Kernenergie, die ökologischen Folgen des Rodens tropischer Urwälder oder die Unterdrückung der Frau so rasch als irgend möglich aufzuheben haben. Wenn ich aus dem Geist des Ungehorsams einen Apfel vom Baum der Erkenntnis zu vergeben hätte - ich würde ihn symbolisch den Politikern überreichen, und zwar am ehesten einem von jenen, die zur Zeit mit den Frauen als » wichtiger Wählergruppe« herum spielen. Ich würde das Geschenk durch ein »Manifest zur psychischen Abrüstung« begleiten, das von führenden Feministinnen unterzeichnet sein müßte. Darin würden so schöne Sprichworte wie »Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keiner andern zu« oder »Quäle nie die Frau zum Scherz, denn sie spürt wie du den Schmerz« stehen, aber vor allem natürlich Aussagen darüber, daß die »Herren der Schöpfung« sich um unser aller Leben willen allmählich bewußt zu »Dienern der Schöpfung« verwandeln müssen. Den Frieden in der Welt und den Frieden mit der Natur werden die Politiker glaubhaft nämlich erst dann bewahren, wenn sie beginnen, den Frieden mit sich selbst zu machen. Einer jener Parteistrategen äußerte kürzlich, der Patriarchismus müsse verschwinden. Der Politiker irrt: Das Patriarchat ist der Patriarchismus. Kann er mit seinem Selbstverständnis dieses tatsächlich abschaffen wollen? - Der Politiker setzte seinen Gedankengang damit fort, daß er in Frage stellte, ob sich in den Familien viel ändern ließe. Hier wäre ihm wie den meisten anderen Politikern entgegenzuhalten, daß er davon nichts versteht, weil er ja auch deswegen Politiker geworden ist, um sich mit seiner Familie nicht ernsthaft abgeben zu müssen. So wie die Dinge liegen, gibt es keine männlichen Politiker, die sich aus ihrer vitalen Interessenlage heraus eine Veränderung am Patriarchat und seiner Ausprägung in der Familie vorstellen könnten. Ich schließe aber nicht aus, daß der »Quantensprung im Bewußtsein« eines Tages selbst das Patriarchat und die Männerpolltik erreichen wird. Aber wohl erst dann, wenn die weibliche Tugend des Ungehorsams die Parteisolidarität in Frage stellt.

Am Ende des Zeitalters der Machbarkeit: Frauengegenwelten

»Da die schöne Melusine es einst liebte, sich in ihre Gemächer
einzuschließen und politische Bücher zu lesen, was zu ihrer Zeit
einen seltenen und höchst eigensinnigen Geschmack voraussetzte,
war man bald überzeugt, daß sie geheime Künste und Zauberei triebe.
Und bald hieß es, daß sie sich jeden achten Tag wenigstens
zur Hälfte in einen Drachen verwandelte und flöge.
Genügte diese Hälfte nicht, um die fossilen Ungeziefer zu vertilgen?«
Irmtraud Morgner
Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz

»Wir werden nicht mehr petitionieren, sondern fordern,
uns nicht mehr hinter den verschlossenen Türen unserer
Vereine über unsere frommen Wünsche unterhalten,
sondern auf den offenen Markt hinaustreten und für
ihre Erfüllung kämpfen, gleichgültig, ob man mit Steinen nach uns wirft... «
Lily Braun
Memoiren einer Sozialistin München 1909

»Wenn man im Machen nicht mehr das anwendet, was man erkannt hat, kann man schließlich auch nicht mehr erkennen, was zu machen ist«, schreibt Horst-Eberhard Richter. [12] Ich habe für meine Sache zunächst erkannt, daß ich mich für die Mehrheit der Menschheit streite, die gleichwohl unterdrückt ist und von der machtbesitzenden Minorität wie eine Teilmenge und Sondergruppe behandelt wird. Anders aber als bei anderen unterdrückten Gruppen in der Gesellschaft, die hoffen können, den Zwang einmal abzuschütteln und frei zu sein, bleiben Männer und Frauen aufeinander angewiesen. Die Utopie muß sich also im Rahmen der geschlechtsbedingten Polarität ansiedeln. Ich habe ferner erkannt, daß die Frauenbewegung als Bewegung in den Frauen wirkt und daß die Frauen durch die Frauenbewegung bewegt werden, selbst wieder etwas zu bewegen. Als Verjüngungskur und Stabilisierungselement für etablierte partriarchale Machtstrukturen wird sich die Frauenbewegung nicht missbrauchen lassen, sondern auf eine qualitative Veränderung von Macht und Politik hinarbeiten. Um dies zu erreichen, setzen die Frauen all ihre Erfahrungen ein, und die sind vielfältig: Unsere Arbeitserfahrung: Die Spatzen- pfeifen es von den Dächern, und selbst die führenden Herren beim Arbeitgeberverband wissen: Die Arbeitsgesellschaft der Zukunft wird ganz anders aussehen als die heutige. Wir stehen am Ende des expansionistischen Zeitalters; Arbeitszeitverkürzung, Dezentralisierung, Flexibilisierung, Eigenarbeit, Schattenwirtschaft sind Schlagworte für die Zukunft. Wir Frauen wissen aus unserer Erfahrung, was es heißt, in einer Leistungsgesellschaft Selbstbestätigung aus nicht bezahlter Tätigkeit zu gewinnen. Wir glauben daher nicht daran, daß das Erfolgssyndrom, das Männer treibt und eine faire eheliche Partnerschaft so oft verhindert, sich in dieser »bewährten« Weise im Nicht-Erwerbsbereich austoben kann. Aus unserer Arbeitserfahrung wissen. wir, daß sich die Ansatzpunkte für eine nach industrielle Veränderung von Industrie und Konsum nur in Haus und Nachbarschaft finden lassen, und wir haben Erfahrung mit Lebens- und Produktionsweisen, die viel mit vorindustriellen Lebensformen zu tun haben und erneut an Bedeutung gewinnen: Wir wissen, was es heißt, sich Menschen ohne Zeitdiktat zuzuwenden; wir bewerten die Effizienz unserer Tätigkeit nicht nur an Zeit, Wert und Geld; wir haben Erfahrung mit der Herstellung von Gebrauchswerten. Schließlich haben wir Erfahrung mit komplexen Formen von Kommunikation, die unendlich viel mehr sind als Fernsehnachrichten, Kabinettsbeschlüsse, Wahlbroschüren, gesetzliche Vorschriften, Schulordnungen oder ärztliche Anweisungen. Unser Wertsystem wird vom ganzen Menschen und vom Leben insgesamt bestimmt. Mary Daly [13] hat recht: wir verfügen über »the power of being« und »the power of presence«. Das sollte doch wirken. Unsere Körperfahrung: Die physische Realität der Frau unterliegt stetem Wandel. Der Menstruationszyklus gibt uns Frauen einen Lebensrhythmus vor, den ich nicht mystisch überhöhen will, der aber doch ein Faktum unserer physischen und psychischen Existenz ist, mit dem wir vierzig Jahre unseres Lebens umgehen - dazwischen die Möglichkeiten von Schwangerschaften, Geburten und Stillperioden. Diese existentiell erfahrbare Realität läßt die meisten Frauen zu einer emphatischen Haltung gegenüber physischer Existenz in jeder Form finden, die sich auch auf politische und strategische Handlungsformen auswirkt. Wenn man einmal von einem Wesen als Mutter »bewohnt« wurde, wird die Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich verschwommener: wir Frauen erfahren das Leben. Da Frauen das körperlich schwächere und dazu das unterdrückte Geschlecht darstellen, ist unsere Körpererfahrung angereichert durch die Erfahrung des Leidens. Manche sagen, das Leiden der Frauen ist das Leiden der menschlichen Spezies und umgekehrt. Wie dem auch sei: nach Zahl und FIächenverteilung stellen die Frauen die Armen der Welt, die Hungernden der Welt, die Flüchtlinge der Welt, die Analphabeten der Welt. Über alle Schranken von Alter, Rasse, Klasse, Nationalität, Kultur, Sexualgewohnheit und ethnischer Prägung hinweg sind Frauen in diesem Leiden vereint. Unsere Kulturerfahrung: Virginia Woolf vermutet, »daß Anonymus eine Frau war«, wahrscheinlich hat sie recht. Ein wesentlicher Teil weiblicher Kulturerfahrung rührt von der Unterdrückung her, dies hat ganz ohne Frage unsere Wahrnehmung geschärft. Allmählich könnte man von der Sozialisationsforschung zur Vorurteilsforschung übergehen, wenn man wissen will, wodurch der Kulturbeitrag von Frauen immer noch unterdrückt wird. Frauen haben eine eigenständige Kulturerfahrung einzubringen, was den Stil ihres Umgangs mit Konflikten und die Fähigkeit der Menschenführung angeht. Der als eher weiblich gekennzeichnete sogenannte »Beta-Stil« (Betty Friedan) zeichnet sich durch eine größere Toleranz aus »gegenüber dem Anders-Sein, die Freiheit ermöglicht«. [14] Dem »Beta-Stil« geht es um das Gesamtbild und weniger um die Konzentration auf eine bestimmte Aufgabe, um Wachstum und Lebensqualität und weniger um festgesetzte Quantitäten und den Status quo, um die gemeinsame Nutzung innerer Ressourcen und die Herstellung anpassungsfähiger Beziehungen zur gegenseitigen Unterstützung. Er verliert über der Abstraktion nicht den konkreten Anlaß aus dem Auge. An die Stelle männlicher Schlagworte - logisch, vernünftig, abgelöst, kausal, final, analytisch setzt er Kategorien, die Intuition, Identifikation, Anempfindung, Phantasie, BiIdhaftigkeit und Betroffenheit nicht ausschließen, sondern ausdrücklich einbeziehen. Paradoxien des »Sowohl ‚Äì Als - auch« im weiblichen Denken sind kein Zeichen von Unlogik, sondern zumeist der Komplexität von Lebenszusammenhängen angemessenen - Kulturerfahrung also.

»Was wollt ihr denn, das wir tun sollen?«

In einer Kommission, die förderungswürdige Filmprojekte entscheidet, lag kürzlich Helke Sanders Vorschlag »Das Schicksal schöner Männer« zur Begutachtung vor. Die Autorin, eine überzeugte Feministin, hatte sich eine Zaubergeschichte ausgedacht, um mit ihrer Botschaft auf hinterhältig komische Weise ihr Publikum zu erreichen: Zwei Meerjungfrauen verzaubern einen Intercity-Nachtzug von Süddeutschland auf dem Weg nach Hamburg, in dem nur Männer sitzen. Die Männer fallen immer wieder in Schlaf und träumen dabei die Geschichte des Patriarchats in ausgeklügelten Spielszenen. Ihre Irritation nimmt mehr und mehr zu, sie ängstigen sich und erfahren durch Zauberei, daß sie bis zum Schluß der Reise eine Frage gefunden haben müssen; falls sie sie nicht finden, droht Schlimmes. Alles geht aber gut aus, die Frage wird gefunden: »Was wollt ihr denn, das wir tun sollen« Die Frage will mir nicht aus dem Kopf. Ich denke und denke und denke über die Antwort nach. Wenn es nach mir ginge, würde die Antwort lauten: Ihr sollt uns Raum geben für Utopien, damit wir unsere Träume träumen und daraus unsere Realität entwickeln können. Sie wird mehr sein als das, was Frauen heute aus sich machen können; mehr aber auch, als was die männerdominierte Realität für die gesamte Menschheit bereithält. Der »schönen Menschengemeinschaft« (Irmtraud Morgner) träume ich mich entgegen. Und dabei weiß ich natürlich, daß »der Kampf um neue Ich-Ideale« unvermeidbar ist. »Das Bemühen der Frau um Bewußtmachung der ihrem Verhalten zugrunde liegenden unbewußten Motive und das Überwinden ihrer Vorstellung, quasi von Natur aus den Männern unterlegen zu sein, werden zu neuen Orientierungen und neuen Verhaltensweisen führen«, schreibt Margarete Mitscherlich. [15] Dieser Kampf um neue Ich-Ideale wird ohne die begrenzte Verweigerung eingeübter Rollen nicht möglich sein. Der Mann mit seinem geschlechtsspezifischen Leitbild von Selbstsicherheit, Aktivität und relativer Unabhängigkeit, der als Vater das gesellschaftlich bestimmende Oberhaupt der Familie ist, ist doch gleichzeitig das egozentrische und verwöhnte Kind der Mutter, zeit seines Lebens darauf ausgerichtet, sich seine Umwelt so zu gestalten, daß sie ihm- quasi automatisch die wärmenden Kontakte zuführt, auf die er unbewußt angewiesen bleibt. Dazu (miss)braucht er uns. Er kann, wie wir Frauen im Grunde alle wissen, die Fiktion seiner männlichen Selbstsicherheit nur so lange aufrechterhalten, wie er über die äußeren Stabilisatoren praktisch verfügt - von denen er natürlich lautstark erklärt, er sei von ihnen unabhängig. Mein utopischer Entwurf peilt also an, daß unsere Gesellschaften eine neue Form der Geschwisterlichkeit entwickeln, in denen es Männern möglich ist, die zwiespältige Rolle des Muttersohnes aufzugeben, die aus dieser Rolle herrührenden √Ñngste und den Haß nicht länger zu leugnen, sie aber auch nicht zu verdrängen oder auf das gesamte weibliche Geschlecht zu übertragen. Ich wünsche mir Männer, die endlich einmal den ernsthaften Versuch machen, diesen abgespaltenen Teil ihres Wesens zu integrieren und uns als erwachsene Partner, Brüder und Väter zu begegnen, die es nicht länger nötig haben, ihr Selbstbewußtsein auf unsere Kosten zu stabilisieren. Die Frauen allerdings müßten es zulassen können, daß Männer nicht zeit ihres Lebens die Söhne ihrer Mütter bleiben, sondern zu erwachsenen männlichen Menschen reifen können. Eine solche Geschwisterlichkeit würde neue Formen demokratisch legitimierter Macht und Herrschaft hervorbringen. Der Traum vom »neuen Menschen« ist für Frauen nicht ausgeträumt, er hat gerade erst angefangen.

Die feminstische Doppelstrategie

Um auf dem Weg zu einem utopischen Ziel nicht ideologischen Verblendungen anheimzufallen, bedarf es eines geschärften Bewußtseins. Ich sehe drei Wege zum Ziel einer Feminisierung der gesamtgesellschaftlichen Norm- und Wertkategorien. Der erste: die selbstverständliche Inanspruchnahme gleicher Rechte und Möglichkeiten. Frauen trauen sich heute alles zu, jedenfalls eine genügend große Schar von ihnen, und es bedarf zwar weiterer Anstöße und Ermutigungen auf diesem Weg, aber nicht mehr der Oberwindung eines prinzipiellen Hindernisses. Dies ist gegenüber dem 19. Jahrhundert eine völlig andere Ausgangsposition. Wir Frauen wissen: Wir können mehr als die Männer und sind von ihnen unabhängiger als sie von uns. Der zweite: Die »Frauensubkultur« muß ausgebaut werden, sowohl von den Frauen selbst, aber auch, indem ihr selbstverständlich kulturelle Freiräume zugestanden werden. Frau F., die mir beim Saubermachen meines Hauses in der Holledau behilflich ist, erzählte mir neulich, daß sie es zur Zeit zwar anstrengend, aber auch sehr lustig hätte. Täglich wäre sie mit einer Gruppe von Frauen in den Hopfengärten draußen, um die jungen Schösslinge um den Draht zu wickeln und überflüssige Triebe zu entfernen, und dabei hätten sie sich soviel zu erzählen, es würde immerzu gelacht und wäre » grod schee«. Solche Frauengruppen, die bei gemeinsamer Arbeit Selbst- und Lebenserfahrung austauschen und ihre weibliche Identität dabei messen und weiterentwickeln, hat es früher viele gegeben, heute fehlen sie fast völlig, denn ein Fließband ist mit der Spinnstube genauso wenig zu vergleichen wie ein Gymnastikkurs bei der Volkshochschule mit dem weiblichen Lebenszusammenhang einer Pfarrfrau im 19. Jahrhundert. Aus der Kulturgeschichte wissen wir, daß noch niemals ein neues Kulturelement sich hat entwickeln können, ohne daß es sich in den Phasen des Entstehens und Erstarkens von der etablierten Kultur zeitweilig völlig separiert hätte. Von daher sind Frauenkneipen, Frauenbuchläden, Frauenverlage, Frauenstammtische nicht spinnige Ideen einiger verklemmter Feministinnen, sondern unabdingbare Voraussetzung dafür, daß aus der Frauenalternativbewegung tatsächlich etwas bedeutsames Neues entstehen kann. »Wir wollen die Welt ändern«, schreibt Rossana Rossanda. »Nicht aus einer Solidarität zu zweit, die im Grunde noch ganz als Verteidigung fungiert, sondern indem wir einander als Frauen anerkennen und es durchsetzen. Auch indem wir als Frauen eine totale Erfahrung leben wollen... Eine Lebensweise versuchen, die die Menschen nicht länger voneinander isoliert, sie nicht mehr atomisiert - die Rationalität auf der einen Seite, die Emotionalität auf der anderen -, und die nicht länger verschiedene Sprachen spricht, eine für die Arbeit, eine für die Familie, eine für die Schule, eine für das Paar. . . Und durch eine solidarische Erfahrung, aus der Identität sich speist: Ich bin desto mehr ich selbst, j»e mehr ich erkenne, daß mein Schicksal mit dem Schicksal der anderen verwoben ist.« [16]
Der strategische Ansatz der Stärkung der Frauenbewegung durch die Stärkung einer Frauensubkultur muß spontane und organisierte Frauensolidarisierungen fördern und stärken, die auch parteiübergreifend sein können und vielleicht sein sollten, um den Ansatz einer separaten Frauenpolitik aller ideologischen Parteidifferenzierungen auszubauen. Die Atomkatastrophe in Tschernobyl ist hierfür ein gutes Beispiel: Während die Männerpolitik sich über Millirem, Becquerel und Curie, über Wind-, Regen-, Luft- und Bodenverseuchung stritt und die Männer sich da-bei wechselseitig Angstmacherei oder Verharmlosung, Wissenschaftsgläubigkeit oder Verdummungskampagnen vorwarfen, fragten sich in ganz Europa die Hausfrauen, was sie noch kochen könnten, um die Familien-nicht zu vergiften. Schwangere erwogen die Abtreibung, stillende Mütter dachten über die Nahrung für ihr Baby nach, kurzum: die Frauen waren viel direkter von den Folgen, der Katastrophe betroffen; ihr Protest fiel daher vehementer, andauernder und grundsätzlicher aus als der der Männer. Die unmittelbare Erfahrung mit dem Leben ließ die Frauen die Frage nach den ethisch moralischen Kategorien technologischer Machbarkeit mit großer Radikalität stellen. Außerdem hatten sie schlicht Angst um das Leben der ihnen anvertrauten Nachgeborenen. In solchen Zusammenhängen sind die Frauen keine »Subkultur« mehr, sondern eine ausgereifte »andere« Kultur. Ich behaupte sogar, daß Frauen mit ihrem empfindlicheren Sensorium für das Leben in solchen Zusammenhängen »die eine und nur die eine« Kultur repräsentieren; eine andere darf es nicht länger geben.

»Das Private ist politisch«

so lautet das Motto des dritten Weges: Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden sich nur ändern, wenn wir bereit sind, damit in Haus und Heim anzufangen. Und damit fängt auch das Dilemma an: Zum einen müssen die Frauen ihr Haus bestellen, indem sie es verändern, zum anderen müssen sie das Haus verlassen, um es zu verändern. »Für eine wie dich genügt nämlich nicht, daß du die männliche Hälfte der Welt von außen kennst und die weibliche Hälfte von innen und außen. Du musst auch die männliche von innen kennen, wenn du was ausrichten willst. Denn innen liegen die Geheimnisse der autoritären Strukturen, die unterwandert werden müssen ... sammle Weisheit!« - so rät die Holle-Tochter der Hexe Amanda in Irmtraud Morgners gleich lautendem Roman. Das ist wohl richtig, denn in der Tat besteht das Problem für die Frauen darin, daß sie sich auf Konkurrenz und Kampf einlassen müssen, um mehr Raum für ihre soziale Entfaltung zu erkämpfen und mehr Einfluß zu gewinnen. Fortwährend aber sind sie von der »Gleichschaltung « bedroht, ein Mitspielen wird ihnen oft nur in kompensatorischen Rollen als passive Erfüllungsgehilfen zugestanden, oft sogar nur zur verschönernden Kulisse, so daß sie Gefahr laufen,ihre eigentlichen Ziele zu verraten. Nicht nur die Inhalte und Absichten der Politik, sondern auch Verfahren und Instrumente haben männliche Vorzeichen. Hinzu kommt, daß diejenigen, die gewissermaßen in der ersten Reihe kämpfen, von ihren Mitschwestern immer auch argwöhnisch betrachtet werden, gerade weil sie den »Kampf um die Macht« kämpfen, während diejenigen in der zweiten Linie - zu Hause mit Mann und Kindern oder in einer weniger exponierten beruflichen Position - Ansprüche auf eine kämpferische Auseinandersetzung mit der Männerwelt an sich selbst nicht stellen, aus welchen Gründen auch immer. Wichtig bleibt auf dem Weg der individuellen Veränderung, daß Frauen sich bewußt sind: Ihre eigentlichen Fortschritte liegen nicht darin, den allmächtigen Männern schlicht nur Terrain abzutrotzen oder gar die gesellschaftlichen Machtverhältnisse ins Gegenteil zu verkehren. Das liegt zwar hin und wieder auch im weiblichen Interesse, aber es geht vielmehr darum, ob und wie es gelingt, die Defizite der Männerpolitik sichtbar zu machen, das heißt Männern zu der Erkenntnis zu verhelfen, daß ihrem Leben und Handeln die »weibliche Dimension« völlig fehlt, weil sie so erfolgreich verdrängt wird. Insofern haben die Frauen einen Vorsprung, weil sie durch das Leiden unter der Männerpolitik erlebt und erfahren haben, wie diese wirkt. Sofern sich die Frauen von ihrem Gefühl der Minderwertigkeit befreien lernen, werden sie auch imstande sein, die Machtstrukturen zu verändern. Die Frauen auf ihrem emanzipatorischen Weg dürfen aber nicht dem Irrtum unterliegen, alles, was weiblich ist, sei schon deswegen gut und unterstützenswert, weil die Frauenunterdrückung eine lange Geschichte hat. Die Feminisierung der Gesellschaft ist mehr als ein Akt der Wiedergutmachung: Sie soll und wird neue Werte in die Gesellschaft einbringen. Zum zweiten: Die Strategie einer »individuellen« Veränderung ist vermutlich die erfolgreichste, gewiss aber auch die schwierigste, und sie kann nur zum Erfolg führen, wenn sie sich auf den Nährboden einer autonomen Subkultur stützen kann, die den Frauen die nötige emotionale Unterstützung für ihren langwierigen Überzeugungskampf in bezug auf die Männer gewährt und ihnen - für den Notfall - auch die nötige Stärkung für ein mögliches alternatives Leben unabhängig von Männern geben kann. Deshalb bleiben die Lebensfortschritte der Frauen in der Gesamtgesellschaft notwendigerweise angewiesen auf die Lebensmodelle der radikalen Frauen in der alternativen Frauensubkultur.

Politische Macht - Mythos, Moral, Passion

»das was zu schreiben ist mit klarer schrift zu schreiben
dann löcher hauchen in gefrorne fensterscheiben dann
bücher und papiere in ein schubfach schließen dann eine
katze füttern eine blume gießen und ganz tief drin sein -
und zum türgriff fassen: zieh deinen mantel an
du sollst das haus verlassen«
Christa Reinig
Ausweg

Einer meiner bayerischen Bundestagskollegen kann sehr plastisch schildern, wie er als junger Abgeordneter auszog, den Mythos der Macht zu erforschen. Zunächst war er schlicht der Parteifunktionär, kandidierte dann für den Landtag und dachte sich: Wenn ich Landtagsabgeordneter bin, werde ich wissen, wie Macht ausgeübt wird! - Nichts lernte er im Landtag über das Funktionieren der Macht dazu. Einige Jahre später wechselte er in den Bundestag, wieder in der Erwartung: Wenn ich Bundestagsabgeordneter bin, dann lerne ich, wie Macht ausgeübt wird. Aber auch in der Bundestagsfraktion gewann er keinen Aufschluß. Er fragte nach bei den Mitgliedern des Fraktionsvorstandes, bei denen des Parteivorstandes, bei den Staatssekretären und Ministern der Regierung: Übt ihr Macht aus? jeder verneinte. Auf der Jagd nach den Machthabern kam der erfolglose Jäger schließlich zu dem Schluß: »Den wann i derwischa dat!«, eine Drohung, der er noch nichts hat folgen lassen müssen, denn er konnte den Machthaber nicht dingfest machen. Wenn der Kollege jemanden gefunden hätte aus dem Kreis der Regierungs-, Parteivorstands- oder Fraktionsmitglieder, der von sich selber behauptet hätte, er habe Macht, wäre der Abgeordnete gewiss alsbald zu dem Ergebnis gekommen, der Kaiser sei doch ziemlich nackt. Wirklich machtvoll sind die Amts- und Würdenträger unserer politischen Landschaft nämlich fast allesamt nicht. Diese realistische Einschätzung ändert aber nichts daran, daß die politische Macht von einer besonders verschleiernden mythischen Aura umgeben ist, die man schwer durchdringt. Sollte man politische Macht namhaft machen, so wären wohl eher die Vorstandsvorsitzenden und Aufsichtsräte der zwanzig größten Konzerne und Banken in unserem Land zu nennen, die Politiker schwerlich. Gerade aber für die Politik besitzt der Mythos der Macht die stärkste Ausstrahlung und Anziehungskraft: Potenz, Unverletzlichkeit, Unfehlbarkeit, Überwältigung und Stärke werden mit ihm verbunden. Eine Dimension allerdings wird ausgespart: Die Weisheit. Weisheit, altgriechisch »sophia« und eine der göttlichen Emanationen, die bereits vor dem logos existierten, reflektiert Gebrochenheit, Niederlagen, Siege, Klugheit, Versagen, kurz: Lebenserfahrung. Eignet sie sich nicht zu mythischer Überhöhung in Felde der Politik? Hier wären Frauen aufgerufen, den Mythos neu zu lesen. Sophia taugt für uns, ergänzend zu Eva, der mythischen Inkarnation des Ungehorsams. Frauen haben. die Macht bisher als Aus- und Abgrenzung erfahren und finden sie daher suspekt und unmoralisch, und sie macht uns Angst. Unser Eintreten für Gleichheit und für nicht-hierarchische Strukturen ist dadurch begründet, daß jede von uns weiß, was für sie selbst am besten ist, und daß unsere Verantwortung gegenüber anderen daher nicht darin bestehen kann, für sie zu handeln oder ihnen zu sagen, was sie tun müssen. Vielmehr sollen wir ihnen helfen, zu erkennen, was für sie selbst am besten. ist und ihrer inneren Stimme zu vertrauen. Aus dem Geist des Ungehorsams haben wir auch eine Moral der Verweigerung entwickelt: Wir wollen unsere Macht nicht dazu benutzen, einem anderen Menschen Angst oder Selbstzweifel einzujagen oder etwa die Oberzeugung in ihm zu nähren, daß er unfähig ist, eigene Entscheidungen zu treffen. Unsere politische Moral sagt uns, daß wir Selbständigkeit und Selbstachtung zu fördern haben und daß wir immer dann sittlich handeln, wenn uns die Oberzeugung leitet, daß jeder Mensch selbst am besten in der Lage ist, für sich zu entscheiden; vor dem Einmaligen oder Anderen haben wir keine Angst, denn als Mütter wissen wir, daß es in uns und neben uns wächst, ohne uns zu schädigen. Niemand kann bestreiten, daß die Moral der Frauen bei der Ausübung politischer Macht nahezu unverbraucht ist. Carol Gilligan weist darauf hin. Weibliche Glaubwürdigkeit in der Politik ist ein brachliegendes Feld, auf dem sich gut ackern ließe, wenn man den Dünger der Frauenbewegung nutzte. Die Inhalte dieser Politik freilich sind nur »draußen« zu entwickeln, in der Frauenbewegung, nicht im Apparat von Parteien und Regierungen, wo sie der Korruption durch die Männermajorität unterliegen. »Ihr seid mir zu wenig draufgeherisch«, schreibt Rosa Luxemburg an ihre Freundin Mathilde Wurm, »zu wenig ist gut! Ihr seid überhaupt nicht geherisch, sondern kriecherisch. Es ist nicht ein Unterschied des Grades sondern der Wesenheit.« [17] Auch Rosa Luxemburg war eine couragierte Moralistin, die ihre moralischen Kategorien eher aus dem »moralischen Gesetz in mir« als dem »gestirnten Himmel über mir« zog. Der kulturelle Feminismus, den die Frauen dem Machtmythos der Männer entgegensetzen, hat sein Veränderungsmodell aus der Einsicht in die Notwendigkeit der Veränderung unserer selbst entwickelt. Auf diesem Weg sind wir große Schritte vorangekommen, und hier liegt ein entscheidender Vorsprung vor den Männern. Die Frage, wohin wir gehen, erübrigt sich durch die Art und Weise, wie wir mit uns selbst und miteinander umgehen,: Das Ziel findet sich dann von allein. Auch dies eine moralische Kategorie, die nicht mit dem Anspruch auftritt, den anderen mit Verhaltensnormen, zu überwältigen, sondern aus der eigenen Lebensmoral Mut und Tatkraft zu beziehen, die dem allzu ständigen Hin- und Hergehopse männlicher Allerweltspolitiker widersteht, weil sie festhält an der Bindung, an Themen und Werten, die im Zeitalter der 20-Sekunden-bits ihre moralische Gültigkeit zu verlieren drohen. Natürlich bedeutet das Sich-Einlassen auf politische Macht mehr als einer Schimäre nachzujagen, die sich die verschwommenen Konturen eines Mythos gibt. Mehr auch als die Reflexion über neue Dimensionen politischer Moral: Es trägt den Charakter der Passion im Sinne von Leidenschaft. »Passion« ist gewissermaßen der Gipfel der Subjektivität in der Zuwendung zu Menschen und Problemen, ist das, was uns antreibt, aber auch das, was wir erleiden und erdulden, dadurch, daß wir uns zur Gänze darauf einlassen. Passion im Sinne von Leidenschaft füllt uns gänzlich aus und überwindet die partikularen Ansatzpunkte des Interesses, überwindet auch die hemmende Prägung des Narzissmus. Die Passion erwächst aus jenem Lebensgefühl, das Christa Reinig mit »ganz tief drin sein« umschreibt. Aus uns selbst heraus schöpfen wir die Antriebskraft, die uns hilft, den Schritt zur Einmischung in das Feld politischer Macht zu tun. Rossana Rossanda umschreibt das als qualvolle Rekonstruktions- und Enthüllungsanstrengung. »Diese Geschichten enthalten etwas, das ich verstehe: Noch der in ihnen virulente Wille zur Zerstörung, die Auflehnung, die manchmal verkrampfte und ungewohnte Wut, die sie dokumentieren, verdeutlichen mir, zu welchem Teil der Menschheit ich gehöre, mit dem allein ich mich selbst befreien kann: entweder alle oder keine.« [18] Und sie hat recht: Unsere Form von Politik erschöpft sich nicht in der Regulierung von Finanzströmen und der Produktion von Texten, die unser soziales Zusammenleben normieren. Für uns ist die Art und Weise, wie diejenigen, die Politik machen, mit denjenigen umgehen, für die sie gemacht wird, ein elementarer Bestandteil unserer Politik, denn gewiss kann Politik nur dann zu einer Vermenschlichung der Gesellschaft führen, wenn die Trägerinnen und Träger der politischen Macht zu ihren Bürgerinnen und Bürgern genau dasjenige menschliche Grundverhältnis haben, das das Ziel ihrer Politik sein sollte. Dieses Politikverständnis und dieses Verhältnis zur Macht trägt den Charakter der Passion und ist gespeist aus der Erkenntnis, daß auch uns Frauen nicht länger das Ausweichen vor der Auseinandersetzung mit der Macht erlaubt ist. Die Ethik der matriarchalen Spiritualität, die der Feminismus propagiert, ist dem Leben selbst verpflichtet; Rückzug bleibt nur insofern akzeptabel, als wir uns regenerieren können und müssen, um in den machtpolitischen Auseinandersetzungen mit dieser Welt ganze und halbwegs heile Personen zu werden und zu bleiben und nicht auszubluten und leerzulaufen. Politische Macht bedeutet uns Mittel, nicht Zweck. Sie soll dazu dienen, die Politik zu überwinden. Insofern bleibt die politische Macht begrenzt durch das Ziel, auf das sie gerichtet ist. Die passionierten Trägerinnen und Träger politischer Macht müssen es ertragen lernen, sich durch das Erreichen dieser Ziele selbst überflüssig zu machen. Frauen als Mütter haben aufgrund ihrer Lebenserfahrung hier etwas einzubringen: Sie geben winzigen Lebewesen Raum und führen sie zu bewußter Eigenständigkeit und zur Ablösung; gute Mütter machen sich irgendwann »überflüssig«, wachsen über die begrenzte Rolle hinaus. Das weibliche Leben ruft nach einem anderen Politikbegriff, nach einer systemüberschreitenden Politik, die das mechanistische, dualistische und hierarchische Denken und Handeln überwindet und die Vielheit, die dynamische, lebendige, sich wandelnde Bewegung des menschlichen Lebens aufnimmt und wiedergibt. Weil wir dies wollen, ist uns die Flucht vor der Macht nicht länger gestattet, sondern wir sind zum verantwortlichen Eingreifen in die gegenwärtigen Probleme aufgerufen. Denn die Konsequenzen der falschen und lebensfeindlichen Politik tragen Männer und Frauen gemeinsam und niemand nimmt uns unsere Verantwortlichkeit ab. Wenn wir erkannt haben, was zur Heilung des Menschen in uns selbst und für die Gerechtigkeit in der menschlichen Gesellschaft wie auch für die Wiederherstellung des ökologischen Gleichgewichts zu tun ist, so müssen wir handeln. Wer sonst? Kein übermenschliches Wesen nimmt uns unsere Verantwortung ab, aber wir unterliegen auch keinen übermenschlichen Anforderungen: Wir sind menschlich und fehlbar. Wir stehen mitten im Leben, aus dieser Mitte heraus erwächst unsere Verantwortlichkeit für alles Lebendige. Dabei wird es auch zukünftig für uns Frauen nicht leicht sein, die schmerzhafte Spannung auszuhalten zwischen der realen Unmenschlichkeit, die uns umgibt und die uns selbst oft kleinhält und missachtet, und unserem Streben, unserer Utopie von einer systemüberschreitenden Politik, die keine Verfestigung und Verkrustung duldet. Und es hilft nichts: » zieh deinen mantel an du sollst das haus verlassen!«

Texttyp

Gesellschaftskritik