Ich stelle mir die Machtfrage

Das Land, wo Milch und Honig fließt

»Ich weiß: Unsere Welt ist eine von Männern für
Männer gemachte Welt... Und trotzdem oder
vielleicht gerade darum ist es so faszinierend, eine
Frau zu sein. Es ist ein Abenteuer, das so viel Mut
erfordert, eine Herausforderung, die einem nie
zuviel wird. Du wirst so viel zu unternehmen haben,
wenn du als Frau auf die Welt kommst. So wird dich,
um gleich damit anzufangen, die Behauptung
einen Kampf kosten, daß Gott, wenn es ihn gibt,
ebenso gut eine alte weißhaarige Frau oder ein schönes
Mädchen sein könnte. Es wird dich auch einen Kampf
kosten, darzulegen, daß die Sünde nicht an dem Tag
entstand, als Eva einen Apfel pflückte: an dem Tag wurde
eine wunderbare Tugend geboren, die Ungehorsam heißt.
Schließlich wird es dich einen Kampf kosten, zu beweisen,
daß in deinem glatten, gerundeten Körper eine Intelligenz
existiert, die danach schreit, angehört zu werden.
Mutter zu sein, ist kein Beruf. Es ist nicht einmal eine Pflicht.
Es ist nur ein Recht unter vielen anderen. Das hinauszuschreien
wird sehr schwer für dich sein. Und du wirst oft, fast immer den
kürzeren ziehen, Aber du darfst den Mut nicht verlieren.
Kämpfen ist bedeutend schöner als siegen,
reisen macht viel mehr Spaß als ankommen«
Oriana Fallaci Briefe an ein nie geborenes Kind

Da saß ich nun, eine unter vielen, auf einem der bekannten Pappkarton-Hocker und harrte der Ereignisse: Hamburg, 18. Juni 1981, Deutscher Evangelischer Kirchentag. In Halle 7 fand einen ganzen Tag lang ein von Frauen vorbereitetes Programm statt. Zum erstenmal hatten die Frauen auf dem Kirchentag ihr eigenes Forum, das unter dem Motto stand: »Frauen bewegen die Kirche«. Der Presse und den Medien war dieses Ereignis kaum eine Notiz wert gewesen, dabei hatten sich Hunderte von Frauen, in der Halle versammelt. Vom Aufbruch und Auszug sei viel die Rede gewesen ohne »hysterisch-feministische Schlagseite«, wie der Kirchentagspräsident Klaus von Bismarck am Schluß des Kirchentages erleichtert der Presse mitteilte. Was hatte er denn befürchtet? Ich war zu diesem Frauentag eingeladen worden und reiste mit meiner gerade konfirmierten vierzehnjährigen Tochter an. Der Tag begann mit einer Bibelarbeit über den Text des Tages: Auszug des Volkes Israel aus Ägypten: Was bedeutet dieser Auszug eines versklavten Volkes durch Moses Verheißung - für Frauen, für mich; eine Veranstaltung, der es gelang, eine historische Situation, die 2000 Jahre zurücklag, so zu vergegenwärtigen, daß sie auch vom heutigen Alltag des Frauenlebens nicht abgehoben wirkte.

Die Szene blieb mir im Gedächtnis und wurde für mich zu einem Schlüsselerlebnis: der Aufbruch der Frauen. Exotische Tücher hatten sie sich umgebunden, um sich ein fremdländisches Aussehen zu geben; rittlings hatten sie sich auf die Stühle gesetzt, um mit bescheidensten Mitteln einen Kamelritt durch die Wüste zu mimen; und sie redeten miteinander, redeten, redeten: Warum denn nur fort aus Ägypten? Zwar sei ihr Volk von den Ägyptern versklavt, aber sie hätten doch wenigstens zu essen und wüßten, wohin sie abends ihre Kinder zum Schlafen legen könnten.

Ihre Männer seien unzufrieden, sicher - aber wann sei ein Mann schon zufrieden? Und Moses Verheißung in allen Ehren - ob denn die Freiheit im verheißenen Land tatsächlich besser sei als der gegenwärtige Zustand? Bei diesem Aufbruch wisse man doch gar nicht, wie er enden würde: Was, wenn ein Kind krank würde? Und was sollten sie kochen, wovon leben? - Eine andere: Eine Verheißung ist eine Verheißung, und wenn die Männer ihr folgen, müßten auch die Frauen folgen; die Männer wüßten schon, was gut und richtig sei. - So könne man es sehen, warf eine dritte ein, aber die Verheißung gelte auch für die Frauen, und zwar ganz besonders; bloßes Mitlaufen brächte ihnen gar nichts, sie müßten sich schon schlüssig werden, was sie selbst im Gelobten Land für sich erwarteten. Da waren sie zusammen in diesem einen Spiel, die beiden Möglichkeiten, die mein Leben als politische Frau kennzeichneten: Zum einen das Wissen, daß da irgendwo verborgen eine Welt existiert, die verheißungsvoll lockt und betreten werden will. Zum anderen die Gewöhnung an die Gefangenschaft in Ägypten, Aurich, Ibbenbüren oder meinetwegen Plattling, das Sich-Eingerichtet-Haben auf die vermeintlich unverrückbaren Gegebenheiten des Frau-Seins auch - wenngleich trügerische - Sicherheit bietet. Wer für den täglichen Kleinkram, für die Kinder, für den Haushalt zu sorgen hat, dessen Ohren sind für feministische Verheißungen taub, solange sie nicht einmal in Umrissen erkennen lassen, wie denn anders als im bisherigen Muster Mutterglück und Hausfrauenstolz zu erzielen sind. Die Frauen in Halle 7 soliten sich in Vierer-Gruppen einander zuwenden und miteinander besprechen, was Moses Verheißung für sie bedeute. Das Ergebnis des Gesprächs habe ich mir nicht gemerkt, aber ich erinnere mich, daß meine kleine Gruppe - mit meiner Tochter waren wir zu fünft - sich darüber austauschte, was denn jede von uns daheim tut. Als ich von meinen damaligen Lebensumständen berichtete - bayerische Bundestagsabgeordnete, Familienwohnsitz in Berlin, drei Kinder zwischen 12 und 16 Jahren, wöchentliche Arbeitszeit, einschließlich der häufigen Ortswechsel, mehr als 70 Stunden - erschien ich den anderen in der Gruppe als Exotin: So könne eine normale Frau einfach nicht leben! Ich erfuhr nur noch wenig von den anderen Frauen. Sie fragten mich aus. Das erlebe ich immer wieder. Einer Frau in meiner Situation wird eine besondere Rolle zugewiesen: Eine im Angesicht herrschender gesellschaftlicher Verhältnisse gewissermaßen unerlaubte Existenz zu sein als Frau und Mutter und trotzdem in der Sphäre dessen, was wir uns als »Macht« zu bezeichnen angewöhnt haben. Dieses »Anders-Sein« durchzieht mein Leben wie ein roter Faden. Meine Tochter erinnert sich noch an ihr Bedürfnis, meine Darstellung unseres Lebens zu korrigieren. Ihr erschienen meine Schilderungen, wie Familie, Beruf, drei Lebensorte nebeneinander und miteinander zu -verbinden waren, viel zu schönfärberisch, zu geprägt von dem Streben nach einem perfekten Image und von dem Wunsch, all die vielen Hüte gleichzeitig mit Grandezza zu balancieren und nebenbei noch schnell das Paket für Oma zum Geburtstag zu packen. Elisabeth Moltmann-Wendel, eine der Frauen, die die Hamburger Veranstaltung vorbereitet hatten, hat den damals begonnenen Gedankengang inzwischen fortgesponnen. Ihr Buch »Das Land, wo Milch und Honig fließt. Perspektiven einer feministischen Theologie« ist im Jahr 1985 erschienen: [1] »Das Land, wo Milch und Honig fließt, ist kein Schlaraffenland. Es ist der Traum von Fruchtbarkeit und Naturordnung, einem Leben aus natürlichen Ressourcen und es ist die Erinnerung an die Wertmaßstäbe einer Frauenkultur, denn Milch ist das Produkt der Mütter, und Honig kommt aus dem Bienen-Frauenstaat.« Mir gefällt dieses Bild vom verheißenen Land. Die Überlegung von Elisabeth Moltmann-Wendell daß sich in dem durch Weibliches besetzten Mythos von Milch und Honig eine »latent vorhandene Welt von Frauen« innerhalb der jüdisch-christlichen Tradition ausdrücke, in dem sie einen »subkulturellen und wohl auch subversiven Charakter« sowie »einen Maßstab für das Menschliche und die menschlichen Beziehungen« wahrnimmt, fasziniert mich.

Denn ich suche nach Wegen, die Frauen ein Leben »aus eigener Macht« erlauben, die unsere Töchter selbstbewußt hineinwachsen lassen in eine Welt, in der nicht länger männliche Maßstäbe allein gültig und »normal« sind. Die heute vielleicht gegebene Chance, solche Träume, solche »Verheißungen« für Frauen in die Tat umzusetzen, darf nicht ungenutzt verstreichen, denn Zeiten, in denen liebgewordene Vorurteile und bequeme Nischen verlassen werden, sind nicht eben häufig. Günstige Gelegenheiten, wo Zeitgeist und Weiblichkeit nicht nur eine flüchtige Bekanntschaft eingehen, bietet die Geschichte selten. Haben wir sie jetzt? Das ausgehende 20. Jahrhundert als Schwelle zu diesem »Gelobten Land« für Frauen? Vorerst liegt noch viel Schutt vor der Türe. Wer in unserer männlich geprägten Gesellschaft mit den von Männern gestanzten Begriffen, Denk- und Verhaltensmustern, mit der Männersprache und den Männerwerten, die zur Meßlatte schlechthin wurden, nach Bildern sucht, in denen Frauen nicht verzerrt werden, muß Aufräumarbeit leisten. Wer Bilder entdecken will, in denen Frauen ein eigenes, nicht abgeleitetes historisches Gewicht haben, wie hier im Alten Testament, im Mythos, muß, wie Christa Wolff in ihrer »Kassandra« gezeigt hat, die Geschichte neu lesen lernen. Wenn wir den Mythos richtig läsen, meint Elisabeth Moltmann-Wendel, fänden wir hier auch Schlüssel zur Bewältigung der irdischen Gegenwart, einer waffenstarrenden Barriere mitten in Europa, Hunger, Armut und Unterdrückung in der dritten Welt, einer durch Ausbeutung bedrohten Umwelt. Die Verheißung bezeichnet ein Land, in dem Lebensraum für alle Menschen ist: »Es ist ein Angebot, unsere Ursprünge und unsere Identität, unsere Lebensqualität und unser Glück neu zu erfahren, die Vorstellung der Väter einzulösen, die sie vergaßen in der Eile des Aufbruchs, in zu hoch angesetzten Erwartungen, im Männlichkeitswahn. Es ist ein Angebot zu heilender Rückkehr und zur Neuorientierung, wie Friede und gerechtes Zusammenleben möglich. sind. Von da her tut sich dann die ganze Weite eines Landes auf, das allen Lebensraum gibt und persönliches Wachstum samt Brot und Wein und Fleisch anbietet.« [2] Ich habe den Eindruck, daß nach Jahren der kritischen Aufarbeitung des »Frauenthemas«, in denen Verschüttetes wieder ins Bewußtsein gehoben und bedrückende gesellschaftliche Defizite für Frauen offen gelegt wurden, das Thema nun eine Perspektive der Verheißung gewinnt. Der Aufbruch ins »Land, wo Milch und Honig fließt«, scheint beschlossene Sache und, zumindest theoretisch, begonnen. Die Veröffentlichungen zu diesem Thema halten sich heute nicht mehr nur bei wehklagender Analyse des Bestehenden und wortreicher Beschreibung der Beweggründe auf, warum die Situation so ist, wie sie ist, und daß sich daran nur wenig ändern läßt, sondern in ihnen wird deutlich nach. Ansätzen für eine zukünftige Verbesserung gesucht. Eines allerdings scheint mir dabei unvermeidlich: Die Frauen müssen bereit sein, Hergebrachtes hinter sich zu lassen. Mitstoffeln hilft nicht: »Auf eigenen Füßen stehen - mit beiden Augen sehen - und Lust empfinden«, so drückt die Filmemacherin Heike Sanderienes Lebensgefühl aus, aus dem heraus Frauen den Aufbruch wagen können. [3] Mein Gebiet ist die Politik. Ich gehöre zu den wenigen Frauen, die sich an die Spitze vorgekämpft haben. Aber ich habe mir die Tatsache, »die Ausnahme« zu sein, noch nie als persönliches Verdienst angerechnet. Zu bewußt ist mir die Zufälligkeit meines Weges, als daß ich große Befriedigung aus der abgeschrittenen Strecke ziehen könnte.

Die Politik gilt nach wie vor als der Bereich, der sich den Frauen am schwersten erschließt. Die gesetzlichen Barrieren sind zwar längst entfernt, Frauen dürfen wählen und gewählt werden, aber noch immer wirken die wenigen Frauen, die sich in diesem Bereich tummeln, wie fehl am Platz in dieser Atmosphäre: halb englischer Club, halb orientalischer Basar beides tunlichst nur am Arm des Mannes zu betreten. Und doch ist da etwas in Gang gekommen. Der Rubikon ist längst überschritten: die verschiedenen Quellen, denen die neue Zuversicht entspringt, können nicht mehr umgeleitet werden. Die Kraft des Flusses steigt. Verheißungsvoll.. Schon seit annähernd zehn. Jahren wird bei den Frauen in meiner deutschen sozialdemokratischen Partei erwogen, einen Frauenparteitag unter die Überschrift »Mut zur Macht« zu stellen. Vor zehn Jahren trauten wir uns noch nicht, eine solche Überschrift zu wählen, weil wir an unseren eigenen Mut nicht glauben konnten und fürchteten, die SPD-Männer würden unser Mütchen zu kühlen verstehen. Auch hier haben sich die Zeiten gewandelt. Auf der Juso-Konferenz des Jahres 1986 fand eine breite Diskussion über das Frauenthema statt; Ursachen und Strukturen, Gegenstrategien und Bündniskonstellationen der gesellschaftlichen Frauenunterdrückung wurden erörtert, was nicht weiter verwundern würde, denn fast die Hälfte der Juso-Delegierten war weiblichen Geschlechts. jedoch - man höre und staune - an der Debatte beteiligten sich auch die männlichen Delegierten. Und zu guter Letzt wurden aufgrund der beschlossenen Quotierung gar drei Frauen in den Bundesvorstand gewählt. Dies ist nicht das einzige Zeichen der Verheißung. In der jungen Generation tut sich viel. So war ich kürzlich äußerst überrascht, als sich im Rahmen einer Podiumsdiskussion über das Thema »Brauchen wir noch Akademien« die Studentinnen der Kunstakademie Karlsruhe mit solchem Selbstbewußtsein und so pointierten Standpunkten zu Wort meldeten, daß sie die bei weitem profiliertesten Diskussionsrednerinnen waren. Bis ins konservative Lager wirkt sich die gesellschaftliche Unruhe aus. Nicht nur, weil die Statistiken nachweisen, daß den konservativen Parteien die Wählerinnen davonlaufen, sondern gewiß auch, weil innerhalb von CDU und CSU die weiblichen Mitglieder unruhig werden und die nächste Generation drängt, kamen Geißler und Kohl auf den Gedanken der »Frauenministerin«. Die dafür Erkorene macht ihre Sache gut, auch wenn ich Zweifel habe, daß eine demonstrative Geste männlicher Parteistrategen die skeptischer gewordenen Frauen überzeugt. Diese glauben den Männern ihre Politik nämlich nicht mehr und wollen ihre Geschicke mehr und mehr in die eigenen Hände nehmen. Dabei wissen wir Frauen allerdings, daß der »Mut zur Macht« den »Mut zum Risiko« voraussetzt. Unsere Stärke, Risiken einzugehen und durchzustehen, ist aber gewachsen, vor allem weil wir zahlenmäßig mehr geworden sind, weil wir beruflich und politisch genauer wissen, was wir wollen, und weil wir Frauen in den Parteien und in der Politik uns im Einklang wissen mit dem veränderten gesellschaftlichen Bewußtsein, das widerspiegelt: Ohne die Frauen »läuft nichts« in dieser Gesellschaft. Ich glaube, unsere Stärke ist auch deshalb gewachsen, weil wir inzwischen zwei Generationen von Töchtern erzogen haben, die ihrerseits genau wissen, daß sie nicht so lange wie ihre Mütter zögern wollen auf dem Weg in das Land, wo Milch und Honig fließt. Sie wissen es selbst, aber wir können es ihnen auch sagen: Sie haben ein Recht darauf, die Gesamtheit ihrer menschlichen Möglichkeiten zu nutzen, und sie können vom Anfang ihres Lebens an selbstbewußt davon ausgehen, daß die Verheißung auch für sie gilt. Sie wissen es selbst, aber wir können es ihnen auch sagen: Die Mißachtung der weiblichen Lebensleistung soll nicht länger geduldet werden.

Betty Friedan meinte aufgrund ihrer Erfahrungen in den Vereinigten Staaten schon vor einigen Jahren, daß »die Töchter weiterkommen (werden), als wir es uns je ausmalen könnten. Sie werden ganz neue Frauen sein, anders als ihre Mütter ... Sie können ihren Gefühlen und ihren Kräften trauen. Sie haben bereits Kräfte, an denen es uns mangelte, und Gefühle, die ihnen keine Angst einjagen (zum Teil unseretwegen) , sie haben Chancen und Unterstützung durch die Gesellschaft, Rollenvorbilder und Bestätigung in anderen Frauen, und andere Erwartungen an die Männer in ihrem Leben.« [4] Gemeinsam müssen wir nun Ansätze zur Verbesserung finden. Meist werden sie pragmatisch sein, oft handfest und praktisch, und die Männer werden nicht aufhören, sie am liebsten mit »typisch weiblich« abzuqualifizieren. In männliche Theoriegebilde passen sie auch oft nicht recht hinein; aber es ist unverkennbar, daß die positive Resonanz auf den Vormarsch der Frauen immer stärker wird. Während die Glaubwürdigkeit der Politiker und der von Männern gemachten Politik mehr und mehr abnimmt, zeigt sich, daß den Frauen etwas zugetraut wird, und daß Wählerinnen und Wähler sich von der stärkeren Mitwirkung von Frauen in der Politik viel versprechen. Der Weg ins Land der Verheißung muß also beschritten werden - »mit Zähigkeit und Augenmaß«, wie Max Weber das Geschäft der Politik charakterisierte.

Aus mir kann doch nichts werden

Aus mir kann doch nichts werden!
Wär ich ein Jäger auf freier Flur,
Ein Stück nur von einem Soldaten,
Wär ich ein Mann doch mindestens nur,
So würde der Himmel mir raten;
Nun muß ich sitzen so fein und klar,
Gleich einem artigen Kinde,
Und darf nur heimlich lösen mein Haar
Und lassen es flattern im Winde!
Annette von Droste-Hülshoff
Am Turme

Das Problem der Macht hat mich seit meiner Pubertätszeit fasziniert. Als ich siebzehn war, kaufte ich mir einen Band mit ausgewählten Texten von Machiavelli. Allerdings habe ich immer ein gespaltenes Verhältnis zur Macht gehabt. Ich wußte, daß ich ein begabtes Mädchen war. Vom Weitsprung bis zur Mathematik, vom Klavierspielen bis zu Gedichtinterpretationen konnte ich vieles besser als die meisten anderen. Darauf gründete sich mein Selbstbewußtsein: Ich wußte, ich kann was. Aber solange ich zurückdenken kann, habe ich unter meinen Begabungen auch gelitten. Ich wußte, daß die Umwelt gescheite Mädchen nicht so besonders schätzt. Geistesschärfe und schnelles Denken waren Werte, die nur bei jungen anerkannt wurden. Deshalb gewöhnte ich mir ein schnippisches Gehabe an, damit sich möglichst niemand an mich heran traute; denn - so dachte ich jedenfalls - die meisten hätten sich ja doch sofort wieder abgewandt, und solche Verletzungen wolite ich vermeiden. So war ich bei anderen Mädchen nicht besonders beliebt, wobei erschwerend hinzukam, daß ich erst mit vierzehn Jahren in eine reine Mädchenklasse eingeschult wurde, während ich zuvor nur mit Brüdern und Cousins aufgewachsen und auf einer gemischten Schule gewesen war. Bei den jungen in der Tanzstunde und den jungen Männern der frühen Studentenzeit galt ich zwar als »interessant«, aber mein Verhalten führte nicht gerade dazu, daß ich von Verehrern überrannt wurde. Ich war also in diesen Jahren ziemlich einsam und vergrub mich in Bücher und ins Klavierspiel, voller geheimer Sehnsucht, doch auch »dazuzugehören«. Außerdem lebte ich in der Vorstellung, daß Gescheitheit, schnelles Denken und Belesenheit nie und nimmer mit einem ansehnlichen Äußeren zusammengehen könnten; deshalb hielt ich mich für eher häßlich. Es war auch niemand da, der mich vom Gegenteil zu überzeugen versucht hätte; aber wahrscheinlich hätte ich es ohnehin nicht geglaubt. In dieser Zeit las ich »Tonio Kröger« von Thomas Mann. Der blonde Hans und die blonde Inge auf der einen Seite und auf der anderen Seite jene Menschen, die beim Tanzen immer stolpern - dieser Gegensatz prägte sich mir ein. Ich zählte mich zu jenen Menschen, die beim Tanzen immer stolpern, und, schien mir dies für Männer schon schlimm, für junge Frauen, für mich, fand ich es noch viel schlimmer. Erfolg brachten mir meine Begabungen also nicht, und ich lebte in dem Bewußtsein, verschwenderisch mit etwas ausgestattet zu sein, was mir nicht, aber auch anderen nichts nützte; und ich lebte in dem Gefühl, etwas zu wollen, mir dies gleichzeitig aber nicht zuzutrauen, weil es als unangemessen galt und von der Umwelt nicht akzeptiert wurde. Zwar wurde mir kein Stein in den Weg gelegt, wenn ich vom Sportverein bis zum Konzertbesuch, vom selbständigen Autofahren bis zu zusätzlichen Französischkursen nach Betätigungsmöglichkeiten für meine Energie suchte.

Am Grundtatbestand änderte dies aber nichts: Ich lebte in dem festen Gefühl, Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen nur aufgrund der Tatsache zu haben, daß Verstand und Geschlecht eben einfach nicht zusammenpaßten. »Nu! dein Kopf hätt' auch besser auf 'nem Jungen gesessen!« Dies wurde der 1811 geborenen Fanny Lewald, einer der bedeutendsten frühen deutschen Schriftstellerinnen, in ihrer Schulzeit zugerufen, ein Ausspruch, in dem ich mich mit meinem Lebensgefühl wiederfinden konnte: Ich war felsenfest davon überzeugt, daß ich mich mit keiner einzigen meiner Begabungen würde durchsetzen können und daß ich so, wie ich nun mal war, eher als Mann auf die Welt hätte kommen müssen. »Aus mir kann doch nichts werden!« überschrieb ich selbstironisch einen Zeitungsartikel. Ganz klar: als Frau fehlte mir - über die Jahrzehnte hinweg - der Glaube an mich. [5] Neben dem Glauben an mich fehlte mir auch Mut. Mut zu meinen Fähigkeiten und zu mir selbst, um meine Vorstellungen zu verwirklichen. Selbst, mit eigener Kraft, mir meine eigene Welt gestalten zu wollen, dazu wurde ich weder erzogen noch ausgebildet. Und ich spürte, daß die selbständige Realisation der eigenen Wünsche Isolation bedeuten würde noch größere, als ich sie bereits erlebte. Diese Vorstellung lähmte mich. So lebte ich mit einem gespaltenen Bewußtsein von mir selbst. Ich schätzte meine Fähigkeiten hoch ein und nahm doch deutlich mein schwaches Selbstbewußtsein wahr. Die Auswirkungen meiner Selbsteinschätzung waren beträchtlich und nur zum kleinsten Teil komischer Natur, beispielsweise, wenn meine Eltern, und Brüder sich darüber amüsierten, daß ich als Sechzehnjährige einmal weinend um zusätzliches Taschengeld für den Friseur gebeten hatte mit dem Aufschrei: »Ich will doch auch einmal schön sein!« Folgenreich war die Ausflucht aus dem Dilemma meines gespaltenen Bewußtseins, die ich wählte, als ich mich mit noch nicht 16 Jahren mit einem jungen Mann verband, den ich acht Jahre später heiratete, und der der Vater meiner drei Kinder ist. Heute weiß ich, daß ich mir bei meinem gebrochenen Selbstbild von Intelligenz und vermeintlicher Häßlichkeit, schnippischem Wesen und übergroßer Verletzlichkeit ein Leben aus eigener Kraft nicht zutraute: Ich brauchte einen Schutzschild. Damals wußte ich das nicht, und meine Erziehung hatte mir nicht zur Selbsterkenntnis verholfen. Und noch etwas ist mir inzwischen klar, was ich lange Jahre nicht wußte: daß meine Überzeugung, eigene Wünsche nicht durchsetzen zu können, entscheidend dadurch geprägt war, daß den Mädchen in meiner Generation eine eigene Sexualität und die Erfüllung sexueller Wünsche nicht gestattet war. Fand man Onanie schon bei Jungen igitt-igitt und gab klösterliche Ratschläge, die Hände immer über der Bettdecke zu lassen, so wurde der Mädchen die Sexualität schlechterdings abgesprochen.

Ganz zu schweigen von den einschneidenden gesellschaftlichen Normen, die für unverheiratete junge Frauen selbst in Universitätszeiten noch galten. Dabei war ich nicht einmal katholisch, und meine Eltern waren eher großzügig und liberal, trotzdem war es für ein »behütetes« Mädchen äußerst schwierig, sich von den geltenden Sexualnormen zu lösen, von »befreien« konnte gar keine Rede sein. Nun wäre dies alles überhaupt nicht darstellenswert, wenn sich diese erziehungs- und umweltbedingte Fehleinschätzung der eigenen Person nur bei mir so abgespielt hätte, und wenn dies nur in den vierziger und fünfziger Jahren des Jahrhunderts gegolten hätte. Davon kann aber gar keine Rede sein. Nur ganz wenige exzeptionelle Frauen meiner Generation haben sich vermutlich ohne solche Brüche entwickeln können - aufgrund welcher individuellen oder familiären Situation auch immer. Für die überwiegende Zahl meiner Altersgenossinnen hat gegolten, daß ihnen der Glaube an die Kraft der eigenen Person systematisch aberzogen wurde: »Nur ein Mädchen«, »Eine Ausbildung lohnt nicht, sie heiratet ja doch«, »Das wichtigste ist, wenn sie hübsch aus sieht und gut kochen kann, alles andere findet sich«, so lauteten die gängigen Sprache, mit denen wir groß wurden. »Sich für den Richtigen zu bewahren«, war der moralische Anspruch, unter dem wir standen, aufgeklärt waren die wenigsten von uns. »Ja, wie kommt denn aber die Samenzelle zur Eizelle«, fragte eine sechzehnjährige Klassenkameradin, die kein Dummerchen, nur unerhört wohlerzogen war. To make a long story short - ich heiratete während meines Studiums, als mein Mann das seine gerade beendet hatte, schloß dann bald auch mein Studium erfolgreich ab und machte meine mündliche Doktorprüfung drei Wochen vor der Geburt meines ersten Kindes, hinfort darauf programmiert, »Karriere an seiner Seite« zu machen.
Der Weg der Anpassung war mir gewiesen, eigener Ehrgeiz nicht gestattet. Ich weiß noch, wie die Umwelt sich darüber mokierte, daß ich einen Doppelnamen führen und meinen Mädchennamen beibehalten wolite; dies - aus meiner Perspektive weniger aus Eigenbrötelei als aus Stolz auf meine väterliche Familie: Viele Doktorarbeiten und wissenschaftliche Veröffentlichungen waren in der Universitätsbibliothek Göttingen unter meinem Namen verzeichnet, und ich wolite dazugehören. Schon dies wurde als unangemessen empfunden: zu »seiner« Familie hatte ich hinfort zu gehören.

Yesterday, all my trouble seemed so far away

»Aber wenn Du als Mann geboren wirst, soll es
mir auch recht sein. Vielleicht noch mehr, weil Dir
dann so viele Demütigungen, so viele Unterdrückungen,
so viele Mißdeutungen erspart bleiben.
Wenn Du als Mann geboren wirst, brauchst Du zum Beispiel
keine Angst zu haben, auf dunkler Straße vergewaltigt zu werden.
Brauchst Dich keines hübschen Gesichts zu bedienen,
um augenblicklich eingestellt zu werden, keines schönen Körpers,
um Deine Intelligenz zu kaschieren. . .
Du wirst ungehorsam sein können,
ohne verlacht zu werden...
wirst Dich wehren können, ohne beschimpft zu werden.«
Oriana Fallaci Brief an ein nie geborenes Kind

Der persönlich gefärbte Blick zurück auf die sechziger Jahre lohnt, denn viele Frauen meiner Generation - und auch die ein wenig Jüngeren - haben einen ähnlichen Weg genommen wie ich.. Unser Selbstbewußtsein heute ist ein anderes, als es damals war. Als ich 1963 heiratete, bezahlten viele Eltern - so auch die meinen - ihren Kindern zwar eine Ausbildung, konnten aber darüber hinaus zur Begründung eines eigenen Hausstandes nichts beitragen. Eine Freundin von mir legte seit ihrem 15. Lebensjahr monatlich eine bestimmte Summe zurück, um eine komplette Aussteuer zu erwerben: jeden Monat ein Frotteetuch, ein Kopfkissen oder ein Silberbesteck. Es gab aber ebenfalls viele Mädchen meiner Generation, die keine qualifizierte Ausbildung erhielten, weil die Familien dies für überflüssig hielten und eine Ausbildung daher nicht bezahlen woliten oder - oft - auch nicht konnten. Die Ehe galt als Versorgungsinstitut. Viele Altersgenossinnen haben ihre erste große Liebe geheiratet, manche von ihnen auch überstürzt, weil ein Kind unterwegs war, denn die Pille gab es noch nicht. Und etwa ein »Baby ohne Trauschein« zu bekommen, hätte die Familie entsetzlich blamiert, jedenfalls dachte man das. Sehr viele Frauen haben den gewünschten Beruf nicht ergriffen, weil die Eheschließung schon abzusehen war, als sie die Lehre oder das Studium antraten und die ursprünglich geplante Ausbildung ihnen daher zu lang erschien: Kompromisse bei der Berufsfindung waren eher die Regel als die Ausnahme. Hunderttausende dieser Frauen haben das Scheitern ihrer so hoffnungsvoll begonnenen Ehen erlebt, weil sich inzwischen die Zeiten, ihr eigener Bewußtseinsstand, die eigenen Wünsche und deren Wahrnehmung verändert hatten, die Männer aber nicht. Hinzu kam, daß die rechtliche Situation der Frauen in den sechziger Jahren noch immer unbefriedigend war, obwohl die Nachkriegspolitikerinnen schon ein gut Teil Ballast mühsam abgeworfen hatten. Die erste Bundesministerin, Elisabeth Schwarzhaupt, hatte daran große Verdienste und ist noch heute stolz darauf - mit Recht. Die Ehe war eine Zugewinngemeinschaft geworden, das Letztentscheidungsrecht des Ehemannes und Familienvaters war gemildert. Aber noch immer durfte die Ehefrau nur mit seiner Zustimmung berufstätig sein, und daß Mann und Frau gleichberechtigt, mit unabhängig voneinander erworbenen Rentenansprüchen eine Ehe eingingen und auf dieser Grundlage weiterführen würden, war die große Ausnahme. Viele Frauen, Beamtinnen zumal, ließen sich bei Eheschließung die erworbenen Altersversorgungsansprüche bar auszahlen, natürlich nur den Arbeitnehmeranteil, und kauften davon eine neue Küche oder das Schlafzimmer. Heute wurmt sie dies aus doppeltem Grund: Sie haben als Individuen beamtenrechtliche Ansprüche ein für allemal. verloren, und der Staat hat Milliarden auf Kosten des ganzen Geschlechts gespart. Dafür hätte er viele Frauenförderprogramme, Babyjahre, Umschulungen und ähnliches finanzieren können. Womit eine Junge Frau zu rechnen hatte, die sich in den fünfziger Jahren immatrikulierte, findet sich schwarz auf weiß in einer Untersuchung über »Probleme der deutschen Universitäten« von Hans Anger, die 1960 erschien und ein Paradebeispiel für die Sammlung niederschmetternder Vorurteile ist, der studierende Frauen ausgesetzt waren. daß dem Verfasser »die extreme Seltenheit weiblicher Professoren und Dozenten im Lehrkörper der westdeutschen Universitäten« [6]  auffällt, solite man keineswegs als kritischen Auftakt zu einer Philippika gegen den von Männern beherrschten Lehrbetrieb mißverstehen. Anger hielt eine ganz andere Erklärung bereit für die Beobachtung, warum so wenig Frauen studierten oder gar Professorinnen wurden: »Wenn sie (eine Frau; A. M.) nicht hübsch genug ist, um mit Sicherheit Heiratsaussichten zu haben, geht sie auf die Universität. Das zeigt sich daran, daß wir nur sehr wenig hübsche Studentinnen haben.« [7] Anger hatte auch eine schlüssige Erklärung für den weiblichen Prüfungserfolg: »Im Examen schneiden sie besser ab - was sie nicht kapieren, lernen sie eben auswendig.« [8] Die Ausführungen von Hans Anger waren typisch für das, was man zu der Zeit von Studentinnen hielt: Frauen studierten, wenn sie nicht »hübsch genug« waren, d. h. keine anderen Chancen hatten, und die, die studierten, kamen eigentlich nur durchs Examen, weil sie alles stupide auswendig lernten. Die Chance, im Studium »Mündigkeit« zu erlangen, die eigene Kraft und den Willen zur Gestaltung zu erproben, war damals gering. Ermutigung gab es nicht, im Gegenteil. Die Abbruchquote bei den Studentinnen war dementsprechend erheblich höher als bei den Studenten. Als ich durch den bissigen Artikel »der Durchschnittsstudent« von Walther Killy in der Zeit zu einer ebenso bissigen Replik »Der Durchschnittsprofessor« angeregt wurde, hatte Killy - Datenschutz völlig unbekannt - mich gleich zu sich zitiert: Wozu ich denn noch studierte, ich sei doch schon verlobt ... Wie dem auch sei, zur Selbstfindung hat das Studium natürlich beigetragen. Nicht zuletzt wegen der Tatsache, daß ich es mit einem ordentlichen Examen beendete. Viele meiner Altersgenossinnen haben dies nicht erreicht aufgrund der damals herrschenden Umstände, und ihr Selbstbewußtsein gegenüber den Ehemännern bekam einen Knacks, den sie nur mit Mühe reparieren konnten. Als ich nach dem Abschluß des Studiums - nun in der Phase der Tätigkeit als Hausfrau neben Windelnwaschen und Haushalt, neben Kinderliedersingen und Streitschlichten nach einer Tätigkeit suchte, die mich auch außerhalb von Familie und Kindern anregen solite, versuchte ich es zunächst bei der Kirche. Dort aber hatte man gerade nur Bedarf für jemanden, der die Kirche putzt. Ich wurde SPD-Mitglied und fing an, mich politisch zu engagieren. Wenn Frauen in die Politik gehen, spielt oft der Zufall eine große Rolle. Von »Wille zur Macht« keine Spur. Es ist auch fast sprichwörtlich, daß Frauen den Zufall als Begründung heranziehen, daß und warum sie dann Einfluß gewannen. Ich interpretiere dies als typisch weibliche Abwehr, auch nur entfernt in den Ruch zu kommen, Macht als Chance zur Veränderung bewußt wahrgenommen und ergriffen zu haben. Warum aber diese Abwehrhaltung so manifest ist, lohnt der Analyse. Es hat den Anschein, als ob Frauen »Macht« nur als die rüde, brutale, unterdrückende Form von Macht verstehen, die eigentlich eher »Gewalt« heißen müßte. Dem lohnt es nachzugehen.

Die Kraft und die Herrlichkeit, oder: Ist Macht männlich?

Am Anfang war Mutter Erde. Und sie wählte sich die
Luft zum Gefährten und belebte den Planeten mit Pflanzen,
Tieren und Menschen. Später wünschte sie sich Wesen,
die Mutter und Vater ähnlich sahen, und gebar
Töchter und Söhne. Da Luft unsichtbar ist,
bezweifelte der Vater die Ähnlichkeit seiner Kinder mit ihm.
Und er stritt mit seiner Frau. Um ihn zu besänftigen,
zeigte ihm Mutter Erde ihren Zaubertopf und verriet die
Kunst des Wünschens. »Laß mich probieren«, bat der Gatte,
nahm den Topf und wünschte der Gattin einen Kerker,
der aus ihr selbst gebildet war. Seitdem sitzt
Mutter Erde eingesperrt.
Und ihr Mann ist seiner Vaterschaft gewiß.
Die Kinder aber vermißten die Mutter und suchten nach ihr.
Der Vater mußte fürchten, daß sie seine Tat entdecken würden.
Aus Angst vor Strafe strafte er. Indem er auch seine Kinder einkerkerte.
Danach nannte er sich »Vater Erde«.
Irmtraud Morgner Amanda.
Ein Hexenroman

Grammatisch ist »die Macht« nicht männlich, sondern vom lateinischen Ursprung her - vis oder potentia - sogar weiblich. Aber was besagt das schon? Zu eindeutig ist die Zuweisung von Macht in die Sphäre des Mannes, und - zufällig, aber nicht beiläufig - findet sich »Macht« direkt hinter Machiavelli in den einschlägigen Lexika. »Der Wille zur Macht, die in der Herrschaft liegt, ist so groß, daß er nicht nur in das Herz jener dringt, die für die Herrschaft anstehen, sondern auch jener, die davon ausgeschlossen sind«, [9] schreibt Machiavelli; eine zutreffende Beobachtung, mit der über die Gründe allerdings noch nichts gesagt ist. Macht ist überall, sie ist eine Grundkonstante menschlichen Zusammenlebens. In den Machttheorien, in geschichtlichen Beschreibungen machtpolitischer Abläufe und bei allen Macht- und Herrschaftstheorien spielen aber nur Männer eine Rolle. Die Gesellschaften, in denen sich Machtprozesse abspielen, scheinen nur aus Männern zu bestehen. Überlegungen, wie Macht auszuüben sei, werden nur für Männer angestellt. Frauen kommen nicht einmal als Ohnmächtige oder Machtlose vor: Sie spielen schlicht nicht mit. Nur folgerichtig also, daß das »Frauenhandlexikon« [10] den Begriff »Macht« ignoriert: Zwischen »Lohnungleichheit« und »Mädchen« keine Erwähnung. Auch ältere für Frauen zusammengestellte Nachschlagewerke weisen diesen blinden Fleck auf, beispielsweise das Lexikon der Frau, das 1954 in Zürich erschienen ist. Der Vollständigkeit halber soll hier nicht unterschlagen werden, daß schon die Leipziger Brockhausausgabe von 1895 den Begriff ausläßt, und Meyers Lexikon von 1927 unter Machtpolitik nur kurz erwähnt, daß diese die praktische Anwendung der Lehre sei, derzufolge »Staat« im Gegensatz zu der moralischen Staatsauffassung Handhabung der Macht bedeute. Es ist interessant, daß das einzige mir bekannte Werk einer Frau, die sich mit dem Machtbegriff auseinandersetzte, nämlich »Macht und Gewalt« von Hannah Arendt, erst in der deutschen Übersetzung von 1970 das Wort »Macht« hinzufügt. Im Original heißt der Titel »On Violence«, »Über Gewalt«. Bestimmt hat die Autorin die Übersetzung ins Deutsche kenntnisreich überwacht, warum also die Ausweitung? Sie selbst kommentiert es nicht. Hannah Arendt definiert Macht instrumentell: »Befehlen und Gehorchen, ohne das gibt es keine Macht - sie braucht kein anderes Attribut ... jenes Etwas, ohne das Macht nicht sein kann, ihr Wesen ist der Befehl«, eine Definition, die zweifellos mit Hannah Arendts Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus in Zusammenhang steht. Die Deformierung des Begriffes »Macht« durch den unvorstellbaren Machtmißbrauch im Dritten Reich behindert den unbeschwerten Zugang heutzutage erheblich: Wer kann nach Hitler noch Macht anstreben, wenn sie dort »ergriffen« wurde? »Die Pornographie der Macht«, [11] (Pornography of Power) heißt ein, soweit ich weiß, leider nie deutsch erschienenes Werk von Lionel Rubinoff, das deutlich macht, welche Hemmschwellen im Umgang mit dem Begriff »Macht« zu überschreiten sind. Ist es nicht einfach unanständig und ein Selbstmißbrauch, etwas so Schreckliches wie Macht überhaupt zu wollen? Dennoch konstatiert auch Rubinoff Macht als überall waltenden Faktor des »kontrollierten Ausdrucks von Aggressionen, Selbstanmaßung und Potenz sowohl von Individuen als auch von Gruppen. Dieses Phänomen hat viele Namen - Liebe, Strafe, Gerechtigkeit, soziale Kontrolle, Disziplin, Krieg, Regierung usw.« Wer immer über »Macht« nachgedacht hat - mit philosophischer Perspektive, von sozialpsychologischer Warte aus; von Jacob Burckhardt bis Lassalle und Kaplan, von Max Weber über Vilfredo Pareto, Bertrand Russell, Talcott Parsons bis zu Alexis de Tocqueville und Niklas Luhmann scheute interessanterweise vor Diskursen über das Schillernde, Erotische, Libidinöse der Macht zurück: Kein Wort über die »Droge Macht«! Vielleicht müßten solche Darstellungen eher aus der Feder der Praktiker kommen, der Politiker, die mit Macht umgehen - das steht noch aus. Dabei kann man im gerade wieder aufgelegten Grimmschen Wörterbuch unter dem Stichwort »Macht« den interessanten Hinweis lesen, daß von Macht auch das »Gemächte« komme, d. h. das männliche Geschlechtsorgan gemeint sei. Hier wird also eine Verbindung von Macht und männlicher Potenz hergestellt, und die oben erwähnten Momente Libido und Erotik rücken nahe an die Macht heran. Der schlichte Augenschein bestätigt, daß in der Ausübung von Macht für Männer ein starker erotischer Reiz liegt, der möglicherweise auch durch die Schwäche des Gegenübers stimuliert wird. Feministinnen wissen hierzu viel zu sagen: Die sadistische sexuelle Neigung von mächtigen oder Macht erstrebenden Männern ist ihnen ein wichtiges Thema. Wo Macht, Potenz, Sexualität und Erotik nahe beieinander liegen, muß dies Frauen in Schrecken versetzen, denn ihnen wichtige Qualitäten der Machtausübung spielen dabei keine Rolle: Sensitivität, Verantwortungsgefühl, Einfühlung und Kreativität. Übrig bleibt nur die brutale Seite der Macht, und mit der wollen Frauen nichts zu tun haben. [12] Frauen, die in verantwortungs- und machtvollen Positionen sind, verneinen die Frage meist mit großer Entschiedenheit, ob sie nach Macht gedrängt hätten: Verantwortung hätten sie gespürt, der Wunsch nach Gerechtigkeit habe sie getrieben, in die machtvolle Stellung seien sie eher zufällig geraten, weil die Umstände es gerade so fügten. Dies habe ich für mich selbst auch so empfunden, und viele Frauen haben es mir bestätigt. Nach Macht, wie sie von Männern verstanden wird, drängen Frauen sich nicht. Es ist auch sehr auffällig, daß sie zumeist im Einsatz für andere oder im Streiten um Sachthemen, die sie wichtig finden, viel erfolgreicher sind als im Kampf um Positionen für die eigene Person. [13] Die Ausübung von Macht ist üblicherweise ein öffentliches Ereignis. Dies ergibt sich schon daraus, daß man dort, wo es nicht so ist, von »heimlicher Macht« spricht. Die Ausübung von Macht ist auch ein dynamischer Vorgang, der auf eine Lösung drängt. Macht ist nicht stabil, sie ist immer bedroht. Deshalb verwenden die Mächtigen auf den Erhalt der Macht viele Gedanken und oft auch Intrigen. Romane, Biographien und Geschichtsbücher sind voll solcher Geschichten, und aus diesen wie aus der Realität resultiert die Feststellung »Macht verdirbt den Charakter«, die gern auf Politiker angewandt wird. Gilt sie auch für Politikerinnen? Noch geht die Öffentlichkeit - unter diesem Aspekt jedenfalls - duldsamer mit den Frauen um. Auch für mich hat die Macht als »Wollust der Herrschaft« nichts Reizvolles. Ich verstehe mir verliehene Macht als Führungsaufgabe und Gestaltungsmöglichkeit, die ich verantwortungsbewußt zu handhaben habe, und ich betrachte Macht als etwas mir auf Zeit Verliehenes. Macht in der Politik bezeichnet den bewußten Willen zur Politik, nicht Selbstzweck, sondern Aufgabe und Möglichkeit zur Lösung gesellschaftlicher Probleme. »Recht ohne Macht zerstört die Freiheit«, sagt die Europäerin Louise Weiß in ihrem Buch »An die ungeborenen«. Wollen wir den Rahmen unseres Rechtsstaates verändern, wollen wir etwas Neues schaffen, dann müssen wir auch die Macht wollen als den Hebel zur Veränderung. »Aus eigener Macht« spielen Frauen in diesen Veränderungsprozessen so gut wie keine Rolle. Das muß sich ändern. [14] Der männliche Machtbegriff - von Männern für Männer entwickelt - kann auf Frauen nicht einfach übertragen werden. Als ich vor einiger Zeit im Rahmen eines Women's Studies Programms an einem amerikanischen College einen Vortrag über »Women and Power« hielt, schenkte mir eine junge Kunstgeschichtsprofessorin spontan ein Buch, von dem ich bis dahin nichts gehört hatte: Carol Gilligan, »In a Different Voice«, das inzwischen auch auf deutsch vorliegt. Die These meines Vortrags, daß wesentliche innovative Impulse in unseren westlichen politischen Systemen nur durch den Feminismus zu erwarten seien, griff damals Gedanken auf, die in Gilligans Buch eine Rolle spielen. »Der gestirnte Himmel, über mir und das moralische Gesetz in mir« - Kants Maxime für ethisch begründetes Handeln - bedeutet nach Gilligan für Männer und Frauen nicht daßelbe: zwar leben wir unter demselben Himmel, aber für Männer und Frauen gelten unterschiedliche moralische Gesetze, und deshalb fällt die Ausübung von Macht verschieden aus, da für Männer und Frauen unterschiedliche Wertsysteme gelten. Die Handlungsmoral von Frauen orientiert sich am Konkreten und am jeweiligen Einzelfall. Die Erfahrung zeigt, daß Frauen bei der Ausübung von Macht gewaltloser vorgehen. Sie wissen aus eigener Erfahrung, daß durch Macht und Herrschaft Schmerzen zugefügt werden: Unterlegen zu sein und mit seinen Wünschen nicht zum Zug zu kommen, ist als schmerzhafter Prozeß für uns Frauen eine übliche Erfahrung. Darum werden wir in Konfliktfällen immer nach pragmatischen Lösungen suchen, um den - als notwendig erkannten - zugefügten Schmerz möglichst gering zu halten. Frauen verstehen in der Regel Macht auch eher als etwas ihnen, auf Zeit Verliehenes, das eingesetzt werden muß, um bestimmte Fragen zu lösen und Macht nicht um ihrer selbst willen und unbegrenzt verliehen wird. Kennzeichnend, daß beispielsweise das »Feminat« der GRÜNEN-Frauen nach Ablauf der Wahlperiode die Macht abgab und sich wieder »einreihte«. Ich wünsche mir, daß Frauen allmählich einen anderen Zugang zur Macht gewinnen, einen selbstbewußteren und eigenständigen, denn der Erfahrensweg von Frauen ist lebensnah. Es ist nicht übertrieben zu sagen: Die Frauen tragen das Leben, sie prägen und gestalten es, und soziale Zusammenhänge und Kommunikation sind ohne Frauen nicht denkbar. Frauen geben Liebe, und ohne Liebe entwickelt sich menschliches Leben nicht, wie jeder weiß. Frauen beseitigen den Hunger, sorgen für Kleidung, geben Geborgenheit und schaffen ein Haus, Frauen vermitteln Sprache und prägen damit letzten Endes die Form von Kommunikation. Auch Lebenskultur und gestaltete Schönheit sind ohne Frauen nicht denkbar. Schließlich und letztlich ist die demokratische Grunderfahrung, als Person gesehen und geachtet zu werden, eine Erfahrung, die über Frauen als Mütter viel stärker vermittelt wird als in allen anderen sozialen Zusammenhängen. Führt das nicht allmählich zu der Frage: Was vermitteln eigentlich Männer?

Machtstrukturen - zum Davonlaufen?

»Aber um das tägliche Leben umzuwälzen, muß
man die Mechanismen angreifen, die es bis in die
Nischen und Winkel hinein durchdringen. Und
das setzt voraus, daß man zusammenarbeitet - ich
vermeide bewußt das fatale Wort »sich organisiert« -
daß man gemeinschaftlich ergründet, wer in diesem
Augenblick der entscheidende Kontrahent ist,
wo man seine Logik brechen, wo man eine Zäsur anbringen,
einen Wandel inaugurieren kann. Politik ist die
Herstellung von Bedingungen, unter denen
Du Dich selbst, Dein Projekt und die Veränderung strukturierst.
Warum gelingt das den Frauen nicht?«
Rossana Rossanda
Einmischung

Als meine drei Kinder geboren waren, und ich allmählich begann, mich nach den Zukunftsperspektiven zu fragen, die ich außer der Tatsache, daß ich drei Kinder hatte, sonst noch besaß, begann ich, mich mit Psychologie und Sozialpsychologie zu beschäftigen. Das lag vielleicht auch in der Zeit: Um 1970 herum war unsere Gesellschaft in Bewegung geraten. Außerdem hatte ich 1969 meinen ersten Bundestagswahlkampf geführt, tummelte mich nun kommunalpolitisch und gründete mit anderen im Norden Münchens eine Volkshochschule. Im Jahr 1973 besuchte ich ein »Gruppendynamisches Laboratorium« - so nannten sich ein-bis zweiwöchige Seminare, die den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Kenntnisse über sich selbst im Zusammenwirken mit Gruppen vermitteln soliten, das in einem ehemaligen Kloster stattfand und neben vielen in sozialen Berufen tätigen Männern und Frauen auch zahlreiche Mönche und katholische Theologen unter den Teilnehmern hatte. Bei diesem Seminar machte ich für mich selbst im Hinblick auf das Machtproblem einschneidende Erfahrungen. Das Seminar begann nicht wie viele andere mit stundenlangem Schweigen, aus dem heraus sich der gruppendynamische Prozeß entwickelte, sondern mit einem Spiel, dessen Regeln ich im einzelnen nicht mehr weiß. Es hatte aber zur Folge, daß die Fragen von Macht, Manipulation und Machtkontrolle im Zentrum des Seminars standen. Ich erinnere mich an ein Erlebnis vom zweiten oder dritten Tag, das mir schlagartig und nachhaltig bis auf den heutigen Tag ins Bewußtsein treten ließ, wie Machtansprüche ins Leere laufen, wenn die Gefolgschaft verweigert wird. Der Vorfall war läppisch, wie die meisten solcher Vorfälle in gruppendynamischen Prozessen, an denen sich Machtkonflikte entzünden. Meine Gruppe debattierte, ob man besser im Kreis zusammen säße, ohne einen Tisch in der Mitte zu haben oder ob es mit dem Tisch für alle angenehmer sei. Diese Diskussion zog sich endlos hin, bis ich irgendwann aufsprang und sagte: »So, jetzt tun wir den Tisch einfach weg!« alle anderen blieben sitzen, weil sie aus ihrer Sicht noch keine Lösung gefunden hatten. Da stand ich, machtlos und beschämt durch das Gefühl, mich zu weit vorgesagt zu haben. Im Verlauf der 14 Tage kam es bei den anfangs etwa gleich starken Untergruppen immer wieder zur Abspaltung und zu neuen Bündnissen. Ich erinnere mich deutlich an das »Schnittmuster« der Konfliktlösung: Immer wenn in meiner Gruppe unterschiedliche Ansichten oder ungeklärte Kräfteverhältnisse auf eine Lösung drängten, die aber nur zu finden gewesen wäre, wenn die handelnden Personen den scheinbar sicheren Boden abstrakter Theorien verlassen hätten, kam es zur Abspaltung, und die zentrale Figur des Konflikts machte sich mit zwei oder drei »Getreuen« auf und davon, um im Nebenraum eine neue Diskussion mit - zunächst - klaren Verhältnissen zu beginnen. Bei den Zurückgebliebenen führte der »Auszug« zu Frustrationen und zu erhöhter Manipulationsfurcht: Der entlaufene »Führer« könnte zurückkehren und mit einer neuen, nicht durchschaubaren Strategie sie alle zu überrumpeln trachten. Diese Methode verdeckten Machtkampfes und die Art und Weise, einer Lösung auszuweichen, die den Einsatz der ganzen Person gefordert hätte, habe ich als »typisch männlich« in Erinnerung. In meiner Gruppe kam es im Verlauf des Seminars zu einer anderen entscheidenden Weichenstellung. Die Gruppenteilnehmer soliten sich als entweder »mächtig« oder »ohnmächtig« einstufen. Die »Mächtigen« wie auch die »Ohnmächtigen« berieten für einige Zeit getrennt voneinander. Ich hatte mich zu den »Mächtigen« geschlagen. In beiden Gruppen waren sowohl Männer als auch Frauen. An einen Mann erinnere ich mich, daß der sich nur aus taktischen Gründen den »Ohnmächtigen« angeschlossen hatte: Er wolite einmal wissen, was sich bei diesen abspielte. Eigentlich fühlte er sich »mächtig«. Als man sich wieder zusammen fand und darüber austauschte, was in den beiden Untergruppen beraten worden war, frappierte mich das Ergebnis so sehr, daß ich es mir bis heute gemerkt habe: Die »Mächtigen« hatten über die Art und Weise der Machtausübung nachgedacht. Ich erinnere mich, daß ich das Stichwort »Verantwortung« in die Diskussion eingebracht hatte. Die »Ohnmächtigen« demgegenüber berichteten, daß sie während der ganzen Beratungszeit darüber reflektiert hatten, wie sich die »Mächtigen« in ihrer Abwesenheit wohl fühlen mochten. Dieses Ergebnis erschien mir schon damals und erscheint mir heute immer noch von der Struktur her als »typisch weiblich«: Man stuft sich als unterlegen ein, akzeptiert diese Unterlegenheit (mancher würde vielleicht auch sagen: man »verinnerlicht« sie) und gewinnt seine Maßstäbe vom Mächtigen her. So verhalten sich Frauen. Ich habe über dieses Erlebnis oft nachgedacht und auch mein eigenes Machtgefühl daraufhin überprüft. Ich glaube heute: Gelangen reflektierte Menschen aus der Position der Ohnmacht einmal in eine machtvolle Stellung, so wird ihnen die Einfühlung in die Gefühle der Ohnmächtigen nie mehr verloren gehen. Dies ist grundsätzlich anders bei den Mächtigen, denn diese haben es existentiell nie nötig, sich mit den Ohnmächtigen zu beschäftigen. Häufig bleiben diese Menschen in einem Zustand unreflektierten Machtbewusstseins, das dann leicht unsensibel, undifferenziert und plump gerät: Typisch männlich eben, diese Strahlemänner, denen man die Ungebrochenheit ihres Machtgefühls schon an der Physiognomie abliest. Kurz vor Schluß des 14tägigen Seminars spalteten sich übrigens auch die Frauen aus mehreren Gruppen ab, da ihnen die Prozesse der Machtbildung und Machtkontrolle bei den Männern missfielen,. Bis zum- Schluß gelang es nicht mehr, die massive Furcht vor Manipulation zu besiegen, so daß die Klärung der abgelaufenen Prozesse nur mehr im Plenum des gesamten Seminars - zumindest teilweise - gelingen konnte in einem sich über Tage hinziehenden quälenden Prozeß. Ich »weiß« seither - und dieses »Wissen« hat außer der rationalen eine erfahrene emotionale Komponente, die die wichtigste ist, daß ein Davonlaufen aus Gruppenkonflikten die Machtfragen nicht löst: Man läuft vor sich selbst davon und gewinnt dabei nichts. Ich weiß ferner, daß eine Machtkontrolle nur durch gleich starke Gegenmacht erfolgen kann. Jedes Herumdoktern an eingefleischten Machtstrukturen, das eine Zügelung der ausgeübten Macht zum Ziele hat, ist so lange zur Wirkungslosigkeit verurteilt, wie die Gegenmacht schwach und unorganisiert ist. Auf diese Erfahrungsgrundlage, die mehr ist als bloße Theorie, stützt sich mein. seitheriges Engagement für die Gewerkschaften als den im Arbeitsleben agierenden Widerpart zur Kapitalseite: Wollen wir die Wirtschaftsdemokratie realisieren, muß sich in diesem Feld an den etablierten Machtstrukturen noch einiges ändern. Auf diese Erfahrung gründet sich aber auch mein Anspruch an. die Frauenbewegung: Wollen wir an den patriarchalischen Gesellschaftsstrukturen ernsthaft Veränderungen bewirken, geht dies nur durch eine starke, eine gleich starke Frauen-Gegenmacht. Ich bleibe dabei, daß bis heute alle Machtkomponenten Brutalität, Unterdrückung, Ausbeutung genauso wie Führungskunst, Verantwortung und Einfühlung - männlich besetzt sind. Zweier möglicher Einwände bin ich mir dabei sehr wohl bewußt. Der erste: Die mächtigen Frauen in Geschichte und Gegenwart von Katharina der Großen über Indira Gandhi bis zu Margaret Thatcher haben genauso Kriege geführt, waren oder sind in ebensolche Intrigen und Machterhaltungskomplotte verstrickt, haben mit denselben Mitteln gekämpft, wie auch Männer sie benutzen; Fazit: Frauenmacht sei auch nicht anders. Ohne Frage: Die Entfremdung in einer männerbestimmten Welt verändert die Frauen, die in machtvolle Positionen gelangen, wahrnehmbar. Aber diese wenigen und so vereinzelten Frauen können doch gar keine Erfahrung darin haben, sich einen kooperativen selbstbewußten Arbeitsstil zu schaffen, in dem ihre weiblichen Führungseigenschaften sich eigenständig und neu entwickeln könnten. Carol Gilligan spricht davon, daß diese Frauen die »Fremdsprache Mann« lernen müßten auf ihrem Weg nach oben. Und wenn sie dann oben angekommen wären, hätten sie die eigene Sprache verlernt. Ebenso wie der aus kleinen Verhältnissen aufgestiegene männliche Generaldirektor alles dran setzt, seine kleinbürgerliche Herkunft um jeden Preis vergessen zu lassen, unterwerfen sich sicherlich auch Frauen, um den Erfordernissen der herrschenden Umwelt gerecht zu werden, Zwängen zur Überanpassung und Verleugnung ihrer weiblichen Grundwahrnehmungen und sind dann. oft härter als Männer. Die Überkompensation zeigt, daß das Bewußtsein ehemaliger Ohnmacht die Handlungsweise prägt. Aber wäre dies wirklich immer noch so, wenn Frau Thatcher ein zur Hälfte aus Frauen besetztes Kabinett befehligen würde, wenn auch an der Spitze der Oppositionsparteien zur Hälfte Frauen stünden und wenn die Spitzen der Gesellschaft sich nicht nur mit Gattinnen schmückten, sondern Frauen auch »aus eigener Macht« an die Spitze ließen? Niemand weiß eine Antwort auf solche Fragen, denn so etwas ist in historischer Zeit noch nie ausprobiert worden. Der zweite Einwand: Die heimliche Macht der Mütter zu Hause. Hier offenbare sich doch in höchst verräterischer Weise, zu welcher Unterdrückung und zu welch verqueren Formen von scheinheiliger Machtausübung Frauen imstande seien. In der Tat, das ist so: Ehefrauen und Mütter manipulieren Mann und Kinder oft in schwer erträglicher Weise und errichten in. den eigenen vier Wänden mitunter ein Regime, das jede Form von Befreiungskrieg im kleinen rechtfertigen würde. Nur solite man hier die gesamtgesellschaftlichen Bedingungen nicht aus dem Auge verlieren. Denn niemand darf sich darüber wundern, wenn unterdrückte Kreaturen sich von der Unterdrückung befreien wollen und in Fällen, wo diese Befreiung nur als Entlastung vorstellbar ist, sich im Wege der Entlastung dann eben an anderen Menschen in ihrem unmittelbaren Umfeld schadlos halten. An einem Beispiel erklärt: Eine starke, junge Frau, die in ihrem Elternhaus, insbesondere durch den Vater, unterdrückt, klein gemacht und unselbständig gehalten wird, wird diesem Elternhaus so rasch als möglich zu entkommen suchen und wird - sofern ihr die zugefügte Unterdrückung nicht bewußt wird - diese unbewußt an ihre eigene Familie weitergeben; vielleicht findet sie einen schwächeren Mann, der von seiner eigenen Mutter nichts anderes gewöhnt ist. Solche Zusammenhänge erläutern nach meiner festen Überzeugung eben gerade nicht, daß Frauen »auch nicht anders« mit Macht umgehen. Sie erläutern vielmehr, daß Frauen in unserer Gesellschaft vom ersten Lebenstage an mit Männermacht konfrontiert werden und sich damit zu arrangieren haben. Sie sind Betroffene, sind Opfer der Macht auch dann und manchmal gerade dann, wenn sie ihr privates Leben einigermaßen behaglich führen können. Die Frage muß mit aller Härte gestellt werden: Welche Wege zur »freien Entfaltung der Persönlichkeit« stehen Frauen eigentlich offen? Ohne Wenn und Aber geantwortet: aufgrund der bestehenden Machtstrukturen - keine.

Denn die Einengung der weiblichen Entwicklung auf Rollen und Klischeevorstellungen beginnt bereits sehr früh: das Schwesternpaar »Mama« und »Hure« bindet und verkrüppelt die freie Entfaltung nicht nur symbolisch: »Indem Du Dich / gegen die Mauern / Deiner Zelle / stemmst / nimmst Du / mehr und mehr / die Form / dieser Mauern an«, schreibt Erich Fried in einem Gedicht »Gefangenenbesuch«. Es faßt die Folgen des Zwangs zur Unterwerfung plastisch, denn die Gefangenen werden im Laufe ihrer Gefangenschaft »nur noch / zu der präzise geformten / Füllung der Zelle«. So geht es den Frauen. Wollen wir dies so haben? Weibliche Existenz immer noch und immer wieder als »präzise geformte Füllung der Zelle«? Ich will es nicht: Ich stelle die Machtfrage. Zunächst bedeutet das, die Realität zu erkennen. So frage ich also nach der gesellschaftlichen Struktur, nach der »Zelle«, die es zu sprengen gilt. Wie ist die Machtlage?