Absicht

Schwerpunkt dieses Buches

Dieser Text ist als Einführung in die Sozialisationstheorie gedacht, besonders in die der Geschlechtersozialisation. Es ist nicht das erste Buch darüber. Siehe zum Beispiel das Standardwerk »Was geschieht mit kleinen Mädchen?« von E. G. Belotti. Viele Bücher über Sozialisation aus der Sicht der Frauenbewegung beschränken sich auf die Sozialisation von Frauen. In den Frauenbuchläden können wir sie regalweise stehen sehen: die Psychologie der Frau, Psychoanalyse und Frauen, wie werden kleine Mädchen groß, was wollen Frauen eigentlich? Das ist verständlich, als Gegengewicht zu aller Theorie, die behauptet, von Menschen zu handeln, aber, wie sich zeigt, von vornherein über Männer geschrieben ist. Allerdings zeigt es auch die Unzulänglichkeiten unseres Denkens. Denn solange wir nur darüber nachdenken, was mit Frauen geschehen ist, tun wir so, als gelten die Veränderungen, für die wir mit dem Feminismus eintreten, nur für uns und werden von uns geschaffen.
Frauenunterdrückung findet nicht im luftleeren Raum statt, Männer haben ihren Anteil daran. Wenn wir dies also ändern wollen, ist nicht nur das, was mit uns geschehen ist, von Interesse, sondern wir müssen uns auch damit auseinandersetzen, wie Männer geworden sind. Dieses Buch beschränkt sich also nicht nur auf die Sozialisation von Frauen, obwohl sich immer zeigen wird, daß darüber einfach mehr Material zur Verfügung steht und ich durch meine praktische Arbeit in Frauengruppen mehr darüber weiß.
Wenn wir über Unterschiede zwischen Männern und Frauen sprechen, werden die Probleme und Lösungsmöglichkeiten meist innerhalb der Beziehung zwischen Mann und Frau gesucht. In dieser heterosexistischen Welt wird die Beziehung zwischen Frau und Mann als die wichtigste betrachtet, als das fundamentalste Verhältnis. Aber die Geschlechtersozialisation hat auch für andere zwischenmenschliche Beziehungen Folgen: zum Beispiel für die zwischen Müttern und Töchtern oder Müttern und Söhnen, für die zwischen Vätern und Kindern, für die zwischen Frauen und Frauen, für die zwischen Männern und Männern. Folgen für intime Beziehungen, aber auch Folgen für Gruppen, für soziale Bewegungen. Geschlechtersozialisation beeinflußt ebenso die Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern.
Und sie hat auch Folgen für die politische Konstellation, in der wir uns befinden.
Ich will mich in diesem Buch also weder auf Frauensozialisation noch auf die Unterschiede zwischen Frauen und Männern beschränken. Ein Handicap dabei ist, daß das meiste uns zur Verfügung stehende Material davon handelt.

Warum und für wen?

Meine Arbeit gab mir die unmittelbare Motivation, dieses Buch zu schreiben: ich unterrichte regelmäßig Sozialarbeiterinnen in der Weiterbildung über Sozialisationstheorie. Eine Menge des Materials, das ich dabei benutze, ist schwer auffindbar oder zugänglich, nicht übersetzt oder auf einem wissenschaftlichen Niveau geschrieben, das es auf die Praxis ausgerichteten Leuten mit wenig Zeit und ohne den Begriffsapparat der Wissenschaft eine Verarbeitung nicht leicht macht.
Anstatt immer wieder nur meine eigenen Aufzeichnungen zusammenzukramen, habe ich beschlossen, ein Buch daraus zu machen. Das zeigt auch gleich, daß dieses Buch nicht in erster Linie für Akademiker/innen gedacht ist, die zu ausländischem Material Zugang haben, obwohl ich es schön fände, wenn diese Einleitung auch für Student/inn/en als Einführung in weiterführende Literatur brauchbar ist. Und auch nicht als populärwissenschaftliche Arbeit, obwohl ich hoffe, daß auch nichtStudierende Frauen es lesen werden, und ich mich sehr bemüht habe, nicht allzu viel Fachjargon zu benutzen.
Der vorliegende Text war ursprünglich die Hälfte eines größeren Projekts. In einem einzigen Buch wollte ich die psychischen und emotionalen Folgen der Unterdrückung aufzeigen, also neben der Sozialisationstheorie auch darstellen, wie verschiedene Formen von Unterdrückung sich gegenseitig bedingen: beispielsweise Klassismus ― das heißt Diskriminierung aufgrund der Klassenzugehörigkeit ― und Sexismus, Rassismus und Sexismus, denn nicht nur unsere Sozialisation zur Frau oder zum Mann bestimmt, was wir sind und wie wir sind, sondern auch unsere Sozialisation zur ― sagen wir mal ― hinduistischen Surinamerin oder zu einem Mann bäuerlicher Abstammung. Ich habe das Projekt geteilt, um es einerseits übersichtlicher zu gestalten, andererseits damit es bezahlbar bleibt, außerdem wegen der Zeit, die mir zur Verfügung stand. Ich versuche, den zweiten Teil in nicht allzu ferner Zukunft zu veröffentlichen. Darin möchte ich dann Unterdrückungstheorien weiter ausarbeiten, beispielsweise verinnerlichte Unterdrückung, die auch zwischen Frauen Trennungslinien zieht. Und ich will dort weiter an der »Männerfrage« arbeiten, daran, inwieweit Männer als Handlanger eines unterdrückenden Systems oder als mögliche Verbündete dagegen gesehen werden können.

Ausgangspunkte und Beschränkungen

Die Bücher über Geschlechtsunterschiede und Geschlechtersozialisation gehen meist von einer bestimmten Fachrichtung aus. In diesem Buch habe ich versucht, mich nicht auf eine Richtung zu beschränken: Ich habe biologische und anthropologische Literatur verarbeitet: Soziologie und Psychologie, Lerntheorie und Psychoanalyse. Ich habe mich dazu entschlossen, weil ich davon ausgehe, daß jede Fachrichtung für sich genommen die Gefahr einer verkürzten Sichtweise in sich birgt und wichtige Faktoren, die der Komplexität der Wirklichkeit gerecht werden, außer acht läßt. Aber dieser Ansatz hat auch Nachteile: Die Breite geht auf Kosten der Tiefe. Damit dieses Buch eine Einführung bleibt, mußte ich auf eine Menge Literatur verzichten, manchmal mit Bedauern. Durch Angabe weiterer in das Thema einführender Bücher habe ich die Kürze auszugleichen versucht. Dann gibt es meine Beschränkungen als Autorin. Ich bin weiß und stamme aus der Mittelschicht. Das hat Einfluß auf die Art und Weise, wie ich wahrnehme und Dinge selektiere. Zu häufig ist die Sicht der Mittelklasse als die einzig richtige Betrachtung der Wirklichkeit angesehen worden. Zu oft wurden von Weißen allgemeingültige Aussagen über die Menschheit gemacht, ohne daran zu denken, daß diese Aussagen nicht allgemeingültig sind, wenn sie Schwarze nicht einbeziehen. Regelmäßig werde ich korrigiert: Daß zum Beispiel im Judentum viel weniger als bei den Christen die Rede von einer abhängigen Frau gegenüber einem dominanten Mann sein kann. Nicht daß es dort keinen Sexismus gibt, aber manche jüdischen Menschen haben sich in dem gängigen »Männerbild« oder »Frauenbild« aus der durchschnittlichen feministischen Theorie nicht wiedererkennen können. Schwarze Frauen erzählen mir, daß sie die isolierte Mutterschaft, die für die weiße Mittelschicht normal ist, erst kennengelernt haben, als sie in die Niederlande gezogen sind. Frauen aus der Arbeiterklasse oder bäuerlicher Abstammung haben mir erzählt, daß sie von zu Hause andere Beziehungen zwischen Frauen untereinander kennen. Was ich daraus gelernt habe, ist hoffentlich in dieses Buch eingeflossen. Dennoch bleibt die Schwierigkeit, daß die meiste Literatur, die es über Sozialisation gibt, stillschweigend vom Standpunkt der weißen Mittelschicht ausgeht. Wenn wir diese Beschränkungen erkennen, ist das Material brauchbar. Inzwischen werden wir weiterarbeiten und unsere Sicht erweitern müssen, bis wir diese Beschränkungen hinter uns lassen.

Danksagung

Ich möchte den Frauengruppen am IVABO für die Möglichkeit danken, Teile dieses Materials vor einem Publikum auszuprobieren. Danken möchte ich auch den Frauen, die mich korrigiert und ergänzt haben und hier aber nicht persönlich aufgeführt werden. Ich bedanke mich beim Kultusministerium, das mich durch ein Projektstipendium in die Lage versetzte, einen Teil der Vorarbeiten zu diesem Buch in meine Arbeitszeit zu legen. Ferner haben mir einige Doktorarbeiten sehr genützt. So leistete Jolande Withuis mit ihrer Arbeit viel Vorarbeit für den letzten Teil des Buches, Hannie Loermans untersuchte aus anthropologischer Sicht die Unzulänglichkeiten in der Betrachtung Chodorows. Jolande Withuis kommentierte einen Teil des Manuskripts wie auch Ernst Drukker, der mich auf den Titel brachte. Francis van Soest begleitete kritisch meinen Stil.
Angaben über bestimmte Artikel oder Bücher hinaus habe ich in der Bibliographie aufgeführt. Wenn es von einem ausländischen Text keine Übersetzung gab, habe ich die Zitate selbst übersetzt. In der Bibliographie ist hinter der Jahreszahl der Ausgabe das Jahr der Erstveröffentlichung in Klammern angegeben.