Anatomie ist Schicksal.
Sigmund Freud: »Der Untergang des ÖdipuskomplexesAnatomie ist nicht wirklich Schicksal,
Schicksal entsteht dadurch, wie Menschen Anatomie auffassen.
Robert Stoller: »Facts and fancies«.Denn im Herzen dieser Gesellschaft existieren zwei Gruppen,
geboren aus einem gesellschaftlichen Verhältnis, einem Verhältnis,
das maskiert wird durch die anatomische und
gesellschaftliche Aufteilung,
Colette Guillaumin: »The question of difference«.
1. Biologie und Macht
Angeboren und angelernt
Das Nachdenken über biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern ist in der Frauenbewegung nicht populär. Ursprünglich hatte ich vor, diesem Thema hier nur einen kleinen Abschnitt zu widmen, um vielleicht noch bestehende Mythen zu widerlegen und mit dieser Geschichte weiterzukommen. Aber aus einigen Gründen finde ich es doch wichtig, etwas länger dabei zu verweilen.
Zum einen kämen wir als Feministinnen nicht weiter voran, wenn wir die existierenden biologischen Unterschiede nicht berücksichtigten. Angenommen, wir fordern Zugang zu Berufen, die bis jetzt noch Männern vorbehalten sind, und es stellt sich heraus, daß wir uns dafür tatsächlich nicht eignen oder dabei zu Schaden kommen (z. B. indem unsere Fruchtbarkeit beeinflußt oder noch ungeborene Kinder geschädigt werden), dann haben wir für unsere Gleichheit einen hohen Preis bezahlt. Und was erreichen wir, wenn wir leugnen, daß Menstruation bei einigen Frauen Einfluß auf die Stimmung haben kann, daß Schwangerschaft unserem Körper viel abverlangt oder daß die Wechseljahre für viele Frauen eine Zeit sind, in der häufiger als sonst körperliche Beschwerden auftreten können?
Während die Verteidiger der bestehenden ungleichen Machtverteilung sich biologischer Argumente bedienen, neigen wir als Feministinnen dazu, entweder zu leugnen, daß körperliche Unterschiede etwas damit zu tun haben, oder zu behaupten, Menstruation sei eine würdevolle weibliche Erfahrung und die Wechseljahre eine kreative Periode. Mit keiner dieser beiden Reaktionen ― Verherrlichung oder Leugnung ― erreichen wir viel. Und angenommen, Männer wären tatsächlich von Natur aus aggressiver als Frauen, würde das nicht bedeuten, daß wir den Antifeministen recht geben müßten, die sagen, man könne nicht ändern, daß Männer herrschen, weil es nun einmal in ihrer Natur liegt? Natürlich nicht, es gibt vieles in der menschlichen Natur, das zu beherrschen wir gelernt und für das wir die gesellschaftlichen Regeln entworfen haben. Sollten wir zu der Entdeckung kommen, daß dem männlichen Körper eine größere Aggressivität inhärent ist, haben wir als Feministinnen ein Argument, Schutzbestimmungen zu fordern.
Das ist ein Grund, warum ich richtig finde, daß wir uns weiterhin mit den körperlichen Unterschieden auseinandersetzen.
Ein zweiter Grund ist, daß biologische Theorien immer von neuem dazu benutzt werden, die bestehenden Machtverhältnisse zu verteidigen: populäre Theorien à la Knussmann, der Männer als mißglücktes Produkt der menschlichen Evolution beschreibt, als einen Irrtum der Natur.[1] Indem Knussmann Männer als Trottel und Schwächlinge darstellt, die nichts dafür können, spricht er nunmehr die Männer von jeder Verantwortung für die bestehende Situation frei. Daneben kommt ein Blatt wie Panorama mit einer Theorie heraus, die besagt, daß Männer wegen ihres natürlichen Triebes, ihre Gene (die Erbmasse) mittels Fortpflanzung weiterzugeben, vergewaltigen.[2] Das ist die populärwissenschaftliche Version eines neuen biologischen Gedankens, entwickelt aus der Soziobiologie, über die inzwischen einige aufgeregte Kongresse stattgefunden haben.
Immer wieder werden also Theorien entworfen, die die bestehenden oder vermeintlichen Unterschiede zwischen Frauen und Männern der Natur zuschreiben wollen. Und deshalb erscheint es mir auch nicht überflüssig, den Inhalt dieser Theorien, aber auch die politische Funktion, die sie haben, unter die Lupe zu nehmen.
Und dann gibt es für mich noch einen dritten Grund: selbst innerhalb der Frauenbewegung wird noch manchmal von einer »weiblichen« oder einer »männlichen« Natur ausgegangen. Selten wird hierbei eine biologische Erklärung gegeben und längst nicht immer ein theoretischer Unterbau, sondern unausgesprochen angenommen, daß Frauen z. B. wegen ihrer Mutterschaft von Natur aus »friedliebender« seien als Männer, oder daß sie eine sehr besondere und eigene Sexualität hätten oder es ein spezielles weibliches Denken gäbe. Nicht immer hat das die Form von Biologismus, manchmal sieht es eher aus wie Essentialismus, der von der Idee ausgeht, es existiere so etwas wie eine spezielle, angeborene weibliche oder männliche »Essenz«, die wahre Art, könnte man auch sagen. Auch Auffassungen, die nicht ausdrücklich ausgeführt und benannt werden, haben Auswirkungen auf unsere Vorstellungen von der Zukunft und darauf, wie wir diese Zukunft beeinflussen wollen. Es erscheint mir vernünftig, uns die alte Frage von neuem zu stellen: Was wissen wir eigentlich bis jetzt über die vermeintliche oder wahre Art von Frauen und Männern, und inwieweit bestimmt unsere Biologie unser Schicksal?
Um aufzuzeigen, warum ich es wichtig finde, uns mit biologischen Erklärungen für die vermeintlich verschiedene Art von Frauen und Männern auseinanderzusetzen, beginne ich diesen Teil des Buches mit einem Beispiel aus der Geschichte: mit den Argumenten, die im letzten Jahrhundert benutzt wurden, um Frauen von der Universität fernzuhalten. Ich möchte damit beweisen, daß biologische Argumentationen nie vom Himmel fallen, sondern politische Interessen dabei mit eine Rolle spielen. Ich finde es vor allem deshalb wichtig, weil ähnliche Argumentationen jedesmal wieder auftauchen, wenn wir die verzerrten Verhältnisse zwischen Frauen und Männern geradezurücken versuchen. Auch in unserer Zeit kehren biologische Argumente wieder, nun im Mäntelchen einer neuen Wissenschaft, genannt Soziobiologie. Aber bevor wir uns näher der Argumentation der Soziobiologen zuwenden, gehe ich noch einmal auf das ein, was wir eigentlich über die biologischen Unterschiede wissen.
Zunächst die Merkmale, die uns als erstes ins Auge fallen, wenn wir auf das andere Geschlecht treffen: die sogenannten sekundären Merkmale, Körpergröße, Muskelkraft, Stimmhöhe. Dann komme ich zum »eigentlichen« Unterschied, den primären Geschlechtsmerkmalen, das, was uns bei der Geburt zum Mädchen oder Jungen macht. Ferner: Gibt es Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, bei denen nachgewiesen ist, daß sie angeboren sind? Und können wir wirklich so einfach zwischen angeboren und angelernt unterscheiden?
Um dieses weiter auszuarbeiten, erörtere ich drei Fragen: Sind Männer wirklich aggressiver als Frauen? Gibt es so etwas wie eine spezifisch weibliche oder männliche Sexualität? Und inwieweit ist die weibliche Fähigkeit, Mutter zu sein, biologisch bestimmt? Dann kommen wir zur Soziobiologie, zu den Herren, die uns erzählen wollen, daß die bestehenden Verhältnisse zwischen den Geschlechtern nicht zu verändern sind, weil die natürliche Evolution diese für uns festgelegt hat.
Wir betrachten die Gültigkeit der Argumente, die sie benutzen: Die Vergleiche aus dem Tierreich und die mit anderen Völkern und Kulturen. Nicht sehr überzeugend, das ist die Schlußfolgerung. Unsere Anatomie ist nur so lange unser Schicksal, wie die gesellschaftlichen Verhältnisse sie dazu machen.
Die politische Bedeutung biologischer Unterschiede
Beim Volk der Bamenda »wissen« sie, daß Frauen die schwersten Lasten tragen müssen, weil sie die härteste Stirn haben.[3] In China »wissen« sie, daß Frauen im Umgang mit Kindern geduldiger sind.[4] Der Mann im Verkehrsstau in den Niederlanden »weiß«, daß Frauen nicht Auto fahren können. Seine Frau »weiß«, daß Männer kein Blut sehen können und der größte Kerl von einem Mann durch einen kleinen Schnitt in seinen Finger zu Boden gehen kann.
Was über Frauen und Männer gedacht wird, unterscheidet sich von Kultur zu Kultur, von historischer Periode zu historischer Periode, von Ort zu Ort und von Bevölkerungsgruppe zu Bevölkerungsgruppe. Aber alle diese Menschen haben eines miteinander gemeinsam: sie »wissen« ganz sicher, daß Frauen und Männer so sind, von Natur aus. Einige dieser Unterschiede sind nachweisbar, einige sind Vorurteile. Die Grenze dazwischen ist schwer zu ziehen, denn viele Vorurteile haben Einfluß auf das, was Menschen über sich selbst denken, und damit auch darauf, wie sie sich verhalten werden. Wer ganz sicher weiß, daß Frauen nun einmal anders sind als Männer, von Gott so geschaffen oder von Natur so gemacht, braucht nicht nach Erklärungen zu suchen. So entstehen Theorien über Geschlechtsunterschiede auch erst, wenn die Natürlichkeit dieser Unterschiede angezweifelt wird. Eine Theorie, die den Beweis erbringen muß, daß Frauen von Natur aus die Schwächeren sind und Männer die Stärkeren, wird erst populär, sobald große Gruppen von Leuten die »Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen bekämpfen oder sobald es durch unterschiedliche historische Einflüsse in diesem Verhältnis zu einer Verschiebung kommt. Auch in dieser Zeit ― inmitten einer aufblühenden Frauenbewegung ― tauchen wieder Leute auf, die beweisen zu können behaupten, daß die bestehende Ungleichheit zwischen den Geschlechtern eine Folge unserer Biologie ist, beziehungsweise, wenn diese Ungleichheit schon nicht direkt von unserem Körper verursacht wird, dann doch zumindest durch die Evolution. Männer haben noch immer die Herrschaft, weil sie in der menschlichen Geschichte als Jäger angefangen haben, und Frauen sind noch immer Mütter, weil sie das eben immer gewesen sind.
Wir können nun sowohl den Inhalt der Theorien betrachten als auch deren gesellschaftliche Anwendung. Die ihre Erkenntnisse gern als neutrale Wahrheit verkündenden Biologisten haben dabei ― wie sich bei näherem Hinsehen zeigt ― politische Nebengedanken gehabt, sie wollen nämlich verhindern, daß Frauen aus der ihnen zugeschriebenen Rolle heraustreten.[5] Der Inhalt dieser Theorien verändert sich zwar im Laufe der Zeit, denn vieles von dem, was früher behauptet wurde, ist inzwischen wissenschaftlich widerlegt. Aber das bedeutet nicht, daß die Widerstände gegen die Veränderungen und gegen jene Gruppen, die diese Veränderungen propagieren, verschwunden sind. Die Inhalte verschieben sich für gewöhnlich nur und passen sich ― wie wir sehen werden ― den Widerständen an.
Anhänger einer deterministischen Denkweise, die von festgelegten, von vornherein bestimmten und damit erblichen Eigenschaften ausgehen, behaupten oft, sie seien keine Verteidiger der gesellschaftlichen Ungleichheit. Die an der Oberfläche liegende Botschaft ist oft: Frauen und Männer sind anders, aber gleichwertig. Das klingt sehr freundlich, und Anhänger dieser Auffassung werden nicht immer verstehen, warum sich Teile der Frauenbewegung gegen dieses »verschieden, aber gleich« wehren. Wollen diese Frauen denn genauso wie Männer werden? Müssen alle Unterschiede ausgetrieben werden, bis wir ein uniformer Einheitsbrei sind? Sind diese Frauen so neurotisch, daß sie die Galanterie, die zum kleinen Unterschied gehört, ganz weit von sich weisen wollen?
Wer aber zwischen den Zeilen liest und die darin verborgene Botschaft entziffert, stellt fest, daß vom »verschieden, aber gleichwertig« selten etwas übrig bleibt. Die Männern zugeschriebenen Eigenschaften werden höher bewertet als die der Frauen, ganz gleich, hinter wieviel verbaler Ehrerbietung für die weibliche Natur das auch versteckt sein mag.[6] Die »Aufgabe« der Männer, ihr Auftreten in der Außenwelt wird als Leistung angesehen und dementsprechend belohnt. Die »Aufgabe« von Frauen, die Mutterschaft, ist keine Arbeit, keine Leistung, sondern eine biologische Selbstverständlichkeit, für die man nicht besonders intelligent zu sein und auch keine Belohnung zu erwarten braucht.
Männer machen, Frauen sind.
Später in diesem Buch komme ich noch einmal auf die ungleiche Bewertung der als typisch weiblich und typisch männlich angesehenen Eigenschaften zurück. Zuvor jedoch möchte ich mit einem Beispiel aus dem vorigen Jahrhundert aufzeigen, daß die biologische Verteidigung der Ungleichheit zwischen Männern und Frauen nicht einfach vom Himmel fällt.
2. Geschichte
Gehirn und Fortpflanzungsfunktion
Zwischen 1870 und 1880 öffneten sich in England die ersten Universitäten für weibliche Studenten.[7] Der Widerstand gegen die Zulassung von Frauen, vor allem seitens der gelehrten Herren, war groß. Intellektuelle Arbeit, sagten sie, sei nicht nur für die Frauen schädlich, sondern auch für die Nachkommen. Eine zu große intellektuelle Belastung (wie ein Universitätsstudium) mache Frauen steril, und sie seien nicht mehr in der Lage, ihre Kinder zu stillen. Die Menstruation gerate durcheinander, die Entbindung werde schwerer. Die Energie, die bei Frauen sonst in ihre Fortpflanzungsorgane gehe, werde nun durch das Gehirn ihrer natürlichen Funktion entzogen. Und somit müsse man Frauen auf die Gefahr hinweisen, daß ein Universitätsstudium für sie zu einer lebensgefährlichen Tätigkeit werden könne.[8]
Natürlich war die Unsinnigkeit dieser Argumentation nicht schwer zu beweisen. Frauen gingen zur Universität, ohne daß sie Opfer nervöser Erkrankungen wurden oder ihre Gebärmutter schrumpfte. Im Gegenteil stellte sich heraus, daß gerade die Frauen aus der Mittelschicht, die zu Hause zu bleiben und Handarbeiten zu machen gezwungen waren, manchmal unter Überspanntheit und Depressionen litten und sich wegen ihrer Migräne zu Bett begeben mußten.[9]
Einige Verteidiger obenstehender Theorie waren klug genug, nicht zu behaupten, ein Studium mache Frauen krank. Frauen sollten wählen können: Kinder bekommen oder studieren. Ihre Absicht sei nur, diese Frauen auf die Folgen ihrer Wahl hinzuweisen. So schreibt ein Dr. Edward H. Clark 1873 in USA,[10] daß weniger weiße amerikanische Frauen Kinder bekämen. Amerika liefe also Gefahr, von einer Horde Imigrantenkinder überspült zu werden. Und: Frauen müßten damit rechnen, ihren Marktwert als geeignete Ehepartnerinnen zu schmälern, was wiederum zur Folge hätte, daß amerikanische Männer sich Frauen ausländischer Abstammung aussuchten. Obendrein würden also noch mehr Kinder aus den unteren Schichten als aus der Schicht der studierenden Frauen geboren, infolgedessen werde das Land nach und nach von minderwertigen Menschen bevölkert. Eine Art »rassischer« Selbstmord also, diese Studiererei von Frauen.
Nicht alle damaligen Vorkämpferinnen für Frauenrechte haben sich gegen die rassistischen und nationalistischen Untertöne dieses biologischen Arguments zur Wehr gesetzt.[11] Einige durchschauten allerdings den Klassismus,[12] denn Clarke verwahrte sich ja lediglich gegen das Eindringen der Frauen besserer Stände in Männerpositionen und sprach nicht von der Teilnahme von Frauen der Arbeiterklasse an der Schwerstarbeit in Fabriken und Werkstätten. Clarke ― so zeigte es sich ― war nicht über das Los der Frauen besorgt, sondern vor allem bemüht, Frauen aus den männlichen Bollwerken der Mittelschicht herauszuhalten.[13]
Ausschluß von Frauen
Wie altbacken und lächerlich die Theorie von der schrumpfenden Gebärmutter heute auch klingen mag, noch immer und stets von neuem wird die Biologie und die Fortpflanzungsfunktion von Frauen als Argument benutzt, sie von bestimmten Berufen auszuschließen. Manchmal direkt, manchmal über den »Arbeitsschutz«. Zum Beispiel im Kleinen, wenn behauptet wird, daß Frauen nicht bei der Polizei arbeiten können, weil sie zu kleine Hände für die Dienstpistole hätten. Das mag natürlich stimmen, aber es zeigt nur, daß Pistolen zuerst von Männern für Männerhände konstruiert wurden. Es liegt dann nicht an der Biologie der Frauen, sondern an der Tatsache, daß bei vielen Arbeiten und beim Entwerfen von Werkzeugen selbstverständlich von Männern als Norm ausgegangen wird. Und selbst wenn man diese Pistolen nicht verändern könnte, steht dennoch fest, daß einige Männer kleinere Hände haben als manche Frauen. Es wäre kein Grund, alle Frauen auszuschließen.
Stück für Stück müssen solche Argumente der Praxis weichen, aber sie tauchen irgendwo anders immer wieder auf. Zum Beispiel bei Berufen, die mit radioaktiver Strahlung zu tun haben.[14] Ist es denn falsch, Frauen gegen Strahlung zu schützen, gegen das Risiko eines mißgebildeten oder totgeborenen Kindes? Natürlich nicht. Aber wie wenig derartige Argumente mit Biologie zu tun haben und wieviel mit Politik, zeigt sich schon, wenn wir bedenken, daß dieselben Industrien, die Frauen ausschließen, ihren Abfall regelmäßig so in die Gegend werfen, daß noch viel mehr mißgebildete oder totgeborene Kinder die Folge sind. Auf den Schaden, den Männer sich zuziehen können, wird dabei nicht geachtet. Inzwischen hat sich nämlich herausgestellt, daß auch die Fortpflanzungsorgane von Männern durch eine Strahlenüberdosis geschädigt werden können, was zu Fehlgeburten und Mißbildungen führt.[15] Und ferner wird deutlich, daß mit dem Ausschluß von Frauen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: Die sich durch weibliche Konkurrenz bedroht fühlenden Männer werden zufriedengestellt, und es brauchen keine teuren Maßnahmen ergriffen zu werden, um die Arbeit für alle sicherer zu machen.
Im Bereich der Nachtarbeit spielt sich Ähnliches ab. Bestimmte Arten schwerer Arbeit, wie nächtlicher Schichtdienst an den Hochöfen, sind ausschließlich Männerarbeit. Frauen werden wegen der Arbeitsschutzvorschriften nicht zugelassen. In den vergangenen Jahren wurde erneut darüber diskutiert Liegt es im Interesse von Frauen, gegen schwere Arbeit beschützt zu werden, oder ist es nun gerade emanzipatorisch, davon auszugehen, daß Frauen nicht schwächer sind und selbst bestimmen dürfen, welche Arbeit sie tun möchten? Diese Frage spielte auch in der Frauenbewegung des letzten Jahrhunderts eine Rolle. Auf der einen Seite sagten Frauen, die Arbeitspositionen von Frauen blieben geschwächt, wenn wir forderten, daß Frauen wegen ihrer Biologie vor schwerer Arbeit geschützt werden müßten. Auf der anderen Seite sagten Frauen, im großen und ganzen werde es für Frauen nicht befreiend sein, zusätzlich zum Haushalt auch noch die Arbeit zu leisten, die selbst Männer oft kaputt mache.
Daß es auch hierbei nicht allein um biologische Argumente geht, zeigt die Tatsache, daß die Diskussion über Nachtarbeit genau dann wieder in Gang gesetzt wird, wenn für bestimmte Arbeiten zu wenig Männer zu bekommen sind. Viele Männer haben gemerkt, wie verzehrend Schichtdienst durch den Eingriff in den normalen Körperrhythmus von Essen, Schlafen und Arbeiten sein kann. Und auf einmal wird es emanzipatorisch genannt, Frauen für diese Arbeiten zuzulassen. Wie sich weiter zeigt, haben die Nachtarbeitsschutzbestimmungen vor allem bei sogenannter »Männerarbeit« gegolten. Ein großer Teil der Nachtarbeit spielt sich ohnehin im Dienstleistungsbereich ab, beispielsweise in Krankenhäusern, und dort ist es nie fraglich gewesen, ob es für Frauen schädlich sein könnte, nachts zu arbeiten. Und auch in anderen typischen Frauenberufen gelten die biologischen Argumente nicht.[16]
Insgesamt zeigt sich also, daß die Argumente von einer zu schützenden weiblichen Biologie häufiger dazu dienten, Industrielle und Arbeitspositionen von Männern zu schützen, als die Interessen von Frauen zu sichern.
Auch heutzutage verändert sich viel. Die Zahl der Frauen, die eine eigene Anstellung haben oder haben möchten, ist größer als je zuvor. Fünfzehn Jahre Frauenbewegung haben ihre Wirkung gezeigt: Frauen fordern einen proportionalen Anteil an der Macht. Und siehe da: schon haben wir es wieder mit den Theorien zu tun, die uns weismachen wollen, es sei unnatürlich, die Aufteilung der Bevölkerung in Ernährer und Hausfrauen verändern zu wollen. Unnatürlich und schädlich für die Fortpflanzung. Aber bevor wir zu den neuen Verteidigern der patriarcha-len Ordnung kommen, betrachten wir zunächst die Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Was wissen wir nun darüber?
3. Unterschiede zwischen den Geschlechtern
Sekundäre Geschlechtsmerkmale
Wenn Kinder lernen, Menschen in Männchen und Weibchen einzuteilen, schauen sie nicht zuerst auf die Geschlechtsteile. Sie nehmen eine Gestalt wahr, Kleidung, Behaarung, Größe, Stimme, und versuchen festzustellen, um was es sich handelt. Männer und Frauen unterscheiden sich körperlich voneinander, im allgemeinen beispielsweise in Stimmhöhe, Körpergröße, Körperkraft.
Wo es biologische Unterschiede gibt, werden diese in der Praxis häufig verstärkt und weiterentwickelt. So haben Frauen im Verhältnis dünnere und kürzere Stimmbänder als Männer, und ihre Stimme ist damit höher. Aber es hat sich herausgestellt, daß Männer dazu neigen, ihre Stimme tiefer klingen zu lassen, und Frauen umgekehrt dazu, höher zu sprechen. Die gemessenen Unterschiede sind ― wie sich gezeigt hat ― nicht allein auf die Maße der Stimmbänder zurückzuführen.[17] Hohe Stimmen bei Männern scheinen als unattraktiv zu gelten, unmännlich, genauso wie kräftige Frauenstimmen als unweiblich empfunden werden. Und so sind wir es gewohnt, diese biologischen Unterschiede zu übertreiben.
Dasselbe gilt für die Körperkraft. Männer verfügen durchschnittlich über mehr Körperkraft als Frauen. Das ist auch ein Grund, warum die meisten Wettkampfsportarten nicht gemischt sind. Aber wir haben kaum eine Vorstellung davon, wie groß der wirkliche biologische Unterschied ist, weil Körperkraft auch von Ernährung, Training und Bewegungsfreiheit abhängig ist. Würde von Mädchen erwartet, daß sie viel draußen herumtoben und Sport ebenso interessant fänden wie Jungen, wären die Unterschiede in der Körperkraft im Durchschnitt auf alle Fälle geringer.
Ihre Bewegungsfreiheit wird aber eingeschränkt durch die Erwartung einer weiblichen Körpersprache (Knie zusammenhalten, wenn du sitzt, kleine Schritte machen, nicht mit zwei Schritten die Treppe hochstürmen und nicht trampeln) und durch einengende Kleidung (enge Röcke, hochhackige Schuhe und Frisuren, bei denen du dich kaum getraut hast, deinen Kopf zu bewegen, waren in meiner Jugendzeit »in«).
Unsere geringe Körperkraft hat übrigens nicht zu dem logischen Schluß geführt, daß Männer sich besser eignen als Frauen, täglich Kinder und Einkäufe zu schleppen, und sie hat in vielen Kulturen auch nicht verhindert, daß vor allem Frauen die schweren Lasten tragen müssen.[18]
Dann die Körpergröße: Männer sind im Durchschnitt größer als Frauen. Aber in unserer Kultur betrachten wir das nicht als einen relativen Unterschied, sondern als einen absoluten. Heterosexuelle Paarbildung findet so statt, daß der Mann größer ist als die Frau. Zum Leidwesen heterosexueller kleiner Männer und großer Frauen, die weniger für sie geeignete Partner finden. Ein Paar, bei dem die Frau größer ist als der Mann, ist das Thema zahlloser Witze. Aus vielen Biographien kleiner Männer geht hervor, daß sie Zeit ihres Lebens alles mögliche unternommen haben, um auf andere Weise ― Geld, Status ― doch noch das Bild der Männlichkeit zu erfüllen. Als ich heiratete, wurde ich gebeten, mich für das Hochzeitsfoto eine Stufe tiefer zu stellen als mein Ehemann, damit ich anmutig zu ihm aufschauen konnte. (Damals habe ich das noch gemacht.) Der Unterschied in Zentimetern reichte für das Idealbild nicht aus. Genauso wie bei Lady Di, die zu flachen Absätzen verdammt ist, damit Prinz Charles sie ausreichend überragt.
Von einigen nachweisbaren körperlichen Unterschieden wissen wir noch nicht, in welchem Maße die Umgebung sie beeinflußt. Bei den meisten Völkern gibt es zwischen Frauen und Männern zwar einen Unterschied in der Körpergröße, doch ist der Unterschied nicht überall gleich groß.[19] Ob es dafür andere körperliche Gründe gibt, wissen wir nicht. Wir wissen aber, daß die Menschen im Westen durch ihre bessere Ernährung größer werden, und wir wissen auch, daß Frauen in vielen Gesellschaften schlechteres Essen als Männer bekommen. Das stellte sich zum Beispiel im letzten Jahrhundert heraus. TBC wurde als spezielle Frauenkrankheit angesehen, bis die Ursache herausgefunden wurde: Mangelhafte Nahrung ― das Beste, Fleisch oder Eier, ging an die Söhne und Väter, die Frauen begnügten sich mit dem, was übrig blieb.
Eindeutig ist aber, daß selbst bei einfachsten, ins Auge fallenden körperlichen Unterschieden wie Stimme, Körperkraft und Körpergröße von einer Wechselwirkung zwischen Biologie und Umwelt gesprochen werden kann.
Der eigentliche Unterschied zwischen den Geschlechtern
Nun zum eigentlichen Unterschied zwischen den Geschlechtern, der bestimmt, ob nach der Geburt gesagt wird, daß es ein Junge oder ein Mädchen ist. Bis zum dritten Schwangerschaftsmonat ist nicht erkennbar, ob die Frucht, das erwartete Baby, männlich oder weiblich werden wird. Es gibt eine Genitalöffnung, die bei Frauen die vaginale Öffnung bilden und bei Männern zuwachsen wird. Es gibt einen Geschlechtshügel, der bei Frauen zur Klitoris und Männern zum Penis werden wird, den Flügel umgibt Gewebe, das bei Männern der Hodensack wird und bei Frauen zu unrecht Schamlippen heißen wird.
Bei der Geburt sind im Körper der Mädchen noch männliche Überbleibsel zu finden und bei Jungen noch weibliche, wie zum Beispiel die Vorsteherdrüse ― ein Rudiment der Gebärmutter. Unser »Grundplan« weist also weniger Abweichungen auf, als es auf den ersten Blick scheint.[20]
Die Entwicklung zu weiblichen und später zu männlichen Geschlechtsmerkmalen ist in unseren Chromosomen vorprogrammiert. Jedes Kind erhält einen Satz Chromosomen vom biologischen Vater und einen Satz von der biologischen Mutter. Eines der dreiundzwanzig Chromosomen ist das Geschlechtschromosom, das bestimmt, ob die Entwicklung der Frucht den männlichen oder weiblichen Weg nimmt. Alle Chromosomen haben eine X-Form, außer dem entscheidenden dreiundzwanzigsten.
Seine Form ist von der Samenzelle des Vaters abhängig. Ist diese S eine Y-Samenzelle, so wird das dreiundzwanzigste Chromosom ein XY, und die Programmierung wird in die Richtung eines Jungen gesteuert. Ist es ein X, wird das bestimmte, ausschlaggebende Chromosom XX und somit ein Mädchen.
Das Y-Chromosom führt dazu, daß die embryonale Geschlechtsdrüse Hormone auszuscheiden beginnt, durch die das Gehirn programmiert wird, die Entwicklung der Frucht in eine männliche Richtung zu steuern. Treten diese Hormone nicht auf, entwickelt sich die Frucht in eine weibliche Form. Die Grundform ist also weiblich, durch Hinzufügen bestimmter Hormone zu einem bestimmten Zeitpunkt wird sie männlich.[21] Die Entwicklung der Frucht in eine männliche Richtung schafft nicht nur biologische »Vorteile« wie größere Körperkraft zum Beispiel. Einige erbliche Krankheiten wie die Bluterkrankheit und Farbblindheit treten häufiger bei Männern auf.[22] Männer sind anfälliger als Frauen, schon vom Moment der Zeugung an. Es werden mehr männliche als weibliche Föten in spontanen Aborten abgestoßen. Es werden mehr Jungenbabies als Mädchenbabies geboren (ungefähr 106 zu 100), aber bei der Geburt sterben mehr Jungen und während des ersten Lebensjahres stirbt ein Drittel mehr Jungen an Infektionskrankheiten. Auch auf dem weiteren Lebensweg sterben mehr Männer als Frauen in jeder Lebensphase, bis es einen so großen Frauenüberschuß gibt, daß im Verhältnis gesehen mehr Frauen sterben. Frauen werden im Durchschnitt älter als Männer.[23]
Nun ist es nicht möglich, die Sterblichkeit allein den biologischen Faktoren zuzuschreiben. Wenn sich herausstellt, daß Jungen häufiger durch Unfälle ums Leben kommen, dann womöglich deshalb, weil sie lebhafter sind und mehr Unfälle haben. Es kann auch sein, daß sie mehr Freiraum erhalten und weniger vor Gefahren geschützt werden. In Ländern, in denen die beste Nahrung den als wertvoller angesehenen Jungen zukommt, kann die Sterbeziffer ganz anders aussehen.[24] Und bei der Sterblichkeit von Erwachsenen spielt auch der Lebensstil eine Rolle. Männer trinken und rauchen mehr und haben eher Herz- und Gefäßerkrankungen.
Jetzt, da Frauen stärker außer Haus arbeiten und auch mehr rauchen und trinken, ist die Kluft zwischen der durchschnittlichen Lebenserwartung von Männern und Frauen schon kleiner geworden. Dennoch scheint es, als seien Frauen kräftiger, auch wenn sie das gleiche Leben führen und die gleiche Nahrung erhalten wie Männer. Das haben auch andere Untersuchungen gezeigt, zum Beispiel in Klöstern.[25] Und selbst wenn Frauen genausoviel rauchen wie Männer, ist die Möglichkeit, daß sie an Lungenkrebs sterben, bei ihnen geringer.[26]
Andere Einflüsse können dabei mit im Spiel sein. Es mag sein, daß Männer weniger schnell einen Arzt aufsuchen und deshalb Krankheiten länger mit sich herumschleppen. Obwohl das der Erfahrung widerspricht, da Frauen sich weniger schnell ins Bett legen, weil nicht immer jemand da ist, der für sie sorgt. Männer und Frauen lernen, mit ihren Emotionen unterschiedlich umzugehen (Frauen dürfen weinen, Männer dürfen mehr Aggressionen äußern). Auch das hat Einfluß auf die Unterschiede in den Krankheitsmustern.
Hormone oder Erziehung
Wenn ein Kind geboren wird, bei dem Zweifel bestehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist, wird meist schnell beschlossen, das Kind zu einem Jungen oder einem Mädchen zu machen. Oft wird es ein Mädchen, weil es leichter ist, operativ eine Vagina herzustellen. Wenn aber die Klitoris groß genug ist, kann auch entschieden werden, aus dem Kind einen Jungen zu machen. Weil das Nicht-Besitzen einer eindeutigen Geschlechtsidentität in unserer Gesellschaft als Makel angesehen wird, hören wir davon wenig, und oft bekommen die Eltern den Auftrag, das Kind vor allem ganz strikt in Richtung des gewählten Geschlechts aufzuziehen und dem Kind selbst nichts zu sagen.[27]
Durch die Untersuchung jener Kinder, die mit einer Geschlechtsidentität erzogen wurden, welche nicht mit ihren Chromosomen oder Geschlechtsdrüsen übereinstimmte, wissen wir mehr über den Einfluß der Erziehung oder der Hormone auf späteres männliches oder weibliches Verhalten. Hauptsächlich sind das die Untersuchungen von Money und Ehrhardt.[28]
John Money und Anke Ehrhardt beschreiben eine Untersuchung,[29] in der fünfundzwanzig Mädchen vorkommen, die als Frucht vermännlicht waren. Diese Mädchen waren mit inneren weiblichen Geschlechtsmerkmalen, aber mit einem Geschlecht geboren worden, das nach außen dem eines Jungen glich. Diese Mädchen wurden operiert, damit sie stärker Mädchen glichen, und bekamen später Hormonbehandlungen, die dafür sorgen sollten, daß sie keine männlichen Merkmale wie zum Beispiel Bartwuchs aufwiesen.
Money und Ehrhardt verglichen diese Mädchen mit einer Gruppe normaler Mädchen desselben Alters und gesellschaftlichen Hintergrunds. Die Erzählungen der Mütter ergaben, daß sich die Mädchen mit dem Zuviel männlicher Hormone jungenhafter verhielten, Jungenspiele lieber mochten, Puppen und kleine Kinder weniger wichtig fanden und sich später mehr für eine berufliche Laufbahn als für eine Heirat begeisterten. Außerdem hatten sie einen höheren Intelligenzquotienten, vor allem dies erregte Aufmerksamkeit. Sollte also doch ein Zusammenhang zwischen Geschlechtshormonen und intellektuellen Fähigkeiten bestehen?
Spätere Untersuchungen sprachen dagegen, denn nirgends sonst wurde ein Zusammenhang zwischen Intelligenz und männlichen Hormonen festgestellt. Die ursprüngliche Schlußfolgerung, so zeigte sich, basierte vor allem auf der Tatsache, daß diese »männlichen« Mädchen hauptsächlich aus Familien mit hohen Intelligenzquotienten stammten und in denen sich die Mütter teuren Hormonbehandlungen unterzogen hatten. Als später auch die Schwestern der Mädchen untersucht wurden, stellte sich heraus, daß diese einen ebenso hohen Intelligenzquotienten hatten.[30] Aber auch die anderen Untersuchungsergebnisse wurden später angegriffen, u. a. von Maccoby und Jacklin.[31] Denn inzwischen wissen wir, welche Rolle die Erwartungen der Eltern bei der Entwicklung von Kindern zu Jungen oder Mädchen spielen.[32] Nicht die Forscher selbst hatten die Kinder untersucht, sie verließen sich auf die Erzählungen der Mütter, die schließlich wußten, daß bei ihren Mädchen die Möglichkeit bestand, jungenhafter zu werden.
Ein anderer Fall: Untersuchungsergebnisse, die es sonst nicht gegeben hätte, lieferte ein Unfall, an dem zwei Jungen beteiligt waren. Bei den Jungen handelte es sich um eineiige Zwillinge. Als die beiden sieben Monate alt waren, wurden sie beschnitten, d. h. die Vorhaut ihres Penis wurde weggenommen. Bei diesem Eingriff ging etwas schief, und einer der Jungen verlor seinen Penis. In Absprache mit einem plastischen Chirurgen wurde beschlossen, den Jungen als Mädchen aufzuziehen. Als es siebzehn Monate alt war, wurde der Name geändert, bekam »sie« andere Kleider und eine andere Frisur und in ihrem zweiten Lebensjahr wurde sie operiert, um sie so gut wie möglich einem Mädchen anzugleichen. Als der Zwilling viereinhalb Jahre alt war, berichtete die Mutter, daß er ein richtiges Mädchen geworden sei: Ich habe noch nie ein so artiges Mädchen gesehen. Sie ist so stolz auf sich, wenn sie ein neues Kleid anzieht oder ich ihr Haar frisiere, sie findet es herrlich, wenn ich ihr Locken mache, sie könnte glatt den ganzen Tag unter der Trockenhaube sitzen.[33]
Aus allen bis jetzt angestellten Untersuchungen geht hervor, daß aus Kindern Mädchen werden, wenn die Eltern glauben, daß es ein Mädchen ist, ganz gleich, ob die Chromosomen und der hormonale Haushalt eines solchen Kindes damit übereinstimmen. Dasselbe gilt für Jungen. Aber ist es denn wirklich nicht möglich, Unterschiede nachzuweisen, die nicht durch Erziehung oder Erwartung der Umwelt und Eltern zu erklären sind?
Übereinstimmungen und Unterschiede
Die wichtigste und ausführlichste Arbeit auf dem Gebiet der Erforschung von Geschlechtsunterschieden ist die bereits genannte von Eleanor Maccoby und Carol Jacklin. Sie trugen eine große Anzahl Arbeiten zusammen, die in Teilbereichen untersuchten, ob Geschlechtsunterschiede wirklich nachgewiesen wurden. Zum Beispiel intellektuelle Fähigkeit, Temperament; Aspekte wie: sind Mädchen wirklich sozialer als Jungen und Jungen wirklich technisch begabter als Mädchen.
Viele der Untersuchungen widersprechen sich hin und wieder. Es muß also auch die Untersuchungsmethode betrachtet werden. Einige Forscher behaupten beispielsweise, Aggression gemessen zu haben, während sie eigentlich von Beweglichkeit, vom Spielen und Sich-Balgen sprechen. Nach der Auswertung hunderter solcher Untersuchungen stellte sich heraus, daß lediglich drei Eigenschaften übrig bleiben, die mehr oder minder nachweisbar sind: 1. Mädchen haben eine höher entwickelte verbale Fähigkeit, 2. Jungen haben größeres räumliches Sehvermögen und 3. Jungen sind im Durchschnitt aggressiver.[34] Bei den ersten beiden Eigenschaften spielten vielleicht Lernprozesse eine Rolle. Doch ist durchaus möglich, daß es sich hierbei um wirkliche biologische Unterschiede handelt.[35]
Vor allem in der modernen Gehirnforschung gibt es hierzu viele Untersuchungen. Außer den Übereinstimmungen zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen gibt es auch Unterschiede, die vor der Geburt entstehen, unter Einfluß der Hormone. Bei Frauen scheint die Verbindung zwischen rechter und linker Gehirnhälfte besser zu funktionieren als bei Männern. So bedeutet die Tatsache, daß viele unserer menschlichen Funktionen wie Geschmack, Gedächtnis, Sprache, einen bestimmten Platz im Gehirn haben, daß z. B. bei einer Schädigung des Gehirns im Sprechzentrum Frauen mit einem anderen Teil ihres Gehirns diese Funktion leichter wieder erlernen können als Männer. Möglicherweise treten bei der Erforschung der unterschiedlichen Einteilung der Gehirne weitere Unterschiede zutage.[36]
Wenn wir einmal annehmen, das räumliche Sehen sei tatsächlich angeboren, d. h. im Gehirn festgelegt, müssen wir ― um nur ein Beispiel zu nennen ― uns darüber im Klaren sein, daß es sich hier um einen relativen Unterschied, um einen Durchschnittswert handelt. D. h. auf der einen Seite der Skala gibt es eine Gruppe Jungen, die über ein größeres räumliches Sehvermögen verfügt als alle Mädchen zusammen, und auf der anderen Seite der Skala eine Gruppe von Mädchen, die über ein geringeres räumliches Sehvermögen verfügt als alle Jungen zusammen. Aber die meisten Jungen und Mädchen befinden sich im Mittelfeld. Und selbst wenn im Durchschnitt ein Unterschied nachgewiesen werden sollte, bedeutet dies nicht, daß Mädchen über keinerlei räumliches Sehvermögen verfügen, genauso wenig wie die größere verbale Fähigkeit von Mädchen bedeutet, daß Jungen nicht sprechen könnten.
Mit dem räumlichen Sehvermögen ist schon häufiger erklärt worden, warum es in einigen Berufen wie zum Beispiel dem des Architekten oder Ingenieurs so wenig Frauen gibt. Aber obwohl es dabei mit eine Rolle spielen kann, reicht die Tatsache allein nicht aus, den bestehenden Unterschied vollständig zu erklären. Kelly [37] stellte eine Rechnung auf und kam zu folgendem Schluß: Sollte räumliches Sehvermögen tatsächlich der ausschlaggebende Faktor sein, bedeutet dies, daß auf drei Männer zwei Frauen kommen müßten, die Ingenieur werden. Tatsächlich aber ist das in England nach Schätzungen nur eine von hundert. Es müssen bei diesem Selektionsprozeß also andere Faktoren außer natürlicher Veranlagung mitspielen. Für die Verfechter der bestehenden Gesellschaftsordnung ist Veranlagung ein Argument, die Unterschiede so aufrechtzuerhalten. Aber genauso gut könnte man sagen, Jungen müßten, wenn sie mehr Mühe mit der verbalen Ausdrucksfähigkeit haben, darin also besonders ausgebildet werden, und Mädchen müßte im Unterricht bei der Entwicklung räumlichen Sehens mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Eine große Schwierigkeit beim Zusammentragen dieses Materials besteht darin, daß sich alle Untersuchungen fast ausnahmslos auf die Unterschiede zwischen Frauen und Männern beziehen. In wenigen Untersuchungen ― so zeigt sich ― geht es um Übereinstimmungen. Während Unterschiede den Anstoß zu weiterer Forschung geben und Anlaß vieler Spekulationen über die Ursachen sind, werden die meisten Übereinstimmungen nicht interessant genug gefunden, um sie weiter zu untersuchen. Sofern Untersuchungen die ursprünglichen Unterschiede beweisen sollten, diese aber nicht fanden, wurden sie oftmals nicht veröffentlicht, da sie als fehlgeschlagen galten. Und so kommt es, daß im vorliegenden Material der Schwerpunkt beinahe automatisch auf den Unterschieden liegt.[38]
4. Die Fragen
Männliche Aggression
Es läßt sich nicht leugnen, daß Männer das aggressivere Geschlecht sind. Überall, wo die Rede von institutionalisierter Gewalt ist, sei es nun im Namen der Gerechtigkeit, des Vaterlandes oder der Aufrechterhaltung der Ordnung, handelt es sich um eine überwältigende Mehrheit von Männern, siehe Armee und Polizei. Auch individuelle Aggressionen sehen wir bei einer großen Mehrheit von Männern. Und die hinreichend bekannten Statistiken männlicher Verbrechen können wir dank der Frauenbewegung nun durch die Statistiken häuslicher Gewaltakte und Gewalt in Privatbeziehungen ergänzen. Es kommt zwar vor, daß Frauen sich körperlich aggressiv gegen Männer verhalten, aber aus Untersuchungen geht hervor, daß das Gegenteil viel normaler ist.[39]
Die landläufige Meinung ist, daß Männer nun einmal die aggressivere Tierart sind, sowohl Männer als auch Frauen meinen das. Frauen wird in diesem Gedankengang manchmal eine andere Art von Aggression zugeschrieben. Wo Männer häufiger ihre Fäuste gebrauchen, hätten Frauen eine schärfere Zunge und seien öfter »zickig«.
Ein Großteil feministischer Literatur hat dieses stereotype Denken in den vergangenen Jahren in Zweifel gezogen. Daß Männer sich aggressiver verhalten, ist offenkundig und von der Frauenbewegung viel beklagt worden, ist aber damit gesagt, diese Aggression sei angeboren? Die meisten Feministinnen halten dieses Verhalten für eine Folge der bestehenden Machtverhältnisse und für angelernt. (Eine kleine Gruppe, zumeist radikale Feministinnen, ist übrigens schon der Meinung, daß Männer von Natur aus aggressiver sind als Frauen.)
Demgegenüber hat es von Verfechtern der bestehenden Gesellschaftsordnung eine Literaturflut gegeben, die männliche Hormone als Aggressionsursache betrachtet, woran man nichts ändern kann. Für Antifeministinnen ein Grund, die Dominanz der Männer zu akzeptieren. Für jene Feministinnen, die ebenfalls meinen, daß Männer »nun einmal so sind«, ein Grund, sie zu bekämpfen.
Was ist davon untersucht? Maccoby und Jacklin halten die größere Aggression von Jungen für einen der wenigen nachzuweisenden Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen, darüber hinaus sei dieser nicht erst in der Pubertät nachweisbar, wie zum Beispiel verbale Fähigkeiten oder räumliches Sehen, sondern schon viel früher, bereits bei zwei- bis dreijährigen Kindern.[40] Auch die verbale Aggression ist erforscht. Dort gibt es ― wie sich herausstellte ― keinen Unterschied. Die sprichwörtliche »Zickigkeit« von Mädchen hat erwiesenermaßen etwas mit der Bewertung zu tun. Bei Mädchen wird es schlimmer gefunden als bei Jungen, wenn sie schimpfen.
Es gibt Kritik an Maccoby und Jacklin. Spätere Forscher nehmen an, aggressives Verhalten sei stark zeitgebunden, und es gibt auch Hinweise, daß mit der Verschiebung der Frauen- und Männerrollen« Aggression für Frauen akzeptabler wird. Die Fähigkeit von Frauen, aggressiv zu sein, werde zu einem großen Teil durch die Umstände bestimmt. Ein anderer Forscher nimmt an, Frauen könnten genauso aggressiv sein wie Männer, wenn Aggression nicht von der größeren Angst blockiert werden würde.[41] Aber es gibt noch zu wenig Untersuchungen darüber, um zu der Flut von Untersuchungen aus den sechziger Jahren, die die größere Aggression von Männern bestätigt, ein Gegengewicht zu bilden.
Doch wie erklären wir diese Aggression? Maccoby und Jacklin und zahlreiche andere neigen dazu, sie biologisch, mit männlichen Hormonen,[42] zu erklären. Dabei werden häufig Untersuchungsergebnisse aus der Tierwelt herangezogen, jene Beispiele, bei denen Männchen aggressiver sind als Weibchen. Bei den Männern wird aggressives Verhalten an das Hormon Testosteron gekoppelt. Das kann nachgewiesen werden, wenn Männchen, z. B. Stiere, kastriert und unverkennbar zahmer werden.[43]
Wie überzeugend ist dieses Argument? In erster Linie fällt auf, daß die Anhänger dieser Theorie vor allem Tierbeispiele benutzen, bei denen männliche Aggression offenkundig ist. Aber es gibt noch viel mehr Abweichungen, als manchmal angenommen wird. Bei einigen Tieren ist Aggression lediglich in der Paarungszeit anzutreffen, z. B. bei Fischen und Vögeln, wenn diese ihr Gebiet verteidigen müssen. Viele Weibchen zeigen eine an den Zyklus gebundene Aggression: So sind Löwinnen, die Junge haben, für ihre Aggression berüchtigt, und die Hausmaus, die Junge hat, ist ebenso aggressiv wie männliche Mäuse. Es gibt auch Tierarten, bei denen die Weibchen ständig aggressiver sind als die Männchen.[44]
Daneben zeigt sich, daß einige Tiere unter anderen als den natürlichen Umständen aggressiv werden: weibliche Hausmäuse können auf andere Mäuse aggressiv reagieren, wenn sie eine Zeitlang isoliert waren. Es ist kein Zufall, daß die Anhänger einer inhärenten Aggression vorzugsweise Beispiele solcher Tierarten bringen, die ihre Theorie bestätigen, wie Ratten und Mäuse, und nicht Beispiele von Tieren heranziehen, bei denen das nicht so ist, z. B. bei Hamstern und Murmeltieren.[45]
Und welche Rolle spielen die Geschlechtshormone? Archer und Lloyd gehen davon aus, daß die Sache viel komplizierter ist als nur eine einfache Frage nach Ursache und Wirkung.[46] Die These, ein hohes Maß an Testosteron rufe Aggression hervor, ist nicht bewiesen. Bei weiblichen Hamstern sind es zum Beispiel gerade »weibliche« Hormone, die aggressives Verhalten beeinflussen. Es ist außerdem noch sehr wenig darüber bekannt, in welchem Maße das Verhalten von Nagetieren mit dem von Menschen zu vergleichen ist. Dennoch werden speziell Untersuchungen über Nagetiere herangezogen, wahrscheinlich weil sie einfach in Labors zu halten sind und es weniger Widerstand gibt als gegen Versuche mit Ratten und Mäusen.
Den Einfluß der menschlichen Hormone zu untersuchen, ist nicht einfach. Zunächst einmal deshalb, weil wir Menschen nicht in einer »kulturfreien« Umgebung untersuchen, also andere Einflüsse nicht ausschließen können.[47] Und unsere Ethik erlaubt uns glücklicherweise nicht, Menschen als Versuchskaninchen zu benutzen und sie zum Beispiel in Käfige einzusperren wie Ratten.
Außerdem gibt es ein weiteres Problem, nämlich den Kausalzusammenhang von Ursache und Wirkung. Wenn bei einem sich aggressiv verhaltenden Affen eine höhere Menge eines bestimmten Hormons gefunden wird als bei einem sich nicht aggressiv verhaltenden Tier, können wir dann behaupten, diese Hormone hätten die Aggression bewirkt? Oder ist es umgekehrt, nämlich daß die Aggression zuerst da war und dann erst der höhere Hormonpegel?[48] Wir wissen, daß der Adrenalinpegel steigt, wenn wir wütend sind. Es ist auch möglich, daß Sexualhormone, die mit sexuellem Verhalten in einem Zusammenhang stehen, dieses Verhalten nicht hervorruft, sondern erst durch dieses Verhalten bewirkt werden. Für diese Annahme spricht das Beispiel eines Mannes, der auf einer Insel arbeitete. Während und kurz vor dem Wochenende merkte er, daß sein Bart stärker zu wachsen begann. Wie sich herausstellte, reichte offenbar der bloße Gedanke aus, daß er mit seiner Freundin schlafen würde, um seinen Hormonpegel ansteigen zu lassen.[49]
Archer und Lloyd gehen von der Tatsache aus, daß bei Menschen zwischen einem hohen Testosteronspiegel und aggressivem Verhalten ein Zusammenhang besteht. Aber wir können nicht ausschließen, daß das Steigen des Hormonspiegels eher eine Folge des Verhaltens ist, als das Verhalten eine Folge der Hormone. Die größere Aggressivität von Jungen wurde außerdem bei Drei- bis Vierjährigen festgestellt, bei denen der Großteil der Sexualhormone, die erst nach der Pubertät auftreten, noch keine Rolle spielen kann. Für Archer und Lloyd sind die vorausgegangenen Zweifel ein Grund, auf keinen Fall an einfachen Ursache- und Wirkungszusammenhängen festzuhalten, wenn es um die Erklärung des aggressiveren Verhaltens von Männern geht.
Bei neueren Untersuchungen von Reinish vom Kinsey Institute for Research of sex, gender and reproduction, die sich mit einem möglichen Zusammenhang zwischen Aggression und Hormonen beschäftigen, wurden einer Gruppe von Freiwilligen, Mädchen zwischen sechseinhalb und neunzehn Jahren, für die Dauer einiger Wochen künstliche Androgene verabreicht.[50] Daraufhin unterzogen sich die Mädchen Versuchen, in denen ihre Aggression gemessen wurde. Nun ist es nicht leicht, in »Feldversuchen« bei Menschen Aggressionen zu messen. Zum einen, weil es viele verschiedene Arten von Aggression gibt, aber vor allem auch, weil sich Menschen, anders als die meisten Tierarten, zwar aggressiv fühlen können, was aber noch nicht zu bedeuten braucht, daß sie sofort zu schlagen, kratzen, beißen oder zu schimpfen beginnen. Und genau das ist die wichtigste Schlußfolgerung, die wir ziehen können. Deshalb sind auch Vergleiche mit Tieren so gefährlich. Im Gegensatz zu Tieren haben wir die Wahl, ob wir uns entsprechend unseren Gefühlen verhalten wollen oder nicht. Den Mädchen wurde ein Test vorgelegt, Bilder mit verunsichernden Situationen: Du läufst über eine Straße. Ein anderes Mädchen tritt auf dich zu und haut dir eine runter. Was machst du? lautete die Testfrage. Du hast mehrere Möglichkeiten: du läufst weg, schimpfst sie aus, du holst deinen älteren Bruder dazu, oder du schlägst zurück. Nun stellte sich heraus, daß die Mädchen, die Hormone verabreicht bekommen hatten, eher dazu neigten, physische Gewalt anzuwenden, als die nicht behandelte Testgruppe, die es vorzog, sich durch verbale Aggression zu wehren. Aber selbst die behandelten Mädchen blieben noch hinter einer Gruppe unbehandelter Jungen zurück, die übrigens, als auch sie Hormone verabreicht bekamen, aggressiver wurden, als sie vorher waren.
Das Interessante dabei ist ― vorausgesetzt, wir würden diese Art von Aggression »männlich« nennen ― daß wir Menschenmänner durch Verabreichen von Hormonen aggressiver machen können, als sie waren, während die meisten männlichen Tiere schon maximal »männlich« sind und es nicht möglich ist, ihre Aggression durch Hormone zu steigern. Reinish folgerte hieraus, daß Menschen im Vergleich zu anderen Tieren niedrig »androgenisiert« und deshalb die uns innewohnenden Unterschiede zwischen Frauen und Männern kleiner, subtiler, nuancierter und beeinflußbarer sind. Und der wichtigste Punkt, für den sie den Nachweis erbrachte: bei Menschen muß sich die Tendenz zur Aggression noch lange nicht in aggressivem Verhalten niederschlagen; was wir mit aufsteigenden Gefühlen tun, ist zum großen Teil von unserem Sozialisationsprozeß und den Verhaltensregeln der Gesellschaft beeinflußt, in der wir leben.
Sexualität
Wenn es einen körperlichen Unterschied zwischen Frauen und Männern gibt, der zu weitreichenden Spekulationen über die »weibliche« und »männliche« Natur veranlaßt, dann ist das der »kleine Unterschied«, der Unterschied zwischen weiblichen und männlichen Geschlechtsorganen, auf dem die Aufteilung der Menschheit in zwei Arten basiert.
Aber gibt es so etwas wie eine spezifische weibliche Sexualität und somit eine spezifisch männliche? Und wenn wir feststellen, daß Männer im allgemeinen Sexualität anders erleben als Frauen, liegt das dann an unserer unterschiedlichen Biologie oder an den unterschiedlichen Sozialisationsprozessen oder an beidem?
In diesem Abschnitt möchte ich mich mit den Unterschieden in den Geschlechtsorganen befassen und mit der Wirkung der sogenannten »männlichen« und »weiblichen« Hormone.[51]
Generationen lang sind diese unterschiedlichen Geschlechtshormone als das wesentlichste Merkmal einer ganzheitlichen männlichen oder weiblichen Persönlichkeit betrachtet worden. Erik Erikson, ein Psychoanalytiker, verknüpfte mit der Tatsache, daß Frauen eine Gebärmutter haben, eine Leere, die danach verlangt, gefüllt zu werden. Daraus leitete er die vollständige weibliche Psychologie eines umfassenden und abwartenden Verhaltens ab, genauso wie er mit dem Penis des Mannes ein selbstverständlich stärker nach außen gerichtetes aktives Verhalten verband.[52] Und noch immer glauben viele Leute, der bloße Besitz eines Penis führe dazu, daß Männer aktiver sind als Frauen.
Im Buch, mit dem meine Eltern aufgeklärt wurden, sind einige hübsche Beispiele von Biologismus zu finden. Die Frau produziert ein Ei für die Fortpflanzung. Dieses Ei liegt also passiv da und wartet darauf, daß die Samenzellen auf es einstürmen, von denen eine eindringen wird. Daraus wird eine Reihe von Eigenschaften abgeleitet. Nicht nur das Ei liege da und warte, die ganze Frau sei passiv, rezeptiv, bereit, erobert zu werden. Der Mann habe dieselben Eigenschaften wie die Samenzellen, die er produziert: einfach drauflos, und der Stärkere gewinnt.
Im Lichte all dieser bis in die Vergangenheit zurückreichenden Vorstellungen über die »wahre« sexuelle Art von Frauen war die Untersuchung von Masters und Johnson in den sechziger Jahren bahnbrechend. In ihrem Labor untersuchten sie zehntausend Orgasmen ― die teils durch Miteinanderschlafen und teils durch Selbstbefriedigung zustande kamen ― bei Frauen und Männern, die sich dazu freiwillig zur Verfügung gestellt hatten.[53]
Masters und Johnson untersuchten nicht das subjektive Erleben von Sexualität, sondern registrierten allein die körperlichen Erscheinungen. Zur großen Überraschung unterschieden sich, körperlich betrachtet, die Reaktionen von Frauen und Männern beim Orgasmus äußerst wenig voneinander. Dieselben Reaktionen in den Brustwarzen, das Erröten der Haut, Schweiß, erhöhter Herzschlag, Muskelspannung, verstärkte Blutzufuhr in die Geschlechtsteile, wodurch bei Männern der Penis steif wird, bei Frauen die Klitoris und die Vagina zu »schwitzen« beginnt. Das Sich-Zusammenziehen der Blutgefäße beim Orgasmus unterschied sich wenig voneinander, außer daß bei Männern eine Samenflüssigkeit austritt. Der einzig auffallende Unterschied, den Masters und Johnson manchmal beobachteten, bestand in der Tatsache, daß viele Frauen sofort einen zweiten Orgasmus erreichen konnten, während bei Männern zunächst eine Erholungsphase eintrat. Nun braucht uns die Übereinstimmung nicht so sehr zu überraschen. Das Grundmuster für ein weibliches und ein männliches Geschlecht ist bis zum dritten Monat der Frucht dasselbe. Und wir wissen inzwischen auch, daß sich hinter der Klitoris Schwellkörper befinden, die vergleichbar sind mit denen des Penis. Die Übereinstimmungen sind größer, als es auf den ersten Blick scheint.
Eine Übereinstimmung zwischen dem männlichen und dem weiblichen Geschlechtsorgan besteht darin, daß das Reizen der Klitoris ungefähr dieselbe Reaktion hervorruft, wie das Reizen des Penis. Aber damit kommen wir auch zu dem Unterschied. Denn das, was wir meist als Sexualität definieren, der Geschlechtsakt, der Koitus, stimuliert die Klitoris nicht auf die gleiche Weise wie den Penis. Freud behauptete, daß die nichtneurotische erwachsene Frau ihr Zentrum sexueller Erregung von der Klitoris zur Vagina verlagere. Aber Masters und Johnson wiesen nach, daß es nur einen einzigen weiblichen Orgasmus gibt und nicht einen getrennten klitoralen und vaginalen. Wenn Frauen beim »normalen« Bumsen zum Orgasmus kommen, wird bei ihnen während des Koitus die Klitoris ausreichend stimuliert. Aber das ist nicht grundsätzlich der Fall, es gibt zwischen Klitoris und Vagina unterschiedliche Abstände, und viele Frauen bekommen nur einen Orgasmus, wenn die Klitoris mit der Zunge oder den Fingern direkt stimuliert wird. Weil wir den Geschlechtsakt so lange als die einzig »normale« Form betrachtet haben, Sexualität zu erleben, sind die Mythen über eine weibliche Sexualität entstanden.[54] Daß Frauen eine langsamere Erregungskurve haben, ist einer davon. Nun hat sich gezeigt, daß Frauen genauso schnell und genauso leicht einen Orgasmus bekommen wie Männer, vorausgesetzt, während des Liebens wird die Klitoris ausreichend und richtig stimuliert. Für die meisten Männer ist die Vagina ― warm, feucht und genau der richtige Druck ― ideal, um einen Orgasmus zu bekommen. Aber der Druck eines Penis in der Vagina ist für die Mehrheit der Frauen nicht ausreichend, um einen Orgasmus zu erleben. Frauen wissen das, wenn sie regelmäßig onanieren.[55] Es geht also nicht so sehr um den anatomischen Unterschied, als vielmehr um die Tatsache, daß wir es gewohnt sind, die für Männer angenehmsten Handlungen als die eigentliche Tat zu definieren und was für Frauen befriedigend ist, als Vorspiel oder Variation zu sehen. Die gleiche Stimulanz verursacht bei Frauen so ziemlich die gleiche Reaktion wie bei Männern. Nur bringt das, was wir im allgemeinen unter Sex verstehen, Frauen und Männern nicht die gleiche Stimulanz. Der einzig übrigbleibende wirkliche Unterschied in der Reaktion von Männern und Frauen ist die größere Fähigkeit der Frauen, mehrere Orgasmen hintereinander zu bekommen.
Es hat auch Feministinnen gegeben, die aus der Biologie direkte Schlüsse für die »weibliche« und »männliche« Sexualität ziehen wollten. Nachdem lange Zeit »weibliche« Sexualität als schwächer und weniger triebhaft angesehen wurde (das war im übrigen nicht in allen historischen Zeiten so, und es gibt auch in verschiedenen Kulturen ansehnliche Unterschiede, womit bewiesen wäre, daß sexuelles Verhalten sich nie aus einer einzigen biologischen Gegebenheit erklären läßt), nahm eine Feministin wie Sherfey [56] Rache: Nicht Männer seien überlegen, sondern gerade die Frauen mit ihrer Fähigkeit zu mehrfachen Orgasmen. Und weil die Männer diese Unersättlichkeit nicht ertragen könnten, hätten sie einen Grund erfunden, um Frauen und die weibliche Sexualität zu unterdrücken.
Obwohl viele Frauen diese Theorie netter finden werden als den ganzen Unsinn, der von uns behauptet wird, um uns klein zu halten und einzuwickeln, ist es eine Argumentation, die auf der gleichen Denkweise basiert wie ein Großteil des männlichen Chauvinismus. Aus einer einzelnen biologischen Tatsache wird eine allgemeingültige weibliche Natur abgeleitet und damit eine außerordentlich komplizierte und historisch gewachsene gesellschaftliche Wirklichkeit erklärt. Die Tatsache, daß die Frauen, die sich befreit haben und sich erlauben können, sexuell freier zu leben, meist etwas anderes zu tun haben, als ständig der Befriedigung ihrer Lüste nachzulaufen, zeigt, daß es eine nette, aber ziemlich unsinnige Betrachtungsweise ist. Die Fähigkeit zu mehreren Orgasmen hintereinander kann nicht mit einem Trieb erklärt werden, der dazu zwingt, ständig diesen Orgasmen hinter-herzujagen. Denn genauso wie bei einem Großteil des sogenannten männlichen Triebes handelt es sich hier auch um ein kulturelles Produkt.
Und die Hormone? Führen unsere verschiedenen Hormone denn nicht dazu, daß Männer sich sexuell anders verhalten, beziehungsweise andere Bedürfnisse haben als Frauen?
In der landläufigen Vorstellung wird viel den Hormonen zugeschrieben. Viele Männer mit Potenzstörungen glauben, Hormone könnten ihnen helfen. Dieser Zusammenhang ist, wie sich gezeigt hat, nicht so einfach, aber es gibt ihn. Bei Männern, die ― aus welchem Grund auch immer ― kastriert wurden (das ist etwas anderes als sterilisieren) und deshalb keine »männlichen« Hormone mehr produzieren, sind verschiedene Reaktionen möglich. Manchmal verschwindet das Phänomen der sexuellen Erregung sofort, manchmal erst nach Monaten. Manchmal behält der Mann zwar die Lust am Sex, bekommt aber keine Erektion mehr. Es gibt sogar Männer, die nach einer Kastration jahrelang weiter Liebe machen und einen Orgasmus bekommen, wenn auch weniger häufig als vorher.[57]
Bei Frauen ist es komplizierter; zwar beeinflußt dasselbe männliche Hormon die Erregung, oder besser gesagt die Fähigkeit zur Erregung, aber wir wissen nicht in welchem Maße. Das Entfernen der Eierstöcke hat selten Einfluß. Darüber hinaus wirkt Östrogen leicht stimulierend und Progesteron leicht hemmend (siehe die Pille), doch sind diese kleinen Abweichungen beim Menschen unerheblich, verglichen mit dem Einfluß, den Hormone auf weibliche Tiere haben, die von einem auf den anderen Tag unheimlich brünstig werden können und es dann wieder überhaupt nicht sind.[58]
Auch auf diesem Gebiet der Sexualität macht man es sich mit den Tiervergleichen einfach. Bei Ratten ist der Einfluß von Hormonen leicht zu beweisen und eindeutig. Werden einem Rattenmännchen die Hoden entfernt und damit die Zufuhr männlicher Hormone unterbrochen, zeigt es bald das gleiche Paarungsverhalten wie Weibchen, mit erhobenem Hintern bietet es sich an. Werden einem Weibchen künstlich männliche Hormone zugeführt, verhält es sich wie ein Männchen: es besteigt andere Ratten und stößt wie ein Männchen auf sie ein.
Diese Entdeckung verleitet noch immer einige Biologen zu der Annahme, bei Menschen sei es sicher auch so. Und Dörner, ein Gehirnforscher, geht sogar so weit, zu behaupten, damit könne menschliches homosexuelles Verhalten erklärt werden.[59] Wenn sich Rattenmännchen unter Einfluß von Hormonen wie Weibchen gebärden und sich Männchen als Partner suchen und umgekehrt, könnte es dann nicht auch bei Menschen möglich sein, daß unter Einfluß von Hormonen in der entscheidenden Phase vor der Geburt, Jungen zu weiblichem Verhalten programmiert werden? Und könnte man sie durch ein Gegenprogramm mit Hormonen auch vor der Geburt in die normale Richtung lenken?
Paarungsverhalten von Tieren wird hier mit sexuellem Verhalten von Menschen gleichgesetzt. Und das ist auf jeden Fall falsch. »Menschen«, sagt Schmidt,[60] »haben sich in weitgehendem Maße von ihren Hormonen >emanzipiert<.« So verläuft beispielsweise unser Zyklus im Paarungsverhalten nicht mehr parallel mit dem Fruchtbarkeitszyklus von Frauen. Bei den meisten Tieren wird gebumst, wenn das Weibchen fruchtbar ist und sonst nicht. Die Männchen reagieren auf die »Bereitschaft« und zeigen darüber hinaus kaum ein Interesse. Bei Menschen kann man noch einen kleinen Rest davon wiederfinden, und zwar bei einigen Frauen, die während der fruchtbaren Periode im Verhältnis gesehen mehr Lust zum Bumsen haben als sonst. Auf jeden Fall bumsen Menschen die ganze Saison durch, egal ob sie fruchtbar sind oder nicht.
Bis heute konnte nicht bewiesen werden, daß sich das unterschiedliche sexuelle Verhalten von Frauen und Männern direkt aus den Unterschieden in der Anatomie ableiten ließe. Hormone können zwar in bestimmtem Maße eine Voraussetzung für sexuelles Verhalten sein, verursachen aber keinesfalls dieses Verhalten.
Ein anatomischer Unterschied ist, daß Männer für die Sexvariante, die wir bumsen nennen, eine Erektion brauchen und Frauen mitmachen können ohne eine Erektion ihrer Klitoris.
Das bedeutet, daß Männer eine Frau vergewaltigen können und daß Frauen sexuell involviert sein können, ohne Lust dazu zu haben. Aber nicht unsere Anatomie legt fest, daß es Männer gibt, die das wollen, oder daß Frauen sexuellen Verkehr haben, ohne ihn zu wollen. Die Gründe für Sexualität sind viel komplexer, als daß man sie mit einem körperlichen Trieb oder anatomischen Zwang erklären könnte. Unser Körper bestimmt die Grenzen der sexuellen Möglichkeiten, aber unsere Sozialisationsprozesse und die Machtverhältnisse bestimmen, wie wir mit Sexualität umgehen. Es gibt also nicht so etwas wie eine nachweisbare, biologisch festgelegte weibliche oder männliche Sexualität. Wohl aber können wir feststellen, daß Männer in dieser Gesellschaft eine dominante Position einnehmen und deshalb mehr Möglichkeiten haben als Frauen, das, was sie angenehm finden, als Sexualität zu definieren. Auch wenn wir uns als Feministinnen dagegen wehren, müssen wir nicht annehmen, daß es eine angeborene andere Sexualität von Frauen gäbe, die unterdrückt würde.[61]
Mutterschaft
Einen ebenso großen Raum im populären Denken wie die Sexualität nimmt die Mutterschaft ein. An der Tatsache, daß Frauen eine Gebärmutter haben, wird eine Reihe von Eigenschaften, von Konsequenzen festgemacht.
Von Frauen wird angenommen, sie hätten Mutterinstinkte und wünschten sich selbstverständlich Kinder. Von ihnen wird angenommen, daß sie automatisch in der Lage sind, gut für ihre Kinder zu sorgen. Hinter diesen Auffassungen steckt eine große Doppelmoral. So finden es beispielsweise viele Leute selbstverständlich, daß verheiratete Frauen Kinder haben wollen. Dieselben Leute finden es unnatürlich, wenn sich verheiratete Frauen dazu entschließen, keine Kinder zu bekommen. Und genauso merkwürdig finden sie es, wenn eine unverheiratete Frau Kinder haben möchte. Also ist erwiesenermaßen für viele Menschen Mutterschaft nicht einfach nur ein weiblicher Wunsch, sondern auch an eine gesellschaftliche Stellung, an die Ehe, gekoppelt. Und auch die Behauptung, aufgrund ihrer Mutterinstinkte könnten Frauen automatisch so gut mit Kindern umgehen, läßt sich nicht aufrecht erhalten. Denn dieselben Leute, die behaupten, daß nur die Mutter ― nicht andere Frauen und auch nicht der Vater ― dem Säugling die erforderliche Fürsorge geben kann, betrachten es nicht als Widerspruch, Mütter mit Ratschlägen zu versorgen, ihnen Hilfestellung zu geben, sie zu kritisieren, wenn sie es nicht richtig machen, und ihnen alle fürchterlichen Folgen von »Verwahrlosung« oder »Überfürsorglichkeit« auszumalen. Auf diesem Gebiet der Mutterschaft hat sich ein Heer von Fachleuten versammelt. Spieltherapeuten, Kinderpsychiater, Säuglingsfürsorger und medizinische Beratungsbüros, die alle meinen, darauf achten zu müssen, ob Mutter es wohl richtig macht. Ein ziemlich widersprüchliches Verhalten, wenn man davon ausgeht, daß Frauen von Natur zur Mutterschaft bestimmt sind.[62]
Was ist am Muttersein biologisch festgelegt? Die Tatsache, daß wir eine Gebärmutter haben, mit der wir ein Kind austragen können, Eierstöcke, die zusammen mit dem männlichen Samen für die Hälfte der Frucht sorgen, und Brüste, um Kinder zu stillen?
Und weiter?
Bei Schwangerschaft, Entbindung und der Produktion der Muttermilch spielen Hormone eine große Rolle. Einige Wissenschaftler möchten aus dieser Tatsache ableiten, daß zusammen mit der Zufuhr der Milch auch gleich mütterliche Gefühle durch Hormone gelenkt werden, aber genau wie bei der Frage der männlichen Hormone und männlichen Aggression gibt es dafür keinen Beweis.[63]
Im Gegenteil: es zeigt sich, daß Menschen, die mit einem männlichen Chromosomensatz (XY), aber mit einem weiblich aussehenden Geschlechtsorgan zur Welt kommen und wie Mädchen erzogen werden,[64] genauso intensiv mit Puppen spielen und vom Kinderkriegen träumen, wie ein Mädchen mit weiblichen Chromosomen und Hormonen. Und später genauso fürsorglich zu adoptierten Kindern sind.
Money und Ehrhardt,[65] die den Zusammenhang zwischen Hormonen und Verhalten eingehend untersucht haben, gehen von der Formbarkeit elterlichen Verhaltens aus. Männer können genauso fürsorglich sein, genauso »mütterlich«. Fürsorge entsteht wahrscheinlich aus dem unmittelbaren Kontakt mit dem Kind, und Frauen haben ― biologisch betrachtet ― durch die körperliche Erfahrung des Austragens und Gebarens eines Kindes dabei möglicherweise einen »Vorsprung«.
Auch wenn Hormone bei der »Bereitschaft« zur Fürsorge und zum Säugen des Babies eine Rolle spielen sollten, ist es mit dem hormonalen Einfluß vorbei, sobald der Säugling abgestillt ist. Mütterliches Verhalten gegenüber älteren Kindern kann also nicht als eine unmittelbare Folge von Hormonen erklärt werden. Schließlich stillen auch nicht alle Mütter, was beweist, daß die für die Milchzufuhr verantwortlichen Hormone niemals eine determinierende Rolle spielen können. Wie »natürlich« Stillen auch sein mag, es führt jedenfalls nicht dazu, daß alle Frauen es automatisch auch wollen. Offenbar entscheiden hier andere Einflüsse, ob Frauen dafür oder dagegen sind.
Es gibt somit keinen Grund, Mutterschaft als reinen Instinkt, als einen von Hormonen gesteuerten Prozeß zu betrachten, geschweige denn, alles, was nach der Entbindung und dem Stillen mit Kindern gemacht wird, damit zu erklären.[66] Aber können wir dann den Faktor Biologie streichen?
Gerade am Beispiel der Mutterschaft läßt sich gut darstellen, welche komplexen Zusammenhänge zwischen Biologie und gesellschaftlichen Strukturen bestehen.
Was alle Frauen durch die ganze Geschichte hindurch miteinander verbindet, ist die biologische Fähigkeit, Kinder zu gebären. Aber wir können auch sehen, daß diese biologisch festgelegte Fähigkeit zu verschiedenen Zeiten etwas anderes bedeutete, sowie andere gesellschaftliche Folgen hatte.[67] In einer Zeit, in der es noch keine so gute medizinische Versorgung gab wie heute und man den natürlichen Gewalten in einem sehr viel stärkeren Maße ausgeliefert war, starben viele Säuglinge. Auch war für Frauen die Geburt eines Kindes sehr viel risikoreicher als heute, viele Frauen starben im Kindbett. Obwohl die Kinderzahl in vielen Kulturen durch Perioden der »Enthaltsamkeit« beschränkt wurde, mußten dennoch sehr viele Kinder geboren werden, um für das notwendige Bevölkerungswachstum zu sorgen. Und da Frauen damals im Durchschnitt früher starben, wurde ein erheblich größerer Teil ihres Leben von der Mutterschaft in Beschlag genommen. Erst seit kurzem gilt die künstliche Ernährung als (fast) genauso gut wie das Stillen, insofern waren Mutter und Kind in früheren Zeiten länger aneinander gebunden.
Und in anderen gesellschaftlichen Verhältnissen hatte jene biologische Tatsache, daß Frauen eine Gebärmutter haben, somit eine andere Bedeutung und andere Folgen. In unserer Gesellschaft braucht die biologische Mutterschaft Frauen nicht mehr im gleichen Maße in Beschlag zu nehmen. Wir brauchen nicht mehr so viele Kinder zu bekommen, denn es sterben weniger. Heutzutage können mehr Frauen Kinder bekommen, denn sie sterben nicht mehr so früh. Und selbst wenn wir ganz perfekte Mütter sein wollen, ist Stillen heute nicht mehr so lange erforderlich wie früher. Möglicherweise sind Frauen durch ihre Sozialisation geeignetere Mütter als Männer, aber das ist ein anderes Argument als das der weiblichen Biologie.
Biologische Mutterschaft wurde oft als Faktor angesehen, um die unterschiedliche gesellschaftliche Stellung von Frauen und Männern zu erklären und dann zum Ergebnis zu kommen, daß diese Arbeitsteilung ― Frauen zu Hause mit den Kindern, Männer draußen, um Geld für die Ernährung zu verdienen ― die natürliche sei. Es mag sein, daß Frauen in der Urzeit häufiger mit der Sorge für ein kleines, noch zu stillendes Kind zu vereinbarende Arbeiten ausführten, und daß Männer dadurch beweglicher waren. Frauen sammelten dann mehr Beeren und Pflanzen in der Nähe des Hauses, während Männer auf die Jagd gingen. Wenn eine Arbeitsteilung als gesellschaftliche Struktur erst einmal besteht, hat diese Struktur möglicherweise die Angewohnheit, sich zu verselbständigen und sich selber zu reproduzieren. Wie es auch möglich sein kann, daß sich aus einer bestehenden Arbeitsteilung eine entsprechende Psychologie entwickelt, die sich selbst reproduziert. Gesellschaftliche Normen haben die Angewohnheit, weiter zu existieren, auch wenn die Ursachen dafür schon lange weggefallen sind.
5. Die Soziobiologie
Evolution
Nach vielen Theorien, die aus einem einzigen biologischen Umstand alle Unterschiede zwischen Frauen und Männern, z. B. die kleineren Gehirne von Frauen, die unterschiedlichen Hormone oder die Tatsache, daß Frauen die Gebärmutter haben, erklären wollten, entstand so um 1975 eine neue Betrachtungsweise: die Soziobiologie.[68] Jetzt sind es die Gene, die uns in eine bestimmte Richtung lenken. Gene sind die Träger erblicher Eigenschaften. Die Soziobiologie nennt sich die Wissenschaft der biologischen Grundlagen sozialen Verhaltens. Solange diese Denkrichtung nur den alten Darwinismus weiterspinnt, also die Evolutionslehre, ist sie nicht neu. »Survival of the fittest« ist die Zusammenfassung dieser Entwicklung. Um es an einem einfachen Beispiel zu erklären: Angenommen, eine bestimmte Affenart wird durch Nahrungsmangel gezwungen, in eine kältere Gegend zu ziehen, dann werden die Affen mit dem dicksten Fell die größten Überlebenschancen haben. Diese Affen paaren sich und bringen Junge zur Welt, die auch wieder ein dickeres Fell haben. Wenn die Selektion so weitergeht, hat am Ende die ganze Affenart ein dickeres Fell. Inzwischen ist es eine anerkannte Theorie, Pflanzen, Tiere und Menschen als Reihe in einer Entwicklung zu sehen. Und durch Ausgrabungen der Überreste verschiedener Zwischenstufen, z. B. des Steinzeitmenschen, ist unsere Verwandtschaft mit den Affen wohl bewiesen.
Das darwinistische Denken paßt, wenn es konsequent angewandt wird, wunderbar zum kapitalistischen System. Konkurrenz ist demnach ein natürliches und damit auch nützliches Phänomen. Der Stärkere ist auch der Angepaßteste und somit auch der Überlebenswerteste. Ungleichheit zwischen unterschiedlichen Menschenarten kann einfach mit den natürlichen Auswahlprozessen erklärt werden. Es ist dann auch kein Zufall, daß viele Verfechter der bestehenden Ungleichheit auf die biologischen Argumente des Darwinismus zurückgreifen. Schwarze seien in der Evolution zurückgeblieben, seien kindlicher und brauchten deshalb die Führung von Weißen, eine Rechtfertigung für Kolonialismus und Ausbeutung. Das Judentum wurde von den Nazis als Rasse mit anderen erblichen Eigenschaften als die Arier betrachtet. Auch für die Unterschiede zwischen der Arbeiterklasse und der herrschenden Klasse werden häufig biologische Unterschiede als Erklärung und Verteidigung herangezogen.[69] Nun werden sich viele Soziobiologen von heute nachdrücklich von dem politischen Gebrauch ihrer Theorie distanzieren. Nun könnte man sagen, Forscher seien nicht für den Mißbrauch, der mit ihrer Arbeit getrieben wird, verantwortlich zu machen. Wenn wir uns allerdings die Theorie der Soziobiologen und ihrer Anhänger etwas näher anschauen, wird sicher deutlich, daß man nicht einfach zwischen einer bestimmten Art zu denken und der Zeit, in der dieses Denken auftaucht und populär wird, trennen kann. Außerdem zeigt sich, daß in dem, was uns als »wertfrei« verkauft wird, lauter unbewiesene Unterstellungen über die wahre menschliche Art und die Gesellschaftsstruktur stecken. Das ist kein Zufall. Zur Betrachtungsweise der Soziobiologie gehört, sich mehr mit dem Nachweis, daß die bestehenden Ungleichheiten zwischen Menschen natürlich und somit eigentlich nicht veränderbar sind, zu beschäftigen als damit, wie gesellschaftliche Umstände verändert werden könnten.
Soziobiologie greift biologische Merkmale als Ausgangspunkte heraus, aber nicht auf einfache Art. Also nicht: bestimmte Hormone führen zu einem bestimmten Verhalten, sondern: im Laufe der Zeit haben Männer, weil sie mehr Körperkraft besitzen, eine Anzahl von Eigenschaften entwickelt, die für den Fortbestand der menschlichen Art nützlich waren, und Frauen haben, weil sie schließlich die Kinder gebären, andere Eigenschaften entwickelt, die auch für den Fortbestand der Menschheit notwendig waren. Diese unterschiedlichen Eigenschaften setzen sich im genetischen Material fort, sind somit also erblich geworden. Und daher kommt es, daß die bestehende Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen so ist, wie sie heute aussieht.
Nun untersuchen wir einmal, was die Soziobiologen eigentlich wirklich zu sagen haben.
Die egoistischen Gene
Eine der letzten soziobiologischen Varianten ist die Theorie von den egoistischen Genen [70]:
Individuen werden so handeln, daß sie die größtmögliche Chance haben, ihre eigenen Gene weiterzugeben. Und weil Frauen bei der Fortpflanzung eine andere Funktion haben als Männer, sieht ihr Verhalten selbstverständlich anders aus. Frauen produzieren eine Eizelle, die viel größer als die männliche Samenzelle ist. Daraus sollen wir bereits folgern, daß Frauen mehr in ihre Kinder, d. h. in ihre Gene investieren als Männer. Außerdem trage eine Frau ihr Kind neun Monate lang aus und könne in dieser Zeit nichts tun, um ihre Gene auf andere Weise weiterzugeben. Männer brauchten demgegenüber sehr wenig zu investieren, würden außerdem nicht schwanger und könnten somit nach dem Deponieren der Samenzelle sofort wieder irgendwo anders von neuem säen.
Darum, so lautet die Argumentation, hätten Männer ein Interesse daran, und nun aufgepaßt: kein Eigeninteresse, sondern ein genetisches Interesse, nach der Befruchtung so schnell wie möglich wieder wegzukommen. Deswegen neigten Männer in ihrem Verhalten zur Promiskuität. Frauen, die automatisch mehr in ihre wachsenden Nachkommen investieren müßten, hätten ein Interesse daran, Männer so weit zu bekommen, daß sie ihnen bei der Versorgung des Kindes helfen, und probierten deshalb, sie festzuhalten. Männer seien nicht sehr motiviert, etwas in die Gene eines anderen Mannes zu investieren, deshalb schätzten sie bei Frauen monogames Verhalten, während sie selbst genetisch daran interessiert seien, sich so wenig monogam wie möglich zu verhalten. Daher, so lautet die Schlußfolgerung, würden Frauen durch ihre Gene dazu gebracht, »Werbungsverhalten« zu entwickeln, für das andere Geschlecht anziehend zu sein, viel zu versprechen, aber sich so lange prüde zu verhalten, bis sie ihre Beute gefangen und sich einen Mann geangelt zu haben glauben, um ein Kind zu zeugen, aber auch um das Junge zu schützen. Männer täten nur so, als wollten sie sich binden, um dann nach der Zeugung so schnell wie möglich wieder zu verschwinden, beziehungsweise zumindest fremdzugehen. Fürwahr, eine sehr vereinfachende Erklärung der bestehenden Doppelmoral, und darüber hinaus auch noch eine Rechtfertigung. Über den ,,Geschlechterkampf« brauchen wir uns dann nicht mehr aufzuregen, denn unsere genetischen Interessen prallen nun einmal aufeinander, und Feindseligkeit ist dann nur die natürliche Folge.[71]
Das Verlockende an den soziobiologischen Erklärungen ― abgesehen davon, daß sie so ein nettes Alibi für sexistisches Verhalten liefern ― ist die Einfachheit. Sie eignen sich hervorragend zur Verbreitung in pseudowissenschaftlichen Büchern, wie es z. B. Knussmann tut.[72] Es scheint sehr verlockend zu sein, für die verschiedensten Erscheinungen eine einzige Erklärung parat zu haben. Die offensichtlichste Kritik ist dann auch, daß Soziobiologen die Komplexität der menschlichen Geschichte einfach negieren. Als müßte unsere Situation nicht sowohl aus individuellen Erlebnissen als auch aus historischen Prozessen, bei denen ökonomische Interessen eine Rolle spielen, und vor allem aus der Wechselwirkung zwischen ihnen erklärt werden.[73]
Soziobiologen haben sich sehr bemüht, wissenschaftlich zu Werke zu gehen. Aber wer Theorie als Wissenschaft verkaufen will, muß Beweise liefern. Und mit der Beweisführung steht es nicht zum Besten. Um das zu veranschaulichen, werde ich einige Hauptaussagen herausgreifen.
Die wichtigsten Unterstellungen aus der Soziobiologie sind:
- a) daß Männer über Frauen dominieren und zwar als Folge der menschlichen Evolution,
- b)daß diese Dominanz mit der Arbeitsteilung einhergeht: Männer haben die gesellschaftlichen Stellungen, Frauen sind zu Hause, als Mütter.
Die Beweisführung: Das ist immer schon so gewesen, das ist bei den Tieren auch so, und bei den sogenannten primitiven Völkern handelt es sich um eine Zwischenstufe in der menschlichen Evolution. Überall kämpfende Männer, die ihre Frauen beschützen, und sorgende Frauen mit Kindern am heimischen Herd. Aber schauen wir mal ― und sei es auch nur, weil diese Argumente immer wieder, aber immer in anderen Mäntelchen auftauchen ― wie schwer diese Beweisführung ist:
Argument 1 : Die Tiere
Die Abweichungen im dominanten Verhalten und die Unterschiede zwischen den Geschlechtern sind bei Tieren viel größer, als die Soziobiologen zugeben wollen. Es gibt Tierarten, bei denen die Männchen die Jungen versorgen (Stichlinge). Bei den Möwen z. B. versorgen Männchen und Weibchen zusammen die Jungen. Es gibt monogame Tiere, wie die Gibbonaffen. Und bei manchen Affenarten bilden die Weibchen zusammen mit den Kindern die Kerngruppe, zu der die Männchen nur in der Paarungszeit zugelassen werden. Bei den meisten Tierarten sind die Männchen zwar größer und stärker, aber obwohl die Soziobiologen daraus gern den Schluß ziehen, daß die Männchen infolgedessen die Weibchen beherrschen, zeigt sich doch, daß das lange nicht bei allen Tieren der Fall ist. Noch nicht einmal bei den Menschenaffen, die als unsere Vorfahren betrachtet werden und im übrigen untereinander auch starke Abweichungen in Lebensform und Familienverband aufweisen.[74]
Was bei Menschen als männliche Dominanz gilt, scheint ― wie sich herausgestellt hat ― bei Tieren wenig vorzukommen. Mit männlicher Dominanz meine ich, daß Männer sich die Arbeit von Frauen aneignen und für sich sorgen lassen können (Hausarbeit und unterbezahlte Lohnarbeit in untergeordneten Positionen), daß Männer sich die sexuellen Dienste von Frauen durch einen Ehevertrag, gegen Bezahlung oder durch Vergewaltigung nehmen können. Genau das passiert bei Affen nicht. Dort sorgen die Männchen selbst für ihre Nahrung. Und gepaart wird sich nur, wenn die Weibchen das wollen.[75] Es gibt bei Menschenaffen nur eine Art, die Orang-Utans, von der eine Forscherin je behauptet, sie habe einmal eine Vergewaltigung bei ihnen miterlebt.[76] Und obwohl viele Affenarten eine Hierarchie unter Männchen, die miteinander konkurrieren, kennen, ist doch gar nicht gesagt, daß dominante Männchen per definitionem als erste durch die zum Paaren bereiten Weibchen ausgewählt werden.
Dominanz bei Tieren braucht also überhaupt nicht dasselbe zu bedeuten wie Dominanz beim Menschen. Und damit kommen wir zu einem wichtigen Problem, wenn es um Vergleiche zwischen Menschen und Tieren geht. Wie sich zeigt, projizieren Menschen, die Tiere beobachten, oft zuerst menschliche Eigenschaften in die Tiere. Sie nennen bestimmtes Verhalten »Eifersucht« oder »Konkurrenz«, um dann festzustellen, daß Menschen Tieren gleichen. Eine Argumentation, die sich im Kreise dreht.[77] Wenn zum Beispiel irgendwo Affenweibchen in einer Gruppe auftauchen, die von ein paar Männchen begleitet werden, wird sofort angenommen, daß diese Weibchen einen »Harem« bilden, und die Männchen werden zu »Paschas« ernannt.[78] Die Projektion eines »Männertraums«. Denn wer kann zu dem Schluß kommen, daß die Männchen mehr Weibchen haben, wenn doch die Weibchen selbst die Männer auswählen, mit denen sie sich paaren wollen? Und wer sagt denn, daß das Macho-Verhalten einiger Affenarten, welches Eindruck auf andere Männchen machen soll, auch Eindruck auf die Weibchen macht? Vielleicht läßt sich nur der einzige Vergleich zwischen Tieren und Menschen ziehen, daß nämlich auch die meisten Menschenfrauen sehr wenig durch »Angeberei« zu beeindrucken sind oder sich davon angezogen fühlen. Aber das ist eine Schlußfolgerung, die den meisten Soziobiologen nicht gefallen wird.
Mit dieser Kritik ist nicht gesagt, es gäbe keine Übereinstimmungen zwischen Tieren und Menschen, und die Erforschung dieser Übereinstimmungen wäre Unsinn. Aber seriösere Forscher wissen, daß man aus dem Verhalten von Tieren nicht einfach »angeborene« Eigenschaften von Menschen ableiten kann. Es ist sicher nicht schwer, für jede Aussage über Menschen eine Tierart zu finden, die als Beweis für die Natürlichkeit eines bestimmten menschlichen Verhaltens herhalten kann. Außerdem ist auch bei Tieren das Verhalten gar nicht immer festgelegt. Ein und dieselbe Affenart kann sich unter verschiedenen Umständen unterschiedlich verhalten. Paviane, die in Wäldern leben, sind zum Beispiel aggressiver als in der Hochebene lebende Paviane.[79] Und auch wenn man keine eindeutige Trennungslinie zwischen Tieren und Menschen ziehen kann, bleibt ein qualitativer Unterschied. Unsere ererbte Fähigkeit, komplexes Verhalten zu lernen, ist sehr viel größer als bei Tieren. Wir können Sprache lernen, ein komplexes Gemeinwesen begreifen, wir können unsere Geschichte verstehen und eine Zukunft planen, und wir können ― was kein anderes Tier kann ― Einfluß auf unsere Umgebung nehmen.[80]
Um Menschen als Wesen zu betrachten, die willenlos hinter ihren eigenen Genen herlaufen, muß man einen Großteil der menschlichen Geschichte leugnen.
Argument 2: Die anderen Völker
Wie stichhaltig ist nun die These von der universellen Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen? Inwieweit sind Männer immer noch Jäger, die die Beute nach Hause bringen?
Zum einen ist erwiesenermaßen das Idealbild des Ernährers gegenüber der Hausfrau nicht so selbstverständlich und weitverbreitet, wie die Soziobiologen uns glauben machen wollen. In Amerika, woher die Theorie stammt, haben schon mehr als die Hälfte der Familien in städtischen Gemeinden Doppelernährer. Und 14% der Familien kennen keinen männlichen Ernährer mehr, sondern haben eine Frau als Haushaltsvorstand.[81]
Wir brauchen außerdem nicht sehr weit in der Geschichte zurückzugehen, um festzustellen, daß das Bild von der daheimsitzenden Frau und dem außer Haus arbeitenden Mann ― außer für die herrschende Klasse ― eine ziemlich moderne Erscheinung ist.[82] Aber auch der Vergleich mit noch bestehenden Stämmen, die ja die Vorstufen für die heutige Rollenverteilung darstellen müßten, liefert kein so eindeutiges Bild, wie die Soziobiologen es gerne sähen. Es wurden viele Untersuchungen über die sogenannten Jäger-Sammler-Gesellschaften angestellt, über Menschen, die sich von gejagten Tieren oder gesammelten Pflanzen ernähren.
Das davon in der Populärliteratur haften gebliebene Bild ist das des stärkeren Mannes, der zur Jagd auszieht und die schwachen Frauen gegen Eindringlinge und wilde Tiere beschützt, also ein Vorläufer des heutigen Idealbildes, bei dem die Frauen mit den Kindern zu Hause sind. Aber auch die mit diesen Bildern in die westliche Welt zurückgekehrten Anthropologen sahen als Männer oft nur, was sie sehen wollten. Margaret Mead bewies, daß die Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen bei verschiedenen Völkern sehr stark voneinander abweicht. Sie fand Stämme, in denen sich sowohl die Männer als auch die Frauen »männlich« verhielten und in aggressiver Weise miteinander konkurrierten. Sie fand einen Stamm, in dem sich beide Geschlechter sanft und kooperativ verhielten, was wir »weiblich« nennen würden. Sie fand auch einen Stamm, in dem das Verhalten in unseren Augen umgekehrt war.[83]
Auch spätere Anthropologen griffen das Bild des kräftigen Jägers und des schwachen Weibchens an. Denn die Kinder versorgenden Frauen taten alles andere, als passiv zu Hause abzuwarten. In vielen Stämmen waren gerade die Frauen tagelang und meist in einer Gruppe unterwegs und sammelten Nahrung. Einige Frauen nahmen ihre Kinder auf dem Rücken mit, andere Kinder wurden gemeinsam von den zurückgebliebenen Frauen versorgt.[84]
Lionel Tiger [85] behauptet, Männer hätten besser als Frauen gelernt, zusammenzuarbeiten, weil sie in Urzeiten gemeinsam auf die Jagd gingen. Deshalb seien die Männer immer noch das geeignetere Geschlecht für die politische Arena, da dort Aggression und Zusammenarbeit gefordert werde. Denn die Eigenschaften zur aggressiven und kompetenten Zusammenarbeit sei in die männliche Erbmasse, die Gene eingegangen. Aber sowohl bei Rhesusaffen [86] als auch bei sogenannten primitiven Völkern können wir sehen, daß die ersten Formen der Zusammenarbeit zwischen Mutter und Kind und zwischen Müttern untereinander stattfinden. Wenn es eine menschliche Beziehung gab, die zur Gruppenbildung geführt haben soll, ist es mit größerer Wahrscheinlichkeit die Beziehung zwischen Mutter und Kind und die zwischen den Frauen gewesen, als die zwischen den jagenden Männern untereinander.
Außerdem ist mit dem Jagen allein die dominante Stellung von Männern nicht erklärt. Denn als Stamm waren die Menschen weniger von der Nahrung abhängig, die die Männer nach Hause brachten ― fleischliche Nahrung nimmt in den meisten untersuchten Völkern nur zwischen 10 und 40% ein ― als von der Nahrung, die die Frauen sammelten.[87]
Sofern die ererbte Aggression dazu führte, daß Männer beinahe überall in der westlichen Welt die wichtigsten Stellungen im politischen Bereich, im Geschäftsleben und in den Armeen einnehmen, müßte die entsprechende Schlußfolgerung lauten: weiße Männer sind aggressiver als schwarze, Männer aus der Mittelschicht sind stärker und kämpfen härter als Männer aus der Arbeiterklasse. Denn schließlich dominieren Männer nicht nur Frauen, auch unter Männern gibt es eine starke Rangordnung, die sich u. a. auf ethnische Herkunft und Klassenzugehörigkeit gründet. Die Kernthese aus der Soziobiologie, nach der es vor allem die männliche Aggression sei, die Männer dafür geeigneter mache, die Führung zu übernehmen, ist also Unsinn. Denn die größten Raufbolde in unserer Gesellschaft enden eher im Gefängnis als auf dem Stuhl des Ministerpräsidenten.[88] Obwohl sich Topmanager gern mit einem harten männlichen Image starker Getränke und hübscher Sekretärinnen umgeben, beruht das heutige Management wahrscheinlich eher auf »sogenannten« weiblichen Eigenschaften wie Einfühlungsvermögen, Pflege von Beziehungen und Überblick über ein Netzwerk, kurz: eher auf Zusammenarbeit [89] als auf den traditionell männlichen Werten des einsamen Mannes an der Spitze, der über seine Untergebenen hinweggeht und eigenen Ambitionen nachjagt. Das Dallas-Image.
Das Argument der Natur
Die Argumentation der Soziobiologen läuft im Endeffekt auf eine sich aus der Biologie ergebende Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern hinaus, auf durch die Evolution gewachsene Unterschiede. Inzwischen ist aber die Fragwürdigkeit einer solchen Beweisführung nachgewiesen. Und selbst wenn die bestehenden Unterschiede einen natürlichen Ursprung haben sollten, was bedeutet das schon? Wenn das Argument der Natur benutzt wird, nimmt man unausgesprochen an, daß das Natürliche auch zwangsläufig gut ist und bleiben muß.[90] Antifeministen machen sich diesen Gedanken ebenso zunutze, wie jene Feministinnen, die davon ausgehen, daß Frauen von Natur aus eine andere Sexualität hätten als Männer oder von Natur aus friedliebender seien. Aber wie gültig ist dieser Gedankengang? In anderen Bereichen unserer Existenz haben wir weniger Ehrfurcht vor der Natur. Von Natur aus würden Menschen an einer Lungenentzündung sterben, aber niemand zöge dort die Natur als Argument heran, um jede Form medizinischer Hilfe abzulehnen. Vieles von dem, was wir Menschen schätzen lernen, ist alles andere als natürlich, deshalb aber noch lange nicht schlecht.
Angenommen, es gäbe tatsächlich biologische Unterschiede zwischen Männern und Frauen, angenommen, Männer hätten in der Tat von Natur aus die Angewohnheit, aggressiver zu sein als Frauen. Ist das ein Grund zu akzeptieren, daß Männer Frauen beherrschen? Ist das ein Argument, den Männern die leitenden Positionen in dieser Gesellschaft zu überlassen? Warum sollte das so sein?
Auf anderen Gebieten finden wir es selbstverständlich, die Natur zu beherrschen. Wir denken uns Maßnahmen aus, um gegen Naturkatastrophen, Hungersnöte, Überschwemmungen, Kälte und Krankheiten gefeit zu sein. Sollte sich herausstellen, daß Männer von Natur aus aggressiver sind, haben wir damit doch ein Argument, Vorschriften zu fordern, die die Aggression von Männern im Zaum halten, genauso wie wir auch gegen Diebstahl beschützt zu werden wünschen. Angenommen, Frauen verfügten von Natur aus über eine größere verbale Fähigkeit und Männer über ein größeres räumliches Sehvermögen, können wir doch entscheiden, ob wir unser Schulsystem diesen Fähigkeiten anpassen und genau das fördern, was von der Anlage her in größerem Maße vorhanden ist, oder ein Kompensationsprogramm fordern, um Männern größere verbale Fähigkeiten beizubringen und Mädchen im räumlichen Sehen besser auszubilden.
Eine andere Behauptung der Soziobiologen: Wenn man nachweisen kann, daß das Verhältnis zwischen den Geschlechtern eine Folge unserer Biologie statt Folge gesellschaftlicher Prozesse ist, hätte man damit gleichzeitig dessen Unveränderbarkeit nachgewiesen. Aber auch das ist nicht wahr. Die Biologie an sich ist nicht unveränderbar. Nehmen wir nur mal unsere Fruchtbarkeit: eigentlich eine natürliche Angelegenheit, aber inzwischen sind wir imstande, in diese mit Verhütungsmitteln und Sterilisation unmittelbar einzugreifen. Und daneben unsere Versuche, gesellschaftliche Verhältnisse zu ändern: Wie schwer ist es doch, Klassenverhältnisse zu verändern, Armut verschwinden zu lassen oder Rassentrennung aufzuheben.[91]
Mit dem Argument, es sei so schwierig, bestehende Verhältnisse zwischen Männern und Frauen zu verändern, die Muster seien so zäh, läßt sich der Gedanke nicht verteidigen, diese Ungleichheit wurzele in unserer Natur.
Wir haben als Feministinnen keinen Grund, biologische Tatsachen, solange sie nachweisbar sind, von uns zu weisen. Wir haben auch kaum Grund, den Soziobiologen, die bestehende Machtverhältnisse mit dem Argument der Natur verteidigen, mit einer alternativen biologistischen Theorie über unsere wahre Natur entgegenzutreten.
Und dann habe ich noch ein Argument, auf das die Soziobiologen anscheinend selbst nicht gekommen sind. Soziobiologen grenzen sich zwar gegen den Feminismus ab, erklären aber mit der eigenen Theorie nicht, woher die Massen böser Damen kommen. Wenn wir die Evolutionslehre ernst nehmen, müssen wir das sich verändernde Verhalten von Menschen als Reaktion auf sich verändernde Umstände begreifen und somit als Versuch, unsere Überlebenschancen zu erhöhen. Wenn wir so weiterdiskutieren, könnten wir plausibel machen, daß der Feminismus eine Phase der menschlichen Evolution darstellt. Da wir nun ― im Prinzip ― genug Nahrung haben, um nicht mehr auf die Jagd gehen zu müssen, da wir nun weniger Kinder bekommen müssen, weil wir sonst an Überbevölkerung zugrunde gehen, welchen Nutzen haben heutzutage die alten Rollenmuster noch zum Überleben? Keinen. Im Gegenteil, wenn wir die Evolutionslehre ernst nehmen, ist der Feminismus entstanden, weil er kommen mußte. Dann haben wir es mit einem neuen, besser angepaßten Menschentypus zu tun. Und dann brauchen wir uns auch nicht über die Soziobiologen aufzuregen. Sie kämpfen auf verlorenem Posten und sterben ohnehin als erste aus.
6. Schlußfolgerungen
Was können wir nun aus dem Vorangegangenen folgern?
- Erstens: Es gibt zwischen Männern und Frauen zwar biologische Unterschiede, aber diese sind nicht an sich losgelöst vom Einfluß der Umgebung zu betrachten. Wahrscheinlich können wir das am besten an dem, was unter »multiple effect« verstanden wird, erkennen: Bestehende Unterschiede bei der Geburt werden durch die Sozialisation vergrößert, und die Umgebung wirkt auch wieder auf die biologischen Tatsachen ein. Es gibt also keine künstliche Trennung ― wenn es um Menschen geht ― zwischen Natur und Kultur.[92] Anders ausgedrückt: Von Natur aus sind Menschen kulturell bestimmte Wesen. Jedes menschliche Verhalten ist biologisch: Wir erfahren es mit unseren Sinnen, und wir handeln mit unserem Körper, unser Gehirn eingeschlossen. Es gibt keinen Einfluß der Umgebung, der ohne die Möglichkeiten und Grenzen unseres Körpers denkbar wäre. Aber es ist auch kein Einfluß denkbar, der von unserer Umwelt losgelöst ist. Jedes menschliche Verhalten ist auch gesellschaftlich, unser Handeln wird von einem ganzen Geflecht sozialer Beziehungen bestimmt, von den Normen und Werten, die wir gelernt haben.
- Zweitens: Dieselben biologischen Tatsachen können unter verschiedenen gesellschaftlichen Umständen jeweils etwas anderes bedeuten. Die biologische Tatsache, daß Frauen ein Kind gebären können, hat zu verschiedenen Zeiten jeweils unterschiedliche Folgen gehabt. Oder wie Eichler es formulierte: Es kann gut sein, daß Muskelkraft, Schnelligkeit, Ausharrungsvermögen und gute Augen früher einen guten Jäger ausmachten, doch heute, da Menschen wild aus Flugzeugen mit teleskopischen Gewehren Wild jagen, kann ein dicker, älterer, kurzsichtiger Mann mit X-Beinen sehr viel mehr Beute mit nach Hause bringen als sein Bruder aus der Vorgeschichte.
- Drittens: Keiner der nachweisbaren biologischen Unterschiede reicht aus, um die bestehende Arbeitsteilung und ungleiche Machtverteilung zwischen Frauen und Männern zu erklären. Daß Männer im Verhältnis kräftiger sind, könnte zur Folge haben, daß es in Berufen, in denen wir Körperkraft brauchen, im Verhältnis mehr Männer gäbe. Aber es gibt nur noch wenige solcher Berufe und erklärt auch nicht, warum es in einigen »Männerberufen« überhaupt keine Frauen oder fast keine gibt! Auch die absoluten Unterschiede erklären wenig. Daß Frauen Kinder gebären, erklärt nicht, warum Frauen den Löwenanteil der Kinderversorgung auf sich nehmen, und sicher auch nicht, daß sie zusätzlich auch noch für die Hausarbeit und Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen verantwortlich sind. Vielleicht hat es einmal eine Zeit gegeben, in der es das Praktischste für den Fortbestand der Menschheit war, daß Frauen, die Kinder versorgten, andere Aufgaben übernahmen als Männer. Doch gibt es kein einziges rationales Argument dafür, warum es dann danach, unter anderen Umständen, auch so bleiben muß.
- Viertens: Aus der Erkenntnis biologischer Unterschiede und deren Erforschung läßt sich noch lange keine unterschiedliche gesellschaftliche Stellung, ungleiche Bezahlung oder ungleiche Machtverteilung ableiten.
Angenommen, Mädchen und Jungen würden gleich erzogen, und wir übten keinen Einfluß aus, um Mädchen Frauenverhalten beizubringen und Jungen zu Männern zu erziehen. Angenommen, nun stellte sich heraus, daß Frauen doch andere Eigenschaften entwickeln als Männer. Wäre das eine Rechtfertigung, um dem einen Geschlecht mehr Macht zuzugestehen über die Existenz des anderen Geschlechts als umgekehrt? Aus der Biologie gibt es dafür keine einzige Entschuldigung.
Wenn sich in dem »Grundmaterial«, aus dem wir bestehen, keine ausreichende Erklärung finden läßt für die unterschiedlichen Stellungen, die Frauen und Männer einnehmen, oder für das unterschiedliche Verhalten, das die Geschlechter aufweisen, was dann? Im nächsten Teil des Buches gehe ich auf die Sozialisationsprozesse ein, über die uns beigebracht wird, uns als Männer oder Frauen zu verhalten.