Von Malwida von Meysenbug bis zu Rosa Luxemburg und Clara Zetkin reicht die Reihe der Briefschreiberinnen, die in diesem Bande vereinigt sind. Die zeitlichen Grenzmarken bilden die gescheiterte Revolution von 1848 und die Novemberrevolution von 1918. Malwida von Meysenbug gehörte selbst noch zu den Achtundvierzigerinnen, die eine Verbesserung der gesellschaftlichen Stellung der Frau angestrebt hatten und die dann das Los der äußeren oder inneren Emigration auf sich nahmen. Rosa Luxemburg aber stand in der vordersten Front der Revolutionäre von 1918, wurde eine ihrer kühnsten Führerinnen und schließlich ein Opfer der Konterrevolution. Clara Zetkin übernahm ihr Erbe und verkörperte die große Hoffnung von morgen. So steht diese geschichtliche Periode zwischen zwei Revolutionen, und in ihrem Wellengang werden die vulkanischen Eruptionen erkennbar: die industrielle Revolution, die deutschen Einigungskriege, die Bismarcksche Reichsgründung, die Offensive der Arbeiterbewegung, die Katastrophe des ersten Weltkrieges. Wie alle Vergangenheit, so hat auch diese Patina angesetzt. Selbst Thomas Mann erschien sie noch 1950 in einer Gloriole, obgleich er sie mit einem «Ancien Régime» verglich, und dem krisengeschüttelten Wohlstandsbürger der westlichen Welt von heute zaubert sie sogar das Idyll der letzten glücklichen Zeit hervor. Die Zeugnisse der Briefe dokumentieren indes anderes.
Die Revolution von 1848 hatte das Los der Frau kaum gewandelt. Abgesehen von einigen Künstlerinnen, Schauspielerinnen, Schriftstellerinnen, blieb die bürgerliche Frau in der herkömmlichen Familientradition als Gattin, Hausfrau und Erzieherin der Kinder eingeschlossen. Was man in den Tagen des Vormärz verlangt hatte, war eher Bildung für die Frau als eigentliche Emanzipation gewesen. Die Losung der Demokratin Luise Otto: «Die Teilnahme der Frauen an den Interessen des Staates ist nicht allein ein Recht, sie ist eine Pflicht der Frauen», zündete nur bei einer kleinen Vorhut. Wo man in weiblichen Komitees, Vereinen und Schulgründungen neues Terrain zu gewinnen versuchte, wurden auch diese Bemühungen von der siegreichen Konterrevolution zunichte gemacht. Es gehört zur Ironie der Weltgeschichte, daß in dem Augenblick, als die reaktionären Regierungen meinten, die alten Macht- und Gesellschaftsverhältnisse seien wiederhergestellt, im Schoße dieser Gesellschaft ökonomische Verhältnisse heranwuchsen, die der Frau eine wirtschaftliche Bedeutung verliehen, die sie seit vorgeschichtlicher Zeit verloren hatte. Es traf das ein, was Friedrich Engels 1884 in seiner Schrift «Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats» so formulierte: «Die Befreiung der Frau wird erst möglich, sobald diese auf großem, gesellschaftlichem Maßstab an der Produktion sich beteiligen kann und die häusliche Arbeit sie nur noch in unbedeutendem Maße in Anspruch nimmt. Und dies ist erst möglich geworden durch die moderne große Industrie, die nicht nur Frauenarbeit auf großer Stufenleiter zuläßt, sondern förmlich nach ihr verlangt...»
Der enorme Aufschwung des Wirtschaftslebens im Gefolge eines Übergangs zur maschinellen Industrie wirkte sich unmittelbar zunächst auf die Frauen des Proletariats aus, die zu Fabrikarbeiterinnen wurden. Das schändlichste Kapitel kapitalistischer Ausbeutung wurde damals geschrieben, als die Fabrikherren die Textilarbeiterinnen für einen Tageslohn von siebzig Pfennigen unter den schädlichsten, die Gesundheit ruinierenden Bedingungen schuften ließen.
Von einer ganz anderen Seite her traf der Prozeß, den Karl Marx die «industrielle Revolution» nannte, die Töchter des Bürger- und Kleinbürgertums. Die patriarchalische Familie, die der großen Masse der Frauen Lebensunterhalt und Lebensinhalt gewährt hatte, verlor zunehmend ihre Funktion, und die wirtschaftlichen Konjunkturzyklen und Krisen verbreiteten soziale Unsicherheiten, wie sie in den vorangegangenen Jahrhunderten undenkbar gewesen wären. Vom Handwerksmeister bis zum Großkaufmann wurden die gestern noch gesicherten Familien vom Gespenst des wirtschaftlichen Ruins bedroht. Es ist nicht zufällig, sondern für die Zeit höchst symptomatisch, wenn wir bei Bertha von Suttner hören, daß ihr Schwiegervater den größten Teil seines Vermögens in einem Gründerkrach verlor und daß nur die Zuerkennung des Nobelpreises ihren Lebensabend sicherte. Der Vater Ricarda Huchs vermochte den Zusammenbruch seines Unternehmens nicht aufzuhalten und so blieb der Tochter nichts anderes übrig, als sich dem Beruf der Lehrerin zuzuwenden. Auch bei Rosa Luxemburg stand der drohende Verlust von Hab und Gut an der Wiege. Julian Marchiewski berichtet,daß diese jüdische Kaufmannsfamilie manchmal sogar die Betten zur Pfandleihe tragen mußte, um sich ein paar Rubel zum nackten Lebensunterhalt zu verschaffen.
In sozialer Existenzunsicherheit lebten bis auf Marie von Ebner-Eschenbach alle hier vorgestellten Briefschreiberinnen. Keine von ihnen ahnte, wo sie ihren Lebensabend verbringen würde. Malwida von Meysenbug starb in Rom, Bertha von Suttner in einer Mietwohnung der Wiener Altstadt, Rosa Luxemburg wurde im Berliner Zooviertel ermordet, Clara Zetkin starb in Moskau, Käthe Kollwitz auf der Flucht vor dem Krieg in einer Asylwohnung des Schlosses Montzburg bei Dresden. Das patriarchalische Elternhaus, das noch in den Tagen des Biedermeiers allen Mitgliedern Halt, Verläßlichkeit und Schutz geboten hatte, das Raum und Solidarität auch für die Unverheiratete, die frühzeitig Verwitwete, die in einer Ehekrise Geschiedene bot, verlor diese Funktion, die Besitzverhältnisse gerieten ins Schwanken, das Sicherheitsgefühl wurde mehr und mehr untergraben. Zunächst für Tausende, bald aber für Millionen Frauen erhob sich die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt dringlicher werdende Frage: Wie sichern wir künftig unseren Lebensunterhalt und wie können wir unserem Dasein einen befriedigenden Lebensinhalt geben? Damit aber war die Organisierung der bürgerlichen Frauenbewegung auf die Tagesordnung gesetzt. Am 15. Oktober 1865 trat unter Leitung von Luise Otto Peters und Auguste Schmidt die erste deutsche Frauenkonferenz zusammen, auf der sich der im Februar jenes Jahres gegründete Leipziger Frauenbildungsverein zum Allgemeinen Deutschen Frauenverein konstituierte.
Diese Vereinigung, die für die nächsten dreißig Jahre zur umfassendsten Frauenorganisation Deutschlands wurde, stellte sich die Aufgabe, für die Erhöhung des Bildungsstandes, das Recht der Mädchen und Frauen auf Arbeit und Zugang zu mittleren und höheren Berufen und die Befreiung der Frauenarbeit von allen Hindernissen zu wirken. Damit war einer Bewegung, die in ihrer Schwungkraft und ihrer Hoffnungsperspektive weit über die nüchternen Ziele dieser Vereinigung hinausreichte, der notwendige Rückhalt geschaffen. Selbstverständlich versuchte man die Frauen, die sich für ihre Rechte einsetzten, mit der Behauptung zu diffamieren, daß es sich nur um Mannweiber und prädestinierte alte Jungfern handle.
Es war überwiegend die Jugend, die von neuen Idealen ergriffen wurde. Mit großem Elan und gesteigertem Selbstgefühl zogen die ersten Frauen zum Studium nach Zürich, dessen Universität als erste auf deutschsprachigem Boden seit 1867 weibliche Studierende aufnahm. Lou Salomé, Ricarda Huch, Rosa Luxemburg gehörten zu ihnen. Und daß diese jungen «Emanzipierten» nicht nur interessant, sondern auch attraktiv waren, das belegen neben Berichten, die subjektiv gefärbt sein mögen, auch Photographien aus jener Zeit.
Die nationalistische Hochstimmung nach drei siegreichen Kriegen und der spektakulären Reichsgründung war nicht dazu angetan, die Ausbreitung der Ideen der Frauenbewegung zu fördern. Wo der in feudalistischen Vorstellungen befangene Offizier den ersten Stand im Staate repräsentier und eine «Kultur des Schwertes» gepredigt wird, wo selbst für den Bürger die Anbetung des Heroischen opportun wurde, da findet sich die Frau stärker denn je auf das Haus und die Mutterschaft als ihren Aufgabenbereich verwiesen, da wird die lange Tradition weiblicher Unterdrückung aufs neue stabilisiert. Wo alle zu gehorchen haben, hat vor allem das Weib zu kuschen. Die Emanzipationsverkünder erschienen den Wortführern der herrschenden Schichten lächerlich. «Es ist Dummheit in dieser Bewegung, eine beinahe maskulinische Dummheit, deren sich ein wohlgeratenes Weib - das immer ein kluges Weib ist - von Grund aus zu schämen hätte», heißt es bei Nietzsche, der die antidemokratischen Tendenzen jener Jahre philosophisch reflektierte.
Und wenn Heinrich von Treitschke, der führende Historiker des Hohenzollernstaates, herausfordernd behauptete, daß Männer die Geschichte machen, so drückte das Schlagwort auch aus, daß die Frauen keine Geschichte machten, weil sie unfähig zu jeder Leitung wären, daß sie, wie es im antiken Griechenland hieß, «Ihre Leinwand zu weben» hätten, daß ihre Aufgabe, ausschließlich im Dienen bestehe. Aus dieser Mentalität heraus wird es nur zu gut verständlich, daß Deutschland der letzte Staat Europas war, der das Frauenstudium zugestand, und zwar nicht nur wegen der Gegnerschaft der reaktionären Regierungen, sondern auch wegen des Widerstandes der Professoren. Obwohl die Zahl der Frauen, die ein wissenschaftliches Studium aufnehmen wollten, noch relativ gering war im Winter 1898/99 zählte man in der Schweiz 555 weibliche Immatrikulierte, von denen 473 Ausländerinnen waren so spitzte sich doch gerade bei dieser Frage die Auseinandersetzung am schärfsten zu. Die Frauenverbände rückten zwar immer das Streben nach höherer Bildung in den Vordergrund, die Staatsbürokratie und ihr Anhang samt Großgrundbesitzern, Militärs und Industrieherren sahen aber viel mehr die Gefahr, wie hier Führungskader einer Bewegung heranwachsen konnten, deren letzte Ziele und Ausmaße keiner überblickte. Noch hatte man nur allzu gut in Erinnerung, wie die liberale und demokratische Flut des Vormärz vor allem von Advokaten, Ärzten, Historikern und anderen an Universitäten Ausgebildeten angeführt worden war. Und schon forderten die radikalsten Elemente der Frauenemanzipation auch das Frauenstimmrecht. So wenig die bürgerliche Frauenbewegung je an einen Umsturz der Gesellschaft dachte, vielmehr stets nur für Reformen innerhalb des bestehenden Systems eintrat, geriet sie dennoch in der Vorstellungswelt der Herrschenden in den Verdacht gefährlicher, ja staatsgefährdender Bestrebungen, zumindest aber wurde sie als etwas Oppositionelles empfunden.
Freilich konnte alles Lob der «züchtigen Hausfrau», die als «fühlende Seele» und als «treue Tochter der frommen Natur», gleichsam als willenloses, anschmiegsames Geschöpf, dem Hausherrn untertan war, nicht die alten patriarchalischen Zeiten wiederherstellen, ein Ideal, das für Friedrich Schiller noch ein angemessenes Leitbild gewesen sein mochte. Um das Jahr 1890 herum trat das freie, sich von den Zwängen der Tradition befreiende Mädchen so deutlich ins allgemeine Kulturbewußtsein, daß die Schriftsteller der Literaturbewegung des «Naturalismus» die Frauenemanzipation zu einem der meistbehandelten Themen erhoben. Vorangegangen waren schon zehn Jahre zuvor die Aufführungen von Ibsens Schauspiel «Nora oder ein Puppenheim», das wie ein Fanal wirkte. Dieses «Antifamilienstück» zeigte, wie die zu Mündigkeit herangereifte Frau in der herkömmlichen Ehe nicht mehr weiterleben konnte, auch nicht mit den goldenen Ketten des Advokaten Helmer. Nora flieht aus der Unmündigkeit, aus dem Puppenheim, in dem die Frau allenfalls ein Spielzeug sein darf hinaus in ein ungewisses Leben mit der Hoffnung im Herzen, es werde eines Tages das Wunder geschehen und Mann und Frau sich so verändern, daß ihr Zusammenleben zu einer echten Ehe führen könnte. Kein Ausnahmefall war hier auf die Bühne gebracht, sondern die Normalsituation der bürgerlichen Frau jener Zeit, die ermuntert wurde, es Nora gleichzutun. Selten hat ein Stück einen solchen uns heute unverständlichen Sturm der Entrüstung hervorgerufen. Solche Art Aufsässigkeit hatten die Männer der Gründerjahre nicht erwartet. Nora wurde zu einer Leitfigur der Zeit, in der viele Frauen sich und ihr Schicksal wiedererkannten. Drei von den Frauen dieser Briefauswahl nahmen Züge von Nora auf, sobald sie sich in die Fesseln der bürgerlichen Ehe verstrickten. Lou Andreas-Salomé setzte der Tyrannei des Gatten das Recht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit entgegen und entzog sich der Ausweglosigkeit ihrer Situation durch immer neue ausgedehnte Reisen, durch immer neue Fluchtversuche. Ricarda Huch entschloß sich zweimal zur Trennung, als das Zusammenleben mit ihren Partnern für sie fruchtlos wurde. Die Malerin Paula Modersohn-Becker floh im Februar 1906 nach Paris und schrieb über ihre Ehe an die Mutter:
«...ich konnte es nicht mehr aushalten und werde es auch wohl nie wieder aushalten können. Es war mir alles zu eng und nicht das und immer weniger das, was ich brauche. Ich fange jetzt ein neues Leben an.»
Ein positives zeitcharakteristisches Frauenbild der Emanzipation hat Gerhart Hauptmann in der Figur der Studentin Anna Mahr in dem Drama «Einsame Menschen» geschaffen. Wie Lou Salomé und schließlich auch Rosa Luxemburg kommt sie aus Rußland, lebte in Zürich und hat dort Philosophie studiert. Sie verkörpert einen neuen Typus von fortschrittlicher bürgerlicher Frau, die in Studium und Beruf einen Schritt zur Emanzipation sieht und in der Lage ist, sich mit der Situation ihrer Zeit geistig auseinanderzusetzen. Ihr Verhältnis zu dem unentschlossenen Naturwissenschaftler Dr. Vockerat ist wie ein Versprechen für die Zukunft, daß es unter besseren Bedingungen eine ebenbürtige geistige Kameradschaft zwischen Mann und Frau ohne Unterdrückung geben könne.
Diese neue Emanzipationswelle, die sich deutlich von der der Romantik und der des Vormärz abhebt, dokumentiert sich auch in den Frauenbriefen der Zeit. Die Gleichberechtigungsansprüche einer Malwida von Meysenbug nehmen sich noch recht bescheiden aus. Der Leser spürt, wie sie in der Achtung vor der männlichen Überlegenheit erzogen war, wie sich ihr Denken, das besonders durch hochgeistige Männer, den freikirchlich-theologischen Schriftsteller Theodor Althaus, Alexander Herzen und Richard Wagner, inspiriert wurde, damit begnügt, vor allem helfende Gefährtin, Freundin, Pflegemutter, Beschützerin, Nothelferin und Gönnerin zu sein. Auch ihr Bild von dem, was sich für Frauen ziemt, bleibt noch in einem engen Kreis befangen, wenn sie der jungen Lou Salomé, ihrem Schützling, schreibt, daß es ihr um die «edelste geistige Emanzipation» gehe und daß ein junges, Mädchen Spaziergänge mit Herren im nächtlichen Rom zu meiden habe. Ähnliche Mäßigung bekunden die Briefe der Marie, von Ebner-Eschenbach. Der Leser weiß, wo sie in der Frauenfrage steht, wenn er anklagende Sätze liest wie die:
«Der deutsche Doktrinarismus ist am Ende seiner Weisheit den Frauen gegenüber auf dem Punkt angelangt, auf dem das verkommenste Volk der Erde, den Deutschen übrigens sehr nahe verwandt und mit ihm aus einem Ei gekrochen - das persische - sich schon seit einiger Zeit befindet. Beide meinen, daß man einer Henne, die krähen will, den Hals umdrehen soll. Ich stehe gut dafür, daß jede Henne in Deutschland froh ist, wenn sie nicht zu krähen braucht, und daß jede, der es nicht erlassen worden, denkt: <hätt es nie in deinen Zweigen, heil'ge Eiche, mir gerauscht.> Aber es hat getauscht, der Ruf ist ergangen, und die Henne muß folgen. Ist es nicht grausam, der Unglücklichen Steine nachzuwerfen, nicht unvernünftig, ihr zuzurufen: Kehr um?»
Doch diese Kritikerin denkt nicht daran, die Grenzen und Möglichkeiten der gegebenen sozialen Ordnung zu überschreiten. Sie möchte sich nur auf kulturellem Gebiet durchsetzen, und sie weiß aus eigener langer Erfahrung, welche Kraftanstrengung es bedeutet, sich als Dichterin in einer von Männern bestimmten Gesellschaft zu behaupten. Daher rührt ihre Bescheidenheit, die sich auch darin ausdrückt, wenn sie Paul Heyse, dem damals führenden Belletristen des deutschen Bildungsbürgertums, überschwenglich dankt, daß er ihre Humoreske «Die Freiherren von Gemperlein» in seine Sammlung «Neuer Deutscher Novellenschatz» aufnahm. Noch die fast Achtzigjährige muß die «ganze Courage» zusammennehmen, wenn sie sich erlaubt, ihrem Arzt das «arme» Büchlein «Altweibersommer» zuzuschicken. Ihre ungünstige Situation als Frau legt ihr nahe, über politische Angelegenheiten möglichst zu schweigen. Sie leidet unter dem «Jammer in Petersburg», dem blutigen Sonntag des 9. Januar 1905, und unter der abenteuerlichen Kriegspolitik des Habsburgerstaats, aber dagegen anzukämpfen vermag sie nicht. «Sie wissen so gut wie ich, daß ich von Politik gar nichts verstehe», schreibt sie noch im Juli 1914.
Über diesen Frauen, die das Scheitern der Revolution von 1848 erlebt hatten, lag ein resignativer Zug. Sie wagten es nicht, hoch hinauszuwollen, orientierten sich auf kluge Beschränkung. Dennoch hielten sie den Anspruch auf Selbständigkeit und Gleichberechtigung jederzeit aufrecht. Wie tief die Bewegung Wurzeln geschlagen hatte, spiegelt sich auch darin, daß sie sogar Randgruppen der christlichen Kirchen erfaßte, die der Frau das Recht einräumten, die Fülle und Vielfalt ihrer Begabung im christlichen Sinne zu beweisen. Schon in einer Persönlichkeit wie Amalie Sieveking, die mit hohem persönlichem Einsatz einen Verein für Armen- und Krankenpflege gründete, wurde sichtbar, wie das weibliche Demutsideal vom Ideal weiblicher Selbständigkeit abgelöst wurde. Die Berufstätigkeit einer Frau wie Marie Hesse, Mutter des Dichters Hermann Hesse, als Lehrerin in indischen Missionsschulen und später als Gehilfin im Verlag der Calwer Vereinsbuchhandlung wurzelte zwar noch im patriarchalischen Familienverband, aber die Interessenperspektive war von Kindheit an auch von säkularen Freiheitswünschen und dem Drang, soziale Zustände zu bessern, mitbestimmt. Schon im Korntaler Mädchen-Institut empörte sie sich gegen die weltfremden und inhumanen Disziplinarmaßnahmen der Leitenden. Von der Mutter wandte sie sich in ihrer Jugendkrise ab, weil sie in ihren Augen bloß eine «strenge, gesetzliche Bußpredigerin» war. In ihr Tagebuch
schrieb die Einundzwanzigjährige: Ich kann Mama nicht verstehen, sie spricht von Heiraten, als sei das das Große. Lieben will ich, lieben, das ist mir wichtiger als heiraten. »Von Jugend auf wanderte ihr Blick über die Familie hinaus, und noch im Alter begeisterte sie sich für die Antisklavereibewegung und freute sich, «daß alsgemach in Deutschland sich auch Herzen erwärmen für diese ernste Sache.»
Ein ganz anderes Bild von Aktivität vermitteln die Briefe Bertha von Suttners. Das eigentliche Ziel auch der bürgerlichen Frauenbewegung lag außerhalb der familiären Grenzen, jenseits der Schutzgatter, die sie bisher eingeengt hatten. Neben dem Recht auf selbstgewählte Liebe, freies Leben, bessere Schulbildung, Studium, Beruf und Stimmrecht lagen noch viele andere Möglichkeiten, ausgesprochene wie unausgesprochene an ihrem Horizont. Der Wunsch nach Frieden in der Welt gehörte unabdingbar seit vorgeschichtlicher Zeit zu den Sehnsüchten der Frau, zumal der Mutter Niemand hat gegen Ende des 19. Jahrhunderts dem Friedensgedanken so viel Resonanz in der Öffentlichkeit geschaffen, wie Bertha von Suttner. Ihr Buch »Die Waffen nieder!« wurde in Hunderttausenden von Exemplaren verbreitet; Wilhelm Liebknecht druckte es im »Vorwärts« nach. Schon der Titel bedeutet Protest und Provokation. Die Redaktionen der Zeitschriften erklärten, daß es ganz ausgeschlossen sei, einen solchen Roman in einem Militärstaat zu veröffentlichen. Der »geheiligten« Institution Krieg wurde der publizistische Kampf erklärt. Der kaisertreue Felix Dahn, professoraler Wortführer des großdeutschen Chauvinismus und Autor dickleibiger historischer Germanenromane, faßte die Meinung aller Militaristen in den tendenziösen Versen zusammen:
»Die Waffen hoch! Das Schwert ist Mannes eigen,
Wo Männer fechten, hat das Weib zu schweigen,
Doch freilich, Männer gibts in diesen Tagen,
Die sollten lieber Unterröcke tragen.«
Bertha von Suttners erfolgreiche propagandistische und organisatorische Bemühungen um die österreichische und die internationale Friedensbewegung bewiesen alsbald, was eine Frau bei dem nötigen Willen zu Aktion auch unter ungünstigen gesellschaftlichen Bedingungen zu leisten vermochte, wie sie die ihr vom Moralkodex der Herrschenden gezogenen Schranken zu überschreiten, den Einflußbereich der Frau auch in der Öffentlichkeit wesentlich auszuweiten vermochte. Die Rolle, die sie auf der ersten Haager Friedenskonferenz spielte, wir sie ihren Ruf begründete, eine Persönlichkeit von internationalem Format zu sein, und ihre Agitationsreisen, die sie bis in die Vereinigten Staaten führten, zeigen, wie hier politische Aktivität der Frau eine neue Qualität erreichte, die über die politischen Einwirkungsversuche Bettina von Arnims in den Tagen des Vormärz weit hinausgingen. Bertha von Suttner bewegte sich in der Gesellschaft mit unbefangenem Selbstvertrauen und ließ sich nicht von der angeblichen Überlegenheit des Mannes einschüchtern. Ihr lächelnder Mut kannte keine Hemmungen der Welt gegenüber. Ob sie nun dem russischen Außenminister, dem Industriellen Alfred Nobel, aristokratischen oder bürgerlichen Parlamentariern, den Führenden der internationalen Friedensbewegung begegnete, immer verkehrte sie mit ihnen auf gleichem Fuß.
Auf andere Weise unbefangen verhielt sich Lou Andreas-Salomé im Umgang mit dem männlichen Geschlecht. Malwidas Ratschlag zur Zurückhaltung schlug sie keck in den Wind. Sie wollte freier, provokanter, weniger zahm als ihre Vorgängerinnen sein. «Wir wollen doch sehen, ob nicht die allermeisten sogenannten <unübersteiglichen Schranken>, die die Welt zieht, sich als harmlose Kreidestriche herausstellen», schrieb sie im Alter von 21 Jahren. Daß die Sitten und Meinungen der bürgerlichen Gesellschaft nicht ganz so harmlos einzuschätzen waren, erfuhr sie nur zu bald, als ihr sogar die Ausweisung aus Deutschland durch die Polizei drohte. Schriftstellerruhm und Pofessorenherrlichkeit schüchterten schon die Studentin nicht ein. Von Nietzsche ist der Satz überliefert: «Diese junge Dame bildet sich ein, klüger zu sein als ich und Rée zusammengenommen». Ihre Biographie bezeugt den ernsthaften Versuch, auf individualistischem Wege die der Frau vom Herkommen gesteckten Grenzen zumindest im privaten Bereich zu verrücken.
Die Steigerung des weiblichen Selbstbewußtseins wird in dieser Zeit auch in der Kunst dokumentiert. Wenn sich in der Vergangenheit talentierte bürgerliche oder aristokratische Frauen dem selbständigen künstlerischen Schaffen zuwandten, so setzten sie auf die Karte des Konformismus, auf das in ihrer Gesellschaft Gängige. Zum ersten Male traten Künstlerinnen auf den Plan, die sich wie Paula, Modersohn-Becker oder Käthe Kollwitz auf unbetretene Pfade wagten und sich nicht scheuten, öffentlich Ärgernis zu erregen. Im Jahre 1899 schrieb Paula, Becker an die Eltern: «Ich sehe, daß meine Ziele sich mehr und mehr von den Euren entfernen werden, daß Ihr sie weniger und weniger billigen werdet. Und trotz alledem muß ich ihnen folgen. Ich fühle, daß alle Menschen sich an mir erschrecken, und doch muß ich weiter.» Weder durch negative Kritiken noch durch die Erfolge ihrer Worpsweder Malerfreunde ließ sie sich beirren. Sie sah deren Grenzen und verfolgte im Bewußtsein voller Mündigkeit ihren eigenen persönlichen Weg, einfache Menschen in «Runenschrift» darzustellen.
Und Käthe Kollwitz, «diese Frau mit dem Herzen eines Mannes», wie Romain Rolland schrieb, zögerte keinen Augenblick, sich als Künstlerin konsequent auf die Seite der sozialistischen Opposition zu stellen, als das noch Mut und Opfer erforderte. In dem großen grafischen Zyklus «Bauernkrieg» zeigte sie zum ersten Male die Frau in der revolutionären Aktion, und in ihren zahlreichen Darstellungen zum Thema Mutter und Kind unterstrich sie vor allem das soziale Gewissen der Frau. Ihre öffentliche Erwiderung an Richard Dehmel vom Oktober 1918, die in der Losung gipfelte: «Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden», wurzelte in demselben Engagement.
Auch die Briefe der Ricarda Huch sagen viel Nachdenkenswertes aus. Diese Dichterin, die Thomas Mann 1924 die «Erste Frau Deutschlands» nannte, hatte in freier Entscheidung zwei Ehen geschlossen und sich beide Male von ihrem Partner getrennt. Unter den Vorurteilen der wilhelminischen Vorkriegsgesellschaft sahen die meisten in solchem Verhalten Leichtfertigkeit, während ihre Briefe unter welchen Qualen solche Entscheidungen gefällt wurden. Sie stand mit diesem Geschick nicht allein. Die Dokumente ihrer Zeitgenossinnen, wie die von Lou Salomé oder Paula Becker, sprechen ja nicht nur von Erfolgen und Beglückung, die die teilweise Emanzipation der einzelnen Frau brachte, sondern mehr noch von der Schwere ihrer Situation, von Not und Gefahr und Widersprüchen, in die sie sich verstrickten.
Von ganz anderen Bedürfnissen getrieben und mit ganz anderen Zielstellungen zogen die Arbeiterinnen in den Kampf um Befreiung. In ihrem Nekrolog auf Ibsen bezeichnet Clara Zetkin diesen großen Gesellschaftskritiker als den
- »Dichter des Weibes, das sich aus dem existierenden Sumpf einer lügenhaften Existenz erhebt, mit wundgerungenen Händen und blutendem Herzen die alten Tafeln zerschlägt und das Recht des Menschentums seiner Persönlichkeit fordert» Aber im Unterschied zu Nora habe die Proletarierin
- «die größte und entscheidende Schlacht für die soziale und menschliche Emanzipation nicht gegen die Helmers und ihre Ehelüge auszufechten, sondern gegen die Kapitalistenklasse und ihre Ordnung».
Ihre Lage war in ganz anderer Weise erbärmlich und trostlos. Schuftete sie als Fabrikarbeiterin, Konfektionsnäherin, Landarbeiterin oder Dienstmädchen für einen Hungerlohn in einer Arbeitszeit von zwölf und mehr Stunden, so konnte sie niemals als einzelne, sondern nur im organisatorischen Zusammenschluß und in Verbindung mit jener Partei, die für alle Ausgebeuteten eintrat, der deutschen Solzialdemokratie, ihre Lage zu bessern hoffen.
Einzelne Arbeiterinnenvereine hatte es auch schon in den sechziger und siebziger Jahren gegeben. Nun entstanden aber allerwärts sozialistische Frauen- und Männervereine und »Frauenagitationskommissionen«, die freilich unter wesentlich schwierigeren Bedingungen arbeiten mußten als die bürgerlichen Frauenverbände. Denn nach den staatlichen Vereinsgesetzen war politischen Vereinen die Aufnahme von Frauen, Schülern und Lehrlingen verboten, und die Polizei wandte diesen frauenfeindlichen Paragraphen mit voller Härte gegen die Sozialistinnen an. Verbote von Frauenversammlungen waren an der Tagesordnung. Immer sprach die Referentin unter Polizeiaufsicht. Wiederholt wurden sozialistische Frauen wegen Gründung eines verbotenen Vereins vor Gericht gestellt. Oft konnten sie nur heimlich zusammenkommen. Ihre Delegierten waren jedoch auf den Parteitagen gleichberechtigt, ja sie konnten bis in die höchsten Parteifunktionen aufsteigen.
So stand nun der Frau der Weg offen, bei den nötigen Qualitäten auch eine politische Laufbahn zu ergreifen. Seit der Großen Französischen Revolution, wo Olympe de Gouges die Zeitung «L'Impatient» gegründet und eine Deklaration der Frauenrechte vorgeschlagen hatte, war das nicht vorgekommen. Die politische Lehrzeit der Sozialistinnen ging zumeist mit der Tätigkeit einer Redakteurin einher. So war Clara Zetkin seit 1892 Chefredakteurin der Zeitschrift «Die Gleichheit». Rosa Luxemburg begann als führende publizistische Mitarbeiterin der Dresdener und Leipziger Parteizeitungen und profilierte sich alsbald durch Reden auf Parteitagen und durch theoretische Schriften zu einer anerkannten Führerin des linken Flügels der Partei. Keine Frau der wilhelminischen Zeit hat die ihr gesteckten Grenzen so weit überschritten wie sie.
Die neue Etappe der kapitalistischen Entwicklung, als deutsche Monopole den Weltmarkt zu beherrschen strebten, stellte auch die sozialistischen Politikerinnen vor neue Probleme. Die umfassendste Expansionsaktion der deutschen Industrie und Wirtschaft ging mit gewaltigen militärischen Anstrengungen einher; denn die Monopolherren sahen sehr gut voraus, daß der Kampf um die Weltmärkte schließlich mit kriegerischen Mitteln ausgetragen werden würde. Neue demagogische Schlagworte vergifteten die Hirne eines großen Teils der Nation. Die ideologische Rüstungskampagne brachte mobilisierende Losungen wie «Ein Platz an der Sonne», «Deutschland braucht Kolonien», «Weltgeltung», «Unsere Zukunft liegt auf dem Wasser». Clara Zetkin hat auf diese Erscheinungen frühzeitig reagiert. Im Februar 1898 sprach sie in einer Berliner Massenversammlung zu dem Thema «Marinevorlage, Kolonialabenteuer und die Interessen der Frauen des Volkes». Schon im Jahre zuvor hatte sie in einem Artikel der «Gleichheit» zu den Flottenplänen Kaiser Wilhelms II. erklärt: «Für diese Marine keinen Kahn und keinen Groschen!» Rosa Luxemburg schrieb sogar ein dickes Buch zur ökonomischen Entwicklung des Imperialismus mit dem Titel «Die Akkumulation des Kapitals». Obgleich sich ihre Erklärung als falsch herausstellte, enthüllte das Werk doch wesentliche Charakterzüge des Spätkapitalismus und trug schon durch seinen kämpferischen Stil viel zu einer wirksamen Gegenagitation bei. Den Kampf gegen Militarismus und Krieg, der zunehmend in das Zentrum ihrer publizistischen und agitatorischen Arbeit rückte, führte sie als Kampf gegen den Imperialismus. Bereits auf dem Pariser Kongreß der II. Internationale im Jahre 1900 trat sie als Referentin zur Frage «Völkerfriede, Militarismus und stehende Heere» hervor. Auf dem internationalen Sozialistenkongreß in Stuttgart im Jahre 1907 war sie es, die gemeinsam mit Lenin die entscheidenden Anträge einbrachte, die die Generallinie der sozialistischen Parteien im Kampf gegen Militarismus und Krieg in den nächsten Jahren bestimmen sollten.
Als die sozialdemokratische Reichtagsfraktion im Jahre 1913 dem Rüstungsetat der Regierung zustimmte, sagte Rosa Luxemburg voraus, daß diese Politik in die Katastrophe führen müßte. Sie war eine der wenigen, die die internationalen Beschlüsse von Stuttgart, Kopenhagen und Basel wirklich ernst nahmen. In einer öffentlichen Versammlung in Frankfurt am Main rief sie den Arbeitern zu: »Wenn und zugemutet wird, die Mordwaffe gegen unsere französischen oder anderen ausländischen Brüder zu erheben, so erklären wir: Nein das tun wir nicht.» In diesem Aufruf zum Widerstand gegen Schießbefehle sah der Staatsanwalt ein Attentat auf den Staat. Rosa Luxemburg kam wieder einmal vor Gericht und erhielt ein Jahr Gefängnis.
Am 4. August 1914 geschah das, was Rosa Luxemburg und Clara Zetkin hatten verhindern wollen, bei kritischer Beobachtung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion aber schon halb geahnt hatten: ganz Deutschland marschierte in den Krieg und die Arbeiterklasse folgte fast geschlossen dem Trommelwirbel der Militaristen. Vergessen waren die Beschlüsse von Basel, verleugnet die bewährte alte Losung Bebels: »Diesem System und keinen Groschen!« Die opportunistische Parteileitung schwenkte auf die Linie der Politik des »Burgfriedens« ein.
Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion bewilligte die Kriegskredite. Clara Zetkin konstatierte mit Entsetzen, daß die erdrückende Mehrzahl der Parteiorgane nationalistisch, ja chauvinistisch sei, daß nicht wenige die anständigeren bürgerlichen Blätter an »mordpatriotischer Gesinnungstüchtigkeit« noch übertrafen.
Die linke Opposition war unter den Bedingungen des Belagerungszustandes praktisch ausgeschaltet. Sie konnte sich nun in keiner Arbeiterzeitung mehr vernehmlich machen. Zur Sammlung der Kriegsgegner wurde die Zeitschrift »Internationale« gegründet und später die »Spartakusbriefe« verbreitet. Die Kernfrage, wohin der Krieg führen mußte, war klar, Schon 1887 hatte Friedrich Engels vorausgesagt, daß dann »die Kronen zu Dutzenden über das Straßenpflaster rollen und niemand sich findet, der sie aufhebt«, daß nur ein Resultat absolut sicher sei: »die allgemeine Erschöpfung und die Herstellung der Bedingungen des schließlichen Sieges der Arbeiterklasse.« Der Vorbereitung auf diese Situation galten alle konspirativen Tätigkeiten jener Gruppe revolutionärer Sozialisten, die sich mit Franz Mehring, Leon Jogiches, Clara Zetkin, Wilhelm Pieck, Hermann und Käthe Duncker um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht sammelte und ihre Aufgabe stellte sich immer dringlicher, seit deutlich wurde, daß es einen für Deutschland siegreichen Ausgang des Krieges nicht geben würde. Am Sonnabend, dem 9. November 1918, proklamierte der Sozialdemokrat, Philipp Scheidemann aus dem Fenster des Reichstagsgebäudes die bürgerliche Republik. Zwei Stunden später verkündete Karl Liebknecht vom Balkon des Berliner Schlosses in einer Art Gegenkundgebung die freie sozialistische Republik Deutschland. Über den Klassencharakter des neuen Staatsgebildes mußten die weiteren revolutionären Kämpfe entscheiden. Den Frauen brachte die Revolution das aktive und passive Wahlrecht. Damit war eine der wichtigsten Forderungen der bürgerlichen Frauenbewegung Vorkriegszeit erfüllt.
In die Weimarer Nationalversammlung zogen im Jahre 1919 37 Frauen als Abgeordnete ein. Die dort beschlossene Verfassung garantierte die formale Gleichberechtigung der beiden Geschlechter. Trotz vieler Hindernisse drang die Frau allmählich stärker in das gesellschaftliche Leben ein. Im Jahre 1922 erhielt die Chemikerin und Botanikerin Margarethe von Wrangell als erste Frau in Deutschland eine ordentliche Professur an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Hohenheim bei Stuttgart. Schon 1919 berief die Preußische Akademie der Künste Käthe Kollwitz zu ihrem Mitglied und verlieh ihr den Professorentitel. Ricarda Huch wurde 1926 in die neu gegründete Sektion für Dichtkunst derselben Akademie gewählt. Die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer stand von 1919 bis 1930 als stellvertretende Parteivorsitzende, an der Spitze der Deutschen Demokratischen Partei, Helene Lange, die Gründerin des deutschen Lehrerinnenvereins, war deren Ehrenvorsitzende. 1922 wurden die Frauen zu den Ämtern der Rechtspflege zugelassen.
Zweifellos wurden damals männliche Vorrechte der Vergangenheit weiter abgebaut und die Frau durfte sich eines Augenblicks ihrer Erfolge auf dem Wege zu Befreiung und Gleichberechtigung freuen. Aber noch immer war die Unterdrückung groß und der Protest über nachteilige Gesetze, Institutionen, Sitten und Meinungen heftig. Das neue Ufer der ökonomisch, sozial, politisch und kulturell uneingeschränkt befreiten Frau, das August Bebel in seinem Buch «Die Frau und der Sozialismus» gezeigt hatte, war nicht erreicht. Es blieb als Hoffnung am Horizont jenes Ostens, wo im Rußland der Oktoberrevolution das bisher utopisch Unbestimmte bereits reale Gestalt anzunehmen begann. Viele sahen damals dort schon den Abschluß der Bewegung, sie erkannten nicht, daß auch die Emanzipation der Frau Teil des langwierigen historischen Prozesses der Menschwerdung ist, der immer neue Bemühungen, Entwürfe, Hoffnungen und Kämpfe fordert, um voranzuschreiten. Auf diesem Wege, auf dem die Frau zu immer besserer Erkenntnis der noch unausgeschöpften Möglichkeiten ihrer Entwicklung kommen muß, wird sie auch das Erbe der Geschichte befragen und nicht zuletzt jene tapferen Frauenpersönlichkeiten neu betrachten, die hier vorgestellt werden.