Nie kannte ich einen Geist der so jung so unerschlafft allen Atemzügen der Jugend sich erschloß der mit solcher Frische an einer neuen Morgenröte sich freute das Hoffen der Jünglinge grüßte stets bereit war ihren großen Plänen Glauben zu schenken aufstrahlte bei ihren Erfolgen und sie aufrichtete falls sie fielen weil er selbst niemals niedergeschlagen war. Die Neugierde auf den Morgen den wir nicht mehr sehen werden war bei ihr die Liebe die unversiegbare Quelle die es drängt alle Zukunft zu benetzen
Romain Rolland »Danksagung«
Erinnerungen an Malwida 1925
Zeitgenossen haben sie mit George Sand verglichen. Romain Rolland der große französische Humanist nannte sie eine «vom Korn Goethes genährte Lerche». Ihre autobiographischen «Memoiren einer Idealistin» gehören zu den bedeutendsten und anziehendsten Werken dieses literarischen Genres aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und besonders diesem Buche verdankt sie daß sie noch heute gelesen und gekannt wird. Indes größer als ihre schriftstellerischen Bekundigungen war sie in ihrer persönlichen Ausstrahlungskraft die alle bezeugen die ihr nahetraten. Sie war keine Organisatorin und Kämpferin im Dienste demokratischer Frauenbewegung wie die etwa gleichaltrige Luise OttoPeters sie blieb eine «Individualistin»; aber sie gab in schwieriger Zeit ein Beispiel wie die Frau ihr Recht auf Gleichberechtigung und unverkürzte Persönlichkeitsentfaltung verwirklichen könne. Wie radikal das von ihm gemeint war bezeugen die Worte: «Ich mußte Proletarierin werden um zu beweisen daß die Frau durch eigene Kraft und auf ihr ruhend ein fleckenloses der Achtung wertes Leben führen kann» (16.5.86) Bis zu welcher kulturellen Höhe sie sich erhob zeigen die klangvollen Namen der Persönlichkeiten die ihren Lebensweg kreuzten und weitgehend mitbestimmten: die Deutschen Richard Wagner und Friedrich Nietzsche Karl Schurz und Gottfried Kinkel die Ungarn Pulsky und Kossuth die Italiener Mazzini und Garibaldi der Franzose Louis Blanc die Russen Alexander Herzen[1]und Nikolai Ogarjow. Rolland der Jüngste ihrer Freunde sagte dazu in seinen Erinnerungen: «Sie hatte ihr ganzes Leben neben den Helden und den Ungeheuern des Geistes neben deren Wirrnissen und Besudelungen zugebracht alle hatten sich ihr anvertraut fast alle hatten sie geliebt und nichts hatte das Kristall ihres Denkens getrübt.»
Malwida entstammte keineswegs einer aristokratischen Familie wie ihr Name vermuten lassen könnte. Sie war bürgerlicher Herkunft. Die Linie ihrer mütterlichen Vorfahren leitete sich von Hugenotten her die im 17. Jahrhundert Frankreich um ihres protestantischen Glaubens willen verlassen hatten. Ihr Vater war der kurhessische Hofbeamte Carl Philipp Rivalier. Ihre Mutter Ernestine Hansell kam aus dem Kasseler Bildungsbürgertum. Ihnen wurde am 28. 0ktober 1816 als neuntes Kind eine Tochter geboren die die Namen Amalie Malwida Wilhelmine Tamina erhielt. Erst als das Mädchen neun Jahre alt war wurde dem inzwischen zum Geheimen Kabinettsrat aufgerückten Philipp Rivalier der kurhessische Adel von Meysenbug verliehen so daß auch Malwida erst von 1825 an den geänderten Namen trug mit dem sie später in die Literatur eintrat. Die Stellung des Vaters an der Spitze der feudalhöfischen Bürokratie bestimmte das geistige Klima der Familie. Man anerkannte nicht nur das Bestehende und fügte sich darein sondern fühlte sich mit der Ordnung des deutschen Kleinstaatsabsolutismus auf Gedeih und Verderb verbunden. Aus diesen Existenzbedingungen erwuchsen alle Schwierigkeiten als Malwida etwa im Alter von 27 Jahren von den opositionellen Ideen des VormärzLiberalismus entflammt wurde und sie sich folgerichtig von ihren Verwandten löste.
Die Revolution von 1848 begrüßte sie freudig. In den Tagen des Dresdener Aufstands schrieb sie den Artikel Schwur einer Frau» einen Appell der die Frauen aufrief der gemordeten Freiheit Rächer heranzuziehen indem sie sich fähig machten «eine Generation freier Menschen zu bilden. Im Mai 1850 ging sie nach Hamburg um sich an einem sozialpädagogischen Frauenseminar der «Hochschule für das weibliche Geschlecht» für den Beruf der Erzieherin ausbilden zu lassen. Als sie dann im Mai 1852 auf die Denunziation eines ihrer Brüder hin von der Reaktionspolizei wegen staatsfeindlicher Betätigung aus Berlin ausgewiesen wurde stand sie vor einer schweren Entscheidung. Da sie auf die Bekundung ihrer freiheitlichen Überzeugung nicht verzichten wollte blieb ihr nur das Exil. Wie so viele echte Demokraten jener Tage flüchtete auch sie nach England. Dort fand sie erste Freunde und Beschützer in dem Schriftstellerehepaar Johanna und Gottfried Kinkel. Mit vielen Vorkämpfern der revolutionären Demokratie traf sie zusammen. Am bedeutsamsten und folgenreichsten war die Begegnung mit Alexander Herzen einem reichen russischen Emigranten von umfassender Bildung einem Publizisten europäischen Formats und einem der fortschrittlichsten Denker seiner Zeit.
Um seine häuslichen Verhältnisse zu ordnen benötigte Herzen für seine beiden soeben mutterlos gewordenen kleinen Töchter eine Erzieherin. Malwida folgte dem Ruf der an sie erging um so lieber als sie sich als Gesinnungs und Schicksalsverwandte dieses russischen Schriftstellers fühlte. Auch er hatte sich aus dem aristokratischen Milieu gelöst und mit der alten Heimat gebrochen liebte wie sie Kunst und Wissenschaft glaubte wie sie an die schöpferische Rolle der menschlichen Persönlichkeit trat für die Unterdrückten ein und propagierte wie sie die Tat. Im Dezember 1853 zog sie als gleichberechtigtes Mitglied einer hochstehenden und idealen »Familie der eigenen Wahl« in sein Haus. Während Herzen an seiner gewaltigen Autobiographie »Erlebtes und Gedachtes« schrieb vollendete Malwida ihre demokratischen Lehrjahre. Sie vertiefte sich in die Naturwissenschaften und in die materialistische Philosophie begann Russisch zu lernen befaßte sich mit der russischen Literatur und festigte ihre poltischen und sozialen Anschauungen in den Diskussionen des HerzenKreises. Nicht zuletzt entfaltete sich im Umgang mit den Kindern ihre Mütterllchkeit. Besonders zu der kleinen Olga knüpfte sich ein Band der Liebe das dem zwischen Mutter und Tochter gleichkam und sich über ein halbes Jahrhundert als ihr höchstens Lebensglück erwies. Etwa dreitausend Briefe legen von dieser Liebe Zeugnis ab. Das ideale Zusammenleben in diesem Haus endete als im April 1856 der russische Publizist Ogarjow mit seiner jungen Frau in London eintraf. Dieser Jugendfreund Herzens war gekommen um nnt mit ihm eine revolutionäre Agitation ins Leben zu rufen die speziell russischen Zwecken dienen sollte. Seiner Gattin aber war nach dem letzten Willen von Herzenss Frau die Sorge für die Kinder zugedacht. Rechte sehr verschiedener Art gerieten in Konflikt. Die aus jenen Tagen überlieferten Briefe sind schriftliche Aussprachen zweier Menschen die unter einem Dache wohnten und sich nicht mehr in der Lage sahen die aufgetretenen Spannungen zu beheben. Malwida trennte sich voll Bitterkeit.
Mit dem Abschied vom Hause Herzens stand Malwida vor einem neuen Anfang. Für den Beruf der privaten Erzieherin fühlte sie sich nun mit 40 Jahren zu alt. Sie beschloß daher künftig als Übersetzerin und Schriftstellerin zu leben seit 1862 vornemlich in Italien seit 1877 endgültig in Rom. Auch in ihrer Weltanschauung vollzog sich allmählich ein Umdenken. Sie ging den typischen Weg der liberalen deutschen Intelligenz jener Jahre den Weg von Feuerbach zu Schopenhauer vom Demokratismus zu einem geistesaristokratischen Ästhetizismus von der Begeisterung für die Republik zur Anerkennung der Monarchie kurz zur Versöhnung mit BismarckDeutschland. Sie hat den Umbau ihrer Anschauungen vor allem nach dem Vorbild Richard Wagners vollzogen mit vielen Vorbehalten vielen Selbsttäuschungen im Dienste einer abstrakten Humanität aber immer auf der Grundlage ihres mütterlichen Sinnen mit dem sie vornehmlich einsamen und hilflosen Menschen zuwendete.
Seit 1870 gehörte Malwida zum engsten Kreise Richard Wagners. Bei seiner Eheschließung mit Cosima war die Trauzeugin. Nur ihr labiler Gesundheitszustand bedingte daß sie sich nicht für dauernd in Bayreuth niederließ. Bei der Grundsteinlegung des Wagnerschen »Festspielhauses« lernte sie Friedrich Nietzsche kennen der in seinen ersten Schriften Wagners Kunst als Hoffnungssymbol einer allgemeinen Kulturerneuerung interpretierte. Es entstand eine Freundschaft in der sich Malwina nach Nietzsches eigenem Bekenntnis als »Freundin Mutter Arzt« bewährte. Unzählige haben von ihrer Persönlichkeit den Eindruck der Herzensreinheit der Güte Opferbereitschaft und der Glut ewigen Hoffens gewonnen. Zuletzt hat noch Romain Roland bekannt wie sehr diese Freundin ihm zu einer zweiten Mutter wurde. Als sie am 26. April 1903 in Rom starb wurde ihrem Wunsche gemäß die Leiche verbrannt »als ein Vorbild dessen was freier denkende Generationen mit ihren Toten tun werden«. Die Urne mit der Asche wurde auf den Friedhof bei der Pyramide des Cestius überführt. Karl Schurz faßte damals zusammen wofür sie als Repräsentantin ihrer Zeit gelten konnte: »Sie war der reinste und wahrste und zugleich anziehendste Ausdruck des Idealismus des vorigen Jahrhunderts.«
An Alexander Herzen (1854)
Da Sie diesen Weg [2] eingeschlagen haben so wende ich mich auch noch einmal zu Ihnen weil es wahr ist daß man dem Papier gegenüber kühler leidenschaftsloser und präziser ist.
Einem Irrtum Ihrerseits muß ich zuerst entgegentreten weil es mich wundert und schmerzt daß Sie mich so durchaus mißverstehen. Ich mache keine Ansprüche an das Leben mehr; aber das Leben macht noch Ansprüche an mich und denen entziehe ich mich nicht. Das Bewußtsein hiervon hielt mich zweimal vom Selbstmord zurück dem ich mit der ruhigen Gewißheit ins Angesicht sah daß ich das Recht habe ihn zu begehen. Nicht im Sturm der Leidenschaft sondern aus dem allertiefsten Grunde eines unendlichen Schmerzes heraus begriff ich mein Recht ein Leben abzuschließen das einen vollen Inhalt gehabt hatte das ganz und ungeteilt durchlebt war in jedem Augenblick. Neben jenem Recht aber fühlte ich eine andere Forderung die das Leben an mich an meine noch unverbrauchte Kraft an meinen Geist der noch begreifen an mein Herz das noch mitleiden und trösten konnte. Diese Forderung behielt die Oberhand und ich suchte sie nun auch ganz zu erfüllen. Da ich nicht gestorben war an meiner Vergangenheit wollte ich auch nicht an ihr kränkeln. Wie die Alten einst die Vergänglichkeit des menschlich Schönen in unsterbliche Halbgötter verklärten so begriff ich in heiliger Wehmut an meinen Erinnerungen das Gesetz des Vergänglichen und des Ewigen in unserem Dasein. Wenn es einst so weit ist werde ich mich ruhig niederlegen mit dem Bewußtsein in dem einen oder anderen Herzen als ein verklärtes Bild meiner selbst fortzuleben. Mir schrieb kürzlich eine Freundin: »Wie gern möchte ich bei Deinem Tode sein. Du hast das menschlichste Leben gelebt das ich kenne Du wirst auch so sterben.« Was aber meine Ansprüche auf »Genuß« betrifft so schwöre ich Ihnen zu daß ich mich oft in dem »genußreichen« bewegten Leben in London herzlich langweilte mich hinwegschlich aus den tötenden Wiederholungen desselben Themas und aufatmete oben an den Betten der Kinder im Anschauen ihres unschuldigen Schlafs und in der Empfindung reiner ewig menschlicher Gefühle. In diesen letzten Wochen als alles so friedlich zwischen uns war fühlte ich es oft mit wahrem Glück daß wir anfingen ein vernünftiges Leben zu führen. Ich empfand die stillen Stunden in inhaltvollen Gesprächen mit wenigen Edlen und das immer schöner aufblühende Leben mit den Kindern als den einzigen Genuß den ich noch vom Geschick als Belohnung für meine gesunde Treue verlange den ich mit Dank und Freude empfange ohne mich eigensinnig dagegen zu sträuben ohne mich krank zu wähnen wo ich gesund bin d. h. noch fähig das Edelste im Leben zu empfinden zu geben und zu empfangen.
Als ich den Entschluß faßte zu Ihnen zu kommen sah ich eine liebe Aufgabe vor mir und gelobte mir sie nach besten Kräften zu erfüllen. Ob ich ihr gewachsen sein würde sagte ich nicht ich unternahm es im Gegenteil nur auf gegenseitige Probe. Daß meine Aufgabe eine doppelte war ist gewiß Sie konnte nur für die Kinder gelingen wenn ich auch Sie mit dem Leben versöhnte. Aus dem ersten überraschenden Gelingen gingen die Hindernisse hervor die mir nachher eine Zeitlang das Leben verbitterten. Vielleicht waren auch Fehler meinerseits dabei ich wollte ja damals auch gehen. Sie willigten nicht darein und ich blieb. Im Anfang habe ich selbst manche Bedenken manche schweren Stunden wegen der Kinder gehabt und gezweifelt ob meine Kraft der Aufgabe gewachsen sei. Jetzt glaube ich fest daß ich mein Ziel erreiche und zwar so daß durch die allmähliche Veredelung ihres Wesens und durch ein beständig gutes Beispiel die Kinder von innen heraus sich zum Schönen bilden werden. Zu dieser Bildung halte ich es für notwendig jede unschöne Szene zu vermeiden und mir scheinen Korrekturen in Gesellschaft vor vielen entsetzlich verletzend; entweder demütigen sie zu viel und rufen einen inneren Widerstand hervor oder sie Befördern die Heuchelei d. h. das Streben sich vor andern besser zu zeigen als man ist nur um in ihrer Gegenwart nicht zurechtgewiesen zu werden. Vielleicht habe ich unrecht aber ich kann Beispiele anführen wo ich viel wirksamer auf meine Weise gewesen bin als wenn ich anders gehandelt hätte. Ich glaube zwischen dem wirklichen Erzieher dem Bildner und seinem Zögling sollte ein solches Verständnis herrschen daß ein Blick genügte den letzteren aufzuklären über das Unzulässige was er getan.
Soweit bin ich bereits mit Natalie [3] und nach den Schwierigkeiten die man uns zusammen in den Weg gelegt hat finde ich daß ich schon viel mit ihr erreicht habe. Sie arbeitet wo sie lieber spielte sie unterläßt manches wenn mein Blick ihr sagt daß es zu tadeln wäre. Bleibt nun auch noch vieles zu wünschen übrig so wird das schon werden. Mir selbst sind unschöne Manieren furchtbar nur müssen die guten eben nicht Dressur sondern die Blüte sein die dem organisch zum Edlen und Schönen entwickelten Wesen allmählich entsteigt denn dann erst sind sie wahrhaft gut und im harmonischen Einklang mit dem ganzen Menschen. Wenn das Kind aber einmal ein wenig Kaffee umgießt oder dergleichen so ist das eine Ungeschicklichkeit die sie fühlen muß die aber doch nicht so arg ist um darüber eine Szene zu machen besonders wenn den erwachsenen Personen manchmal dasselbe passiert. Ebenso wenn Olgas übermütige Natur zuweilen über die Stränge schlägt oder wenn sie eigensinnig ist so ist das für die Erwachsenen einen Augenblick lang vielleicht unangenehm besonders für die die vergessen haben daß das Kind sein eigenes Leben hat und seinen Kampf durchmachen muß so gut wie der erwachsene Mensch. Aber was dagegen geschehen muß läßt sich weit besser mit Ruhe und Konsequenz tun als mit Heftigkeit. Die weckt nur die Opposition im Kinde und verlockt es zu unschönen Äußerungen weil es ein gewisses Recht fühlt sein Wesen kundzugeben.
E ... [4] z. B. fordert die Kleine immer heraus und sie ist immer unartiger wenn er da ist während sie Bei seiner Frau und mir reizend ist. Was die Gesundheit betrifft so blühen und gedeihen die Kinder ja gottlob prächtig und wenn man auch nicht allem Unglück vorbeugen kann so ist ihnen bis jetzt doch glücklicherweise auch nicht der leiseste Unfall zugestoßen. Ich glaube daß man recht gut über Kinder wachen kann ohne sie in jedem Augenblick die ängstliche Aufsicht fühlen zu lassen die sie jeder Selbständigkeit beraubt und sie entweder furchtsam oder leichtsinnig macht indem sie sich auf die immerwährende Aufsicht verlassen. Das Kind frühzeitig an die eigene Besonnenheit gewöhnen durch die es Gefahren vermeidet scheint mir unerläßlich um freie sichere Menschen zu bilden. Das geschieht aber viel besser wenn sie nicht unaufhörlich fühlen daß sie bewacht sind. Ich glaube sogar daß dies das einzige richtige Verfahren nicht nur in physischer sondern auch in moralischer Hinsicht ist. Sie wissen indes lieber Freund daß wenn es Ihnen zu langsam geht wenn Sie nicht glauben daß ein Einfluß der moralisch und geistig richtig fördernd wirkt auch mit der Zeit und stiller geräuschloser Arbeit die kleinen Mängel der äußeren Erscheinung zu beseitigen wissen wird ich stets bereit bin den freien Vertrag zwischen uns zu lösen und die begonnene Arbeit in andere Hände zu übergeben. Sie sagen Sie werden mehr und mehr unbarmherzig gegen Ihre Freunde. Ich werde es in einem gewissen Sinne auch. Ich verlange unbegrenztes Vertrauen oder sonst lieber völligen Bruch. Nur nicht im Halben verkommen lassen was ganz wahr und schön sein muß wenn es Früchte bringen soll. Mein «Genuß» wäre es gewesen wenn ich Ihrem Hause Einheit und Poesie hätte zurückgeben können. Leider aber wird dieses Ziel wohl nie ganz erreicht werden weil Sie krank bleiben wollen [5] weil Sie sich nicht so befreien wollen wie es Ihrer Natur allein würdig wäre und das ist das Russentums. [6] Ja da finde ich allerdings etwas was uns zu Antipoden macht. Haben Sie aber noch das alte Vertrauen zu mir so lassen Sie mich gewähren und glauben Sie mir: Ich komme an das Ziel.
An Alexander Herzen 1856
... Nun zu dem Zweiten zu Olga das ist ein kurzes Kapitel obwohl es in meiner Erinnerung das längste sein wird. Dieses gute Kind hat sich mit wunderbarer Sympathie von vornherein an mich geschlossen sie hat mich zuerst und allein ganz und wahr lieb gehabt hier im Hause und ich hab sie geliebt und lieb sie noch wie eine eigene Mutter ihr Kind nicht mehr lieben kann. Das ist unsre Geschichte. Ja dieses Kind werde ich beweinen so lange ich noch lebe und ich weiß auch daß niemand es so gut erzogen hätte als ich. Von diesem Kinde sage ich's und weiß es denn niemand verstand seine Natur so wie ich und die Liebe zu ihm wird die letzte wirkliche Leidenschaft sein die mein Leben gefaßt hat.
Nun komm ich zu Ihnen und Ihren Freunden. Was mich zuerst an Sie fesselte war Ihr Brief an Haug. [7] Ich habe Ihnen das damals gesagt. Noch nie hatte ich von einem Manne so vollkommen meine Gedanken aussprechen hören. Ja ich war Ihnen dankbar für die Art wie Sie über die Rehabilitation der Frauen sprachen. Ich hatte damals nur noch eine persönliche Verpflichtung in der Welt eine Art von Versprechen das ich mir mit Fröbel [8] mit dem mich eigene Schicksale verbunden hatten gegeben hatte den Rest unseres vielgeprüften Lebens zusammen zuzubringen in einer Art der Verbindung die sich nach der Art unserer Neigung in voller Freiheit gestalten sollte. Als ich Sie und Ihre Kinder sah schien mir eine nähere Aufgabe da zu sein ich ging nach Broadstairs und kämpfte da still mit mir durch was zu tun sei [9] ich entschied für das Bleiben ich kam zu Ihnen um in freier Freundschaft für Sie zu tun was ich könnte. Sie waren in jener Zeit ganz so wie ich es wünschen konnte der volle aufrichtige Freund ohne Rückhalt in Wort noch Blick. Sie sagten mir eines Abends spät wo Sie mich in mein Schlafzimmer oben begleiteten: «Sie haben gewiß gedacht was ein Deutscher in meinem Leben verschuldet hat [10] wollen Sie wieder gut machen» und als ich ja sagte sagten Sie: «Nun es ist Ihnen auch gelungen.» Das war sehr schön. Dann kamen die trüben Zeiten mit Mariechen [11] und der Ankunft Engelsons. Von da an wurden Sie merklich anders und der erste Sommer in Richmond [12]war sehr traung. Sie fanden damals daß ich nicht strenge genug sei mit den Kindern ich sagte ich wolle gehen wenn ich es Ihnen nicht recht mache das war also das zweite Mal meiner Sünden wo ich die Kinder leichtsinnig soll haben verlassen wollen; jetzt werde ich des Gegenteils halber desselben Unrechts angeklagt! Ich schrieb Ihre Veränderung auf Kosten Engelsons und sehe jetzt daß ich ihm vielleicht unrecht getan. Sie waren von da an zurückhaltender und der unbefangene élan der Freundschaft war vorbei auch von meiner Seite denn ich unterdrücke tausendmal lieber ein wirkliches Bedürfnis des Herzens als daß ich nicht verstanden werden möchte. Oft hätte ich wie zu einem Bruder zu Ihnen hingehen mögen und Ihre Hand nehmen unddenn ich bin ja keine Russin [13] aber ich tat's nicht denn ich sah daß Sie eher einen Schritt zurückwichen ich schob es noch auf einen edlen Grund ich dachte Sie täten es um der Menschen willen! Trotz alledem und trotzdem daß ich Ihnen gewiß auch keine zu milde Freundin war hab ich Sie doch in tiefster Seele geliebt und geschätzt und frei und ehrlich habe ich stets gehandelt wo es galt für Sie zu stehen. Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt daß das Zusammenleben mit Ihnen in dem ruhigen Genuß einer reellen Freundschaft mein liebster und einziger Lohn für des Tages Last war. Ich fühlte mit Glück daß ich eine Heimat wieder hatte eine Heimat wie sie der freie Mensch haben soll nach eigner freier Wahl nicht nach Gewohnheit und das Licht überwog mir den Schatten bei weitem. Nun kamen Ihre Freunde; [14] ich ging ihnen entgegen wie alten lieben Bekannten; ich hatte es mir längst gewünscht Ogarjow zu kennen. Alle Ihre Freunde waren bisher auch die meinen geworden. Ich vergaß freilich daß sie von mir nicht so viel wissen konnten aber ich dachte auch daß ein Wort von Ihnen hinreichend sein würde um uns schnell einander zu nähern. Aber statt dessen fiel es wie ein schwerer Druck auf mich fast vom ersten Augenblick an noch nie habe ich mich Menschen so unfrei gegenuber gefühlt noch nie so wenig den rechten Ton finden können und ich hatte doch den besten Willen es fiel mir ja nicht im Traum ein daß alles so kommen könnte. Aber fragen Sie Charlotte [15] ob ich ihr nicht in den ersten Tagen gesagt habe: «Ich bin sehr traurig denn ich habe das bestimmte Gefühl daß Ogarjows enttäuscht sind über meine Stellung sie haben eine Gouvernante vermutet die der legitimen Erzieherin weichen wird und finden eine Freundin.» Und so ist es gewesen mein lieber Freund ich habe mich nicht getäuscht; fern sei es von mir damit einen Vorwurf auszusprechen es ist ja ganz natürlich. In dieser ersten traurigen Empfindung machte ich Ihnen mündlich den Vorschlag zurückzutreten darauf sagten Sie mit Entrüstung: «Madame Ogariow hat doch wohl etwas andres zu tun sie hat ihren Mann zu pflegen.» Gut dachte ich so wird eine jede ihre Arbeit haben und wir werden als Freunde zusammen leben. Aber nein die Sachen kamen anders sie kamen eben so daß ich um der Kinder willen um sie vor Dualismus [16] zu retten zurücktreten muß. Nennen Sie das Egoismus das Ich hervordrängen usw. als ich einst in kalter Winternacht nach dem einsamen Krankenhaus reiste wo mein liebster Freund starb; [17] da riefen auch alle meine Freunde das «kreuzige kreuzige» über mich und ich blieb mit dem Richter in meiner Brust allein aber der hat mir Absolution erteilt und noch heute segne ich jenen Entschluß. So muß ich es auch diesmal über mich ergehen lassen. Ich nehme ja den Schmerz auf mich. Die Kinder werden sich bald trösten selbst Olga und Sie werden meiner in Freundschaft gedenken und der letzten wirklichen Affektion [18] leben die Sie haben.
Ich habe mich wirklich getäuscht ich sag es offen ja ich habe geglaubt ich wäre Ihnen mehr wert Gott sich täuschen ist ja keine Sünde. Wäre es so gewesen so hätten Sie von Anfang an die Sachen rein gestellt anstatt human zu vertuschen und Schmerzen leiden zu machen!
An Alexander Herzen
Engstlen Alp
18. Juli 1865 [19]
Ich habe gezögert Ihnen zu schreiben [20] weil ich mit mir selbst nicht einig war wie ich schreiben sollte. Ich glaube aber doch es ist unser aller würdiger offen miteinander zu sein das nur allein kann wieder eine freie Stellung zueinander geben und ich bin von jeher in meinem Leben so wenig tauglich zur Komödienspielerei gewesen daß ich auch jetzt meinem Charakter nicht untreu werden kann. Vielleicht wissen Sie es auch schon daß ich jetzt von dem Geheimnis das in Ihrem Hause waltet [21] unterrichtet bin! Ich habe Ihnen nur eins dabei zu sagen einen großen ernsten Vorwurf: daß Sie nicht offen gegen mich waren damals als ich zum zweitenmal die Erziehung von Olga übernahm.
Nun enfin es ist geschchen. Der bittere Kelch ist getrunken mein Leben ist plötzlich wieder zwecklos und zwar in einem Alter wo es schwer ist besonders bei gebrochener Kraft wieder von vorn anzufangen. Ich hoffte ich besäße eine Tochter in deren Seele ich mein eigenes Leben in seinen besten heiligsten Gedanken fortpflanzen könnte deren Tugenden mir einst die Muttersorge lohnen würden in deren Armen ich meine Augen mit der Befriedigung wohlvollendeter Arbeit schließen könnte. Das ist nun alles vorbei. Wenn ich des Morgens die Augen auftue so fällt es auf mich: für wen lebst du noch wer bedarf deiner noch? Erliegen werde ich diesem Schlag so wenig wie früheren obgleich ich traurig bin bis zum Tode.
Und nun adieu. Es war nicht gut daß Sie mich getäuscht haben aber ich reiche Ihnen dennoch die Hand und grüße alles um Sie herum.
An Augusta von Stein
Florenz 8. Oktober 1870 [22]
Teure Freundin es scheint unbegreiflich daß ich Ihnen so lange nicht geschrieben aber so viel ich darum gegeben hätte mit Ihnen zu reden und das bewegte Herz ausschütten zu können so wenig konnte ich schreiben. Ich lebte von den großen Schwingungen des Weltfluidums ich erlitt die großen Geschicke [23] mit ich schauderte vor der furchtbaren Offenbarung des Urwesens der Welt und staunte das Weltgericht an das sich mit Mitteln die uns widerstreben aber doch so wunderbar vollzog. Schreiben konnte ich daneben nur notwendige Geschäftsbriefe lesen konnte ich nur Zeitungen verkehren konnte ich nur mit der Natur und in Gedanken mit den Freunden die das wußte ich bewegt waren wie ich. So kam es denn daß ich wirklich niemand geschrieben habe auch Ihnen nicht mit der ich am liebsten alles besprochen hätte hätte es mündlich sein können. Nun bin ich Ihnen wieder räumlich näher und auch das Schreiben scheint nun wieder unmittelbarer. Da mag ich denn der Sehnsucht nicht mehr gebieten einmal wieder von Ihnen zu hören. Von meinem individuellen Leben kann ich Ihnen wenig sagen denn es geht Ortsveränderungen abgerechnet so ziemlich seinen steten Gang fort langsam entrollt sich der Faden bis ihn über kurz oder lang die Parze schneidet. Die gewohnten Leiden erklären sich permanent mit größerer oder geringerer Hartnäckigkeit und der schon an sie gewöhnte Organismus trägt seine Last schon leicht wenn es nicht gerade zu arg ist. Ems von wo aus ich Ihnen glaube ich zuletzt schrieb und wohin mir Ihr letzter Brief kam hatte mir sehr gutgetan die entzündeten Schleimhäute normaler gemacht die Nerven beruhigt und gestärkt. Dann aber kam der Ausbruch des Sturmes den wir eben dort an der Quelle miterlebten. Olga sah sogar die historische Szene [24] mit an als der König Wilhelm auf der Promenade dem Benedetti als Antwort auf seine unverschämte Zumutung [25] den Rücken kehrte. Wir eilten dann durch das aufgeregte Deutschland um neutralen Boden zu gewinnen sahen die großartige Erhebung des deutschen Volkes und kehrten begeistert für die deutsche Sache in der Schweiz ein woselbst uns die Nachkur auf einer Alpenhöhe beim Luzerner See verordnet war. lieber wäre ich in Deutschlang geblieben um Not und Tod mit meinem Volk zu teilen denn damals erwartete noch ein jeder den Krieg auf deutschem Gebiet. Allein ich fühlte daß ich nur wenig würde leisten können da schon die Aufregung allein den Erfolg der Emser Kur vernichtet hatte und dann hätte ich in Deutschland Olga nicht zurückhalten können sich der Pflege bei den Ambulanzen oder wenigstens in den Lazaretten zu widmen wonach sie brannte und ich wußte doch daß ihr noch so zarter fast kindlicher Körper der ungeheuren Anstrengung nicht gewachsen gewesen wäre. So blieben wir vier Wochen auf dem wunderbar schönen Sonnenberg oberhalb des Luzerner Sees leider weniger begünstigt vom Wetter so daß bei der fortwährenden Aufregung auch die Nachkur wenig Erfolg hatte.
Dann kam Tata von Genf und mit ihr Professor Blaserna der eine Sommerexkursion gemacht. Das Wetter wurde aber oben zu kalt so gingen wir hinunter nach Luzern am schönen See noch zu weilen von wo die Jugend Exkursionen machen wollte. Da kam Wagner und besuchte mich lud mich ein sein Leben mit eigenen Augen zu sehen und zu beurteilen. [26] Ich konnte ihm diese Gerechtigkeit nicht verweigern und was ich sah war so edel einfach rehabilitierend und gehaltvoll daß ich auch annahm seiner Hochzeit [27]die ganz in der Stille vollzogen wurde beizuwohnen. Ich die ich das wahrhaft schöne edel durchgeisterte Leben dort sah harmonisch von oben herunter bis auf die reizende trefflich erzogene Kinderschar [28] ich kann nur versöhnt an dieses kleine Paradies von Triebschen denken wo in tiefer Zurückgezogenheit in der himmlischen Natur sich eine Rehabilitation vollzieht wie sie nur seltene Menschen vollziehen können...
Von Luzern gingen wir nach Genf und verbrachten dort mit Tata vier Wochen. Ich konnte mich nicht entschießen aus der Nähe des Kriegstheaters fortzugehen es kam mir so egoistisch vor die Sonne jenseits der Alpen zu suchen waährend ich dort wenigstens auch litt nicht bloß in geistiger Mitleidenschaft sondern auch physisch von dem unsympathischen Klima. Auch hoffte ich von Tag zu Tag dieser unselige Krieg werde zu Ende gehen... Kolossal ist's was wir erlebten Napoleon nach seinem Plebiszit, der Papst nach seiner Infallibilitätserklärung [29] gefallen. [30] Der Gedanke daß Rom nun nicht mehr ausgeschlossen ist vom großen Strom des modernen Lebens ist entzückend und wenn auch manche Poesie für den Augenblick verschwindet so kann man die Veränderung doch nur segnen. Am liebsten wären Olga und ich gleich dorthin gezogen da es unser beider Lieblingswunsch ist doch wurde uns gleich bemerkt daß zuerst solche Schwierigkeiten wegen Mangel an Logis und Preiserhöhungenungen sein würden daß man znnächst noch nicht darin denken könne. So haben wir denn hier auch mit abscheulichen Schwierigkeiten endlich vorerst wieder unser Zelt aufgeschlagen mit der Hoffnung aber im Herzen in Rom endlich unsere wahre Heimat zu gründen Bleiben Sie dort? Ich weiß Sie sagten mir einmal wenn das Leben teurer würde würden Sie es nicht tun. Kommen Sie am Ende gar für den Winter hierher? Dann müßten Sie es mich sehr bald wissen lassen da sich dann vielleicht etwas Schönes kombinieren ließe. Ich schicke den Brief noch nach Fano [31] in der Hoffnung daß er Sie von da aus sicher erreicht.
Von persönlichen Nachrichten interessiert Sie wohl folgendes: in diesen Tagen haben wir ein Mitglied unseres näheren Kreises verloren der arme Berduschek war eben aus Deutschland nach Pisa schon sterbend zurückgekehrt und ist nach wenigen Tagen dann auch dort gestorben. Ein anderer Bruder starb nach wenigen Monaten in Berlin an der Auszehrung. Der letzte Bruder steht mit der Landwehr in Frankreich die arme Schwester die den Sterbenden hierher geleitet ist nun hier ganz allein. Monod [32] ist Infirmier bei den französischen Ambulanzen
er war in Sedan während der Kapitulation leistet Außerordentliches für die Verwundeten... Tata ist in Genf [33] ganz hergestellt. Alexander hier hat bereits zwei kleine Söhne von denen der älteste [34]ein ganz reizendes Wesen ist. Olga entfaltet sich täglich mehr zu einem tüchtigen charakterfesten Wesen die gottlob den holden Hauch innerer und äußerer Anmut bewahrt. Sie liebt Sie zärtlich und sehnt sich sehr nach Ihnen.
Adieu Teuerste für heute. Der Brief hat sich schon allzu lange hingezogen denn es ist heute der 14. Aber ich hatte zu viel zu tun mit dem dummen Logissuchen. Heute ziehen wir in das Villino della Torre [35] Via de Serragli wohin zu adressieren bitte.
In unveränderlicher Liebe
Ihre M. Meysenbug
An Olga Monod-Herzen
Kainzenbad bei Partenkirchen Oberbayern Freitag 1. August 1873
Geliebte Olly Ja Gebriel hat recht es ist sehr schön hier ganz anders wie mein geliebtes Ischia[36]aber die ganze Schönheit der Alpenwelt. Leider gibt es nur keine Träger hier wie auf Ischia und so sind mir die schönen Spaziergänge auf die herrlichen Berge und die malerischen Schluchten etwas verschlossen da mein Bein mich durchaus noch nicht weit trägt. und Steigen besonders aber Heruntersteigen mir noch fast unmöglich ist und sich stets mit Schmerzen zahlt. Wenn Schurzens[37]ausziehen zu einer herrlichen Wanderung muß ich mich auf die nächste Umgebung beschränken wo man eben nur die schönen kühnen Berggipfel herüberschauen sieht über die grünen Vorberge welche dies enge Tal umschließen und ich liebe den Blick ins Weite in die unendliche Ferne die rätselhaft ist wie das Wesen der Dinge selbst. Doch ist es wirklich schön hier und gute Luft und bisher auch gutes warmes Wetter. Mein Kopf hat sich noch nicht wieder erholt doch tut mir die unendlich interessante Unterhaltung mit Schurz gut.
Daß ich ihn wiedergesehen entschädigt mich wirklich etwas für die traurige Reise. Er ist eine so wunderbar gemischte Natur von Geist Poesie mit praktischem Talent wie ich selten eine sah er hat den «struggle for life» [38] durchmacht wie wenige durch Armut Gefahren Entbehrung schwere Arbeit großartige Verhältnisse hindurch als Soldat Staatsmann Literat gleich bedeutend mit scharfem klarem Blick die größten Verhältnisse umfassend dabei oft kindlich heiter und von einem so glänzenden Humor wenn er amerikanische Geschichte erzählt daß ich herzlich lachen muß. Gott was hat dieser Mensch für ein bewegtes Leben gehabt in welch seltsamen Situationen ist er gewesen die uns wie Märchen erscheinen. Ganz Nordamerika hat er durchzogen war bei den Monnonen [39] in Kallfornien wo ihm iiberall in allen Städten Deputationen der dort lebenden Deutschen entgegenkamen mit Blumen und Früchten und Geschenken. Dann wieder im Krieg die entsetzlichen Szenen. Dann nach dem Krieg wurde er vom Präsidenten in die Südstaaten die eben besiegt waren geschickt um einen Bericht über die dortigen Zustände zu machen; die Reise war lebensgefährlich denn dort schnaubte alles Rache er hatte nur einen Begleiter mit und sie mußten teils reitend teils auf Leiterwagen oder was sie gerade für Fuhrwerke trafen das vom Krieg ganz verwüstete Land durchziehen natürlich den geladenen Revolver immer in der Hand. Dann bekam er in New OrIeans das schreckliche Fieber und konnte sich nur davon befreien indem er rasch den Mississippi hinunterfuhr. Ach es ist unglaublich was er alles erlebt hat und dabei ist er von einer Einfachheit und Bescheidenheit wenn er das alles erzählt die rührend sind. Er ist ein ganz andrer Mensch wie Wagner aber ich stelle ihn ebenso hoch und es freut mich daß ich diese frische in der Tat ganz aufgegangene Natur jetzt wiedergesehen habe ehe ich den in anderen Regionen schaffenden tiefsinnigen der Welt abgewendeten Geinus wiedersehe. Beide zusammen sind alles was die Natur in ihren höchsten Leistungen von Individualitäten schafft und es freut mich daß beide Deutsche sind. Ich begreife daß Handy für diesen Vater schwärmt und er sieht aus wie ihr Bräutigam wenn er sie wie er zuweilen tut mit grenzenloser Zärtlichkeit an sein Herz drückt. [40]
Was Schurzens Schuld gegen mich betrifft so hat er mir bereits nach Florenz wieder eine kleine Summe geschickt ohne die ich meine Installation in Bayreuth nicht wohl mache könnte und er schrieb mir damals: Wenn wir uns sehen machen wir unsre Rechnung ganz fertig. Das wird nun auch sicher geschehen und ich brauche ihm nicht vorzugreifen. Er ist eine so noble Natur daß ich mit ihm auch noch zweimal so nobel sein muß wie ich es von Natur bin. Ich weiß daß was er jetzt besitzt wirklich in harter Arbeit errungen ist und daß es noch nicht viel ist weil eben in seiner Stellung in Amerika auch die ungeheuersten Ansprüche an ihn gemacht werden.
Goethes «Italieinsche Reise» ist eine herrliche Lektüre die setze ja fort. Du könntest auch um recht von seinen Bemerkungen über Kunst zu profitieren in Deinem Lübke [41] die Kunstgeschichte etwas vornehmen um zu wissen was Palladio [42] z. B. von dem er so viel bei Venedig spricht alles geschaffen; vielleicht erinnerst Du Dich noch der zwei schönen Kirchen die wir von ihm in Venedig gesehen.
Von Bayreuth schicke ich Dir die neueste Schrift Wagners [43] mit den Bauplänen des Theaters auch Nietzsches neues Buch gegen Strauß. [44] Leb wohl mein Lilinakind es segnet Dich Deine alte Mali
An Friedrich Nietzsche [45]
Villa Semeghin San Remo [46] Riviera di Ponente 4. Februar 1874
Lieber Freund. Sie wissen was mich abhält [47] Ihnen zu schreiben und so auch abgehalten hat Ihren Neujahrsgruß zu erwidern wiewohl ich es in Gedanken auf das wärmste getan habe. Jetzt kann ich es mir aber doch nicht versagen Ihnen wenigstens ein kurzes Lebenszeichen zu geben denn Sie wissen wahrscheinlich bereits daß ich unser aller wahre Heimat [48] doch habe verlassen müssen und nun wieder ein einsamer Wanderer bin. Nur die äußerste Not zwang mich endlich zu scheiden da mein Münchner Arzt die Ursache der unerträglichen Kopfleiden in einem jahrelang unbeachtet gebliebenen Ohrleiden entdeckte das bereits so weit gediehen war daß noch ein wenig mehr Verzug völlige Taubheit des Ohres zur Folge gehabt hätte. Daher die furchtbaren Leiden die ich zuletzt bei Anhörung von Musik Vorlesungen ja den schönsten Gesprächen empfand. Die Rückkehr in die Wärme wurde zur unerläßlichen Forderung und ich fürchte mein Schicksal ist für den Rest meiner Tage besiegelt. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen was dieses Scheiden für mich war und noch dazu indem ich auch die Freunde in der Not zurückließ [49]und das Werk ihres Lebens das nun stockt. Doch scheint es hat mein wirklich heißes Flehen erreicht daß noch nichts darüber in die Öffentlichkeit gekommen ist wie es gleich wieder die Absicht war.
Nein jetzt geziemt nur stolzes ernstes Schweigen. Man ist niemand mehr Rechenschaft schuldig denn die Masse mißversteht ja doch solche großartige Bekenntnisse und deutet sie schadenfroh nach ihrem Sinn während den Freunden dadurch jede Möglichkeit genommen wird ferner tätig zu sein. Es scheint mir nun auch dort ein Geist der Ruhe und Resignation eingekehrt wie auch ich ihn mir zu erwerben strebe. Ich habe nun auch die letzte Hoffnung verloren auf ein Dasein das meinem innersten Wesen entsprach und in dem allein sich die Wunde der Trennung von Olga heilen konnte; ich habe nicht einen sympathischen Menschen hier außer einem trefflichen Arzt und deutsch der mein Ohr behandelt; ich darf fast nichts lesen und schreiben und habe niemand der mir liest oder für mich schreibt aber ich habe mir fest vorgenommen ich will nicht zusammenbrechen sonders im vollen Sinn des Worts Buddha werden und die letzte Stufe der Weisheit zu erreichen suchen. Ich lebe auch ein ganz indisches Leben mit dem Meer dem Himmel der Sonne und den Blumen. Und nun habe ich doch schon gesündigt indem ich Ihnen einen so langen Brief schrieb. Aber hoffentlich geht es besser mit Ihren Augen und ich hatte solche Sehnsucht einmal wieder mit Ihnen zu verkehren. Es soll nicht oft geschehen nur von Zeit zu Zeit zwei Worte und auch zwei Antworten nicht wahr? damit ich weiß wie es Ihnen geht. Sollte ich wie ich es denke mir mein Winterasyl in Rom gründen dann besuchen Sie mich einmal nicht wahr? und ruhen sich bei mir aus? Ist das zweite Stück der «Unzeitgemäßen»[50] schon erschienen?
In herzlicher Freundschaft Ihre Malwida Meysenbug
Grüße Ihrer lieben Schwester.
An Olga Monod-Herzen
Rom Donnerstag 11. Februar 1875
Vorgestern war ich mit Alexander bei Garibaldi.[52]Die Schwabe[53]hatte mich auch schon dort annonciert. Wir fuhren hinaus zur Villa die im hellsten Sonnenglanz mit herrlichem Blick auf die Berge dalag. Wir wurden hinaufgeführt wo bereits ein kleiner Kreis von Menschen um Garibaldi herum saß denn es wird den ganzen Tag nicht leer bei ihm. Er war sehr freundlich; ich sagte ihm daß wir zwei Alexander und ich schon einmal zusammen bei ihm gewesen seien in England an Bord seines Schiffes zum Frühstück. Er erinnerte sich dessen natürlich nicht mehr. Er war gerade beschäftigt Pläne durchzusehen wegen des Kanals durch den er die Tiber wieder bis zum Meere schiffbar machen will; der König hat ihm eine Million Fr. versprochen und es scheint daß der reiche Bankier Fürst Torlonia[54] hier große Summen versprochen hat so daß bereits Ende dieses Monats angefangen wird eine Eisenbahn für die Arbeiten zu bauen. Garibaldi sieht von Gesicht sehr gut aus obwohl sein Haar ganz weiß ist. Seine armen Hände aber sind von der Gicht ganz zusammengezogen doch umstrahlt ihn eine wahre Glorie von Güte und Humanität und wenn er spricht so ist es wie eine sanfte Melodie. In seinen alten Tagen hat er noch eine Frau genommen mit der er zwei Kinder hat. Sie ist eine einfache popolana[55] die in Caprera[56] bei ihm wohnt und ihn vortrefflich pflegte aber er hält sie als seine Frau und stellt sie so vor. Er hat ein Mädchen Clelia von sieben Jahren und einen kleinen Sohn von eineinhalb Jahren der ihm frappant ähnlich sieht und allerliebst ist. Ich ging ins andere Zimmer zu der Frau und den Kindern während Alexander seine Sache vortrug denn er wollte Garibaldi dafür interessieren.
An Friedrich Nietzsche
Rom 30. April 1876
Teurer Freund! Hätte mein Buch[57] mir keine andere Freude bereitet als mir Ihren letzten Bnief zu bringen so würde ich es doch dafür segnen und mich für berechtigt halten es geschrieben zu haben. Es bedarf nicht vieler Worte mehr zwischen uns wir wissen was wir einander sind und wollen es in alle Ewigkeit bleiben. Wie sehr aber teile ich den Wunsch daß wir näher beieinander leben könnten daß ich Ihnen die Liebe und Treue einer Mutter beweisen könnte; daß wir zusammen manche der ewigen Probleme lösen könnten um die sich eigentlich das ganze Leben bewegt die dessen Inhalt und Kern bilden und ohne die es überhaupt nur eine Qual wäre zu sein. Es ist auch ganz speziell dieses was außer dem allertiefsten Danke für Ihren Brief mich heute zu Ihnen führt.
Mir liegen nämlich zwei Menschen jetzt am Herzen für deren Schicksal mir beinah eine innere Verantwortlichkeit auferlegt scheint so tief wert sind sie mir so intens fühle ich was ihnen not tut so sehr scheint es mir undohne Anmaßung daß gerade ich ihnen zunächst geben kann was sie bedürfen. Das sind Sie und ihr junger Ihnen zugesandter Freund Albert Brenner. [58]
Der letztere hat sich mir eigentlich ganz und gar anheim gegeben und ich sehe deutlich daß ich sein Schicksal auf zwei oder drei Jahre mindestens in die Hand nehmen muß wenn er wirklich gerettet und zum bedeutenden Menschen werden soll der er werden kann. Dazu aber gehört Ruhe und Konzentration. Ruhe für seinen Körper und seinen Geist die ihn befähigt zu reifen und sich zu seiner eigentlichen Bestimmung die er dann erst ganz erkennen wird vorzubereiten kann ich ihm nur geben wenn ich ihn ganz zu mir nehme ihm das Asyl des Sohnes bereite der unter schützendem Flügel die gefährliche Zeit des Übergangs vom Jüngling zum Mann verbringt. Dies läßt sich aber in Rom nicht tun da Rom teuer ist und meine Mittel nicht ausreichen würden. Ich bin bereit um eine edle Individualität zu retten das Opfer zu bringen Rom zu verlassen und einen kleineren Ort zu beziehen wahrscheinlich Fano am Adriatischen Meer eine kleine Stadt mit gesundem Klima herrlichen Seebädern primitiv billig wo eine sehr ausgezeichnete deutsche Freundin von mir schon seit mehreren Jahren lebt.
Und nun kommt der zweite Punkt. Nicht ihm allein auch Ihnen möchte ich diese Heimat wenigstens für ein Jahr lang bieten. Sie müssen im nächsten Winter von Basel fort! Sie müssen sich ausruhen unter einem milderen Himmel unter sympathischen Menschen wo Sie frei denken reden und schaffen können was Ihre Seele füllt und wo wahre verstehende Liebe Sie umgibt. Dies wäre hier der Fall. Ihr junger Freund der Sie verehrend liebt und ich die Sie mütterlich liebt wir würden Ihnen die Ruhe bereiten die Ihnen nötig wäre um wieder ganz zu erstarken und vielleicht ohne Anstrengung von dem zu schaffen was uns Dreien als das Wichtigste erscheint die anderen Stücke die Ihnen noch in Gedanken liegen Sie könnten sie sogar dem jungen Freund diktieren und der würde durch Sie lernen und auch schneller zum Ziele kommen als wenn nur ich allein ihn leite. Wir drei könnten vielleicht da wir alle Altersstufen vertreten und also die jedesmalige Stufe der Einsicht und Empfindung darstellen manches Problem gemeinschaftlich lösen das für die Welt von Bedeutung wäre.
Was mich aber bedenklich macht ist dieses: daß es eben nicht Rom wäre was ich Ihnen zu bieten hätte daß es ein kleiner Ort wäre der zwar auch nicht ohne Charakter ist undwie alle selbst die kleinsten Orte in Italien dazu das Meer und die schönen Apenninenketten in der Ferne hat aber doch eben kein Ort ist um dessentwillen man nach Italien käme. Freilich Ruhe wäre da mehr als hier und das Klima würde Ihnen vielleicht auch zusagender sein da es des Meeres wegen frischer und anregender ist aber es wären eben nicht die Eindrücke von Rom es wäre nicht der große Zug der hier durch alles geht und den man gleichsam mit der Luft eintrinkt.
Was sagen Sie nun dazu mein Freund? Ich mußte Ihnen eine so lange Epistel schreiben um Ihnen alles klarzumachen und möchte gern saß Sie nur mit ein paar Worten noch im Laufe dieses Monats Ihre Ansicht sagten da ich in den ersten Tagen Juni von hier zu gehen gedenke mich in Florenz bei Olgas Bruder aufhalten will um dann in langsamem Vorrücken schon Anfang Juli Bayreuth zu erreichen wo ich wenigstens den ganzen Juli und August zubringen will. Ehe ich aber von hier gehe müßte ich für den betreffenden Wechsei Vorbereitungen machen. Wie gern ich Brenner mit nach Bayreuth brächte ihm diesen für sein Leben vielleicht entscheidenden Eindruck gönnte kann ich nicht sagen: aber das wird nun wohl glaube ich nicht gehen.
Leben Sie wohl entschuldigen Sie diesen langen Brief um des Gegenstandes willen und seien Sie tausendmal gegrüßt von Ihrer M. Meysenbug
Brenner läßt Ihnen aufs wärmste danken für Ihren Brief. Freundlichstes und Bestes Ihrer Schwester!
An Augusta von Stein
Brandenburger Straße bei Ingenieur Kolb Bayreuth 25. August 1876
Liebe Freundin Sie müssen mich geradezu für ein Ungeheuer ansehen aber im Grunde des Herzens wissen Sie doch daß ich es nicht bin und Sie wissen auch wie das eine zum Schreiben so notwendige Organ das schwächste und hier gerade am meisten in Anspruch genommene ist. Ihre Briefe habe ich mit Freude erhalten aber ich habe selbst von allem Briefschreiben abstrahiert da meine Hauptkorrespondentin bei mir war und ich diese Zeit über alle Kräfte für das Eine aufsparen wollte um dessentwillen ich hier war. Gedacht aber habe ich Ihrer oft und wie sehr teilnahmvoll will ich Ihnen gleich dadurch zeigen daß ich mit dem beginne was Sie betroffen und mein tiefstes Mitgefühl erregt hat: die Trennung von Ihrem Freunde. [59] Ich fühle in mir die Berechtigung bei solcher Wendung mit einem ernsten Freundesrat einzuschreiten. Mir scheint es jetzt eine schöne Nötigung des Schicksals daß Sie beide nun doch den Bund schließen auch äußerlich der Ihre Lebenswege auf immer vereint. Ich bitte ernstlich darum. Warum wollen Sie die Qual des Getrenntseins in Ihr Leben bringen während Sie sich gegenseitig das höchste Glück bringen können durch gänzliche Vereinigung? Menschen wie Sie beide die alles erkannt alles durchdacht haben tun so etwas mit dem vollen Bewußtsein was dabei nicht sein kann und was aber auch dabei sein wird und für das Nichtseiende entschädgt. Das Schicksal trennt Sie nicht sondern es ladet Sie förmlich ein das Vernünftige und Schöne zu tun mit der heiteren Zuversicht der Wissenden zu tun die den ewigen Inhalt einer vom Schicksal zu bestimmenden Zeit sich nicht entgehen lassen dürfen auch wenn nicht alle Blüten eines solchen Bundes mehr möglich sind. Es ist die Liebe vollendeter die Sie zusammenführt ein Bund der Geister der höchsten Freundschaft die das Leben miteinander nötig hat zur höchsten Geistesfrucht. Wozu das verkümmern lassen weil das Vorrecht der Jugend fehlt? Nein meine Freundin Sie täten unrecht wenn Sie aus übertriebenem Zartgefühl Ihrem Freunde nicht das Glück Ihrer Nähe gönnten. Wären es auch nur noch wenige Jahre wie Sie meinen würde es ihm nicht eine ewige Herrlichkeit durchs Leben sein Sie sein genannt zu haben?
1. September. Erst heute komme ich zur Fortsetzung so toll war das Leben hier abgesehen von den vielen Hausgenossen Monod Olga, Bébé [60] ,Tata Brenner Meschtschersky [61] kamen auch von morgens 9 Uhr bis 4 Uhr unaufhörlich Besuche teils alter teils neuer Freunde oft an zwanzig Menschen des Tags; da können Sie denken ich kam zu nichts. Ich wundere mich nur wie ich es ausgehalten habe. Dazu der furchtbare Temperaturwechsel von tropischer Hitze zu plötzlicher abscheulicher Kälte mit Regen Sturm usw. Auch war ich so erkältet daß ich die zweite Serie ganz versäumt habe und viele Soiréen bei Wagners. Aber trotz allen Mühen und Ermüdungen war es doch eine göttliche Zeit ein Leben in erhöhter Stimmung in völligem Vergessen von allem was dem Vergänglichen angehört so daß ich z. B. in der ganzen Zeit keine Zeitung angesehen habe und nicht weiß ob die Türken noch in Europa sind oder ob die Serben vertilgt sind.[62] Auch kein Buch habe ich gelesen außer einer wunderschönen Schrift Nietzsches[63] die bei Anfang des Festes erschien und sich darauf bezog. Beschreiben läßt sich das Wunderbare nicht welches wir hier erlebt haben.
Für die Eingeweihten die das volle Verständnis hatten war es ein reiner Genuß wie ihn die Griechen bei der Anhörung ihres Äschylus empfinden mochten; für die ehrlichen Unbefangenen war es eine Überraschung seligster Art sie fühlten sich glücklich und gerührt für die Boshaften Neidischen war es ein Anker in der Not daß an der Ausführung doch noch trotz aller Vollendung manches zu wünschen übrig blieb daß bei der ungeheuren Menschenmenge manchmal die Nahrung nicht ausreichend gewesen sein soll undwir haben davon nichts gemerkt da wir eigenen Haushalt hatten usw. Die «Neue Freie Presse»[64] hat sich wieder ausgezeichnet in Schandartikeln. Aber was tut das alles? Die Sache ist dagewesen und viele Tausende haben gesehen was eigentlich damit gemeint war. Die Kapellmeister die Künstler haben heilsame Studien gemacht und die Mehrzahl des Publikums ist von dem Gefühl betroffen daß dies ein Gericht war über die Erbärmlichkeit unserer Kunstzustände welches zu ernster Einkehr und zum Nachdenken auffordert ...
6. September Schwalbach. [65] Sie sehen wie es diesem unglücklichen Brief geht und können daraus schließen wie es mir gegangen ist. Der Wermutstropfen im Freudenkelch war nämlich die Gesundheit Olgas.
Wir konsultierten einen berühmten Wiener Arzt der in Bayreuth war. Der verbot ihr absolut in die Aufführungen zu gehen undzum Glück hatte sie die Proben gehört und verlangte eine Kur in Schwalbach ehe sie nach Paris zurückkehre. Monod konnte sie nur hingeleiten da er nach Paris zurück muß. So mußte ich versprechen nachzukommen und den September durch mit ihr zu bleiben. Die Liebe siegte und noch einmal habe ich mein armes Kind in Pflege genommen und bin seit gestern hier. Gebe der Himmel daß es nicht umsonst sei.
Nun endlich zum Hauptpunkt da meine Augen ganz schlecht sind und mir eigentlich nichts erlauben. Ich kann also diesen Winter nicht nach Fano kommen; ich habe es übernommen Nietzsche für ein Jahr lang eine Heimat in Italien zu bereiten. Ihm ist aber ein noch südlicheres Klima wie das von Fano notwendig und wir haben deshalb den Golf von Neapel d. h. Sorrent oder Castellamare erwählt. Dazu kommt daß auch Wagners diesen Winter in Italien zubringen wollen und für die wäre natürlich Fano nichts sie werden daher auch dorthin kommen. Ich würde trauriger über das vorläufige Scheitern unseres Zusammenseins sein wenn ich nicht jetzt dächte und innigst wünschte daß auch Ihres Bleibens nicht mehr lange in Fano sein wird. Der Kleine [66] ist für diese Zeit nach Basel um mit seinen Verwandten einen ordentlichen Vertrag zu schließen und wird mir mit Nietzsche nachfolgen wenn ich dort Quartier gemacht habe.
Leben Sie nun wohl für heute teure Freundin dieser schlechte Brief soll endlich heute fort damit Sie wenigstens Nachricht haben.
Eine liebenswürdige Bekanntschaft aus Bayreuth Frau von Wöhrmann [67] geb. Budberg läßt Sie sehr grüßen. Sie war meine Freundin durch die Memoiren ehe ich sie sah.
Auch Franziska Ritter [68] grüßt Sie sehr vor allem aber Olga und ich.
An Olga Monod-Herzen
Villa Rubinacci Sorrento 13. November 1876
Meine liebste Olly! Wir haben uns den Tag jetzt schön eingerichtet. Am Morgen arbeitet jeder für sich und ich sehe die Herren gar nicht frühstücke für mich. Nach dem Essen ruht N. und Nietzsche sich aus; ich halte keine Siesta weil ich finde daß ich besser nachts schlafe wenn nicht am Tage. Dann gehen wir jetzt meist zusammen spazieren herrliche Wege in das Gebirge durch Olivenwälder neben Schluchten aus welchen hohe Orangenbäume mit goldnen Früchten hervorsehn und auf der Höhe mit entzückenden Aussichten auf Meer Vesuv usw. Dann zuhaus liest Rée [69] uns noch vor dem Abendessen und nach demselben 1 Stunde lang vor, um 9 Uhr gehn wir zu Bett. Wir lesen jetzt von Voltaire [70] «Zadig und «Le siécle de Louis XIV» und sind entzückt davon. Überhaupt sind N. und Rée warme Verehrer der älteren französischen Literatur. Du könntest mir eine große Freude machen wenn Du mir die Werke von Diderot [71] schenken wolltest wenigstens die Hauptsachen: «Jean» und «Le neveu de Rameau». Schicke sie mir unter Kreuzband schon im voraus als Weihnachtsgeschenk ich werde Dir so dankbar dafür sein ... Es ist seit ein paar Tagen wieder göttlich der Vesuv liegt da ein Opferaltar aus dem eine hohe Weihrauchwolke schön von der Sonne vergoldet zu den alten Göttern emporsteigt. Die Orangen werden immer goldner es ist unglaublich schön in diese hohen dunklen Bäume hinaufzusehen, in welchen die Unzahl goldner Früchte hängt. Ich adoriere Sorrent täglich mehr. Auch selbst die kleinen Wege zwischen den Gartenmauern welche die meisten Fremden so häßlich finden find ich reizend sie geben Schatten vor der Sonne und Schutz vor dem Wind über die Mauern schauen die goldnen Früchte herüber Orangenduft dringt daraus hervor und plötzlich tritt man dann ins Freie zu den schönsten Aussichten. Auch hat man eine große herrliche Straße längs des Meeres zu beiden Seiten die ganz frei ist mit dem prachtvollsten Panorama dann Gebirgswege voll malerischer Schönheit. Das Herrliche ist ebn die Vereinigung von Gebirg und Meer und das macht die Luft so wie Alpenluft. Nein das Landleben ist doch das wahre Leben, so frei von Gesellschafts- und Toilettenzwang gleich hinaus zu können in die Natur und in solche Natur! Vorgestern war es auch so göttlich da saß ich den ganzen Morgen auf derTerrasse und nach Tisch lud ich die Herren zu einer Spazierfahrt nach Massa ein, eine und eine halbe Stunde von hier wo wir uns damals nach Capri einschifften, die Straße längs des Meeres eine der schönsten der Erde dort tranken wir Kaffee auf der Loggia einer Trattoria [72] wo Capri ganz nah vor uns lag bläulich schwarz vor dem reinsten Gold der untergehenden Sonne sich abzeichnend und als wir zurückfuhren stieg gegenüber über den hohen Bergen der Küste die alle rosa schmimerten vom Abglanz der Abendröte der Mond herauf umgeben von einer sanft grauen und rosa Atmosphäre, die Oliven, die Pinien standen still feiernd auf den stolzen Felsenhöhen und in den Schluchten die zum Meer hinabstürzen. O Olly es war so schön, daß wir alle in Entzücken schwelgten. Auch Nietzsche vergaß seine Leiden und war außer sich vor Bewunderung und wiederholte, daß es ihm in seinem Leben noch nicht so gut geworden ...
Gestern abend hatten wir eine sehr interessante Diskussion über Mazzini [73] undvon dem ich erzählt hatte und den Nietzsche hoch verehrt), über Dichter und über den erziehenden Einfluß der tragischen Kunst welche Plato ganz aus dem Staat verbannt haben wollte da er ihr einen verweichlichenden Einfluß zuschrieb während ich alle meine Hoffnung für eine idealere Erziehung des Menschengeschlechts in der Zukunft daraufsetze. Ich habe jetzt angefangen die vielen Gedanken welche mir nach unseren Gesprächen kommen in den 2. Teil des Neuen Testaments [74] für Dich aufzuschreiben. Es wird sich rasch hier füllen. - Leb wohl bleib gesund mein Engel das ist die Hauptsache.
An Olga Monod-Herzen
Meine liebste Olly gestern nachmittag machten wir eine Spazierfahrt in offenem Wagen nach Vico und kamen erst in völliger Dunkelheit zurück aber es war so warm daß ich nur mein kleines schwarzes Umschlagtuch umhatte. Es war eine herrliche Fahrt alle genossen es so und wir haben herzlich gelacht. Überhaupt lachen wir oft neben dem vielen Ernst den wir treiben. Die Herren lasen jetzt unter sich die Memoiren Papas [75] und sind entzückt davon. Nietzsche bewundert immer welch ein reiches Leben Papa gehabt hat und wie sich alles dichterisch in seinem Geist verklärte. Auch ich sagte Papa immer er sei ein Dichter; die Wirklichkeit wurde ihm immer gleich zum Bild welches er mit dem tiefen Blick mit dem der Dichter das Wesen in der Erscheinung erfaßt wiedergab. Zusammen abends lesen wir immer die Kulturgeschichte Griechenlands [76] von Burckhardt zu der N. uns dann die interessantesten Erläuterungen gibt. Das ist ein seltener Genuß der einem so leicht nicht zuteil werden kann ...
Dann schreibt mir Cosima etwas was mich sehr rührt. Sie hatte einen Brief v. Lichtenstein [78] der ihr folgendes schreibt; ich schreibe es Dir ab weil es Dir Freude machen wird. «Ich hoffe für Sie und Cosima, [77] daß Frl. von Meysenbug an Ihrer Seite weilt sie gehört zu jenen starken und vollen Menschennaturen die alles in sich aufnehmen können um es versöhnlich wiederzugeben. Ihr Umgang würde mich beständig in einer weichen sanften edlen Stimmung erhalten sie würde die Todessehnsucht die ich in mir trage, zu träumerischer Wonne ausbilden so glaube ich und ich würde in dem Gedanken schwelgen daß sie mir einst die Augen zudrückte und mir die Ruhe gönnte, welche, so scheint es hier nicht zu finden ist.»
Ist das nicht rührend? Ist das nicht ein Ersatz für die verlorne Jugend daß im hohen Alter so viele edle Männerherzen sich zu mir flüchten wie in den heiligen Hain in den die Furien dem Ödipus nicht folgen durften und wo er die Versöhnung für die Qual des Daseins fand? Cosima hat ihm geschrieben er soll hierher kommen und sich unserem Phalanstère [79] anschließen und bittet mich wenn es mir recht ist ihm auch zu schreiben und ihn dazu aufzufordern. Ich werde es gewiß tun denn er ist mir sehr smpathisch und ich würde mich freuen etwas für ihn tun zu können. Käme nun Olly mit Mann und den Kindern und Schwester Tata auch noch, so wäre es die reizendste Kolonie die man sich denken könnte wirklich einmal eine association d'élite. [80] Tausend Grüße und Küsse.
An Lou von Salomé
Rom 25. Mai 1882
Liebe Lou, eben erhalte ich Ihren Brief unbegreiflich den 6ten Tag! und setze mich alsbald hin Ihnen einen Gruß zu schicken der Sie hoffentlich noch via Gotthard in Zürich trifft. Ich wollte Ihnen noch schnell sagen daß Sie Frau Löper [81] jetzt nicht sehen können, da sie in Karlsbad ist. Cécile Horner [82] ja. Vor allem aber wollte ich Ihnen dadurch zeigen wie wert Sie mir sind und wie vollständig ich an Sie glaube, ja ich kann sagen: ich habe lange nicht eine so tiefe Zärtlichkeit für ein junges Mädchen gefühlt wie für Sie. Als Sie mir zuerst entgegenkamen war es mir, als sähe ich meine eigne Jugend auferstehn und als wüßte ich nun daß ich selbst in meiner eigensten Natur fortarbeiten würde an der Augabe der mein Leben geweiht gewesen ist und unter glücklicheren Bedingungen bereits in großer Freiheit. Daß der freiere edlere Verkehr der Geschlechter in der Jugend eine notwendige Bedingung edlerer Verhältnisse überhaupt sei ist meine feste Überzeugung und habe ich das bereits gedruckt auch soweit ich konnte stets gefördert. Ein Beweis davon war, daß ich Rée [83] alsbald einlud an unseren Abenden teilzunehmen. Darin nämlich besteht für mich der einzige Fortschritt und das einzig Anstrebenswerte, daß man sich frei und öffentlich zusammenfinde auf geistigen Gebieten miteinander strebe, lerne genieße aber ohne gerade jene Art des Verkehrs welche wenn auch nur das Spielen mit Gefühlen oder wenigstens augenblicklich eine Art Aufregung herbeiführt, wie sie eben in der früheren Weise des Verkehrs stattfand. Denn daß junge Mädchen mit jungen Männern nächtlich spazierengehen und dergl. ist gar nichts Neues geschieht z. B. in Basel sehr häufig, wo immer eine Art Gefühlserregung im Spiele ist, ohne daß es zu ernsten Verbindungen kommt. Das aber gerade sollte streng vermieden werden, daß man unsere Art und Weise noch mit jener der alten Welt verwechseln kann. Wir müssen die Welt zur Achtung vor uns zwingen, weil wir ein Prinzip vertreten und deshalb müssen wir nichts tun, was unnötig ist zu dessen Verteidigung und nur zu unserem Vergnügen dient äußerlich aber ebenso aussieht und daher auch so beurteilt wird wie das was Leichtsinn und Koketterie in der alten Gesellschaft tun.
[Am Rand:] Ihr «Genie»[84] etc. schicke ich nach Hamburg hoffe aber auf Ersatz.
(Ich fing auf einem kleinen Bogen an merke nun aber, daß ich zu viel zu sagen habe und fahre deshalb auf einem größern fort.)
Das Nachhausebringen war mir nur peinlich in dem Gedanken es könne Ihrer Mama[85] mißfallen und ich wollte nicht, daß sie denken solle, bei mir fördere man eine andere als die edelste geistige Emanzipation. Wieviel peinlicher aber noch wurde ich berührt als Rée in größter Aufregung zu mir kam und sagte er müsse fort, es sei notwendig für ihn und Sie. Ich redete ihm ziemlich streng zu und bat doch nicht gleich einen heiter geistigen und gemütlichen Verkehr auf diese Weise zu trüben. Es gelang auch, ihn scheinbar zu beruhingen und als ich Sie sprach (das 1te Mal ehe ich von den Promenaden wußte), schienen Sie mir so unbefangen, daß ich mich ganz beruhigte. Nun kam aber das sehr befangene Geständnis der Spaziergänge das wirklich aussah wie etwas was man geheimhalten wollte und mir aus Gewissensbissen (diesmal wohl nicht angewöhnten) mir mitteilte. Ich wußte wie durch ähnliche Dinge hier der Ruf mehrerer junger Mädchen gefährdet geworden war, dachte an Ihre Mama und endlich auch an mich, die ich schon einmal durch das Betragen eines Wesens an das ich geglaubt in die schrecklichsten Unannehmlichkeiten geraten war. Rée kannte diese Geschichte und es verletzte mich von ihm, daß er daran in der Befriedigung des Egoismus nicht gedacht. Dazu kam er ein 2. Mal in größter Aufregung sagte abermals er reise am folgenden Tage und verlangte ich solle Ihnen sagen seine Mutter sei krank. Ich lehnte das ab und sagte ihm endlich, wenn diese Flucht nötig sei so solle er denn gehen. Kurz Sie werden nun einsehn liebes Kind warum ich traurig sein mußte, als ich sah daß wieder einmal der Versuch eines edlen heiter geistigen Verkehrs gescheitert war an dem nicht in Schranken gehaltenen Willen. Von Ihnen der so klar Bewußten so scharf Unterscheidenden, die schon nach Ihrem eignen Geständnis Schweres auf diesem Gebiet erfahren,[86] befremdete es mich auch; denn daß gerade das nicht der Weg sei der zu dem Ziele führt, welches wir beide wollen, das mußten Sie eigentlich wissen Liebe und wußten es auch, sonst hätten Sie nicht gesagt die übrige Welt brauche es nicht zu wissen, es gehe sie nichts an. Je stolzer wir unsere Unabhängigkeit der Welt gegenüber bewahren wollen, je mehr müssen wir uns hüten, ihr Waffen in die Hand zu geben, bei Dingen die durchaus nur von unserer Willkür abhängen. Daß Sie jetzt mit den zwei Herrn[87] reisten, dagegen konnte kein Mensch etwas sagen da Ihre Mama dabei war und es frei und öffentlich geschah. Hätte ein Bekannter Sie in der Mitte der Nacht hier begegnet, so hätte man es den Menschen nicht übelnehmen können, es sonderbar zu finden und was hätte Rée getan, wenn Ihnen ein Offizier oder ein anderer etwas Unangenehmes zugefügt hätte? Sich duelliert?!!
Meine liebe Lou ich schreibe Ihnen dies so weitläufig noch einmal, damit Sie nicht denken, ich fürchte kleinlich das Urteil der Welt und damit Sie sehen, wie lieb ich Sie habe, da ich diesem anscheinend gleichgültigen Gegenstand so viele Zeit und Augenkraft widme. Sie erschienen mir wie das, was ich lange gewünscht zu sehen, eine hohe reine Apostolin unseres neuen Glaubens und so möchte ich Sie bewahrt sehen. Der Verkehr mit edlen Männern ist erfreulich und fördernd, aber lassen Sie ihn immer an der zarten Grenze bleiben, wo der Wille noch nicht sein Wesen treibt und nur das heitere Element geistiger Interessen und freien freundlichen Begegnens das keines Menschen Auge zu scheuen braucht, obwaltet. Wir brauchen solche reine hohe Gestalten, gleich weit von der Ungebundenheit des Nihilismus wie von der Prüderie der alten Welt. Ein Teil der Wahrheit die Sie mit Inbrunst suchen liegt da. Ich glaube daß Ihr Weg rein und Ihr Ziel hoch sein und bleiben wird. Man muß aber doch mit den andern rechnen, bei denen der Wille vielleicht noch mächtiger ist als in uns und auch mit der Welt, die nur dann das Recht haben soll, uns mißzuverstehen, wenn es gilt unsere Überzeugung zu vertreten.
Ich komme heute nicht mehr zu dem anderen Teil dessen, was ich Ihnen sagen wollte, d. h. zu dem philos.theor. Rée hatte Sie irregeführt, weil Ihr Verstand eine unleugbar richtige Seite seiner Methode erkannte. Aber als Sie zuerst bei mir waren dachten Sie ganz anders. Und seine Ansicht ist auch grundfalsch. [88] So wert er mir als Natur ist, so gründlich zuwider ist er mir als Theoretiker. Wir unterhalten uns weiter darüber. Ich bin sehr erfreut daß Sie Nietzsche so schätzen und gönne es dem Armen von Herzen, daß er die Freude Ihres Umgangs genossen hat. Mein Wunsch wäre, daß Sie, [89] wenn Sie nicht nach Rußland können zu Ns gingen und mit Frl. N. nach Bayreuth [90] kämen. Da sähe ich Sie doch wieder und ich verspräche mir viel für Sie von dem Aufenthalt dort. Vielleicht daß da auch doch etwas von unseren Plänen Gestalt gewönne. Ich habe so Gedanken.
Den Brief an die Jacobson [91] besorge ich nach Florenz. Ich freue mich, daß Ihre Mama die röm. Wärme [92] bedauert das gibt Hoffnung daß sie wiederkehrt, vielleicht mit Ihrem jüngsten Bruder. Sagen Sie ihr meine besten Grüße. - Versäumen Sie nicht in Berlin den jungen Hüter [93] zu sehen ich habe wieder einen herrlichen Brief von ihm. Und nun leben Sie wohl. Habe ich Sie nicht lieb? Solch einen langen Brief bekommt niemand.
An Alexander von Warsberg
6 via Polveriera Rom 16. Mai 1886 [94]
Sie haben es sich selbst zuzuschreiben, wenn Sie nun schon wieder einen Brief bekommen. Aber einen Brief wie den Ihren kann man wirklich nicht lange unbeantwortet lassen. Er ist wie ein geistvolles Gespräch, das unzählige Gedanken hervorruft die zur raschen Entgegnung treiben, leider nur gegen jenes darin im Nachteil daß zwischen Strophe und Gegenstrophe ein zu langes Intervall bleibt. Zunächst will ich sagen wie sehr es mich gefreut hat, Ihren Freund zu sehen und wie leid es mir getan hat, ihn nicht öfter zu sehen. Er hatte mich leider bei seinem ersten Besuch versäumt ...
Nun komme ich zu dem anderen Teil Ihres Briefes, in welchem Sie mir mit so viel edler Offenheit vorwerfen, daß ich nicht gehalten habe, was ich versprach oder vielmehr daß ich nach den Keimen, welche die Natur in mich gelegt, viel mehr hätte werden müssen. Sie haben recht, und dürfen mir glauben, daß ich es oft mit tiefem Schmerz empfinde, wie viel in mir unentwickelt blieb, wie gleichsam eine ganze Saat deren Dasein ich fühle in meinem Wesen noch latent ist, ohne daß sie nun vor Toresschluß noch zur Blüte kommen kann. Aber lassen Sie mich Ihnen auch die causes atténuantes [95] anführen, die ich gerechterweise in Anspruch nehmen kann. Längst habe ich mich gewöhnt, alles subjektive Leiden, alle Enttäuschung, alle Bitterkeit, alle Abrechnung mit dem Leben mit mir selbst abzumachen, in der Einsamkeit des inneren Gerichtshofs, der sich mit dem Alter immer schärfer gegen die Außenwelt abschließt. Aber es kommen doch Augenblicke, wo man auch noch anderen Rechenschaft schuldig wird, über den Gebrauch des anvertrauten Pfundes und ob man über dem Wengen getreu gewesen ist. Solch ein Augenblick ist meinem Gefühl nach Ihnen gegenüber jetzt gekommen, denn die schöne Teilnahme die Sie mir erweisen fordert, daß Sie auch klar sehen inwieweit Sie dieselbe bewahren vermindern oder vielleicht noch erhöhen wollen.
Also zunächst muß ich darauf hinweisen, wie meine erste Kindheit zwar sehr geeignet war den unersättlichen Wissenstrieb, die phantasievollen künstlerischen Triebe in mir hervorzulocken, wie meine erste Jugend aber von außen her eine geradezu dürftige wurde an Eindrücken an geregeltem Lernen, an Gedankenaustausch wie ich dies alles bedurft hätte. Die Verhältnisse die unser Familienleben zerstörten das Wanderleben das wir führten die ungenügende Mitte in der wir lebten das alles war viel stärker, viel drückender für mein strebendes sehnsuchtsvoll nach geistigen Höhen schauendes Gemüt, als ich es in den Memoiren habe sagen können. Dazu kam, daß man damals einem Mädchen gar nicht das Recht einräumte und die Mittel bot, sich eine andere Bildung anzueignen als was man damals in ästhetisch wohlerzogenen Kreisen für ausreichend hielt. Wenn Sie wüßten welche Stunden tiefen inneren Leidens ich dadurch in der blühendsten Jugendzeit verbracht habe, wie ich arbeitete um nur in etwas die Lücken zu füllen die ich auf allen Gebieten fühlte, um den tausend Fragen, die in mir tönten eine Antwort zu suchen, um aus der engen Alltäglichkeit hinaus zu weiteren Gesichtspunkten zu größeren Lebensanschauungen zu gelangen. Ja wäre mir damals der Retter [96] gekommen wie Sie sagen, es wäre anders geworden. Meine Brüder, die mir hätten helfen können waren fern und wie Sie es von dem einen wissen, so war von früh ein wenn auch noch nicht klar empfundenes trennendes Element zwischen uns. Nun kam der Retter. Sie kennen das Idyll und sein tragisches Ende. Dazu die politischen Ereignisse und die Notwendigkeit, die aus meiner Natur hervorging ernst zu machen mit meinen Überzeugungen durch die Tat. Ich mußte Proletarierin werden, um zu beweisen daß die Frau durch eigene Kraft und auf ihr ruhend ein fleckenloses, der Achtung wertes Leben führen kann. Sie wissen ebenfalls in den großen Zügen wie das nun wurde. Das Gelübde wenigstens habe ich gehalten ich darf es mir bezeugen. Als ich nach dem Verlassen der Familie der freien Wahl (ein anderes Ideal das ich verwirklichen gewollt), zu literarischen Arbeiten überging, galt es zunächst die Existenz sichern. Nie habe ich dazu die freie Inspiration herabgewürdigt d. h. nach dem Geschmack des Publikums schreiben um Geld zu gewinnen. Ich übersetzte also; ich hatte die russische Sprache gelernt, da Rußland damals als eine Novität das Interesse in England und Deutschland erregte und ich habe nicht weniger als zwölf Bände [97] aus dem Russischen teils ins Englische teils ins Deutsche übersetzt. Daneben aber schrieb ich auch zwei Romane, viele Novellen und Artikel für englische Blätter. Die ersteren sind nie gedruckt; ein Verleger schrieb mir von einem Roman, er sei sehr schön und die Sprache zu bewundern für eine Ausländerin aber er sei zu wenig nach den englischen Ideen. Ich wußte was das hieß: er endigte nicht mit dem orthodoxen Christentum. Seitdem hat sich viel in England verändert. Als ich mich auf's neue der Erziehung widmete, da schien mir mein Leben an seinem Ziel angelangt und das Mütterliche, das stets so stark in mir gewesen fand nun die Befriedigung und gewann die Oberherrschaft in mir und die beste Kraft meines Lebens ist dem holden Wesen gewidmet gewesen. das Sie nun auch schon unter dem Namen Olga kennen. Dieses Werk meines Lebens darf ich in die Waagschale legen; noch kürzlich schrieb mir ihr sehr vortreftlicher Mann, ein Franzose: «tout mon bonheur c'est à vous que je le dois, car vous avez fait d'Olga ce qu'elle est.» [98]
Und die grenzenlose Liebe, die mir von dort entgegenströmt ist auch etwas, was vielleicht mitwiegen darf, wenn über mich das letzte Urteil gefällt wird denn ganz unverdient ist solche Liebe nicht. Erst nach Olgas Verheiratung erwachte der alte Trieb zum Schreiben wieder mit unwiderstehlicher Macht, denn sie war mein lebendiges Gedicht gewesen. Nun entstanden die Memoiren und ich sage es in Wahrheit: der Erfolg hat mich gänzlich überrascht, ich hatte ihn nicht geahnt. Ich weiß, daß dieses Buch in Australien in Jerusalem, im fernen Westen Amerikas gelesen wurde. Aus allen Teilen der Welt erhielt ich begeisterte Zuschriften noch kürzlich schrieb mir ein junger Student aus Jena: «Sie haben unter uns Jünglingen eine wahre Gemeinde die in Ihrem Namen ihre heiligsten Gelübde tut.» Basta von all diesem. Wenn nun den Memoiren nicht eine Menge anderer Produkte folgte, so lag das an mehreren Ursachen und so selten ich über meine Verhältnisse spreche, so ist es doch hier am Platz es einfach offen zu tun, weil wir zwei ernste Menschen sind und weil mir Ihr Verständnis wert ist.
Also: ich muß im Süden leben, weil ich einen nordischen Winter nicht mehr vertrage. Ich lebe also fern von der geliebten Olga, die ihr Geschick nach Frankreich geführt hat, lebe allein mit einer treuen Dienerin in pekuniär so auf das Nötigste beschränkten Verhältnissen, daß ich vielem entsagen muß was mir geistige Anregung und Nahrung sein würde und mich zum Schaffen befähigen würde. Was die Arbeit bringt reicht gerade hin um mir alljährlich in der Sommerzeit die Reise zu der holden Häuslichkeit Olgas [99] zu gestatten in der jetzt vier engelhafte Kinder mich wie die Großmutter lieben und ehren. Das Alter mit seinem notwendigen Gefolge von mancherlei Leiden hält mich auch zurück von dem Stoff und Gestaltensammeln, was doch auch dem schöpferischen Geist notwendig ist, da wie Sie es ganz richtig sagen, bei mir alles Gelegenheitsgedanken im Goetheschen Sinne sind. Das größte Hindernis aber meines ganzen Lebens waren und sind die schwachen ja leidenden Augen. Wenn Sie wüßten, welche Zeit mir dadurch verlorengegangen ist und welche Qualen ich gelitten habe, noch leide wenn an den langen einsamen Abenden des Winters z. B. ich weder lesen noch schreiben kann. Es ist eine schmerzvolle Seite meines Lebens ich habe längst auch hierin das «Entbehren sollst du, sollst entbehren» gelernt und es gelingt mir - wenige Stunden tiefer Melancholie abgerechnet - die Heiterkeit, die auf dunklem Grund als einziger Kampfpreis des langen Lebens emporwächst, zu bewahren aber dem Schaffen ist es ein nicht zu berechnendes Hindernis. Das könnte in etwas verbessert werden, wenn ich mir einen Sekretär halten könnte das aber erlauben meine Verhältnisse nicht und so muß ich mich resignieren. Doch bin ich trotz alledem immer fleißig. Ich schreibe viele Artikel; ich habe diesen Winter eine kleine Arbeit mit vieler Liebe gemacht zum erstenmal etwas Dramatisches [100] nach einem reizenden Stoff aus der Geschichte von Siena XIV.Jahrhundert. Ich habe das Ms. jetzt in Deutschland, bezweifle aber sehr, daß es augeführt oder nur gedruckt wird. Wie gerne hätte ich es Ihrem Urteil unerbreitet, da Sie nun einmal so gütig sind, meine Arbeiten zu lesen. [101] Auch möchte ich fragen, ob ich Ihnen jetzt mit Sicherheit wegen Blokus und Quarantäne ein Buch schicken kann, welches halb und halb eine Fortsetzung der Memoiren ist. Wollten Sie mich nur mit einem Wort benachrichtigen ob Sie eine solche Sendung jetzt erhalten würden? Zugleich mit der «Phädra» [102] erschien auch in Zürich ein Band Novellen, [103] kurz so sehr untätig bin ich doch nicht gewesen aber freilich, es hätte noch viel mehr und viel Größeres sein müssen, wer weiß es besser und schmerzlicher als ich selbst. Dann wenn dieser Schmerz oft zu tief wird, dann denk ich an des edlen Dichters Wort: edle Menschen zahlen mit dem was sie sind. Und wenn ich mich auch gewiß nicht dessen überhebe, was ich bin, so weiß ich doch, daß ich immer gezahlt habe mit meiner lebendigen Liebe, meiner Hingebung, meiner Treue, meiner Wahrhaftigkeit und da ich auch eine Gläubige der Seelenwanderung bin so denke ich oft, ich muß noch einmal wiedergeboren werden um das unvollendet Gebliebene zu erfüllen. Ach und nun um Gotteswillen verzeihen Sie diese lange Beichte. Glauben Sie ich rede nicht oft so über mich zu anderen Menschen und daß es der Beweis einer besonderen Sympathie und Hochachtung ist, mag mir zur Entschuldigung bei Ihnen dienen. Wollte ich auf die vielen interessanten Themen noch eingehen, die Ihr Brief berührt so würde dieser Brief ein Buch und ich verspare das also auf ein anderes Mal. Bemerken will ich nur noch, wie sehr mich die Ähnlichkeit mit Claude Lorrain [104] gefreut hat, es hat mir nämlich schon einmal ein geistvoller Mann das gesagt und so ist vielleicht etwas daran.
Nun aber leben Sie wohl und verzeihen Sie mir. Malwida Meysenbug
An Romain Rolland
Rom 28. Mai 1890 [105]
Was für ein launisches Wetter! Nun wird es wieder einen herrlichen Tag geben und heute morgen sah es noch ganz nach Regen aus. Es tut mir zu leid. So spotten die Wetterteufelchen meiner Sehnsucht nach den Seen. Ich muß Ihnen also nochmals schreiben. Eigentlich wollte ich es nicht tun, aber die Mißverständnisse nehmen sonst kein Ende und trüben schließlich noch das Andenken an das Vergangene. Ich will mich offen aussprechen, damit Sie mich voll und ganz verstehen und muß deshalb weit zurückgreifen, was ich zu entschuldigen bitte.
Am Ende eines langen Lebens, ausgefüllt mit allem was ein Menschenherz bewegen kann, hatte ich jene Abgeklärtheit erreicht die mich nur noch Olga und die Ihren mit wahrer und tiefer Liebe umfangen ließ; eine von beiden Seiten so unerschütterliche Liebe, daß auch nicht der leiseste Gedanke eines Zweifels aufkommen konnte und jenes allgemeine Wohlwollen das sich auf liebenswürdige aber gleichgültige Beziehungen erstreckt, die uns ganz angenehm sind, jedoch keine tiefere Spur in unserem Leben zurücklassen. Außerdem lebte ich in der heiteren Ungestörtheit geistiger Interessen die unberührt bleiben von seelischem Leid und Schmerz. Ich schrieb einmal in mein Tagebuch: «Mein Herz ist wie ein Pantheon, alle Nischen sind schon mit geliebten Bildern besetzt, für neue ist kein Raum mehr.» Da trat plötzlich ohne daß ich es gesucht hatte und ohne jede Ahnung seiner Existenz Warsberg in mein Leben, zunächst brieflich dann persönlich. Sein hoher Verstand seine edle Natur und sein Leiden weckten in mir noch einmal jenen törichten Eifer einer Freundschaft, die stets glaubt alles für die anderen vollbringen zu können, bis sie zu spät ihre Ohnmacht erkennt. Hier war es der Tod der mich überzeugen sollte. Ich hatte einen schweren Kampf zu bestehen um meine heitere Ruhe der Welt gegenüber wiederzugewinnen und ich kehrte nach Rom zurück in der Gewißheit, einen mehr oder weniger angenehmen Winter mit flüchtigen Bekanntschaften zu verbringen und außerdem in der Welt großer Denker zu leben, die meinen Geist anregen ohne mir Schmerz zu bereiten. Da kamen Sie. Ich hielt Sie anfänglich auch für eine angenehme flüchtige Bekanntschaft und wirklich sind ja auch zwei Monate vorübergegangen ohne daß ich Sie sah außer bei einigen gleichgültigen Besuchen. Nach und nach lernte ich Sie dann verstehen und gewann Sie lieb und da ich nicht weniger schwärmerisch und zum Träumen geneigt bin als Sie, dachte ich zuweilen daß Warsberg Sie mir gesandt habe um mich zu trösten mit einer Zuneigung die mich bis zum Tod begleiten sollte, wie ich es von ihm gehofft hatte.
Und in meiner töricht leidenschaftlichen Freundschaft (anders kann ich es nicht nennen), bildete ich mir von neuem ein, es könnte mir gelingen, Sie Rom lieben zu lehren und Ihnen zu helfen, daß Sie hier Ihre Gesundheit stärken und froh werden möchten. Ich glaubte schon mein Ziel ein wenig erreicht zu haben und hatte meine stille Freude daran. Ihre oft allzu große Schweigsamkeit hielt ich für jene innere Übereinstimmung, in der man so gut der Worte entbehren kann und doch einander sicher ist. Durch den unvergleichlichen Genuß der Musik den ich Ihnen verdankte erwachte in mir aufs neue jene überlegene Heiterkeit, die aus den Tiefen der Seele kommt frohe Lieder anstimmt und von Herzen lachen kann was die Alltagsmenschen mit Allerweltsheiterkeit verwechseln. Ich versichere Ihnen, daß ich jene Zeit sehr genossen habe und ich bin Ihnen dafür so dankbar gewesen. Da glaubte ich plötzlich letzten Donnerstagabend eine Veränderung an Ihnen wahrzunehmen was sich am Samstag bei Geffroy[106] noch verstärkte. Und als Sie mir dort von Ihrem Brief sprachen (ich konnte es ja nicht tun, denn ich wußte nichts von ihm), wurde mir klar, daß irgend etwas Sie quälte und ich glaubte mit dem Recht der Freundschaft Sie danach fragen zu dürfen. Was sich seitdem zugetragen, wissen Sie. Wie dies alles aber auf mich gewirkt hat konnten Sie nicht ahnen. Es liegt mir fern, das volle Vertrauen in die Lauterkeit und in den Adel Ihrer Gesinnung und Ihres Empfindens zu verlieren.
Ich halte Sie für unfähig auch nur im geringsten etwas Unrechtes oder Unehrenhaftes zu tun oder auch nur zu denken. Was ich aber verloren habe, das ist die reine Freude der Erinnerung an unsere gemeinsamen Erlebnisse da ich Sie froh und beinahe glücklich wähnte, während Sie seit Wochen unter einer geheimen Qual litten, die Ihre Mutter wohl geahnt hat, wie Sie sagen. Daß ich in liebevoller Anteilnahme um Ihre Gesundheit besorgt war, während Sie eine Arbeit vollbrachten die Sie krank gemacht hat; daß ich glücklich war über das herrliche Verbundensein unserer Seelen in der Musik während Sie spielten, um nicht von dem sprechen zu müssen was Ihr Herz erfüllte, dies sehen Sie hat mir sehr weh getan. Gestern in der Villa Mattei überkam mich jene tiefe Traurigkeit, die weder heftig noch ungerecht ist, die niemanden anklagt weil sie alles begreift, die aus dem Urgrund der Dinge emporsteigt und zur Unzulänglichkeit dieses Lebens gehört. Zwei Tote waren es die ich beweinte sie kehren nicht wieder, einen Freund und eine teure Illusion, die nicht wiederaufleben kann. Ich habe gar kein Recht, ein Geheimnis zu kennen, das Sie mir nicht anvertrauen dürfen; ich werde nie mehr davon sprechen nicht mehr suchen es zu erfahren und ich habe die feste Überzeugung, daß all dies durchaus edel und ehrenhaft ist. Aber den Glauben, etwas für Sie tun zu können, den habe ich verloren obgleich ich immer noch Ihrer Freundschaft gewiß bin. Allein eine zunichte gewordene Illusion ist unwiederbringlich verloren und in dieser Hinsicht haben sich unsere Beziehungen verschoben. Aber nun bin ich gewarnt und werde mich keinen Täuschungen mehr hingeben und so wollen wir von neuem Freunde sein.
Es ist schrecklich daß diese Erörterungen immer gleich so ausführlich werden, aber ich wollte Ihnen die volle Wahrheit schreiben, die auch nicht den geringsten Vorwurf für Sie enthält. Die Schuld liegt ganz auf meiner Seite und ich habe die Folgen zu tragen. Und nun tun Sie, wie Ihr Herz es Ihnen vorschreibt kommen Sie oder kommen Sie nicht aber seien Sie überzeugt, daß ich Sie nicht weniger achte und liebe als bisher nur ohne Illusion.
Stets und für immer Ihre Freundin. M. M.
An Romain Rolland
Rom Freitag 30. Mai 1890
Mein lieber Freund nun kommt doch noch ein Brief aber ein Finale erfüllt von lieblichen und freudigen Harmonien. Nachdem Sie fortgegangen waren habe ich Ihren Brief gelesen und Ihnen einen innigen Gutenachtgruß gesandt der Ihnen hoffentlich friedlichen Schlummer geschenkt hat. Nun ist alles klar zwischen uns nichts vermag uns mehr zu trennen und zu beunruhigen nicht einmal die bevorstehende räumliche Entfernung, [107] denn ich trage Sie im Herzen und weiß auch, daß ich in dem Ihrigen fortleben werde. Es fiel mir sehr schwer, Sie hier allein zurückzulassen und ich habe zum Teil auch deswegen meine Abreise hinausgeschoben. Muß man sich aber einmal den Anforderungen des Lebens unterwerfen so läßt sich alles leichter ertragen und bewältigen, wenn man in seinem Herzen eine Zuflucht hat wo alles licht und klar und unerschütterlich ist. So wie Sie in diesem letzten Brief sich zeigen, so wünsche ich Sie mir: als nordischer Mensch Ihre Persönlichkeit kraftvoll entwickelnd und in der göttlichen Schönheit des Südens zum Dichter werdend. Ist dies nicht der faustische Weg? So wird Faust zum Mann der Tat der Gutes vollbringt und mit seiner idealen Gesinnung auf alles wirkt, was ihn umgibt wie die Sonne ihre Strahlen aussendet zum Segen der Natur. Dies ist Ihre Zukunft ich sage es Ihnen voraus und ich bin glücklich in diesem Gedanken, denn die Welt bedarf der Sendboten des Ideals und wer weiß, vielleicht ist dies die Leuchte, die einst die Menschheit zu einem noch tiefer in Gott wurzelnden Leben vereinen wird ...
Ich möchte auch noch über einige kleine Wünsche wegen Ihres Einflusses auf andere Menschen mit Ihnen sprechen. Leben Sie wohl mein lieber Freund auf Wiedersehen morgen wenn das Wetter es erlaubt. Ihre Freundin