Rosa Myreder eine Sympathisantin des Lebendigen

I.

»Und das ist der Wille und das Ziel der progressiven Bewegung unter den Frauen: Das Weib von dieser zweiten Stelle zu erheben, um es als gleichberechtigtes Wesen an die Seite des Mannes zu setzen. Was aber kann der letzte und tiefste Sinn dieser Bestrebung sein? Ihre Gegner haben sie immer dahin mißverstanden, als wollte sie aus dem Weib einen Mann machen. Und in der Tat würde, falls die Frauenbewegung nicht von einer wesentlichen Änderung der bestehenden Ordnung begleitet wäre, diese Gefahr in mancher Hinsicht drohen; zum Mindesten aber müsste sich das weibliche Geschlecht in die Lebensformen und Anforderungen pressen lassen, die vom Manne für den Mann geschaffen wurden. Deshalb ist Änderung der bestehenden Ordnung im Sinne des weiblichen Lebens eine unerlässliche Voraussetzung der Frauenbewegung.«
Rosa Mayreder: »Die Frau und der Krieg«

19. Januar 1938: in Österreich spitzt sich unter Schuschnigg die politische Lage zu, in Wien stirbt im achtzigsten Lebensjahr die Schriftstellerin Rosa Mayreder, geb. Obermayer. Ende April wird ihr Nachlaß im Kaiserin-Maria-Theresia-Saal des Wiener Dorotheums versteigert. Auf der amtlichen Ankündigung prangt bereits das Hakenkreuz.
Die Verknüpfung von Fakten - eine Kette zufälliger Ereignisse, durch die das tragische Geschick einer Schriftstellerin angedeutet werden soll? Rosa Mayreder war keine tragische Figur, keine verkannte Künstlerin, weder im landläufigen Sinn noch in ihrem Selbstverständnis. Sie war eine angesehene Literatin und avancierte als Siebzigjährige immerhin zur Ehrenbürgerin der Stadt Wien.
1858 in Wien geboren, gehörte sie zu jener Generation bürgerlicher und aristokratischer Frauen, die die Entwicklung Wiens zur modernen Stadt miterlebten, ihre Salons verließen, um sich die Zitadelle zu erobern. Die biedere Strickstrumpfmentalität und Kaffeeklatschatmosphäre, die einer Madame de Stael am Wiener Salon der Caroline Pichler um das Jahr 1800 so mißfiel, die literarischen und musikalischen Wonnen, denen man sich innerhalb der bildungsgesättigten vier Wände überließ, scheinen überwunden zu sein. 1885 - im Geburtsjahr Rosa Mayreders - stirbt in Wien die Weltreisende Ida Pfeiffer. Ihre >Frauenfahrt um die Welt< war das Abenteuer einer Einzelnen, doch in den folgenden Jahren zeigten immer mehr Österreicherinnen ungewöhnlichen Unternehmungsgeist im eigenen Land. Für Österreichs Frauen beginnen die Bastionen zu fallen: Sie bringen sie selbst zum Einsturz — doch sollten sie mit keiner Ringstraße, auf der sich>s bequem promenieren läßt, belohnt werden.
Im Februar 1939 fährt eine Frau nach England: Schriftstellerin jüdischer Abstammung, Emigrantin wie viele. In ihrem Gepäck befindet sich ein Teil des schriftlichen Nachlasses von Rosa Mayreder. Diese Frau, eine Freundin und langjährige Mitarbeiterin Rosas, die um dreißig Jahre jüngere Käthe Braun-Prager, veröffentlicht nach dem Zweiten Weltkrieg, 1948, autobiographische Aufzeichnungen der alternden Rosa Mayreder über ihre Kindheit und Jugend: »Das Haus in der Landskrongasse«.
Fragmentarisch werden Personen und Orte, >kleine unscheinbare Ereignisse<, von der nicht mehr ganz jungen Wienerin aufgezeichnet, die matronenhaft vor ihrem Bücherregal thront, >bei dem polierten Nußbaumtisch auf einem Biedermeiersessel«
>Helle Punkte der Erinnerung< werden von der alternden Frau als Leitmotive ihres späteren Lebens mit leicht anekdotisch-
feuilletonistischen Anklängen rekonstruiert: im Bewußtsein, daß jeder/jede seine/ihre Kindheit über den Kopf gestülpt bekommt, daß sie jedoch später auch wählen konnte, werden die Erinnerungen an die Kindheit und Jugend der Glücklichen nicht >ein Friedhof der Vergangenheit< sondern >der Erdboden, auf dem das Gefühl sinnvollen und erfüllten Daseins wächst« Ihre Freundin und Vertraute der letzten Lebensjahrzehnte, Käthe Braun, sieht mit gutem Grund die enge Verknüpfung zwischen dem »Haus in der Landskrongasse« und ihrem essayistischen Werk »Zur Kritik der Weiblichkeit«, dessen erster Band 1905, im siebenundvierzigsten Lebensjahr Rosa Mayreders erschienen ist.

»Wer dieses Werk (Anm. »Zur Kritik der Weiblichkeit«) richtig liest, muß es als ein autobiographisches und als wissenschaftliches Resultat ihrer persönlichen Erlebnisse in der Familie und in der Gesellschaft sehen. Werden die Tatsachen im zweiten Teil der >Jugenderinnerungen< wiedergegeben, behandelt sie die >Kritik der Weiblichkeit< philosophisch.«

Das Haus in der Landskrongasse, in dem die kleine Rosa Obermayer aufwuchs, suchen wir heute vergeblich. Es wurde im Zuge der Stadterneuerung nach 1900 Opfer des >Regulierungsplanes« An der Ecke zu den Tuchlauben haben Gründergenerationen ihre Spuren hinterlassen. Kaum können wir über den riesigen Schaufenstern eines Vorhang- und Tapetengeschäftes im Parterre das >kleine gotische Figürchen< in einer nunmehr neoklassizistischen Nische ausmachen. Es ist das Wahrzeichen des früheren Winterbierhauses, das Rosas Vater, dem Gastwirt Obermayer gehört hat. Bei einem Großneffen findet sich neben einem Bild des alten Barockhauses auch noch zufällig eine Speisekarte des einstmals so beliebten Wirtshauses; außer auf Speisen und Getränke werden die Gäste auf die Audienzzeiten seiner Majestät des Kaisers Franz Joseph aufmerksam gemacht. Jenes düstere Haus >Zum Winter< hatte sich vor allem dem Geruchssinn Rosas unauslöschlich eingeprägt: eine unvergessliche Mischung von Küchen- und Hinterhofgerüchen, für die das Wienerische eine reichhaltige Skala von Ausdrücken parat hat, die vom >Miechteln< übers >Schmirkeln< zum >Grabeln< und >Säukeln< reicht.
Daß die Atmosphäre gepflegter Gastlichkeit des Winterbierhauses mitbestimmend gewesen ist für das fundamentale Mißtrauen der späteren Philosophin gegenüber jeglichen Übertreibungen des Asketentums, ist zwar reine Spekulation, daß sie selbst leiblichen Genüssen gegenüber nicht abgeneigt und keine Kostverächterin war, ist nicht nur durch diverse Photos dokumentiert. So gratuliert Hugo Wolf der vierzigjährigen Freundin in einem Brief zur Abnahme von fünf Kilo anläßlich einer Karlsbader Kur und bedankt sich gleichzeitig für die mit der Post eingetroffenen Spezialitäten. Dürfen wir ihren eigenen Aussagen trauen, so hielt der Hausarzt die runden Backen der kleinen Roserl für geschwollen und verdächtigte sie fälschlicherweise der Zahnschmerzen. Daß die Kinder im Obermayerschen Haus relativ frei über Nahrungsmittel verfügen konnten, dürfte der Freßlust des Mädchens sehr entgegengekommen sein, deren kindlicher Ausspruch >Wenn ich nur essen kann, bin ich schon froh<, sie jahrelang verfolgte. Sie entsprach auch als heranwachsendes Mädchen keineswegs dem Modeideal des beseelten Skeletts; sie war niemals eine >femme fragile<, schon eher eine Walküre mit Wienerischem Einschlag, der die bäuerlichen Vorfahren noch anzumerken waren. Ihre Leibesfülle, bzw. der skandalöse Umstand, daß sie sich als junges Mädchen bereits heftig weigerte, ihre mollige Figur durch ein Korsett zu kaschieren, gab jedenfalls hinlänglich Anlaß zu Aufregungen im engsten Familienkreis.
Doch verweilen wir nicht zu lange im Anekdotischen. Die Suche nach den Teilen eines Puzzles, das uns ein annäherndes Bild dieser Frau vermitteln könnte, geht weiter: das Zeichnen einer unvollständigen Skizze, wie sie es auch in ihre autobiographischen Aufzeichnungen beschreibt.

»Aber aus dem Prozeß der Darstellung an sich entstehen Fehlerquellen. Die Vergangenheit liegt im Gedächtnis als eine nächtlich dunkle Welt, in der nur einzelne Punkte durch das Licht der Erinnerung beleuchtet sind; von diesen hellen Punkten aus muß der Rückschauende die fehlenden Zusammenhänge ergänzen.«

Frauen, mit denen sie ihre Kindheit verbracht hat, die sie geprägt haben: die Mutter, die Kinderfrau, die Stellwagen-Nettl, prägnante Szenen, die sich der Halbwüchsigen in die Erinnerung eingegraben haben. Kaum dürfte dem Mädchen Rosa die Tragik ihrer Mutter voll zu Bewußtsein gekommen sein, als sie durch einen Zufall hinter deren Geheimnis kommt. Vielleicht ist die >staunende Erschütterung< über den heimlich gehüteten Inhalt des mütterlichen Bücherschranks, den die Tochter anläßlich eines Umzugs zu Gesicht bekommt, eine auf späteren Erfahrungen beruhende, nachträglich sich einstellende emotionelle Reaktion; doch vermutlich dürfte das Mädchen auch angesichts all dieser >Folianten über deutsche, französische und englische Literatur<, angesichts der >Wörterbücher und linguistischer Nachschlagewerke<, die die Mutter zu Dutzenden besaß, die Wirkungslosigkeit des im Verborgenen erworbenen und gezwungenermaßen sich selbst genügenden Wissens geahnt haben, vielleicht wurde die Fruchtlosigkeit dieser geheimen Liebhaberei für die Tochter eine latente Beunruhigung, vielleicht ein Grund widerspenstigen und aufmüpfigen Verhaltens, ein Anlaß, sich nicht mit der ihr ausschließlich zugedachten Rolle der höheren Tochter zu begnügen.
Für Rosas Mutter war es allerdings noch undenkbar, daß Frauen sich auf dem Gebiet der Wissenschaft und Kunst in die Öffentlichkeit wagten. Sie lebte für ihre Söhne und übertrug die Erfüllung ihrer Wunschträume auf die männliche Nachkommenschaft. Vermutlich hat auch die mütterliche Selbstverleugnung die erwachsene Tochter zu jenen leidenschaftlichen Appellen an ihre Geschlechtsgenossinnen veranlaßt, den Kindern nicht die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit zu opfern. Die Ironie des Schicksals, die >Schicksalstücke<, die dieser Sohnesmutter eine intellektuelle Tochter beschert hatte, während Rosas Brüder an Intelligenz, Begabung und Ausdauer der Schwester zum Großteil unterlegen waren, erkennt die Autorin im Nachhinein deutlich, doch beurteilt sie ihre Mutter eher nachsichtig. Die Verständnislosigkeit der Mutter gegenüber der aus der Art geratenen Tochter vergleicht sie mit den Gefühlen einer Henne, die ein Entlein ausgebrütet hat.

»Und die Stimmung gegenüber den Ereignissen ist schon deshalb eine andere, weil alle die Gefahren und Schwierigkeiten, gleichviel, ob man siegreich oder unterlegen daraus hervorging, als überstanden empfunden werden.«

Gegenüber der Kinderfrau, die >mit unbegrenzter Machtbefugnis< über die Jüngeren der dreizehn Obermayerkinder herrschte, scheint die Gestalt der Mutter zu verblassen. Sechs Jahre lang war Rosa fast ausschließlich der Obhut der alten Hanni anvertraut, die sie im »Haus in der Landskrongasse« zu einem legendären Unikum stilisiert. Das Weltbild der vom Land stammenden Kinderfrau war durch eine seltsame Mischung aus katholischer Volksfrömmigkeit, altem Aberglauben und einer an Heiligenverehrung grenzenden Bewunderung für den aufklärerischen Josef II und seine Mutter Maria Theresia geprägt. Von den Vorstellungen planvoller Erziehung scheint sie nicht gerade geplagt gewesen zu sein. Für die Kinder verkörperte sie trotz ihrer resoluten Art einen Hort animalischer Wärme und Geborgenheit.

»Der Umgang mit ihr war sehr angenehm; man konnte sich ihr gegenüber ganz zwanglos benehmen, ohne daß sie zu ernsteren erzieherischen Maßregeln griff. Überdies war sie eine vortreffliche Erzählerin…«

Versuchte man auch später, die Töchter durch eine Gouvernante und durch den Besuch einer Töchterschule zu zähmen und dem wohltemperierten gesellschaftlichen Klischee anzupassen, so scheint doch die unkonventionelle Tonart Hannis, die in manchem dem Obermayerschen Lebensstil durchaus entsprach, sich in Rosa Mayreders späterem Verhalten nur allzuoft durchgesetzt zu haben. Mit ihrer Unangepaßtheit eckt sie vor allem später in der Familie ihres Mannes, dem Mayrederschen Clan, an.
Die Autonomie Hannis innerhalb des Obermayerschen Haushalts beeindruckte Rosa ebenso wie die Selbständigkeit und Tüchtigkeit der Stellwagen-Expeditorin Nettl, mit der die Kinder fast täglich von ihrem Sommerquartier, der Hohen Warte, in die Stadt zur Schule fuhren. Jedoch blieb ihr auch der Preis nicht verborgen, den diese Frauen zahlen mußten.

»Schon als sechsjähriges Mädchen stand sie mit ihrer Mutter, die ihre Vorgängerin war, auf demselben Platz; sie kannte von Wien nur den Weg zwischen der Freyung und ihrer Wohnung in Sechshaus, den sie täglich um 6 Uhr früh herein- und um 10 Uhr nachts hinausging, also nicht einmal den Stephansplatz; denn freie Tage gab es in ihrem Dienst nicht.«

Obwohl sie schon in jungen Jahren die Probleme manuell arbeitender Frauen ahnt, bleibt ihr später diese Welt weitgehend fremd. Wohl engagiert sie sich schon in den Neunzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts gemeinsam mit anderen >Bürgerlichen< für weibliche Dienstboten, ledige Mütter und Prostituierte und sieht unter Umständen die >Frauenfrage< auch als Brotfrage. Ihr Lebensstil bleibt jedoch der einer wohlsituierten bürgerlichen Intellektuellen und Künstlerin, in deren Salon in der Schönburggasse, ihrem letzten Domizil im IV. Wiener Gemeindebezirk, wie es sich gehört, ein blankpolierter Flügel zwischen Palmenkübeln steht.
Der Keim zum Mißtrauen gegenüber dem >Mannestum<, der in Rosa Mayreders späterem Werk zur fundamentalen Skepsis am Patriarchat — so politisch liberal und fortschrittlich es sich auch immer gebärdet — gedeihen sollte, wurde mit Sicherheit schon in frühester Kindheit gelegt. Der Vater, Gastwirt und »pater familias« bäuerlicher Herkunft aus der Gegend von Eferding in Oberösterreich, war zwar in religiöser und politischer Hinsicht tolerant. Um Konflikten in der eigenen Familie aus dem Wege zu gehen, teilte man die Seelen nach männlicher bzw. weiblicher Erbfolge den beiden elterlichen Konfessionen zu: Der Vater und seine Söhne waren protestantisch, seine erste Frau und Rosas Mutter sowie die Töchter waren katholisch. Politisch gesehen war Rosas Vater als »Achtundvierziger« dem Liberalismus verpflichtet, was ihn aber weder daran hinderte, autoritär gegenüber den übrigen Familienmitgliedern aufzutreten, noch seine Auffassungen über die Bestimmung der Frau beeinflußte. So schreibt Rosa Mayreder:

»Das äußerste Maß an konservativer Weltanschauung bekundete er in allem, was das weibliche Geschlecht betraf…«

Aus der Distanz versucht sie dennoch, ihrem Vater Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Als bäuerlicher Aufsteiger gelangt er zu bürgerlichem Ansehen und Wohlhabenheit, ohne in den Habitus des Neureichen zu verfallen. Er selbst lebt äußerst bescheiden und sparsam und läßt fast seinen ganzen Reichtum ausschließlich seinen Kindern zugute kommen. Von seinem beträchtlichen Vermögen behält er für sein Alter nicht mehr zurück als >das Gehalt eines kleinen Kanzleibeamten« Rosas Erbteil sicherte ihr zeitlebens finanzielle Unabhängigkeit. Es scheint fast so, als wollte der Vater indirekt mit Geld an seinen Töchtern gutmachen, was er seinen Ehefrauen angetan hatte.
Über das Verhalten des Vaters gegenüber seinen Frauen urteilt Rosa Mayreder mit unerbittlicher Härte: Ihre frühen Studien über >das herrische Mannestum<, das sie in ihrer Typologie der Männlichkeit anprangert, hat sie im Elternhaus betrieben. Allerdings stammen auch manche Beobachtungen zu den Frauentypen aus ihrer unmittelbaren Umgebung. So hat sie später — trotz aller Nachsicht für ihre Mutter und trotz oder gerade aufgrund der Einsicht in gesellschaftliche Ursachen — die Logik vom Opfer, das den Mörder provoziert, als eine Komponente der Mann-Frau-Beziehung begriffen: die >sklavische Abhängigkeit<, die die Unterdrückung in masochistischer Weise zuläßt.
Während für Rosas Mutter — eine mittellose Erzieherin — die Heirat mit dem so viel älteren Witwer Obermayer, Besitzer eines florierenden Gasthauses, der damals herrschenden Anschauung entsprechend, als Glücksfall galt, war seine erste Frau als Wirtin wesentlich am Aufstieg des Winterbierhauses beteiligt gewesen. In den Augen der Verwandten tyrannisierte sie oftmals Mann und Kinder. Ihr Tod erhellt allerdings die wahren Machtverhältnisse: Sie stirbt bei der Geburt ihres achten Kindes, obwohl der Arzt nach zwei schweren Geburten eindringlich von weiterem >Kindersegen< abgeraten hatte.

»Aber die Ehe jener Zeit war unerbittlich. Und so gebar sie ihr letztes Kind mit dem vollen Bewußtsein, daß sie sterben müsse. Wenige Tage vor ihrem Tode schrieb sie an eine Freundin einen Brief, der erhalten blieb;sie nimmt darin Abschied für immer. Leider fiel der Brief dem Kinde, das seiner Mutter das Leben kostete, meiner Schwester Madeleine, in die Hände und warf einen Schatten auf ihr junges Leben; denn in der Überempfindsamkeit, die das Gefühlsleben junger Mädchen so oft begleitet, gab sie sich selbst schuld an dem Tode ihrer Mutter. Bei meinem Vater hingegen scheint niemals der leiseste Vorwurf gegen sich über den Tod seiner Frau aufgetaucht zu sein; wie er das Leben auffaßte, waren diese Dinge der menschlichen Willkür entrückt und Sache der Natur, der man ihren Lauf lassen mußte.«

Vielleicht erklären diese Eindrücke auch die Vehemenz, mit der Rosa Mayreder später immer wieder das Recht der Frauen auf ihren eigenen Körper betont. Eindringlich führt sie ihnen vor Augen, als Objekte des Geschlechtsverkehrs ihre Sexualität und ihr Lustempfinden nur über den Mann zu definieren, der noch dazu unter dem Schutz des Gesetzes zur alltäglichen Gewaltanwendung schreitet. Und vielleicht bewahrt sie die fortdauernde Auseinandersetzung mit den Vorgängen im Elternhaus auch vor der kurzschlüssigen Ansicht vieler Vertreterinnen der damaligen Frauenbewegung: der scheinbar untrennbaren Verknüpfung von Sexualität und Mutterschaft. Der Eigenwert weiblicher Persönlichkeit ist ihr als Kinderlose wohl auch im Widerstand gegen eine ihrem Ursprung nach zutiefst paternalistische Denkweise klargeworden. Dabei hat sicher die Einstellung des eigenen Vaters eine entscheidende Rolle gespielt. Er nahm ihr die noch dazu nicht freiwillig gewählte Kinderlosigkeit nach einer Totgeburt übel und wertete sie als Mangel an Weiblichkeit.
Das Milieu, in dem Rosa heranwuchs, generell als lebensfeindlich abzustempeln, wäre übertrieben. Die Kinder waren gesund,
für damalige Stadtkinder auch aus >besseren Verhältnissen< strotzten sie geradezu vor körperlicher und psychischer Robustheit. Rosa selbst war alles andere als ein >nervöses Madl« Doch treiben die Konflikte ihres >Frühlingserwachens< sie in eine postpubertäre Krise, die man im landläufigen Sinn als Liebeskummer abtun könnte. Das Mädchen verwandelt den Unerreichbaren, >allen Frauen unzugänglichen Mann<, den ein Freund des Hauses mit >einem gewissen Plato< vergleicht, in ihrer Phantasie in ein Idol, das sie anbetet. Sie versucht, durch reine geistige Liebe den Frauenverächter zu bekehren, erwacht jedoch gekränkt und enttäuscht aus ihren Träumen, ohne die Hintergründe begreifen und akzeptieren zu können. Schwere gesundheitliche Störungen bahnen sich an, sie verweigert die Nahrung. Ihre masochistischen Tendenzen gehen so weit, daß sie >in dem Bedürfnis der Selbstpeinigung< sich mit einer Nadel Verletzungen zufügt, bis sie blutet.

»Vier Jahre vergingen, vier lange Jahre, in denen ich innerlich jene schwere Wandlung durchmachte, die von der Kindheit in die Jugend führt. Für mich waren sie aus vielen Gründen schwerer und einschneidender als für die anderen.«

Waren sie das? Jene >lebensfeindliche und lebensunfähige Prüderie<, von der die Autorin in ihrem Essay über »Familienliteratur« berichtet, herrschte auch in der Familie Obermayer; die Mutter ließ die Töchter in sexuellen Dingen völlig unwissend. Die Tragik der Unerfahrenheit eines jungen Mädchens aus gutem Hause und die Folgen der Doppelmoral schildert sie in einer frühen Erzählung »Aus meiner Jugend«. Bräutigam und Braut sind dem Reglement einer langen Verlobungszeit unterworfen, bis er sich eine Frau leisten kann. Er knüpft indessen eine leidenschaftliche, aber nicht standesgemäße Beziehung zu einer Schauspielerin an. Die Eltern der Braut sind darauf bedacht, den Schein zu wahren. Die junge Frau geht an ihrer hilflosen Eifersucht zugrunde.
In der Novellensammlung »Übergänge«, in der die Autorin eine Bestandsaufnahme >gut bürgerlicher Verhältnisse< vornimmt, gehen die meisten Frauen aufgrund ihrer Unwissenheit beschädigt aus ihren Beziehungen zu Männern hervor. In den Erzählungen versammelt Rosa Mayreder aber auch jene männlichen, nicht minder erziehungsgeschädigten Protagonisten, die sie in ihrer Typologie der Männlichkeit noch einmal beschreibt: der elegante Skeptiker und kultivierte erotische Zyniker, der brutale PlatonikerTyrann mit und ohne Ideale, der Platoniker, der zum Asketen, Wilden oder zu beidem wird.
In Rosa Mayreders theoretischem Werk dagegen kündigt sich die Hoffnung auf eine qualitative Veränderung der Beziehung zwischen den Geschlechtern an. Hierin erweist sie sich wie auch in anderen Punkten als Vertreterin einer neuen >profanen Ethik<, wie sie in der 1894 gegründeten »Wiener Ethischen Gesellschaft« vertreten wurde. Sie rehabilitiert Sinnlichkeit und Erotik als lebensfreundliche Prinzipien. Indem sie so die überkommene Trennung von Geist und Körper aufhebt, kreiert sie neue Typen synthetischer, differenzierter Weiblichkeit und Männlichkeit und will damit der abendländischen Kultur ein Allheilmittel verordnen. Ihre therapeutischen Versuche scheitern aber am alten Konflikt zwischen Idealität und Realität. Die Utopie vom >hohen Paar<, das von den Romantikern über Engels bis zu Ernst Bloch in verschiedenen Spielarten durch edelmarxistische und idealhumanistische Philosopheme geistert, verwandelt die Ehe von einer Institution des Geldes in eine Institution der Liebe. Doch scheint dieser Traum von einer Ehe der Liebenden - unter den Vorzeichen der nicht in Frage gestellten Normen Monogamie und Heterosexualität - weder der Realität aller Klassen noch der aller Individuen zu entsprechen.

»Und kaum mit irgendeinem andern Begriff gehen so viele Mißverständnisse einher, wie mit der Liebe…«

Dieses Unbehagen äußert Rosa Mayreder selbst in ihren »Ideen der Liebe«; die Ursachen werden jedoch nur scheinbar geklärt,
ihre metaphysischen Dithyramben bleiben unbefriedigend.
Legen wir trotzdem die »Ideen der Liebe« und Mayreders Utopie der Ehe zweier selbständiger Individuen nicht vorschnell
zur Seite. Denn verbirgt sich hinter diesem idealistischen Irrtum nicht jene Sehnsucht nach lebendigem Austausch viel eher als hinter einer zum Tauschhandel verkommenen Partnerschaftsideologie?
Rosa Mayreder heiratet den Architekten Karl Mayreder aus Zuneigung. Auf die Kurzformel gebracht: sie versucht, ihm eine
gute Gefährtin zu sein und sich selbst treu zu bleiben. Sie balanciert zwischen ihrem Schicksal als höherer Tochter und der Möglichkeit, ihr Geschick als bürgerliches Individuum weiblichen Geschlechts selbst in die Hand zu nehmen. Ihre Ausgangssituation ist trotz widriger äußerer Umstände in mehrfacher Hinsicht privilegiert. Als die Jungvermählte in die Plößlgasse zieht, widmet sie sich wieder intensiver der Malerei. Die Ausbildung, die sie erhalten hatte, betrachtet sie selbst zum Teil als mißglückt. Doch bald nimmt sie an Ausstellungen teil und verfaßt Kunstkritiken. Sie verkauft ihr erstes Bild — zum Ärgernis ihres Vaters, der seinem Schwiegersohn zu verstehen gibt, daß seine Tochter es nicht nötig habe, sich ihr Geld selbst zu verdienen. Ihre musikalischen Studien gibt sie auf; sie hält sich selbst nicht für begabt genug. Ihre literarischen und philosophischen Ambitionen scheinen zu ruhen. Trotz ärgster Befürchtungen ihrer Mutter gelingt es ihr, einen standesgemäßen Haushalt zu führen und sich ordentlich anzuziehen. Am liebsten aber sitzt sie in alten abgetragenen Kleidern am Schreibtisch und liest. Mit fast kindlicher Neugier will sie die Welt erfahren, (sich) begreifen. Sie lebt mit ihren Büchern, eine Synkretistin, die alle Autoren und Autorinnen nicht nur im Zitat parat hat, sondern mit ihnen in imaginären Gesprächen und Disputen umgeht.
Der Bibliomanie war sie schon als junges Mädchen verfallen. Ihre ganze Seligkeit ist eine Dachbodenkammer in der Sommervilla der Eltern auf der Hohen Warte: ihr Asyl! Die Wände bedeckt sie im Laufe der Jahre über und über mit Kritzeleien:
Collagen von Lieblingszitaten, vor allem von Klassikern.

»Dort war ich wirklich zu Hause, dort war ich frei, dort stieg aus Büchern und Papieren eine unsichtbare Welt herauf, die ich als meine wahre Heimat empfand.«

Früh schon sondert sie sich von den Geschwistern ab; sie ist gern allein. Von ihrem Fensterplatz aus schaut sie bis ins Marchfeld hinein. Ihre Gedanken teilt sie kaum jemandem mit. Ihr Tagebuch versteckt sie sorgsam. Der gestrenge Vater toleriert ihre Lesewut. Er gestattet ihr sogar, am Griechisch- und Lateinunterricht eines ihrer Brüder teilzunehmen, denn Bildung ist dem liberalen Fortschrittlichen heilig. Da sie ihm selbst verwehrt war, versucht er sie vor allem seinen männlichen Nachkommen aufzudrängen. Und Rosa partizipiert mit Begeisterung und ohnmächtigem Groll. Sie sitzt in der Falle. Sie stilisiert sich selbst zum Phänomen, trumpft mit ihrem Wissen auf, blufft, macht sich >patzig<, um als Mädchen beachtet zu werden. Gleichzeitig leidet sie darunter, als Ausnahme abgestempelt zu sein.

»Ich wollte nicht abseits >auf einem Isolierschemel< stehen, wo alles, was ich fühlte und forderte, nur für die winzige Spanne meines eigenen Daseins Geltung hätte.«

Etwas scheint sie allerdings im Elternhaus mitbekommen zu haben, das ihr später half, selbst von diesem >Isolierschemel< herabzusteigen: Courage und das Vertrauen in einen unkonventionellen Lebensstil. Sicherlich legte ihr Gatte Karl Mayreder ihr nicht die üblichen Schwierigkeiten in den Weg, die sie in ihrer Weiterentwicklung behindert hätten. Die landläufige Meinung, daß Frauen zu ihrem Herrn und Gebieter aufschauen müssen, vertrat er nicht. Die üble Nachrede der klatschsüchtigen alten Dame, auf Wienerisch der >alten Tratschn<, in Rosa Mayreders Roman »Pipin« hätte wahrscheinlich auch ihr/ihm selbst gelten können.
Eine jener zahllosen misogynen Impertinenzen aus dem Mund einer Frau, die sich mit dem Aggressor identifiziert.

»Er hätte seiner Frau von Anfang an den Herren zeigen müssen, statt ihr in allen Dingen nachzugeben. Eine Frau, die sich nicht vor ihrem Mann fürchtet, wird sich immer allerhand erlauben, was schließlich auf Abwege führt.«

Rosa Mayreder geht ihre >Abwege< mit außergewöhnlicher Zähigkeit und Konsequenz. Anekdotisch verbrämt, schildert sie ihre Ausdauer im Kindheitserlebnis einer Fahrt über den Radstätter Tauern: Um die Postkutsche über die steile Paßstraße zu ziehen, werden statt der schnellen Pferde die ausdauernden Ochsen eingespannt. Ihren hartnäckigen Willen und ihre Zuverlässigkeit vergleicht sie selbstironisch mit den ausdauernden Ochsen.
Rosa Mayreders Entwicklung läßt sich nicht in eine künstlerische, politische und philosophische Phase gliedern: In ihrem Leben gab es immer ein Neben- und Miteinander verschiedener Interessensgebiete, die in einzelnen Lebensabschnitten jeweils in den Vordergrund rückten.
Der spätbürgerliche Salon Mayreder ist nicht mehr durch künstlerischen und intellektuellen Dilettantismus geprägt wie noch die geselligen Samstagabende ihrer Kindheit und Jugend in der Landskrongasse, bei denen diskutiert und musiziert wird oder Theateraufführungen improvisiert werden. Der Salon Rosa Mayreders ist in gewissen Kreisen der Intelligentia und der Künstler in. Im Laufe der Zeit gehören unter anderem der Soziologe Rudolf Goldscheid, der Anthroposoph Rudolf Steiner und der Musiker Hugo Wolf zum Bekannten- und Freundeskreis des Hauses.
Neben ihrer Malerei beginnt Rosa Mayreder zu schreiben: Novellen, Romane, Gedichte. Eine sonderbare Mischung naturalistischer und klassischer Vorlieben tritt zutage. Sie experimentiert mit verschiedenen Stilen. In der Lyrik und im Drama bleibt sie zeitlebens Epigonin. Ihr Mysterium »Anda Renata« ist eine Art weiblicher Faust, eine >Fausta<, die an sich selbst und an ihrer Umwelt scheitert. Die zeitgenössische Kritik unterschätzte ihre psychologischen Novellen und ihren Roman »Idole. Geschichte einer Liebe«. In diesem Roman aus dem Jahr 1899 thematisiert sie den Mann in der Rolle des Beobachters und Richters im allgemeinen und der des Analytikers im besonderen. Dr. Lamaris, den Gisa, ein Mädchen aus gutem Hause liebt, ist bei einer Auseinandersetzung Gisas mit ihrer Mutter zugegen.

»Doktor Lamaris stand schweigend daneben. Ich sah, daß er uns beide aufmerksam beobachtete — wieder als ob wir Gegenstände wären, Präparate oder Versuchskaninchen — mit einem fremden, kühlen, überlegenen, prüfenden Blick, der mir Unbehagen machte.«

Mitglied einer der Gruppen der Literatencafes scheint sie nicht gewesen zu sein, obwohl sie Gast im Cafe Griensteidl, genannt >Cafe Größenwahn< war. Hier trafen sich zunächst die Anhänger von >Iduna<, unter ihnen die Schriftstellerinnen Emil Marriot (Ps. f. Emilie Mataja) und Eugenie delle Grazie, die der neueren literarischen Entwicklung >Jung Wiens< - einer Richtung, der u.a. Hofmannsthal, Schnitzler und Altenberg angehörten — , skeptisch gegenüberstanden. Im Cafe Griensteidl lernt Rosa Mayreder auch durch Vermittlung ihrer Freundin Marie Lang jenen Komponisten kennen, dem sie ihren spärlichen Nachruhm als Literatin verdankt: Hugo Wolf. Sie verfaßt das Libretto zu seiner Oper »Der Corregidor«. Zunächst vom Text entsetzt, entschließt Hugo Wolf sich fünf Jahre später, 1895, das Manuskript doch zu vertonen und ist begeistert. Er teilt nicht alle literarischen und philosophischen Vorlieben Rosa Mayreders; so ist er beispielsweise ein entschiedener Gegner Ibsens und hat als Wagnerianer für Nietzsche kaum etwas übrig. Trotzdem verbindet ihn mit Rosa eine lebenslange Zuneigung und Freundschaft, was seine bis heute leider nur zum Teil edierten Briefe dokumentieren. Im Hause Mayreder findet der Wohnungssuchende Zuflucht und später Verständnis für die quälenden Anzeichen seines Irrsinns.
Das literarische Debüt Rosa Mayreders in der Öffentlichkeit fällt ungefähr mit ihren ersten Auftritten im Rahmen der Frauenbewegung zusammen. Sie geht bereits auf die Vierzig zu. Bei einer Frauenversammlung im alten Wiener Rathaus am 20. Februar 1897 tritt sie als Vertreterin des Ersten Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins in einer flammenden Rede für die Prostituierten ein. Man mag heute das Engagement der nicht direkt Betroffenen in Zweifel ziehen. Die Aktualität dieser Debatten ist noch lange nicht überholt. Die Argumente basieren auf dem Protest gegen jede >Herabwürdigung des Weibes< >zu einer bloßen Sache<, gegen die Nötigung zur Prostitution, zum sich Feilbieten, im weitesten Sinne. Damals verlieh Rosa Mayreder den langjährigen Forderungen der Frauenversammlung Nachdruck, die >sanitätspolizeiliche< Kontrolle und Registrierung der Prostituierten aufzuheben und sich moralischer Entrüstungen zu enthalten. Damit wurde in der Diskussion um den Abolitionismus ein Gegengewicht zur sittlichen Frömmelei geschaffen.
In der Überzeugung, daß sich >Cholera nicht mit Rosenwasser< heilen ließe, wurden die wirtschaftlichen und sozialen Aspekte der sich prostituierenden Frauen in den Vordergrund der Debatte gerückt. Die Tonart der Frauenversammlung, auch in der anschließenden Wahlrechtsdiskussion, war keineswegs zahm. Unerschrocken riskierten sie, ins >Fraueneck< gedrängt und lächerlich gemacht zu werden. Die Frauen nahmen die >Männerfrage< ins Visier und konterten mit scharfen Geschützen. Die wohlmeinenden Empfehlungen, sich karitativ zu betätigen und den armen Verirrten und Gefallenen den Pfad der Tugend zu weisen, statt sich politisch zu engagieren, wiesen sie sarkastisch zurück.
Noch kämpfen sie für gemeinsame Ziele: Die Frauen betonen wiederholt ihre Autonomie. Noch wehren sie sich in ihren Kundgebungen dagegen, daß ihre Arbeit von den politischen Parteien als schmückendes Beiwerk mißbraucht, ihre Ziele im kurzsichtigen Pragmatismus erstickt werden. Noch ist nicht von den Kühen die Rede, denen Musik gemacht werden muß, damit sie dem Bauern mehr Milch geben (so Grete Meisel-Hess: Das Wesen der Geschlechtlichkeit). Doch hatten sich die Frauen als Bürgerinnen, citoyennes, aufs politische Parkett begeben und sollten nur allzu schnell in dessen Spielregeln verstrickt werden.
Die Befürchtungen, daß Frauen sich ins Schlepptau politischer Parteien nehmen lassen, ziehen sich als roter Faden durch Mayreders theoretisches Werk. 1905 warnt sie davor, sich — wie schon so oft — nicht als Steigbügelhalterinnen für männliche Interessen mißbrauchen zu lassen (»Einiges über die starke Faust«). Ängste einer sezessionistischen Bürgerlichen? Ihre Äußerungen haben verblüffende Ähnlichkeit mit den Ausführungen der Französin Helene Brian, die 1913 in den Heften der revolutionären »Union Ypographique« den gleichen Befürchtungen Ausdruck verleiht.
1923 konstatiert Rosa Mayreder, daß Frauen ausgesprochene Scheu davor hätten, im öffentlichen Leben neue Ideen einzubringen und durchzusetzen. Da Frauen verstärkt dem Konkurrenzdruck ausgesetzt sind, seien sie nur allzuleicht geneigt, sich einem neuerlichen Anpassungsritual auch außerhalb des Hauses zu unterwerfen (»Geschlecht und Sozialpolitik«).
Ihr Utopia eines durch Frauen mitgestalteten bewohnbaren Planeten hofft Rosa Mayreder wie viele radikale Bürgerliche durch Reformprogramme verwirklichen zu können. Kopflastige Bemühungen von oben, denen die Basis fehlte? 1899 gründet sie gemeinsam mit Auguste Fickert und Marie Lang die Zeitschrift »Documente der Frauen«, die bis 1912 ein Forum der Diskussion und Information für Frauen von internationalem Niveau bleiben sollte.
Sie selbst verfaßt für die »Documente« ihre ersten Beiträge zur >Frauenfrage<: »Frauenvereine«, »Zur Physiologie der Geschlechter«, »Die schöne Weiblichkeit« 1899 und »Familienliteratur« 1900. Ihre theoretische Begabung gewinnt an Konturen; sie verschreibt sich dem Essayismus. 1905 erscheint bei Diederichs in Jena der erste Band ihrer Abhandlungen »Zur Kritik der Weiblichkeit«, dem nach 18 Jahren, 1923, ein zweiter Band unter dem Titel »Geschlecht und Kultur« folgt.
1905: im gleichen Jahr erhält die Österreicherin Bertha von Suttner den Friedensnobelpreis. Bösartige Karikaturen verhöhnen die Friedensbertha.
21. Juni 1914: in Wien stirbt Bertha von Suttner. Ende Juli erfolgt die Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Serbien.

»Theoretisch betrachtet stellt der Krieg die äußerste Ausgeburt des Mannwesens dar, die letzte und furchtbarste Konsequenz der absoluten männlichen Aktivität.«

So Rosa Mayreder in »Die Frau und der Internationalismus«. Damit setzt sie die pazifistische Tradition österreichischer Feministinnen fort. Ihr Vortrag zum oben genannten Thema wird 1916 verboten, die Drucklegung verhindert: ihre Schrift war
wehrzersetzend, eine Polemik gegen die >herrschenden, kriegerisch-nationalen Männerwerte« Ein Aufruf der Französinnen an die deutschen Frauen wird im gleichen Jahr in der »Revue d’Autriche« wegen seiner >internationalen Haltung< von der Zensur beschlagnahmt.
Nach Beendigung des Ersten Weltkrieges formiert sich im Rahmen der »Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit« um Rosa Mayreder eine Gruppe, die 1924 gemeinsam mit dem »Neuen Frauenklub« eine Ausstellung antimilitaristischen Kinderspielzeugs organisiert.* (* Aufschlußreich zum Pazifismus und zur Situation der Frau in Österreich in der Zwischenkriegszeit sind die Beiträge von Friedrich Stadler »Spätaufklärung und Sozialdemokratie in Wien 1918-1938« und Hanna Hacker »Staatsbürgerinnen«, im Band »Aufbruch und Untergang«, der 1981 von Franz Kadrnoska im Europaverlag herausgegeben wurde.)
Drei Jahre zuvor, 1921, fand in Wien der Internationale Frauenfriedenskongreß statt. Aus diesem Anlaß sieht sich Lotte Heller in der »Neuen Freien Presse« zu einer Laudatio der 53jährigen Rosa Mayreder veranlaßt, >da es beinahe den Anschein hat, als ob Rosa Mayreder in England, Schweden und Amerika allgemeiner bekannt ist als in ihrem V a t e r l  a n d«

»Rosa Mayreder, die seit vielen Jahren in der radikalen Frauenbewegung steht, war zehn Jahre Vizepräsidentin des Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins, wie sie jetzt Vizepräsidentin des österreichischen Zweiges der Internationalen Frauenliga und der Internationalen Exekutive ist. Als Mitglied der >Friedenspartei< hat sie während des ganzen Krieges in unerschrockener Weise an der Propaganda für den Verständigungsfrieden und die Völkerversöhnung teilgenommen. Die Rolle, die sie zur Erreichung des großen Zieles der Frau zuweist, hat sie in ihrer soeben erschienen Broschüre >Frau und der Internationalismus< ausführlich dargelegt.«

Rosa Mayreder geht auf die Siebzig zu. Sie zieht sich mehr und mehr von politischen Aktivitäten zurück. Sie schreibt Gedichte, die dem Andenken ihres verstorbenen Mannes, von Freunden Lino genannt, widmet. In den letzten Jahren seines Lebens litt er zunehmend unter Depressionen. Meistens saß er schweigend im Lehnstuhl und schaute die Besucher an >wie eine Katze« Rosa Mayreder hat ihr großes philosophisches Werk »Der letzte Gott« abgeschlossen. Als >Hypsistarierin< nimmt sie sich aus allen Weltanschauungen das, was ihr gefällt, versucht, sich noch einmal das abendländische Denken zu vergegenwärtigen und die >Frage nach Woher und Wohin, nach Warum und Wozu des Weltgeschehens< zu beantworten. Ein Rückzug ins Metaphysische und Private? 1936 war sie eine der letzten Sympathisantinnen der pazifistischen Bewegung, die sich in die Öffentlichkeit wagte. Zunehmend ihrer Ohnmacht bewußt, setzt sie ihre Hoffnung noch immer auf die Erde, das Muttergestirn, dem die Gattungen des Lebendigen entsprossen sind und auf eine mögliche Beherrschung der technischen Entwicklung durch eine geistige Evolution.

2.

»Deshalb hat dieses Buch mehr einen Erkenntniswert als einen propagatorischen. Gegner zu überzeugen, erwarte ich
nicht, denn das würde heißen, Andersgeartete zu bekehren.«
Rosa Mayreder 1904 im Vorwort zur ersten Auflage von »Zur Kritik der Weiblichkeit«

Rosa Mayreder war zu ihren Lebzeiten als Essayistin bekannt. 1907 erscheint der erste Band »Zur Kritik der Weiblichkeit«
bereits in zweiter Auflage. Ihre Schriften werden ins Englische, Schwedische und Tschechische übersetzt. Von der zeitgenössischen Kritik wird ihr Werk lobend aufgenommen — manchmal zu lobend. In einigen Äußerungen zu ihren Essays werden die Widersprüche eliminiert, man geht mit Prädikaten wie >tief<, >reif<, und >fein< auch über die Widerhaken hinweg, die sich unter der scheinbar harmonischen Oberfläche zeigen. Die Rezensenten/Rezensentinnen klammern sich an die Chance des individuellen Auswegs aus der Misere. Die Theorie wird als Rezept, >als Führer durch allerlei Lebenswirrnis< gedeutet. Gott sei dank, wir sind nicht so: nicht dyskratisch, sondern synthetisch, nicht primitiv, sondern differenziert, nicht Norm, sondern Ausnahme. Und:
»Rosa Mayreder, die solche klare einfache Lösung fand, hat vor den Kämpferinnen der Frauenbewegung eines voraus, sie gibt sich nicht als Mannweib, sie ist im besten Sinne Frau« (so Kurt Freiberger im »Neuen Wiener Tagblatt«). Also doch eine Frau mit echt weiblichem Wesen!
Nun postuliert die Verfasserin der »Kritik der Weiblichkeit« zwar weder die Teilung der Städte in einen Frauen- und Männer- Sektor, noch erklärt sie generell den Mann >als logische und sittliche Unmöglichkeit und Fluch der Welt< wie ihre in der Schweiz zum Dr. phil. promovierte Landsfrau Helene von Druskowitz. Dennoch war sie eines mit Sicherheit nicht: eine gemäßigte Vertreterin der Frauenbewegung. Das hieße die Ergebnisse ihrer Analysen zugunsten ihrer idealistischen Projektionen vergessen, das subversive Element in ihren Theorien zu überlesen. Ob ihre >Ansichten über die Rolle der Frau in der Gesellschaft (...) zu Fakten unseres Lebens geworden< sind, wie dies der Historiker William M. Johnston in seiner »Österreichischen Kultur- und Geistesgeschichte« behauptet, möchte ich dem Urteil der Leserinnen überlassen.

»Ihre Arbeit ist Bekenntnis. Hier ist ein Werk zustandegekommen, das von kritischem und spekulativem Denken Zeugnis ablegt und sprachlich wie stilistisch eine vorzügliche Leistung bedeutet.« (Frankfurter Zeitung)

Auch heute noch besticht ihre Lust am Denken, an der logischen Analyse, ihr Spaß an der Formulierung und ihre Ironie, die das Hackebeilchen nicht scheut, aber auch das Engagement, dem eigene leidvolle Erfahrungen zugrunde liegen. Niemals ist ihr Denken leidenschaftslos, obwohl Havelock Ellis oder ihre Freundin Käthe Braun dies lobend erwähnen. Und niemals würde ich sie jener wissenschaftlichen Objektivität bezichtigen wollen, gegen die sie ein Leben lang ankämpfte.
Als Fünfzigjährige bekennt sie sich zum fruchtbaren Irrtum, zur vorläufigen Wahrheit und zur Begrenztheit der Erkenntnisfähigkeit eines subjektiven Weltbildes >durch eigene Erfahrung und eigenes Erleben an Menschen wie an Büchern< In ihren 1921 erschienenen »Fabeleien über göttliche und menschliche Dinge« ist die Affinität zu Nietzsche in der Methode unverkennbar. Die philosophischen Systeme werden ihr zu >spielerischen Erfindungen< mit denen sich ihre Schöpfer >Antwort gaben auf die Fragen, die der Intellekt an die Welt richtet<

»Daß Fabeleien der Philosophen ernst gemeint sind, daß sie fachmännisch ausgedrückt, Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben, gereicht ihnen nicht zum Vorzug; wer eine Reihe solcher gravitätisch ernster und meistens auch sehr umfangreicher Fabeleien kennt, weiß schließlich nicht, was er mit der objektiven Gültigkeit so vieler ungelöster Widersprüche anfangen soll.«

Das philosophische Welttheater, in dem sie als Regisseuse die Schöpfer objektiver Wahrheiten auftreten läßt, inszeniert sie allerdings schon in ihren frühen Essays. Den unantastbaren Mythos vom ewig Weiblichen entlarvt sie in einer >Blütenlese< von Aussprüchen abendländischer Denker über das Wesen der Frau. Die Sprachphilosophin rückt den Platzhirschen der Ideologie vom >Weib an sich< die sich im unentwirrbaren Knäuel ihrer Generalisierungen verfangen haben, zu Leibe und reiht amüsiert Hirschgeweih an Hirschgeweih.
Rosa Mayreder interessiert sich zunächst für die Ideengeschichte, den Überbau, vor allem für die Psychologie der Frau. Daß sie wie andere Zeitgenossen/Zeitgenossinnen soziale und ökonomische Gesichtspunkte aus ihrem Werk ausklammert, sich psychologisch vor allem mit der bürgerlichen Frau auseinandersetzt, ist aufgrund ihrer Herkunft verständlich. Die praktischen Konsequenzen dieses Blickwinkels waren jedoch zum Teil problematisch — wie unter anderen Vorzeichen ja auch die Folgen der psychoanalytischen Theorie des nur um zwei Jahre älteren Sigmund Freud.
Als >betriebsfremde< Person rückt sie mit der Unbefangenheit der Privatgelehrten dem psychologischen Begriffsapparat zu Leibe. Ihre einzige Legitimation besteht in >unerbittlich scharfer logischer Denkkraft< die ihr auch Lotte Heller in der »Neuen Freien Presse« bescheinigt. Die Trivialwissenschaftlichkeit der damals populären Gehirndiskussion, in der sich nahmhafte Gelehrte unsterblich in der Frauen-Geschichte blamiert hatten, war schon Hedwig Dohms polemisch-spitzer Feder zum Opfer gefallen. Die Auffassung vom >physiologischen Schwachsinn des Weibes< gab sich früher oder später selbst der Lächerlichkeit preis, wie etwa auch die Unterleibspsychologie des Pathologen Virchow, der kurz alles, was wir (Anm.: Virchow & Co) an dem wahren
Weibe Weibliches bewundern und verehren< für >eine Dependenz des Eierstockes< hielt. Rosa Mayreder, die ebenfalls aus diesem unerschöpflichen Fundus der Misogynie zitiert, nimmt nicht nur Anstoß daran, wie von physiologischen Fakten auf psychologische Vorgänge kurzgeschlossen wird; sie übt auch implizit Methodenkritik an den Naturwissenschaften. Denn um deren Ergebnisse nicht zu hinterfragen, ist sie zu sehr Kulturhistorikerin. Sie wußte um die Relativität naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Ihr Blick war an den Ergebnissen der ethnologischen Forschung geschult, die ihr mit der geographischen und zeitlichen Begrenztheit der eigenen Kultur auch die Wandelbarkeit dessen, was das >Wesen< der Frau ausmacht, was als weiblich gilt, vor Augen führten.
Ihre Bestätigung erhält sie auch von Seiten der exakten Naturwissenschaft: das Resume der heute im Detail sicherlich anfechtbaren Studien von Havelock Ellis über die Bedeutung physiologischer Faktoren für das psychosexuelle Verhalten von »Mann und Weib« ist die Veränderbarkeit von Verhaltensweisen unter wechselnden Bedingungen. Rosa Mayreders Kritik richtet sich auch gegen Lokalgrößen ihrer Zeit: gegen Weininger und Freud. Obwohl sie auf der Hut ist, wenn männliches Erkenntnisinteresse Frauen zu Objekten der Wissenschaft macht, verurteilt sie nie generell. Ihre Weininger-Kritik hat bis heute nichts an Aktualität eingebüßt. Sie hat Weininger schon damals >gegen den Strich gelesen< wie es kritische Weininger-Apologeten auch heute wieder fordern. In ihrer Analyse akzeptiert sie seine Lehre von der Bisexualität aller Lebewesen, bezichtigt ihn aber des idealistischen Phallokratismus.
Allerdings sind ihre Ausführungen frei von jener Gehässigkeit einer Grete Meisel-Hess, der damals bekanntesten Weininger-Kritikerin, die Weininger, der für die Straffreiheit der Homosexualität eintrat, zum Dekadenten und Entarteten stempelte. Damit paßte die Kritik Grete Meisel-Hess’ genau ins Schema nationalsozialistischer Weiningerhetze. Rosa Mayreders Haupteinwand gegen Otto Weininger kommt dagegen pointiert im Titel ihres zweiten Essaybandes zum Ausdruck: Im Gegensatz zu Weiningers Werk »Geschlecht und Charakter« trägt ihr Buch den Titel »Geschlecht und Kultur«.
In ihrer Kritik an Freud - dessen Bedeutung für die Erforschung des Unbewußten sie hervorstreicht - stellt sie die zentralGewichtung des Inzestmotivs in seinen Ödipushypothesen in Frage. Ihre Auseinandersetzung mit Freuds >Ödipus<gewinnt Bedeutung im Hinblick auf eines ihrer Hauptthemen: die »Krise der Väterlichkeit« bzw. die Misere des Patriarchats. Für die spätere Neuinterpretation des >Ödipus< sind Mayreders Hinweise allerdings nur ein bescheidener Anfang.* (*Eine ausführliche Darstellung der Auseinandersetzung R. Mayreders mit Freud, Weininger, Nietzsche u.a. findet sich in meinem Essay »Grenzgängerin der Moderne. Studien zur Emanzipation in Texten von Rosa Mayreder« in: Das ewige Klischee, Böhlau, 1981)
Im allgemeinen orientiert sich die Autorin nicht nur an österreichischen Denkern/Denkerinnen. In ihrer Patriarchatskritik knüpft sie unter anderem an die englische Tradition von Mary Wollstonecraft, John Stuart und Harriet Taylor Mill an, wenn sie die Machtverhältnisse in politischen Systemen und in Institutionen vergleicht, durch die scheinbar private Beziehungen reglementiert werden. Sie zieht eine Parallele zwischen Sklaverei und politischem Absolutismus einerseits und der Unterdrückung von Frauen und Kindern durch die Diktatur eines autoritären Familienoberhaupts andererseits.
Mit den Engländern/Engländerinnen teilt sie übrigens auch jenes fundamentale Unbehagen an der Idealisierung der >Dame<und an der Beschützerwut der >starken Faust<

»Wir hatten die Moralität der Hörigkeit und die Moralität der Ritterlichkeit und der Großmut, jetzt ist die Zeit für die Moralität der Gerechtigkeit gekommen.«
(Mill-Taylor: Die Hörigkeit der Frau)

Die Küß-die Hand-Kultur ihrer Breiten, in der trotz übertriebener Verehrung und Galanterie gegenüber der Dame auch ihre mehr oder weniger subtile Verachtung mitschwingt, die Frauen zwar gewähren läßt, sie aber nicht ganz ernst nimmt, dürften der Autorin genügend Material für ihre Feldstudien geliefert haben. Das Spielchen vom geplagten Ritter ohne Furcht und Tadel, der für Ehre, Gut und Leben verantwortlich gemacht — sich ins Kampfgewühl stürzen muß, um die Schwächere vor der Unbill des Lebens zu schützen, entlarvte schon Mary Wollstonecraft als simplen Trick, durch den Abhängigkeiten und double-binds auf einer anderen Ebene perpetuiert werden sollen.
Rosa Mayreders Ansätze, die >Furcht vor der Freiheit<zu überwinden, nehmen in vielen Punkten die Kritik an Herrschaftsideologien und am autoritären Charakter durch die Frankfurter Schule voraus. Sie lassen bereits heutige feministische Positionen anklingen, Kinder nicht dem Vaterland, sondern sich selbst zu schenken und den Frauen ihre Persönlichkeit zurückzugeben (so Carla Lonzi 1970).
Rosa Mayreders Ausführungen zur Erziehung enthalten schon eindeutig Elemente einer Antipädagogik. In Ellen Keys »Jahrhundert des Kindes« wittert sie eine enorme Überbewertung erzieherischer Akte. Trotz elitärer Anflüge, in denen sie dem Persönlichkeitskultes des genialen Individuums huldigt, dem es unter allen Umständen gelingt, sich von den elterlichen Fesseln zu befreien, maskiert sie die Sucht der Erzieher, sich Geschöpfe nach ihrem Willen zu formen, Motive klingen an, die seit Jean Pauls »Levana« die Antiautoritären bewegen.

»…zu bloßem Erziehen wieder zum Erziehen ist das Leben nicht geschaffen.«

Kinder sind keine erzieherischen Objekte allmächtiger Erwachsener. Den Müttern, die die Entwicklung ihrer Kinder durch overprotection und Dressurakte behindern, empfiehlt sie, sich in der Öffentlichkeit den Aufgaben einer Welt zu widmen, in die sie die Geschöpfe mit Selbstverständlichkeit hineinsetzen. Wie auch in ihren Ausführungen zur »Familienliteratur« hatte sie dabei vorwiegend die bürgerliche Familie im Auge. Die bewußte Verdummung der Mädchen durch entsprechende Lektüre und die Aufdeckung der Interessen, die hinter diesem Zweig des Literaturmarktes stehen, enthalten bereits moderne literatursoziologische Ansätze.
Rosa Mayreder liebäugelte des öfteren mit Matriarchats- und Mutterrechtstheorien, ohne sich letztlich für sie zu entscheiden. Bachofen, Engels und Morgan sind ihr zu wenig bewiesen. Ihre spekulative Ader kann sich jedoch implizite Wertungen nicht versagen. Am konkreten Beispiel der unehelichen Mutterschaft geht sie in der Kritik paternalistischer Moralvorstellungen und Gesetze entschieden weiter als andere Autoren/Autorinnen ihrer Zeit. Weiter auch als Rudolf Goldscheid, der sie innerhalb der »Soziologischen Gesellschaft« förderte. Goldscheid und Meisel-Hess treten für die Duldung der unehelichen Mutterschaft aus bevölkerungsökonomischen Gründen ein: >auch das so verachtete »Mistbeet« der freien Liebe beginnt nun im Werte zu steigen< (R. Goldscheid), obwohl<aus der Sumpfvegetation des wilden Geschlechtslebens< keine >besonders wertvollen illegitimen Produkte< hervorgingen (G. Meisel-Hess). Rosa Mayreder dagegen postuliert zunächst die prinzipielle moralische und rechtliche Anerkennung des unehelichen oder >natürlichen< Kindes und seiner Mutter. Am Schluß ihrer Abhandlung »Mutterschaft und doppelte Moral« zieht sie ihre Schlußfolgerungen jedoch im Widerspruch zum Vorangegangenen. Die Ansätze zu einer polymorphen Ethik und einer Vielfalt von gleichwertigen Möglichkeiten des Lebens und Zusammenlebens werden nicht weitergedacht, sondern abgeschnitten. Wie in ihrer »Kritik der Väterlichkeit« hofft sie auf einen instinktveredelten guten Vater in der Kleinfamilie, die sie als einzige und beste aller Lebensformen retten will. Damit entschärft sie selbst die Sprengkraft ihrer Aussagen auch in anderen Zusammenhängen.
Die Theoretikerinnen um die Jahrhundertwende haben das Tabu gebrochen, über ihren Körper und ihre Sexualität zu schreiben. Da sie kaum den männlichen Projektionen, wie Frau sein soll, entronnen waren, stolperten auch sie selbst über jahrhundertelang internalisierte Vorstellungen. Der >Schrei nach dem Kind< als natürlichster Wille der Frau zu natürlicher Mutterschaft, der uns auch heute noch in den Ohren gellt, war noch nicht verklungen. Grete Meisel-Hess, die diesen Kinderwunsch als frauenspezifisch propagierte, hat sich zweifellos Verdienste um den Mutterschutz erworben. Doch wurde die Natur der Frau weiterhin nur über Mutterschaft und Fortpflanzung definiert, ihre Sexualität primär als Mittel zur Fortpflanzung gesehen. Rosa Mayreder warnte vor der Ideologie einer >konstitutiven Sexualmoral<, vor den Folgen eines >utilitaristischen Lebensideals< (»Sexuelle Lebensideale«). In der Idealisierung der Mutterschaft sieht sie eine Entrechtung der Frau und lehnt die Fremdbestimmung und Instrumentalisierung der Sexualität ab. Sie zeigte schon früh den Zynismus auf, mit dem Frauen zu Gebärmaschinen funktionalisiert werden, um den Kreislauf von Produktion und Vernichtung von >Menschenmaterial< aufrechterhalten zu können.
Doch ist dies nur ein Aspekt frauenfeindlicher Körperpolitik, auf den Rosa Mayreder hinweist. Sexualität wird bei ihr zur Metapher der Selbst- und Fremdbestimmung der Persönlichkeit der Frau. Die Forderung nach Recht auf eine eigene sexuelle Identität von Frauen beinhaltet das Postulat nach eigenständiger Entwicklung ihrer Persönlichkeit, die nicht nur in ihrer Beziehung auf den Mann hin gesehen werden kann.
In ihren konkreten Utopien ist Rosa Mayreder eine Tochter der Romantik und des bürgerlichen Individualismus. Ihre Versuche der Versöhnung von Geist und Sinnlichkeit, ihre Kultivierung der Erotik und ihre weiblichen und männlichen Idealtypen haben ihre Wurzeln im frühromantischen Geselligkeitskult. Es scheint, als hätten sie die Vorstellungen Friedrich Schlegels von selbständiger Weiblichkeit und sanfter Männlichkeit auch zu etlichen Wunschvorstellungen über den Mann, wie er sein soll, verleitet.
Der Frauenüberschuß, der vor allem nach dem Ersten Weltkrieg beträchtlich war, brachte die monogamiebesessenen Theoretikerinnen auf die abstrusesten Ideen. So schlug Grete Meisel-Hess allen Ernstes die<Kolonialisierung frauenarmer Länder anderer Weltteile mit dem Frauenüberschuß Europas vor und sah darin einen wichtigen<Programmpunkt eines Systems der Sanierung des Geschlechtslebens« So dogmatisch war Rosa Mayreder keineswegs. Dazu war sie zu sehr dem Toleranzprinzip des Liberalismus verpflichtet, das jedem (privilegierten) Individuum den subjektiven Ausweg gestattet.
Als Ausnahme empfand sich auch Rosa Mayreder selbst. Für sie bestand ein Hauptkonflikt darin, sich mit ihren intellektuellen Neigungen als >entartete Gehirndame< im Gegensatz zur gesellschaftlichen Norm zu befinden. Die theoretische Lösung dieses Konflikts wurde in ihrem Werk zu einem Thema mit Variationen. Und sie entschied sich kompromißlos gegen die >natürliche< Norm, das Althergebrachte, stellte sich selbst auf die Seite der >unnatürlichen< Ausnahme, der Innovation, (so wie auch J.St. Mill)
Da sie zu sehr ans aufklärerische Reformprinzip des Liberalismus glaubte, um einem hypertrophen Individualismus, dem ahistorischen Mythos der Ausnahmefrau huldigen zu können, deklarierte sie kurzerhand die Norm für entartet und die Ausnahme zur künftigen Regel. Die Emanzipation der Frau folgt nach Rosa Mayreder dem allgemeinen Prinzip des sozialen Fortschritts. In ihrer soziologischen Abhandlung »Der typische Verlauf sozialer Bewegungen« geht sie näher darauf ein. Progressive Einzelgänger/innen sind Initiator/inn/en des Fortschritts, indem sie zunächst das Denken gesellschaftlicher Gruppen beeinflussen und über diesen Einfluß auch gesellschaftliche Macht gewinnen. Die Frauenbewegung ist für sie die logische Konsequenz, die >planbewußte< Weiterführung der Freiheitsbestrebungen einzelner bürgerlicher Frauen, vor allem der Romantik. In diesem Punkt bleibt Rosa Mayreder eine bürgerliche Aufklärerin und Reformatorin. In ihrem Vorwort »Zur Kritik der Weiblichkeit« erwähnt sie zwar auch die ökonomischen und sozialen Wurzeln der Frauenbewegung; es gelingt ihr jedoch nicht, sie durchgehend in ihr theoretisches Konzept zu integrieren.
Daß berufliche Gleichberechtigung unter gleichbleibenden gesellschaftlichen Bedingungen nicht immer mit Emanzipation gleichzusetzen ist, war Rosa Mayreder damals schon klar. Auch wenn sie für die Mehrheit der Frauen keinen realistischen Ausweg aus dem Dilemma aufzeigte, entlarvte sie die Emanzipationsbestrebungen vieler Bürgerlicher sehr bald als »Selbstzweckemanzipismus« Sie gehörte zu einer Pioniergeneration, für die Bildung ein Mittel war, >sich gegen die schwerlastenden Reste der Barbaren und gegen die Wahnvorstellungen über das Weib im 19. Jahrhundert< (Marianne Hainisch: Seherinnen, Hexen und die Wahnvorstellungen über das Weib im 19. Jhdt.) zur Wehr zu setzen, und die Möglichkeiten beinhaltete, gesellschaftliche Vorgänge im Interesse der Frauen zu beeinflussen.
Rosa Mayreder erkannte die Gefahren, in die sich Frauen begaben, wenn sie in männlichen Domänen ihr Glück versuchten. Hat sie auch die Ursachen gesehen? Um den Preis des Selbst-Seins und Selbst-Bewußt-Seins wurde oftmals der Beweis angetreten, es Männern gleich tun zu können. Im Bemühen, primär die Vorurteile gegen sich als Frauen abbauen zu müssen, wurde übersehen, daß sie dabei wieder jene Spielregeln hinnahmen, denen sie sich ohnehin ständig unterwerfen mußten: zu gefallen, um akzeptiert zu sein. Was uns heute an einer Rosa Mayreder, einer Bertha von Suttner oder einer Marianne Hainisch fasziniert, ist ihr Wissen um die eigene Geschichte, um die weiblichen Potenzen, um einen möglichen Qualitätsumschwung menschlichen Denkens und Handelns durch Frauen — selbst wenn diese Geschichte als Unterdrückung und Ohnmacht erfahren wurde.
Als Theoretikerinnen waren sie in Österreich die ersten, die aus einem veränderten Geschichtsverständnis Konsequenzen für die Geschichte der Frauen gezogen haben. Der Zynismus der Herrschergeschichte, der das Fußvolk außer acht ließ, kulminierte in einer patriarchalischen Historiographie in Form von Kriegs- und Greuelgeschichten. Diese Geschichte(n) dominierte(n) die Überlieferung, bestimmte(n) die Auswahl in den Geschichtsbüchern, während über kultur- und sozialgeschichtliche Fakten geschwiegen wurde. Damit blieb auch die Frauengeschichte als blinder Fleck auf den kanonisierten historischen Atlanten zurück. Mann schwieg auch — und darüber ist sich Rosa Mayreder mit Bertha von Suttner einig — über die Geschichte der weiblichen Erotik zugunsten der Darstellung von Gewalt.
Doch scheint das Auseinanderklaffen von Theorie und sozialer Bewegung auch für die Frauenbewegung typisch gewesen zu sein, in der theoretisch die bürgerlichen Frauen dominierten. Die Bilder vom weiblichen Faust oder der Promethea sind nur allzu angebracht für jene Pionierinnen. Doch hatten sie wirklich Verbindung zur >Basis<, zur Mehrheit der Frauen? Mit welchen Frauen gingen sie im Alltag um? Waren ihnen nicht Grenzen durch die Traditionen ihres Denkens und Lebens gesteckt, denen sie verhaftet blieben? Haben sie Erfahrungen ausgetauscht und relativiert, ihre Theorien korrigiert in einem Miteinander verschiedener Ansätze und Ansichten? Oder verkam die theoretische Heterogenität nicht zuletzt zu einem beziehungslosen Nebeneinander?
Der weibliche Diskurs ist damals in der Geschichte eingegangen, wobei durchaus die umgangssprachliche Komponente des à-la-mode-Wortes gemeint ist: »dischkerieren« im Sinne von miteinander reden. Rosa Mayreder hat zwar wie andere auch erkannt, daß subjektive Betroffenheit eine der Voraussetzungen Ist, um über das Thema Frau zu schreiben. Allerdings reicht sie nicht aus, um sich dem männlichen Bilderkatalog zu entziehen. Der Perspektivenwechsel vom Mann zur Frau hat noch nie genügt, um den Spiegel zu zerbrechen, der Frauen Jahrtausende vorgehalten worden ist. Denn wie das Mädchen Emily in Doris Lessings »Memoiren einer Überlebenden« werden sie zunächst lediglich die Kostüme wechseln und höchstens eines vorschnell als neue weibliche Identität ausgeben.
Für Rosa Mayreder war Subjektivität das Maß aller Dinge. Der Individualismus der Bürgerlichen hatte seine Janusköpfigkeit gezeigt. Die Befreiung der Persönlichkeit mündete letztlich in die Isolation, da die Subjektivität die Person unablässig auf sich selbst begrenzte. Die Ursache dafür, daß die Bilder der >neuen Frau< unter den Hammer kamen, lag von Anfang an mit in ihnen selbst begründet. Dennoch gehen noch heute gültige Impulse von ihnen aus, die wir — gegen den Strich lesend —mit Betroffenheit und Staunen wahrnehmen. Auch wenn wir nur mehr Spuren an Versatzteilen sichern können, um aus einem >fruchtbaren Irrtum< unser Fazit zu ziehen.
»Der Weg ist dunkel, den ich tastend gehe«, dieser Satz aus ihren Sonetten »Zwischen Himmel und Erde« trifft auf jene >Ersten< zu, in einem Land, dessen Bundeshymne seinen/ihren Töchtern auch heute noch verkündet, daß es >Heimat großer Söhne< ist.

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