Kapitel 14
Das Auto rollte im Norden aus Yatrastan hinaus und nach Montana hinein. Nach einer guten Nacht draußen fühlten wir uns erfrischt und unternehmungslustig, obwohl Aama einige Zeit gebraucht hatte, um sich hinzulegen. Sie hatte den von Didi vor ihr ausgerollten Schlafsack eine Weile umkreist, weil sie überzeugt war, wir hätten ihr einen Sack ohne Eingang gegeben. Wir bogen um eine Kurve und sahen an der Straßenseite eine Gruppe von roten Pfosten mit weißen Kreuzen. Ich machte Aama darauf aufmerksam und erklärte ihr, daß überall da, wo ein Kreuz steht, Menschen bei Verkehrsunfällen zu Tode gekommen seien.
»Ich sehe keine Leichen«, sagte Aama und reckte den Hals. »Nein, das ist schon eine Weile her«, sagte Didi. »Die Körper sind woanders beerdigt oder verbrannt worden. Vielleicht sind zwei Autos zusammengestoßen, oder jemand ist am Steuer eingeschlafen und von der Straße abgekommen. Das weiße Kreuz ist ein Symbol für unsere Gottheit, zu der du in dem großen Garten mit der Grotte gebetet hast.« »Ich wette, die Autos sind auch kaputtgegangen«, fugte Aama hinzu. »Wie mögen wohl die Planeten gestanden haben, daß die Menschen hierhergeführt wurden, um zu sterben? Ihre Planeten haben sie im Stich gelassen...« Ich stellte mir vor, wie himmlische, laserartige Schicksalsstrahlen in Zickzackkurven die Oberfläche der Erde nach ahnungslosen Fahrzeugen absuchen und sie wie Spielzeugautos herumstoßen. Mein Blick fiel auf einen Pfosten mit drei frisch gestrichenen, weißen Kreuzen, über denen ein kleiner Kranz hing. Ein Schrecken fuhr mir durch die Knochen, als ich daran dachte, wie ich Aama auf einem geraden Straßenabschnitt vor Las Vegas das Steuer habe halten lassen. Ich entschloß mich, auf dieser Reise die Planeten nicht mehr herauszufordern. »... und weil sie vorzeitig gestorben sind, vor der vorherbestimmten Zeit, die ihnen auf die Stirn geschrieben ist, werden ihre Seelen umherirren und Unfrieden stiften.«
Die Montana-Luft kühlte ab, und die Landschaft öffnete sich am Ostrand der Rocky Mountains zu Weide- und Ackerland. Der Himmel war bewölkt und ruhig.
Vierzig Meilen südlich von Choteau sah Didi ein handgeschriebenes Schild am Straßenrand, auf dem Gemüse angeboten wurde. Ich trat auf die Bremse, setzte zurück und bog den Feldweg ein, der zu dem weitläufigen Anwesen führte. Aama hatte ein paar Meilen vorher einige Bienenstöcke entdeckt und gefragt, ob die Farmer den Honig einsammelten oder ihn einfach dort ließen, und ob wir welchen bekommen könnten. Honig ist pancha amrit, eine der fünf lebensspendenden Speisen. Das Auto fuhr laut knirschend die steinige Einfahrt hinauf. Bei näherem Hinsehen bestand diese Farm aus einer Reihe identischer, miteinander verbundener Wohneinheiten, die durch einen schmalen Zementweg voneinander abgegrenzt waren. Zu jeder Einheit gehörte ein quadratisches Stück Rasen, auf dem exakt an der gleichen Stelle ein Wäschetrockner in Form einer umgedrehten Pyramide stand. Der Rasen war entweder künstlich oder extrem gut gepflegt.
Ein bärtiger Mann in einem abgetragenen, weißen Cowboyhut tauchte zwischen zwei Aluminiumhütten auf. Er sah, daß wir unser Fenster herunterkurbelten, und kam auf uns zu. Als ich mich nach dem Gemüse und dem Honig erkundigte, sagte er, es gebe im Moment keinen Honig, aber dort drüben links, hinter der nächsten Gruppe von Blechhütten, könnten wir Gemüse bekommen. Er trug ein schwarzes Hemd und schwere schwarze Hosen. Zwei weitere Männer, die genauso angezogen waren, gingen in der Nähe vorbei.
»Wird diese Farm von irgendeiner Gemeinschaft betrieben?« fragte ich freundlich und war mir nicht sicher, ob ich mehr Informationen verlangte, als er geben wollte. »Ja, gewissermaßen«, antwortete er mit einem verschwiegenen Lächeln. Er hatte einen Akzent.
In einer großen Wellblechbaracke, in der biologisches Gemüse zum Verkauf ausgelegt war, klärte uns der Ladenbetreiber auf: Sie seien Hutterer, eine Sekte der Wiedertäufer, die um 1800 aus Deutschland und Österreich nach Amerika ausgewandert seien und hier Kollektivfarmen gegründet hätten. Es gebe auf der Ostseite der Montana Rockies 25 Hutterer-Kolonien. Diese hier sei die Milford Colony. Der Mann, einer der Ältesten der Gemeinschaft, erklärte weiter, sie seien Mennoniten, die ursprünglich aus Tirol stammten, während die Amish niederländischer Abkunft seien. Am Neuen Testament ausgerichtet, sehen die Hutterer ihre Gemeinschaften als Arche Noah, die inmitten eines Meeres von Verwirrung und sittlicher Unordnung fest in ihren Grundsätzen verankert ist. Sie sind Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen. Während des Vietnamkrieges durften junge Männer aus den Kolonien Ersatzdienst in den Nationalparks leisten.
Ich unterließ es, ihm mitzuteilen, daß Männer aus Aamas Stamm sich zusammen mit den Gurkhas als Söldner verpflichtet hatten und bekannt dafür waren, zu den furchdosesten Infanteriesoldaten der modernen Zeit zu gehören. Frauen in knöchellangen, hochgeknöpften, karierten Baumwollkleidern bewegten sich steif zwischen den Regalen hin und her, so wie es Frauen um die Jahrhundertwende getan haben mochten. Sie trugen gepunktete Kopftücher, die unter dem Kinn zu einer adretten Schleife gebunden waren. Die Buben rannten mit zylinderartigen Hüten herum, die sie wie durch Zauberei artig auf ihrem Kopf balancierten. Einer schob eine Kinderschubkarre voller Kartoffeln.
Als die Kinder Aama sahen, unterbrachen sie ihre Beschäftigung. Die halbwüchsigen Mädchen stellten sich im Halbkreis um sie herum und hielten sich gegenseitig an den Händen fest. Vielleicht haben sie gelegentlich einen Schwarzen gesehen oder einen Ausländer, aber Aama war neu. Sie starrten sie mit der gleichen konzentrierten Ehrfurcht an, wie tibetische Kinder mich mit den Augen fixiert hatten, als ich in ihrem abgelegenen Tal aufgetaucht war - der erste Ausländer, der ihnen zu Gesicht gekommen war. »Woher kommt sie?« fragte eines der Mädchen. »Aus Nepal, dem Himalaja in Nordindien.« »Wo ist das?« »Sehr weit weg, auf der anderen Seite der Erde«, antwortete ich. Plötzlich hatte ich das Gefühl, in eine Zeit zurückversetzt zu sein, bevor die Existenz von Nepal und Asien überhaupt ins Bewußtsein der westlichen Welt gedrungen war. Aama merkte sofort, daß die Hutterer sich deutlich von den anderen Amerikanern, denen sie bisher begegnet war, unterschieden. Sie sah so aus, als wolle sie Ratschläge erteilen und Geschichten von einer Welt erzählen, von der sie mittlerweile mehr wußte als ihre Zuhörer.
»Fährst du mit dem Auto nach Nepal oder mit dem Flugzeug?« erkundigten sich die Mädchen. »Mit dem Flugzeug. Es liegt dort, wo der Mount Everest ist.«
Aama und die Hutterer tauschten sich über ihre Ursprünge aus und merkten bald, daß sie Sprößlinge aus dem gleichen bäuerlichen Wurzelstock waren - gedüngt mit Religion und Gemeinschaftswerten. Die Milford-Hutterer sprachen nicht so gut Englisch wie Aama ihre zweite Sprache, Nepali. Wie die meisten Gurung kamen auch die Hutterer meist nicht weiter in der Welt herum als bis zur Nachbarsiedlung.
Fremde durften die Kolonie selten besichtigen, aber die jungen Mädchen wollten Aama unbedingt alles zeigen. Sie nahmen sie bei der Hand und führten uns durch einen mit Schindeln verschalten, weißen Speisesaal in die Küche, die von einer makellosen Reinlichkeit war; manches war modern, anderes antik, und alles war blitzblank geschrubbt und gewienert. Aama inspizierte systematisch die übergroßen Töpfe, die wie Schmuckstücke an der Wand aufgereiht waren. Ein Mädchen brachte ein frisch gebackenes Brötchen und reichte es ihr, als könnte es explodieren. Aama nahm es und wendete es unter den Augen von fünfzehn neugierigen Kindern anerkennend hin und her. Sie sahen, daß Aama an ihren täglichen Erzeugnissen genauso interessiert war wie sie an Aamas Aussehen und an ihrem Schmuck. Sie war ihnen fremd und doch vertraut. »Ob sie vielleicht frisch gepreßten Traubensaft mag?« fragte ein Mädchen in die Runde und zog mit drei anderen los, um welchen zu holen. Sie kamen mit einem Becher zurück. Aama schüttete ihn hinunter, ihr durstiges Gluckern war im ganzen Raum zu hören, der sich mit immer mehr Kindern gefüllt hatte, die jede ihrer Bewegungen verfolgten. Sie schmatzte mit feuchten Lippen, atmete laut aus und lächelte.
Die Kinder, die Aama am nächsten standen, paßten auf, daß sie von den anderen nicht bedrängt wurde, als sie mit ihr zur Schulklasse hinüberzogen und stolz ihre gußeisernen Bänke mit eingelassenen Tintenfässern zeigten. Durch die blitzsauberen Sprossenfenster fiel das Licht in einem Karomuster auf die spiegelglatt polierten Hartholzdielen. Die Kinder führten sie in die Werkstatt des Schusters und in die Wäscherei. Aama sah sich plötzlich in ein kulturelles Paradies versetzt. »Selbst die kleinsten Kinder sehen bestens aus, alle sind ordentlich zurechtgemacht, die Haare unter den Hüten und Kopftüchern fest zurückgebunden. Sie lernen und arbeiten, beides zugleich, und sie scheinen sich gegenseitig zu achten. Sie leben sämtlich mit ihren Verwandten zusammen, müssen also nicht mit Autos herumfahren, um sie zu erreichen, oder ihnen Nachrichten über das Radio oder das Telefon zukommen lassen, in das man hineinspricht.«
»Die Männer lassen sich den Bart erst wachsen, wenn sie verheiratet sind«, erzählte ich Aama und wiederholte damit, was mir der Älteste gesagt hatte. »Und die Eltern wählen die Ehepartner aus, genau wie in Nepal.«
Aama fischte eine nepalesische Rupie aus ihrem Geldbeutel. Sie gab die Münze dem jüngsten Kind in der Gruppe, dem sauber hergerichteten kleinen Soldaten, der ihr schon vorher aufgefallen war, weil er sich so besonders artig benahm. Er strahlte vor Stolz, inspizierte das Geldstück genau und ließ es in seiner Hosentasche verschwinden.
Mit einem Laib Brot und Tüten voller Zwiebeln und Kartoffeln rollten wir die Ausfahrt hinaus. Aama hatte sich einen Kanten Brot abgerissen und stopfte sich die Backen voll.
»Als wir ankamen, habe ich niemanden gesehen. Wahrscheinlich sind sie alle in die Häuser gerannt und haben sich diese sauberen Kostüme angezogen, als sie uns kommen sahen. Geld ist für sie bestimmt nicht so wichtig wie für euch Weiße. Ihre Arbeit ist eine Art von Andacht.«
»Aber sie sind auch Weiße«, entgegnete ich. »Trotzdem sind sie irgendwie anders. Sie erinnern mich an die Gurung. Sie leben von Produkten, die sie mit ihrer eigenen Hände Arbeit erschaffen haben.« In Whitefish übernachteten wir bei unseren Freunden Doug und Karen und ihren beiden Kindern. Am Sonntagnachmittag quetschten wir uns in ihren Kleinbus, um einen Ausflug zum Glacier-Nationalpark zu unternehmen. Aama saß hinten zwischen Teal und Rusty, sieben und vier Jahre alt. Während wir uns den Sun-Highway hinaufmühten, frisierte Aama die Wollhaare der Plastikpuppe. Sie zog ihre Haare streng nach hinten, flocht sie zu Zöpfen und legte dann ihre Hand wie ein Kopftuch darüber: Fertig war das kleine Hutterer-Mädchen. Wir sangen Lieder, machten ein schönes Picknick, hatten Autoprobleme und kehrten nach Hause zurück. Die Kinder putzten lärmend ihre Schuhe an der Türmatte ab, und Karen stieß die Tür zum Wohnzimmer auf und knipste das Licht an. Aama schaute hinein, blieb stehen und verbeugte sich mit aneinandergelegten Händen in Richtung Lampe. Das war an diesem Abend das erste Licht, die erste Opfergabe, ein Funke der Energie und des Strahlens der Götter Parameswor und Agni. Ich kannte diesen Brauch, das erste Licht, das abends entzündet wird, zu grüßen, aus dem Dorf und tat es auch, wenn ich mit ihr zusammen war, ließ es aber bleiben, wenn sie sich nicht in der Nähe aufhielt. Mir wurde deutlich, wie leicht Einwanderer die Traditionen und Feinheiten ihrer Kultur schon in einer Generation verlieren können, wenn sie von der Familie und den Freunden nicht gepflegt werden. Das Wesen ihrer Bräuche kann vielleicht eine Generation überdauern, bevor es von neuen Interpretationen geschluckt wird. Für viele Asiaten mit Schulbildung, dazu gehörten auch Jugendliche aus Aamas Dorf, waren die religiösen Bräuche schon meachnisch geworden und wurden mehr aus Respekt vor den Eltern und Ahnen ausgeführt als aus inspirierter Vision oder Ehrfurcht vor dem Geist.
Ein gebildeter junger Gurung hatte mir einmal erzählt, was es für ihn bedeutete, aus der Dorfkultur zu emigrieren und nach einer Reihe von Jahren zurückzukehren.
»Als ich jung war, habe ich auf die Kultur und das technische Niveau des Dorflebens heruntergeschaut und wollte unbedingt am modernen Leben teilnehmen. Also ging ich, wie so viele andere auch, in die Stadt. Aber eines Tages, ich war dank eines Stipendiums in den Vereinigten Staaten, kam ich in ein Pflegeheim und sah all diese alten Menschen allein vor dem Fernseher herumsitzen, leer und freudlos, als würden sie auf etwas warten. Wo waren ihre Verwandten und Familien? Wo war die Gemeinschaft, wo waren die Bräuche, mit denen sie ihre letzten Tage durchstehen konnten? Diese Erfahrung, dieser eine Eindruck, verwandelte mich. Jetzt freue ich mich, wenn ich bei meinen Verwandten bin und bei den Leuten im Dorf und wenn sie nach Katmandu kommen. Dann macht es mich stolz, mit ihnen in ihren traditionellen Kleidern in ein Restaurant zu gehen, und wir sprechen Gurung. Ich werde mich in meinem Dorf zur Ruhe setzen, Entwicklungsprojekte einführen und mit den Leuten das Vorhandene erhalten. Im Dorf habe ich meine Wurzeln.«
Doug und ich schnappten uns die Fahrräder der Kinder und strampelten zu einem chinesischen Restaurant mit Straßenverkauf - zur Abwechslung etwas Asiatisches für Aama und eine leichte Alternative zum schweren amerikanischen Essen. Als wir zurückkamen, waren Didi und Karen in der Küche zugange. Aama saß allein im Wohnzimmer und starrte auf die Mattscheibe - Amerikas letztes Opfer der Fernsehsucht. Sie drehte nicht einmal den Kopf, als wir hereinkamen. Ich setzte den warmen Rucksack ab, und da bemerkte ich erst, daß ihr Tränen in den Augen standen. Die Muskeln ihres Gesichts verrieten, daß sie die zahnlosen Kiefer aufeinanderbiß. Vielleicht war es Heimweh.
Ich setzte mich neben sie, legte den Arm hinter ihr auf die Rückenlehne und fragte sie, was geschehen sei. Sie zögerte, als wolle sie schlechte Nachrichten zurückhalten. Ich wartete. Sie setzte erneut zu sprechen an, verfiel aber wieder in stummes Starren auf den Bildschirm.
»Du weißt, was passiert ist, und hast es mir verheimlicht«, stieß sie plötzlich hervor. »Nein. Was ist los?« »Im Dorf. Du weißt, was Sun Maya zugestoßen ist. Du weißt, daß sie gestorben ist.« »Was?« »Meine Tochter Sun Maya ist tot«, erklärte sie wieder, diesmal lauter und ungehalten, als sei es eine offensichtliche Tatsache. Ich war perplex. »Ich weiß nicht das geringste davon. Und woher weißt du es?« In einem Gefühl, als müsse ich mich verteidigen, schaute ich von Aama zum Fernseher und teilte mit ihr die Hoffnung, daß er zu uns sprechen und uns irgendwie führen möge. Sie muß es bei ihrem kurzen Nickerchen geträumt haben. Ich war versucht, ihre Vision nicht ernst zu nehmen, aber ich widerstand dem Impuls, wohlwissend, daß man ihr mit Logik nicht beikommen konnte. Aama war fest davon überzeugt und stur. Wenn Leute sehr aus dem Gleichgewicht sind, dann müssen sie ihre Angst erst einmal ausleben und annehmen, bevor sie genügend Selbstvertrauen gewinnen, um ihr ins Gesicht schauen zu können. »Du und Didi, ihr habt es vor ein paar Tagen erfahren, als wir unterwegs waren. Ihr habt einen Brief aus dem Dorf bekommen und habt mir nichts gesagt. Jedesmal, wenn ich gefragt habe, war eure Antwort, es seien keine Briefe angekommen. Aber ich habe gesehen, daß ihr einen Brief mit nepalesischer Schrift gelesen habt.«
Didi hörte an Aamas trauriger Stimme bis in die Küche, daß etwas nicht stimmte. Sie kam herein und setzte sich neben sie.
»Aama, natürlich lebt Sun Maya noch.« Sie beruhigte sie nach Kräften. »Wäre es denn richtig, wenn deine eigene Tochter vor dir stürbe? Wie bist du denn auf diese Idee gekommen?« Didis Selbstsicherheit bewahrte mich davor, mich weiter in Aamas schlimme Träume zu verstricken.
»Du sagst das so leicht, aber woher weißt du es?« fragte Aama mißtrauisch. »Mein rechtes Augenlid hat gezuckt. Das heißt, daß im Dorf etwas passiert ist. Und ich habe öfter einen Schluckauf, und das bedeutet, daß jemand an dich denkt. Ich habe fast nie Schluckauf.« Ich hielt es nicht für ausgeschlossen, daß ihr Saftkonsum in einem fahrenden Auto etwas damit zu tun hatte.
Ich hatte drei Briefe an ihre Verwandten geschrieben, aber keine Antwort erhalten. Vielleicht hat das Geld nicht gereicht, als sie beim Postamt ankamen, das eine halbe Stunde vom Dorf entfernt liegt, nicht ahnend, daß das Porto nach Amerika einen beträchtlichen Teil des Tageslohns ausmacht. Im Dorf geschieht sowieso nichts pünktlich, besonders nicht hinsichüich der Postzustellung und Geldrückzahlungen. Aama hatte vielleicht meine kümmerliche Handschrift auf einem Briefumschlag zum Dorf gesehen.
Andererseits hielt ich es durchaus für möglich, daß sie ein solches Ereignis, wenn es wirklich eingetreten wäre, spüren würde. Achtzehn Jahre zuvor hatte ich eine Vorahnung vom unerwarteten Tod meiner Mutter gehabt. Eine Stunde bevor sie starb, bekam ich eine telepathische Depesche - eine Botschaft, die mir vielleicht durch eine negative Planetenkonstellation übermittelt wurde - daß sich etwas Schlimmes ereignet hatte. Ich war damals Collegestudent im zweiten Jahr und fuhr mit meinem Fahrrad vom botanischen Museum zu meinem Zimmer in einem kleinen Wohnkollektiv. Ein Blick auf die öde Fassade des Gebäudes stürzte mich in eine Welle von Unbehagen und massive Unzufriedenheit, daß ich dort wohnte. Reflexartig fuhr ich einfach an dem Haus vorbei quer durch die Stadt, immer weiter durch Hintergassen und Stadtteile, in die ich nie zuvor gekommen war. Bei Sonnenuntergang wurde ich müde, stieg ab, kettete mein Fahrrad an ein Straßenschild und begann ziellos herumzulaufen, starrte Häuser an, von denen ich wußte, daß sie bewohnt sein mußten, die aber dennoch leer und unpersönlich aussahen, sogar unheimlich. Als ich spätabends zum Wohnheim zurückkam, tat mein rationaler Verstand alles Erdenkliche, um das Gefühl zu unterdrücken, ich müßte zu Hause anrufen. Tatsächlich wartete diese Nachricht auf mich. Meine Mutter war gestorben. Sie war hinübergegangen, ohne mir die Möglichkeit zu geben, mich von ihr zu verabschieden, sie um Vergebung zu bitten, um von den Schuldgefühlen für die egoistischen Eskapaden meiner Jugend frei zu werden. Nichts konnte mehr gesagt werden.
Während Aama von Sun Maya sprach, fühlte ich die Präsenz der herumirrenden, gequälten Seele meiner Mutter. Sie war jung bei scheinbar guter Gesundheit gestorben und erschien jetzt vor mir mit einem gestörten, ängsdichen Ausdruck. Aama und die Gurung hatten mir gesagt: Die Seele des Opfers eines verfrühten Todes macht den Lebenden weiterhin Schwierigkeiten, und zwar so lange, bis ein Schamane den irrenden Geist sicher zum Ruheplatz der menschlichen Seelen geleitet. Die Toten, besonders jene, die sich nicht auf den Tod vorbereitet haben, versuchen verzweifelt, sich ans Land der Lebenden anzuklammern und an die, die dort noch verweilen.
Ich schluckte und fragte Aama, was sie tun wolle - jetzt, hier. Sie sagte, sie wolle nicht nach Nepal zurückkehren, wo sie nur noch mehr weinen müsse und diese schlechte Nachricht aus erster Hand bekomme.
»Eh, Bhagwan«, seufzte sie, »was für ein ungünstiger Tag für eine Mutter, der Tag, an dem sie von ihrer einzigen Tochter angekleidet und aus dem Dorf verabschiedet wird, ohne zu wissen, daß sie sie zum letztenmal sieht. Ich habe am Tag meiner Abreise keinen Priester gerufen, um den Planetenstand zu überprüfen - ich hatte es eilig, und außerdem fürchtete ich mich vor dem, was er sagen könnte. In meinem Alter sind die Aussichten nicht mehr rosig. Aber das war ein Unglückstag -das sehe ich jetzt -, nicht ein Tag, an dem man eine Reise antreten sollte. Sun Maya war dünner geworden. Vor meiner Abreise wollte ich sie noch erinnern, sich keine Sorgen um mich zu machen, wollte ihr sagen, daß sie ohne Bedenken in meinem Namen Schulden machen könne, um das Dach zu reparieren, daß ihre Töchter sich um mein Vieh kümmern sollten und vor allem, daß sie jemanden dafür bezahlen solle, ihr Arbeit abzunehmen.«
Die Mundwinkel verzogen sich nach unten, und Aama weinte leise. Didi sagte, wenn sie Aama sehe, dann würde sie am liebsten auch weinen, und schaute weg.
»Sun Maya ist bestimmt gefallen. So wie Shiva Shiva ist und eine brennende Lampe eine brennende Lampe, so weiß ich, was ich weiß. Wenn ich etwas ahne, dann wird es oft wahr, selbst wenn es noch nicht passiert ist.«
Könnte Aamas Überzeugung das Ereignis vielleicht auch herbeiführen? Ich verneinte diese Möglichkeit. Intuition kann eine machtvolle und zuverlässige Wahrnehmung sein, aber sie ist in der Regel keine autonome Kraft. Aama hatte sich gewünscht, in Amerika einem Gurkha-Rekruten zu begegnen, und wider alle Logik stand der plötzlich auf dem Bürgersteig vor uns. Didi und ich konnten uns dem Gefühl nicht entziehen, daß ihr Glaube sein Erscheinen hervorgerufen hatte.
Aama sagte, sie habe keinen Hunger, aber ein Glas Wasser nahm sie gerne an. Sie wirkte jetzt matt und alt. Als wir sie in Dougs und Karens Gästezimmer führten, entschuldigte sie sich für ihr Weinen und sagte, wir sollten uns weiter keine Mühe um sie machen. Wir deckten sie zu, und sie rollte sich auf einer Seite zusammen. In einem monotonen Tonfall sprach sie über Sun Maya und sich selbst. Es mache sie einsam, daß nur noch so wenige Freunde in ihrem Alter am Leben seien, und sie empfinde Traurigkeit, daß nicht allen ebensoviel Glück zuteil geworden sei wie ihr. Für Aama hatte das Leben eine unverwüstliche Heiligkeit und Strahlkraft, aber dennoch verspürte sie momentan Bitterkeit über die Karten, die das Schicksal ihr und ihren Verwandten zugeteilt hatte. Jetzt, wo sie das Bild einer verschiedenen Sun Maya lebendig vor Augen hatte, fühlte sie die Nähe ihres eigenen Hinübergehens, was die Heiligkeit und Vergänglichkeit von allem, was sie sah, noch erhöhte. Vieles war gekommen und gegangen, nicht nur Glück, nicht nur Unglück. Einiges würde noch eintreten, aber lange würde es nicht mehr dauern, bis alles vorbei war.
Ihr Mund bewegte sich langsam, während sie mit den Augen die Nähte der Steppdecke verfolgte. Wehmütige Erinnerungen stiegen in ihr auf und verstärkten ihr Gefühl von Einsamkeit. Aber nach und nach löste sie sich davon, und beim Gedanken an ihren Schwiegersohn wurde sie ärgerlich und vorwurfsvoll - was ich als gutes Zeichen nahm.
»Mein Dach ist undicht, und dieser Lump von einem Schwiegersohn hätte es schon längst an einem einzigen Tag reparieren können, wenn er nicht dauernd trinken würde. Als Sun Maya noch am Leben war, mußte er seiner Schwiegermutter Respekt entgegenbringen, aber jetzt kann er zu mir sagen, was er will. Er könnte mir sogar Vorwürfe machen. Und als Sun Maya krank war und keine Kinder bekam, da hat der Halunke tatsächlich gesagt, er wolle sich eine neue, jüngere Frau nehmen. Gewiß doch, habe ich ihm gesagt, eine neue Frau würde vielleicht mit ihm leben - wenn er ein anständiger Mann wäre. Vor sieben Monaten hat er sich die silbernen Armreifen ausgeliehen, die ich in meiner Truhe verwahrt hatte, und sie gegen Geld verpfändet. Ich werde sie nie wieder zu Gesicht bekommen. Dann hat er versucht, mich dazu zu bringen, mein Haus zu verkaufen, jedoch nichts darüber verlauten lassen, wo er mich dann hinstecken würde - wahrscheinlich in die Scheune über seinem Stall. So wie die Vögel in der Abenddämmerung einen Schlafplatz suchen, so brauche auch ich einen Ruheplatz, jetzt wo die Sonne über meinem Leben untergeht. Eines Tages fragte mich ein Verwandter aus heiterem Himmel, warum ich mein Haus verkaufen wolle. Ich schaute ihm in die Augen und sagte: >Ich werde in diesem Haus sterben.< Mehr habe ich nicht gesagt, weil ich keinen Streit vom Zaun brechen wollte, aber ich war wütend. Mein Schwiegersohn steckte dahinter, das wußte ich. Niemand ist so dankbar wie ein Hund und so undankbar wie ein Schwiegersohn. Schon am Morgen trinkt er Alkohol statt Tee und ist hinter Mädchen her, die so alt sind wie seine Töchter. Männer und Jungen haben alle das gleiche im Sinn: Wo sie auch gehen und stehen, sind sie hinter Mädchen her. Wie wir sagen: >Wenn du den Schwanz eines Hundes zwölf Jahre in ein Bambusrohr steckst, wird er immer noch nicht gerade.. .<«
Aamas Ärger hatte den Fluß ihrer Tränen zum Stillstand gebracht, aber zwei große Tropfen glänzten noch auf ihren Wangen und waren mit den Augen durch zwei parallele, feuchte Spuren verbunden.
Teal und Rusty kamen im Schlafanzug ins Zimmer, um Aama gute Nacht zu wünschen. Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie die beiden sah, als wolle sie sagen: Hier liegen unsere Hoffnung und unsere Zukunft. Teal fragte, ob Aama am nächsten Tag mit in die Schule komme. Aama fuhr ihm zärtlich durch die Haare. »Ich würde gerne hören, wie du zählst und liest«, flüsterte sie heiser. »Nani, wir brauchen Süßigkeiten für jeden Schüler.«
Doug und Karen erzählten mir viel später, daß Eltern und Kinder aus Teals Klasse noch nach Monaten bei der Schule anriefen, um mehr über Aama zu erfahren, weil die Kinder nicht aufhörten, über sie zu sprechen.
Der klare Morgen in den Rocky Mountains breitete verheißungsvolle Schönheit über den Tag, und sie lockte uns zum Aufbruch. Aama spürte, daß es unter dem Teppich amerikanischer Szenen und Ereignisse noch etwas zu entdecken gab. Sie wollte weiter, so wie damals auf der Pilgerreise mit ihrer Kusine im Himalaja, als sie von morgens bis abends zu Fuß unterwegs zu heiligen Plätzen waren. Der Tag war noch jung, als wir uns wieder auf der Bundesstraße 90 in Richtung Osten befanden.
Unsere Freunde Susan und David hatten uns nach Maine an die Ostküste eingeladen. Uns verblieb noch genügend Zeit, um es bis dorthin zu schaffen. Unsere Tickets nach Katmandu waren so gebucht, daß Aama entsprechend dem nepalesischen Kalender ihr Dorf rechtzeitig zum Dasain-Fest im Herbst erreichen konnte, und bis dahin waren es noch zwei Wochen. Aama fürchtete, daß wir es schon verpaßt haben könnten. Sie erinnerte mich daran, daß unser Kalender - den die Armee-Pensionäre benutzen - um fünfzehn Tage von ihrem abwich, daß wir also zwei Wochen zu der Zeit, die wir schon hier waren, hinzuzählen müßten.
»Vielleicht haben meine Verwandten doch nichts über Sun Maya geschrieben, weil sie ja wissen, daß ich nicht rechtzeitig zu ihrer Verbrennung hätte zurück sein können. Wahrscheinlich hatten sie genug damit zu tun, alle anderen Verwandten zu benachrichtigen. Inzwischen ist die Totenfeier sicherlich vorbei, und sie sind alle wieder zu Hause.« Ihr Gesicht spannte sich an. »So oder so, ihr habt mir nicht gesagt, in welchem Monat Sun Maya gestorben ist«, fügte sie hinzu. Sie hoffte, uns auf diese Weise weitere Informationen entlocken zu können. Didi und ich antworteten nicht.
»Ich hatte irgendwie das Gefühl, daß sie sterben könnte, während ich weg bin. Wenn ich an sie denke, dann muß ich alle meine Kraft zusammennehmen, um meinen Willen felsenfest zu machen. Wie soll ich, wenn es soweit ist, mit meinen Verwandten sprechen und sie mit mir, ohne daß Tränen fließen? Selbst jetzt kann ich sie nicht zurückhalten.« Sie schaute Didi an. »>Wir Mütter tragen Kinder zehn Monate lang und nähren sie aus zehn Öffnungen.«« Nepalesische Frauen zählen zehn Monate der Schwangerschaft und fünf kleine Löcher an jeder Brustwarze, aus denen die Milch hervortritt. Aama starrte auf den eintönigen Montana Highway. Das Leben ihrer Tochter verlief, wie sie glaubte, parallel zu ihrem, und die Erinnerung an Sun Mayas Jugend zog traurig an ihren Augen vorbei wie eine Grabrede. »Sie wurde eine Woche vor dem großen Erdbeben im Jahr 1934 geboren, bei dem damals die Spitze des Minaretts in Katmandu abgebrochen ist und das viele unserer Häuser in Schutt und Asche gelegt hat. Ich war gerade aus dem Haus gegangen, um Öl zu holen, mit dem ich sie massieren wollte, da schlug es zu. Die Erde und das Haus bebten entsetzlich. Ich rannte zum Ausgang und hörte jemanden schreien, alle sollten die Häuser verlassen. Sun Mayas Bambuswiege schwang von ganz allein unter dem Dachfirst hin und her, wo sie aufgehängt war. Ich nahm sie blitzschnell heraus und rannte auf die Terrasse. Noch jetzt, wenn ich daran denke, spüre ich das Beben in den Knochen.«
Didi griff nach hinten zur Verpflegungstasche, aber Aama ertrappte sie. »Ich weiß, was du vorhast: Du willst mir den Mund stopfen. Ich esse, wenn es Zeit ist zu essen, und ich lache, wenn es Zeit ist zu lachen - aber ich schlafe nicht immer dann, wenn es Zeit ist zu schlafen. Meine Gedanken halten mich wach.«
»Du hast nie viel geschlafen«, erinnerte ich sie.
»Jetzt, da meine Gesundheit, meine Kraft und mein Gedächtnis nachlassen, machen sie Platz für Sorgen. Ich denke daran, wie schwer das Leben in unserem Dorf ist. >Die alte Frau hat zwölf Söhne und eine Tochter - aber holen sie ihr Wasser?< Das sagte immer die Frau des Ex-Obersten im Dorf.« Ihre Klagen wollten kein Ende nehmen. »Aama, es wird uns allmählich zuviel mit deinem Gejammere.« Didis Direktheit verblüffte mich. Ich wollte ihr schon in die Parade fahren, aber ich hatte im Grunde das gleiche Gefühl. Es ging mir schon lange gegen den Strich, daß sie mich immer »Nani« - Kleiner - nannte, und das wollte ich ihr eigentlich sagen, aber mir fiel keine passende Verwandtschaftsanrede ein. »Uhnn...« Aama nahm Didis Einwurf vage zur Kenntnis. Sie beendete ihren Monolog und appellierte direkt an Didi: »Wie kann man das Leiden eines anderen wirklich fühlen? Du sagst, du hättest Mitleid mit mir, wenn ich weine. Aber kannst du in meine Seele schauen?
>Der Lorbeerbusch wächst tief im Tal, Der ferne Bergkamm türmt sich auf. Wann reicht das Glück uns seine Hand? Erst wenn wir gehn in Gottes Land?<«
Nachdem sie der letzten Zeile eine Weile traurig nachgehangen hatte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf mich. »Nani, ich habe dir das noch nicht gesagt, aber ich habe mitbekommen, wie du vor einer Weile mit deinen Freunden gesprochen hast. Einer von ihnen war Doktor Sah 'b.« Sie ließ mir Zeit, mich daran zu erinnern, und fuhr dann in einem leisen, vertraulichen Tonfall fort: »Aus der Art, wie ihr sprecht und euch bewegt, weiß ich manchmal, was ihr zueinander sagt.« Sie legte wieder eine Pause ein. »Ihr habt über >toten Körper< gesprochen - was mit meinem Körper geschehen soll, falls ich hier sterbe: Ob ihr mich mit Feuerholz verbrennen oder in der Erde begraben sollt. Und da hat Doktor Sah 'b gesagt: »Gebt ihr gutes, gesundes Essen, sonst könnte es jeden Augenblick mit ihr vorbei sein< - Ha! Hab' ich nicht recht?« Nicht ganz falsch, dachte ich. Ich versuchte, nicht zu lächeln. »Ich wette, Doktor Sah 'b hat auch eine Ahnung, wann ich gehe. Du hast gesagt, Ärzte mAmrita könnten Herzen verpflanzen und unfruchtbare Frauen fruchtbar machen. Wenn ich in Annita sterbe, dann ist das der Grund, warum ich hierhergekommen bin. Aber was für eine Verschwendung, deswegen diese ganze Reise zu unternehmen! »Wir haben ihr nur das Land gezeigt, und jetzt seht, was geschehen ist< - das werdet ihr sagen. Die Leute zu Hause würden wenigstens glauben, daß ich das Glück hatte, bei meinem Dharma-Sohn zu sterben.« Aamas Stimmung besserte sich. Offenbar war das Thema ihrer eigenen Sterblichkeit tröstlicher als der Gedanke an den Tod ihrer Tochter.
»Der jüngste Bruder meines Mannes ist über achtzig, und schon jetzt macht er ins Bett. Wenn es der Reihe nach geht, dann bin ich zuerst dran.« Ihre Augen schauten voller Erwartung nach vorne, als würde sie ein ganz spezielles Vergnügen erwarten, was sie mit einem lachenden, tiefen »Hunh« bekräftigte.
»Angenommen, ich sterbe im Dorf, dann wird mein Körper entweder bei Sonnenaufgang oder bei Sonnenuntergang zum Verbrennungsplatz oben auf den Kamm gebracht. Mein ältester Neffe wird meinen Scheiterhaufen dreimal umschreiten, dann wird er einen dicken Baumwolldocht, der mit Senföl getränkt ist, in meinen Mund stecken und ihn anzünden.« Sie lächelte beim Sprechen, als sei das Ganze schon geschehen. »Nach unserer Astrologie ist es am günstigsten, bei Vollmond zu sterben. Böse Geister halten sich bei Mondlicht nicht gerne am Verbrennungsplatz auf...«
Ich fürchtete mich vor dem Verbrennungsplatz, vielleicht nur deshalb, weil die Leute im Dorf es auch taten. In den Dörfern der Umgebung war ich bekannt als der weiße Ausländer, der dort geschlafen hatte, obwohl ich tatsächlich nur eine einzige Nacht auf dem nächsten Bergkamm, etwa vierhundert Meter entfernt, verbracht hatte. Kurz nachdem ich in Aamas Scheune gezogen war, suchte ich ein bißchen Abstand vom Krähen der Hähne und vom Grunzen des Wasserbüffels unter mir und wollte unter den Sternen schlafen und mich von der Sonne wecken lassen. Aama hatte mich vor dem Verbrennungsplatz gewarnt, so ging ich ihm aus dem Weg. Am Tag danach begegneten mir die Dorfbewohner mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Sorge, weil ich es gewagt hatte, die Geister herauszufordern - ein Risiko, auf das sich sonst lediglich die mutigsten Lamas und Schamanen einließen. Ich gestand nur Aama, daß ich nicht gut geschlafen hatte, aber auch ihr erzählte ich nicht, was mir wirklich zu schaffen gemacht hatte: Die ganze Nacht über war ich immer wieder mit heftigstem Herzklopfen aufgewacht.
Meine Mutter war im Schlaf an Herzflattern gestorben.
»... Und weil mein Mann und ich nie einen Sohn hatten, muß ein kleiner Teil meines Besitzes an meinen Neffen gehen, der die Sterbezeremonie leitet. Der älteste Bruder meines Mannes wird auch ein Stück Land bekommen. Sun Maya - so sie denn noch am Leben sein sollte - wird etwas bekommen, obwohl die Brüder meines Mannes behaupten werden, daß sie Land von der Seite ihres Ehemannes erhalten wird...« Sie schaute zu mir herüber. »Kann ich dir auch Land hinterlassen, Nani?«
»Aama, wieviel Ertrag bringt ein Streifen von dem steilen, unbewässerten Terrassenland? Vielleicht einen kleinen Sack voll Getreide im Jahr? Ich bin dir dankbar, daß du an mich denkst, aber im Königreich Nepal dürfen Ausländer gar kein Land besitzen, und wenn du nicht mehr da bist, würde ich nicht im Dorf leben wollen.«
»Oh, ich habe ja vergessen - ein Teil meines Bodens muß verkauft werden, um mein arghaun zu bezahlen.« Wichtiger noch als die Verbrennungszeremonie ist der dreitägige Totenritus für den Übergang der Seele des Verstorbenen zur letzten Ruhestätte der menschlichen Seelen. Dieses Ritual kann sogar noch ein ganzes Jahr nach dem Tod abgehalten werden, falls die Planeten nicht richtig stehen und noch nicht genügend Geld vorhanden ist. »Ich bin nicht reich, weißt du«, sagte sie, als wisse ich es nicht. »Vielleicht können sie sich gar kein arghaun für mich leisten.«
»Ich kümmere mich um dein arghaun, Aama.« Sie sollte wissen, daß ich helfen würde. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob ich damit nicht den Verpflichtungen anderer Verwandter in die Quere käme. Wahrscheinlich würden sie mich sowieso darum bitten.
»Ich schulde dir bereits zuviel, Nani. Wie soll ich dir das alles in einer neuen Inkarnation zurückzahlen? Es ist falsch, am Ende des Lebens noch Schulden anzusammeln. Schau dir die Brah-manen an - sie achten darauf, daß sie beim Sterben auf offenem Boden liegen. Wenn sie im Bett lägen, dann müßten sie dieses auf ihren Schultern ins nächste Leben tragen.«
»Und was soll ich tun?« fragte ich. »Wenn die eigene Mutter stirbt, dann sollst du dreizehn Tage lang auf Salz und Milch verzichten. Außerdem kannst du den Süden mit Wasser segnen, wenn du meinen Namen sagst. Mehr brauchst du nicht zu tun.«
Kapitel 15
Auf dem Highway 212 rollten wir über die Hochebenen von Montana. In der Landschaft lebte der Geist der Indianer der Kbenen. Ich stellte mir gerade das tägliche Leben der Indianer in dieser Gegend vor, als Didi ein Tipi an einem Fluß entdeckte, der mehr wie ein Abwasserkanal aussah und auf der Karte als Rosebud Creek, Rosenknospenflüßchen, eingezeichnet war. Dieses Tipi schien echt zu sein. Aus der Dachöffnung stieg Rauch. Didi wendete bei der nächsten Gelegenheit, und wir bogen in einen Feldweg ein, der bis ans Flußufer führte.
Ein weißer Mann mit langem, geflochtenem Haar trat aus der ovalen Tür heraus und stellte sich als »Yukon« vor. Er trug Lederhosen und Armbänder aus ungegerbtem Leder und versicherte glaubhaft, er habe die letzten zwei Montana-Winter in diesem Tipi gelebt. Er stellte traditionelles indianisches Kunsthandwerk her, so wie er es von einem Ältesten der Nördlichen Cheyenne gelernt hatte.
»Er sieht nicht so aus, als gehöre er zu dem abgespaltenen Zweig unseres Volkes«, bemerkte Aama. »Er sieht so aus wie du.«
»Dieser Mann lebt lieber so wie der amerikanische Zweig deines Volkes und nicht wie unsere Rasse - so wie ich in dein Dorf gekommen bin und wie ein Gurung gelebt habe.« »Habt ihr schon den Häuptling Two Moons getroffen?« fragte Yukon. Bei dem Namen klingelte es. »Two Moons lebt da drüben im Haus über dem Fluß. Er fährt den Lieferwagen, der gerade den Weg hochkommt.«
Ein Indianer mit breitem Gesicht und wettergegerbter Haut glitt geschmeidig hinter dem Steuer hervor und zwinkerte Aama zu, als sei sie eine alte, lange verschollene Verwandte, die zurückgekehrt war, um den Stamm zu besuchen. Ich erklärte, wer wir waren. »Ihr müßt hereinkommen.«
Die asiatische Gastfreundschaft hatte offenbar die Völkerwanderung über die Landbrücke überstanden. Austin Two Moons ließ sich in seinem abgenutzten Lehnstuhl nieder. »Der Schöpfer hatte bestimmt seine Finger im Spiel, weil ihr den Weg hierher gefunden habt. Das freut mich für euch.«
»Aama meint auch, ihr Gott und ihre Götter hätten sie nach Amerika gebracht«, antwortete ich.
Seine Frau Hilda sagte, er sei der Urgroßenkel jenes Häuptlings der Cheyenne, der die Schlacht am Little Bighorn angeführt habe. »Da gibt es viele falsche Darstellungen«, sagte Two Moons. »Es war Custer, der angegriffen hat, nicht die Indianer. Diese ganzen Bücher da drüben, im National Monument Center, erzählen immer die gleiche verdammt falsche Geschichte.« Er sprach in einem artikulierten Stakkato englische Worte im Tonfall seines Stammesdialekts.
»Ob du reich oder arm bist, gebildet oder ungebildet - wir alle teilen dieselbe Erde, denn wir sind ein einziges Volk«, fuhr Two Moons fort. »Ich möchte Einheit unter allen Völkern, und das kann geschehen, wenn wir zusammen beten.«
»Wenn wir uns ins Fleisch schneiden, fließt dasselbe Blut«, pflichtete Aama bei. »Menschen, die in Tibet leben, heißen Tibeter, und jene, die in Nepal leben, Nepalesen. In der Zeit unserer Vorfahren haben die Menschen verschiedene Religionen angenommen und sich in unterschiedliche Rassen und Kasten aufgeteilt, aber das sind nur Namen. Jeder Stamm meint, er sei besser als der andere, aber wie können Menschen das über sich sagen, wenn es doch nicht sie sind, die das Leben erschaffen haben? Brahma hat das Leben erschaffen.«
Als ich mit dem Übersetzen fertig war, fragte mich Aama -wohlwissend, daß sie niemand verstehen konnte: »Und was ist mit ihren Töchtern? Werden sie in dein Volk einheiraten? Das wollen heutzutage auch einige Gurung.« Sie schaute neugierig in dem kleinen Haus herum, musterte die Teppiche, den Fernsehapparat und die bescheidene Küche. »Es scheint ihnen recht gut zu gehen. Vielleicht hätten noch mehr Menschen von unserem Volk über diese Brücke gehen sollen, von der du gesprochen hast, um sich hier anzusiedeln.«
Didi hatte in einem Fotoalbum geblättert, das auf dem Couchtisch lag. Sie legte es mir auf den Schoß und deutete auf ein Foto, das Two Moons neben Großmutter Carolyn Tawan-gyama zeigte. Natürlich! Er war der Montana-Älteste, den uns Carolyn ans Herz gelegt hatte. Wir hatten keine Adresse von ihm, bis jetzt nicht einmal an Carolyns Empfehlung gedacht - und waren ihm doch begegnet.
Hilda schenkte Aama einen Schal, wie er bei Zeremonien benutzt wurde, und ein Schutzmedaillon. »Das ist unsere Art, uns zu bedanken«, sagte sie. »Indem wir einem anderen etwas schenken, bedanken wir uns bei unserem Schöpfer.«
Aama hielt mich am Ärmel fest, bevor wir ins Auto stiegen. »Dieser Zweig unseres Volkes sieht die Welt so wie wir, Nani. Wußten deine weißen Vorfahren irgend etwas über Religion oder den Ursprung des Universums? Ich frage mich das nur, weil mir auffällt, daß du dich für unsere Religion interessierst. Was ist schlecht an deiner eigenen?«
Wir bogen nach Süden ab zum Freeway, entschlossen, den Mittleren Westen rasch hinter uns zu bringen. Der Außenspiegel reflektierte das bernsteinfarbene Licht der untergehenden Sonne auf Didi und huschte dann über Aamas Gesicht. »Eh Bhagwan.« Aama hob die Hände in Gebetshaltung zur Stirn. »Bhagwan ist überall.«
Ich erleichterte mich von überflüssiger Luft im Bauch, was nach entferntem Kanonendonner klang.
»Okay, Schluß mit diesem ganzen schlechten Essen«, sagte Didi. Sie hatte sich noch nicht an den amerikanischen Brauch gewöhnt, unterwegs im Fahren aus der Hand zu essen. Auch Aama gab ihren Kommentar ab: »Ihr seid wie die Frösche, die bei Sonnenuntergang zu quaken anfangen, twaamt, twaarnt. Dann hebst du eine Arschbacke und machstpu-tut-tut-tut-tut, phoossa. Was soll ich da tun? Alle beide, einer rechts einer links, furzt ihr, als sei ich nicht da. Es scheint euch überhaupt nicht peinlich zu sein. Als ich jünger war, wäre es mir nicht in den Sinn gekommen, vor Männern zu furzen, nicht einmal vor meinem Mann, und ganz besonders nicht vor meiner Schwiegermutter. Hier steigt ihr ja sogar über die Beine eines anderen und besudelt euch so. Was ist dann schon dabei, wenn man furzt?«
Einige Minuten vergingen. »Riechst du was?« fragte Aama. »Nein, warum?« »Ach, nur so.«
Nach Einbruch der Dunkelheit liefen wir in Wall, South Dakota, eine Tankstelle an. Als wir wieder flott waren, richtete ich die Geschwindigkeit auf siebzig Meilen ein und hörte Aama zu, die vom Dorf erzählte. Wie ein alter Phonograph versetzten uns ihre Geschichten in die Vergangenheit. Ihre Hände begleiteten jeden Satz, als sei in ihnen die Erinnerung abgelagert. Als sie von einem kleinen Kasten sprach, fuhr sie mit den Fingern über seine imaginären Ränder und setzte ihn vorsichtig ab. Wir hatten die Verpackung vor Augen, seinen Inhalt, das Regal im Dorf, auf das sie ihn stellte, und fühlten sein Gewicht.
Mitten in der Geschichte unterbrach sie sich plötzlich. »Auf was warten wir eigentlich? Können wir nicht losfahren?«
»Losfahren? Wir fahren doch. Hast du gedacht, wir stehen?« Das rhythmische Auftauchen der Katzenaugen an den Leitplanken und ab und an die Scheinwerfer eines Lastwagens waren die einzigen Anzeichen dafür, daß wir uns bewegten. Ein großes Insekt tauchte im Licht auf und zerplatzte auf der Windschutzscheibe. Ich öffnete die Fahrertür einen Spalt. Ein heftiger Windstoß fuhr in unser stilles Gehäuse.
»Achhaa. Es ist windig draußen. Wie lange fahren wir schon?« »Über eine Stunde«, antwortete ich. »Hast du nicht die Fahrzeuge gesehen, die in die andere Richtung fahren?« »Ich dachte, nur die bewegen sich, und wir stehen still.«
Wir fuhren die ganze Nacht durch die warme Einsamkeit des Mittleren Westens und kamen morgens bei einer Farm außerhalb von Chicago an, die von Harvey, einem Freund, geleitet wurde. Ein großer Teil der Maisernte mußte wegen giftiger Stickstoffrückstände untergepflügt werden. Aama schaute aus dem Fenster und gab gelegentlich ein knappes »Unh« von sich, so wie es unter Bauern üblich ist, wenn sie die Arbeit des anderen begutachten.
Wir fuhren zum Maisfeld hinaus, auf dem geerntet wurde, und Aama machte sich sogleich an die Arbeit, nachdem sie sich überzeugt hatte, daß die Maiskörner hinreichend trocken waren. Sie brach die Kolben ab. Beide Hände bewegten sich unabhängig voneinander, griffen nach den Kolben, zu denen die Augen sie lenkten. Aama warf sie hinter sich, ohne sich umzusehen, und sie landeten auf einem dichten Haufen. Aama trug ganze Armladungen von Maiskolben zum abgeernteten Feldrand, hockte sich mitten hinein und begann mit scharfen, ruckartigen Bewegungen die Blätter aufzureißen.
Sie hielt inne. Auf dem Feld lagen noch Maiskolben herum, die bei der Ernte vergessen worden waren. Auf viele war achtlos getreten worden. Aama hob eine auf, die mit Erde beschmutzt war, dann die nächste; jede schien der Sorgfalt zu höhnen, mit der die Gurung ihre Felder abernteten. Getreide war ihre Lebensgrundlage, nur einen Schritt entfernt vom Blut, das in ihren Adern floß. Sie hielt die zertretenen Maiskolben hoch und schüttelte sie vor Harvs Gesicht.
»Die Körner hier weinen - sie weinen, wenn sie weggeworfen werden, und fordern uns auf, hungrig zu bleiben. Wir müssen auf genausoviel Getreide verzichten, wie wir verschwenden.«
Wir warfen die Kolben, die Aama enthülst hatte, auf den Traktoranhänger und fuhren neben ihm her zurück zum Stall. Harv verteilte Futtergetreide an die muhenden Rinder. »Eure Kühe sind fett, weil sie Getreide essen, und ihr seid fett, weil ihr eure fetten Kühe eßt«, schloß Aama messerscharf. »Kannst du diesen Mais nicht zur Mühle bringen und ihn zu Schrot mahlen lassen? Denk nur, wie viele Menschen sich davon ernähren können. Nach dieser ganzen Arbeit geht ihr abends in ein Geschäft, kauft andere Lebensmittel, bringt sie nach Hause, kocht sie, kaut sie, schluckt sie und geht ins Bett.« Kein Zweifel: Wir waren wieder im Land der großen Städte. Die Zapfsäule an einem Supermarkt funktionierte nicht. Vorauskasse war gefordert. Ich mußte das Geld zuerst in eine Metallschublade unter einer schweren Glasplatte legen, bevor Benzin kam. Wir durchquerten Chicago und setzten unsere Reise nach Osten fort.
»Woher kommt dieser Rauch?« Aama blinzelte. Vom kaum sichtbaren Rand der Niagarafälle stieg Nebel nach oben. »Das ist Wasserdunst, wie Nebel«, erklärte Didi.
Ein Geländer und eine Touristenschlange lenkten uns zum Anlegeplatz. Um mit den tiefen Treppenstufen zurechtzukommen, hielt sich Aama am Geländer fest und stieg rückwärts hinunter, so wie von den Ästen ihrer großen Futterbäume. Wir betraten das altertümliche Passagierboot, die Jungfrau des Nebels, das durch einen metallenen Kanal nach oben gezogen wurde. Das Boot schaukelte träge.
»Müssen wir das tragen?« fragte Aama, als Didi ihr in den Regenmantel hineinhalf, in dessen Falten sie fast verschwand. Sie drehte den Kopf, um noch etwas zu sagen, aber die Kapuze blieb steif wie eine viel zu große Rüstung, nach vorne ausgerichtet. Aama lachte in die Kapuze hinein und versuchte sie mit der Hand zurückzuziehen, die tief im Ärmel steckte. »Das Wasser ist doch da drüben - wie will es uns denn hier naß machen?« Die Jungfrau des Nebels trieb näher an die Wasserfälle heran, und das Tosen, das vorher noch ein Hintergrundgeräusch gewesen war, wuchs sich jetzt zu einem ohrenbetäubenden Brausen aus. Aama wurde still. »Vor einem Augenblick war das Wasser noch im Fluß unter uns. Jetzt ist es neben uns und über uns und kann jederzeit auf uns herunterstürzen - tosendes, wirbelndes, kochendes Wasser überall. Aah! Wir werden von den Göttern gekocht, und sie rühren im Topf. Die Springfluten, die im Frühjahr neben unserem Dorf herunterjagen, sind nichts dagegen. Es ist wie ein Traum aus dem Jenseits. Die Götter sind gewiß auch hier, wie in Yatrastan, wo das Wasser auch kocht und aus dem Berg herausschießt...«
Das Boot stieg auf den schäumenden Wellenbergen am Fuß der Wasserfälle nach oben, neigte sich zur Seite, glitt zurück und stieg wieder nach oben. Aama legte sich auf dem Oberdeck über die Reeling wie eine Sterbliche, die versucht, ihren Kopf an die Tore des Himmels zu pressen. Mit der Stimme eines aufgeregten kleinen Mädchens schrie sie laut zu Didi, die schützend den Arm um sie gelegt hatte, sie solle einen Knopf an ihrem Regenmantel öffnen. Mit klammen Fingern zog Aama ihren Geldbeutel hervor und holte eine Handvoll Münzen heraus, modernes Aluminiumgeld aus Nepal und Vierteldollarmünzen aus Las Vegas. Zitternd vor Nässe warf Aama die Münzen im großen Bogen in den gottgesegneten Sprühnebel. Dann legte sie die Stirn zu einem kurzen, freudigen Stoßgebet aufs Geländer. Erlösung lag in der Luft, als sei eine längst fällige Schuld bezahlt worden.
»Nicht eine einzige Person hat die Hände zusammengelegt!»« rief sie aus, enttäuscht von der Hoffnung, andere Passagiere würden diese Gelegenheit zum Gebet ergreifen. »Aber im Radio habe ich doch einen Mann sagen hören >Namaste< -wahrscheinlich hat er uns an diesem heiligen Ort willkommen geheißen.« Über die Lautsprecheranlage war die Durchsage gekommen: No smoking in der Passagierkabine.
»Wenn dieser Ort und Yatrastan nie gepriesen und die Götter nie versöhnlich gestimmt wurden, wie sollen dann eure Kinder und Enkelkinder jemals lernen, sie zu ehren und zu achten?«
»Für jene, die sehen, ist es Sandelholz,
Für jene, die blind sind, nur Holz:
Für jene, die begreifen, sind diese Worte voll Sinn,
Aber jene, die taub sind, verlieren sich im Treibsand.«
Ein gutes Stück vor New York bogen wir nach Norden zu den Adirondack-Bergen ab. Die Laubbäume auf den Berghängen über uns prahlten mit ihren Frühherbstfarben wie Feuerwerk. Aama streckte eine Hand aus dem Autofenster und legte ihre knorrigen Finger um den Daumen, als würde sie etwas greifen. Didi und ich schauten sie fragend an.
»Diese Früchte sehen so gut und reif aus, ich möchte welche pflücken. Es sind bestimmt Äpfel, saftige, knackige, die kwom, kwom machen, wenn Leute mit Zähnen in sie hineinbeißen, daß mir das Wasser im Munde zusammenläuft.« Offenbar tat sie das gerade, denn Aama schluckte. »Das sind keine Früchte, Aama, sondern Blätter. Die Blätter nehmen diese Farbe an, wenn es im Herbst nachts friert, und dann fallen sie ab.«
Wir kamen an einem Verladeplatz für Baumstämme vorbei, und Didi trat auf die Bremse, um Aama einen Holzkran vorzuführen. Die Greifer des Krans, der von einem Mann in einer Glaskabine bedient wurde, packten den Stamm einer ausgewachsenen weißen Pinie und hievten ihn auf eine lange Plattform. Dort schnitt ihn eine automatische Kettensäge auf die Länge eines Holztransporters zurecht. Der Greifer schwang den Stamm dann zur Seite und legte ihn auf einem Stapel ab, und schon begann der Prozeß mit faszinierender Präzision von neuem. Aama zappelte auf ihrem Sitz, ein Zeichen, daß wir aussteigen sollten.
»Was ist das denn für eine Arbeit?« fragte sie sarkastisch, nahe daran, sich aufzuregen. In einer Minute schafften diese Leute im Sitzen - fett waren sie obendrein - mehr, als sie in einem ganzen Jahr sammeln und verbrennen konnte. »Ihr Amerikaner habt euren Gott gefunden.« Ihr Gesicht rötete sich vor Erregung. Sie zog Didi und mich am Arm. »Los, betet dieses Ding mit den Krebszangen an, das Baumstämme herumwirft, als seien es Stöcke. Macht ein Ritual dafür, macht ein Ritual auf ihm«, forderte sie mit Nachdruck. Sie legte jedem eine Hand ins Kreuz und stieß uns nach vorne zu der Lademaschine. »Spendet wenigstens Geld.«
Warum nicht? Ich fand es gar nicht so abwegig. Vielleicht wußte Aama nicht, daß während des Dasain-Festes in Kat-mandu Taxifahrer die Autohaube öffneten und ihrem Motor geschlachtete Hühner als Opfergabe darbringen. Nicht anders auf dem Flughafen. Dort werden Rolltreppen und Leitern herangeschafft, damit der Brahmanen-Priester der Royal Nepal Airlines das Blut einer frisch geschlachteten Ziege an die Nase des Düsenflugzeuges schmieren kann. Der blutende Kadaver wird dann auf die Rollbahn gezogen und um jedes Flugzeug ein Schutzring aus Opferblut gezogen.
»Wir geben unseren Maschinen Kerosin und Öl als Opfergabe. Das hält sie am Leben«, sagte ich halb im Ernst zu Aama. Sie schaute interessiert auf.
»Öl ist eine gute Opfergabe - es wird benutzt, um Lampen am Brennen zu halten. Und diese Maschinen sind aus Metall; es muß aus der Erde herausgeholt und in diese Form geschmiedet werden, das ist teuer. Maschinen sind Reichtum, eine Form der Göttin Lakshmi.« Sie beobachtete, wie ein weiterer Baumstamm auf dem Stapel abgelegt wurde, und sprach wie zu sich selbst: »Seit der Zeit unserer Vorväter muß es vorherbestimmt gewesen sein, daß die Welt an diesem Ort und zu diesem Zeitpunkt so aussehen würde. Hätten sie das jemals vermuten können? Besonders die Maschine, welche die Straßen reinigt, die mit den großen Lippen, die alles auffrißt, was ihr unterkommt, ja-rar-rar-rar-rar.« »Was meinst du, Aama«, fragte ich sie, »sind Maschinen gut oder schlecht?« »Warum sollen sie nicht gut sein? Gut für die, die sie haben. Es hat den Anschein, als könntet ihr ohne sie nicht leben; also solltet ihr sie auch verehren.«
Während wir quer durch Maine zum Haus unserer Freunde fuhren, zehrte Aama noch von den Nachwirkungen einer intensiven Honig-Eskapade.
Am Vormittag hatten wir in Plainfield, Vermont, eine überdachte Brücke passiert, hinter der ein überwachsener alter Friedhof lag, die beide nach meiner Familie benannt waren. Angesichts Aamas Besessenheit hinsichdich Verwandtschaft und ihrer Ahnenverehrung dachte ich, eine kurze Suche nach meinen Wurzeln würde sie vielleicht erfreuen. Als wir langsam über die Brücke fuhren, erzählte ich ihr, daß sie den Namen eines meiner Vorfahren trüge, der vor mehreren Generationen gelebt hatte.
»Gibt es hier keine Farmer, die Honig haben?« fragte sie und ignorierte die Brücke und die Bedeutung meiner Altvordern, so wie ich das bei ihr auch oft getan hatte, obwohl ich doch in der Regel ein gewisses Interesse geheuchelt hatte. Durch den Ahornsirup auf unseren Frühstückspfannkuchen war ihre Lust auf Süßes erst richtig geweckt worden. Zufälligerweise lebte in der Nähe des Friedhofs ein junger Ökobauer, den ich vor Jahren in Nepal kennengelernt hatte. Der junge Mann und seine Frau zeigten Aama, wie man Honig schleudern konnte, ohne die Waben zu zerstören. Als sich die Sammelschale füllte, schöpfte sie den Honig mit beiden Händen heraus und leckte nach Leibeskräften, während das flüssige Gold zwischen ihren Fingern bis zu den Ellbogen hinunterrann. Sie muß wohl fast ein Kilo verzehrt haben, was ihre Stimmung kurzfristig in ungeahnte Höhen trieb. Jetzt erholte sie sich wieder von diesem himmlischen Exzeß.
David, Künstler und Bauunternehmer, und seine Frau Susan, eine Ärztin, hatten ihr Landhaus selbst gebaut. Aama unkte, warum es solche Ausmaße angenommen habe, wenn sie sich am Ende doch bestimmt wie alle anderen scheiden lassen würden. Der eine würde in diese Richtung gehen der andere in jene, und die Kinder müßten sehen, wo sie blieben.
»Diese Freunde nicht«, sagte ich ziemlich zuversichtlich. Ich beschrieb ihr die Verzweigungen des Familienstammbaums - eine Übung, bei der mir im Falle manch anderer Freunde etwas unbehaglich gewesen war.
Susan war mit David in Nepal gewesen, und sie hatte ihrem sechsjährigen Sohn Matthiah erklärt, daß die Nepalesen ihren Kopf anders bewegen, wenn sie Fragen beantworten. Wenn sie »nein« sagen, dann schütteln sie den Kopf von rechts nach links, so wie wir, aber wenn sie »ja« sagen, dann wackeln sie mit dem Kopf, als wollten sie ihre verstopfte Nase freimachen. Matthiah übte, und sein Kopf tanzte hin und her wie eine Hulapuppe im Autorückfenster.
»Bist du ein Nepalese?« fragte Aama neugierig und gab ihm Gelegenheit, kopfwackelnd mit »ja« zu antworten. Er wollte ihr seinen Gemüsegarten zeigen.
Die beiden zogen hinaus und stellten ihre Strohkörbe zwischen die Bohnen, Kürbisse und Kartoffeln. Sie begannen zu graben. Aamas Hände bewegten sich unter der Erde, als könnten sie sehen und hören. Jede Kartoffel, die sie hervorholte, wischte sie mit der flachen Hand ab und legte sie in den Korb. Didi und Susan hörten, wie sie sich munter in ihren eigenen Sprachen unterhielten.
Aama begann mit einer zweiten Reihe. »Ihr habt hier sandige Erde, das ist gut für Kartoffeln, aber manche haben faule Stellen. Das können wir abschneiden und dem Garten als Dünger zurückgeben.«
»Aama, ich bin mit dieser Reihe schon fertig«, sagte Matthiah auf Englisch. »Macht nichts, ich schau' nur noch mal nach. Oft werden beim ersten Mal welche übersehen«, antwortete sie auf Nepali. »Wenn diese Rüben noch länger drinbleiben, dann schmek-ken sie nicht mehr gut«, sagte Aama bei der nächsten Reihe. Nach einer Stunde schleppte Matthiah den ersten vollen Korb ins Haus. »Weißt du was, Mom? Ich verstehe alles, was Aama sagt.« Aama war immer noch im Garten und zog die Rüben heraus.
Mutter und Sohn schauten ihr zu. »Wenn der Wind weht und sich die Blumen und das Gras hin und her wiegen, Mom, dann meine ich immer, sie winken mir. Ich glaube, Aama sieht das auch.«
David schaute zum Küchenfenster herein und sagte, Stevie, dem Milchfarmer von nebenan, sei es recht, wenn wir abends /um Melken herüberkämen.
Wir hatten genug Farmen gesehen, dachte ich, aber ich ging in den Garten hinaus, um Aama zu fragen. Aber natürlich. Kühe sind heilig, und Milchkühe würden ja von den Menschen nicht gegessen.
Aama war überrascht, Stevie in einem ausgeblichenen Overall bei der Arbeit zu sehen - er hatte nichts von einem übergewichtigen sahu, einem Besitzer, der andere für sich schuften läßt und sich ein entsprechend herrschaftliches Auftreten zugelegt hat. Stevie zog das schwere Schiebetor auf, und wir betraten die Melkhalle, ein zugiges Gebäude mit Metallträgern, das von einem Netz aus Elektroleitungen, Schläuchen und Röhren überspannt wurde. Holsteinkühe trotteten am Ende des Stalls hintereinander herein wie Arbeiter, die nach der Mittagspause an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Aama schaute sie, insbesondere ihre Euter, bewundernd an.
»Eine einzige von diesen Kühen gibt zwischen fünfundzwanzig und fünfzig Liter Milch am Tag«, teilte ich Aama mit, nachdem ich mich bei Stevie vergewissert hatte.
»Du meinst die ganze Herde.« »Nein, eine.« »Eine Kuh? Was bekommt sie zu fressen?« »Getreide und Gras. Sie sind eine andere Rasse als die Fleischkühe, die nicht viel Milch geben.« »Jede Kuh wird trocken, wenn du sie nicht täglich melkst.«
Stevie und sein Sohn steckten die Saugnäpfe der Melkmaschinen an die Euter. Die Milch wurde von jeder Kuh in eine durchsichtige Röhre an der Decke gepumpt und floß von dort in einen Kühlbehälter außerhalb des Stalls. Die Kühe standen mit dem Kopf zur Wand und hatten die Nasen in den Futtertrögen, die durch eine halbautomatische Vorrichtung gefüllt wurden.
»Diese Maschinen melken die Kühe«, sagte Aama, um glauben zu können, was ihre Augen sahen. »Wie haben die Menschen das gelernt? Was ist das für ein Platz, wo Maschinen Kühe melken und die Bauern die Milch nehmen, ohne Lakshmi anzurufen? Die Kühe sind Lakshmi, die Göttin des Wohlstands, die Mutter aller Lebewesen. Menschen trinken Muttermilch als Säuglinge, aber Kuhmilch trinken sie das ganze Leben lang. Irgendwie habt ihr die Dinge durcheinandergebracht - Maschinen mögen eure Götter sein, aber das heißt doch nicht, daß ihr sie anstelle der Kühe anbeten sollt! Wir müssen Dankbarkeit und Demut im Herzen tragen, wenn wir sie melken, und mit ihnen umgehen, als seien sie Menschen. Sie dürfen auch nicht bei Tag gemolken werden, nur in der Frühe und vor der Abenddämmerung.«
»Diese Kühe produzieren so viel Milch, daß sie zweimal täglich gemolken werden müssen, um den Druck abzulassen. Und sie gehen ganz von allein in den Stall zum Melken«, entgegnete ich und versuchte mir darüber klar zu werden, was ich eigendich verteidigte.
»Lakshmi grast auf den Weiden, ohne daß wir viel dafür tun müssen, und sieh, was sie produziert: Milch zum Trinken, Butter für die Lampen und zum Kochen, Urin für Medizin und für Rituale. Und Kuhdung als Dünger und zum Mischen mit Ton, um unseren Boden zu pflastern und die Häuser vor Schlangen zu schützen. Ochsen pflügen unsere Felder, und wenn wir uns im Tod an einem Kuhschwanz festhalten, gelangen wir sicher ans andere Ufer. Kein Teil einer Kuh wird verschwendet.
In Aamas Augen sammelte sich eine Intensität, die mir nicht erlaubte, meinen Blick abzuwenden. Ihre Finger spannten sich an, als wolle sie eine Erklärung aus mir herauspressen.
Sie sieht etwas, das ich nicht sehen kann. Sie sagt mir etwas, das ich nicht verstehe. Wenn Menschen, die an der Armutsgrenze leben, darauf verzichten, Rindfleisch zu essen, während sie zusehen, wie ihre Kühe die knappen Ressourcen mitverzehren, dann haben sie uns etwas zu lehren. Ich fühlte den Egoismus unserer Kultur und noch mehr meinen eigenen.
»Was denkt sie?« fragte Stevie zögernd. Ich hatte ihm früher über das Leben in den Bergen von Nepal erzählt, und er hatte gelacht und staunend seinen Kopf darüber geschüttelt, daß es keine Technologie außer Handwerkszeugen gab. Jetzt spürten David und er, daß etwas nicht stimmte. Ich hatte gehofft, Aama würde etwas von ihrer angeborenen Liebe auf uns übertragen, uns ein weises Wort über heilige Tiere und die Erde sagen. Statt dessen schauten uns ihre Augen streng an, als seien wir hoffnungslos pathologische Fälle. »Ihr glaubt, meine Art, Dinge zu tun, sei komisch«, sagte Aama. »Wie Verrückte steht ihr da und lacht und redet, aber was tut ihr euren Kühen an?! Bhagwan weiß gewiß, was hier vor sich geht. Warum habt ihr mich hierhergebracht? Ich dachte, wir würden nur Gutes sehen.«
Die Trennlinie zwischen dem Wunderbaren und dem Schrecklichen begann unscharf zu werden. Aamas Unterlippe zitterte, dann begann sie am ganzen Körper zu vibrieren, als wenn der Fliesenboden eisige Schauer aussenden würde. Aamas emotionale Wurzeln waren herausgerissen und mußten erst wieder eingepflanzt werden. Mir kamen Zweifel. War es eine Sünde, daß wir sie hierhergebracht hatten? Mit den Fingerspitzen berührte sie leicht die Hüfte der nächsten Kuh. Sie zuckte mit dem Fell. Aama hob die Hände zur Stirn, um von dem Tier gesegnet zu werden, und - aus Mitgefühl für die mangelnde Achtung - auch ihm ihren Segen zu erteilen.
Sie lehnte sich zitternd und sprachlos an die Wand der Melkhalle, als müßte sie bei einer Folterung zusehen, ohne etwas tun zu können. Die Adern auf ihren Händen schwollen an wie die Monsunbäche in den Bergen. Sie starrte auf eine Stelle an der Wand, als wolle sie vermeiden, das Melken durch ihren Blick zu würdigen. Es war die Hölle.
Allmählich ließ das Zittern nach. Als sei das Fieber plötzlich gefallen, schien sie von einer Aura der Stille umgeben, von der sie geschützt wurde und die sie ausstrahlte. Wir gingen hinaus. »Diese Leute sind auch religiös, Aama. Sie gehen einmal in der Woche in ihren Tempel zum Gottesdienst.« Ich sprach leise und weich zu ihr und versuchte, an ihr Dharma-Gefühl zu appellieren. »Aama, nur wenn sie auf diese Weise melken, können sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Milchbauern verdienen nicht viel. Milch ist hier billig.« »Wie kann Milch billig sein?« gab sie zurück. »Wenn ihr eure Kühe tötet, dann müßte die Milch knapp sein.« Für Hindus war das Schlachten von Kühen eine Sünde, die zahllose Wiedergeburten im Tierreich nach sich zog und vielleicht sogar in niedrigeren Inkarnationen. »Schauen die Leute zu, wenn sie geschlachtet werden?« »Nein, ich glaube, das dürfen sie gar nicht.« »Um so besser.« Sie schien erleichtert, daß wir kein makabres Spektakel daraus veranstalteten. »Und was machen sie mit dem Fell und den Eingeweiden und den Knochen?« fragte sie stockend, als würde sie von menschlichen Organen sprechen.
»Aus den Knochen machen sie Dünger oder Klebstoff oder sonst etwas, und die Eingeweide werden vielleicht zu Hundefutter verarbeitet. Die besten Fleischstücke werden teuer verkauft, zum Beispiel an Restaurants, wo reiche Leute zum Essen hingehen.«
Aama gab sich mit dieser Erklärung nicht zufrieden. »Was, wenn meine Verwandten mich sähen, wie ich hier Zeugin von Sünde werde, so nahe vor meinem Tod? Es heißt, mit 84 Jahren würden wir wie eine Gottheit, aber das bedeutet noch lange nicht, daß wir immun gegenüber einem Sakrileg werden oder vor Verunreinigung geschützt sind. Es heißt lediglich, daß wir besonders darauf achten müssen, es zu vermeiden - wir müssen choko bleiben, rein. Es ist ganz sicher, daß wir uns jetzt im Kali Yuga befinden«, fügte sie resigniert hinzu.
Ein Schauder lief mir über den Rücken - das Kali Yuga, das Zeitalter der Kali, der Göttin der Zerstörung, der zornigen, weiblichen Manifestation von Shiva. Nach der brahmanischen Lehre befanden wir uns jetzt im letzten der vier großen Zeitalter oder Yugas, der Ära der Dunkelheit, der Unreinheit und des Elends. Die Priester lehrten, daß im ursprünglichen Satya Yuga, dem Zeitalter der Wahrheit, das mehr als anderthalb Millionen Jahre gedauert hatte, die Menschen in einem fast erleuchteten, harmonischen Zustand der Seligkeit lebten und sehr alt wurden. Aber in den nachfolgenden Zeitaltern entwickelte sich die Spiritualität der Menschen zurück. Während der zwei Millionen Jahre des Treta Yuga und des Dwapar Yuga blühten Wissen, Reinheit und Gottesverehrung, doch die Menschen unterlagen nach und nach fast unmerklich der Gier und den Versuchungen des Fleisches.
Am Beginn des 432 000 Jahre dauernden Kali Yuga wurde die Welt von einer großen Sintflut heimgesucht, und Vishnu selbst soll der Kapitän einer Arche gewesen sein, die einige große Weise rettete - und ihr Wissen. Seit dieser Flut - einer bemerkenswerten Parallele zur biblischen Sintflut - haben die spirituellen Prinzipien zunehmend an Boden verloren, so daß die Menschen am Ende des Kali Yuga beginnen werden, Fleisch von ihresgleichen zu essen. Darauf wird der Kollaps der gesamten Zivilisation folgen. Wir kommen jetzt ins Jahr 5100 dieses Zeitalters, womit sein Anfang mit den frühesten Zeugnissen unserer Zivilisation zusammenfällt.
Ich stellte mir vor, wie arme Philosophen mit weißen Barten und langen Gewändern mit Schildern herumliefen, auf denen sie das Ableben der Welt verkündeten - ein nicht so schlechtes Bild eines orthodoxen Brahmanen-Priesters oder eines wandernden Saddhu. Ich war nicht abgeneigt, ihnen Glauben zu schenken. Weder die Wissenschaft noch der gesunde Menschenverstand konnten mich davon überzeugen, daß das Ende nicht nahe war. Ich fragte mich, wie wir angesichts des Wachstums der Weltbevölkerung und der Zerstörung der Umwelt die restiichen 425 000 Jahre des Kali Yuga überleben sollten.
Kühe ohne Respekt zu behandeln, gehört zu den Sakrilegen des Kali Yuga. Während wir auf dem Kiesweg in der Nähe des Stalls standen, zählte Aama an ihren Fingern weitere Zeichen aus den heiligen Schriften auf. »Sie sagen, daß sich in diesem Zeitalter nur wenige Menschen um das Dharma kümmern.
Kinder gehorchen nicht ihren Eltern. Die Unterscheidungen zwischen den Kasten werden mißachtet. Männer und Frauen werden dieselbe Kleidung tragen. Jungen werden ihre Haare lang wachsen lassen, und die Mädchen werden sie abschneiden. Eisen wird Messing ersetzen und Kupfer an die Stelle von Silber und Gold treten. Gemüse wird sehr groß werden. Männer werden ihre Schnurrbarte rasieren. Und Frauen werden ihr Haar nicht schmücken und es offen herabhängen lassen, anstatt Gold und Schmuck zu tragen und ihr Haar zu ölen, so wie wir. Ich habe gesehen, daß das alles anfangt.« Aama hatte genug gesehen.
Der Weg zurück zum Haus von Susan und David ähnelte einem Trauermarsch. Dort angekommen, nahm Aama überaus langsam ihre Brille ab und legte sie auf den Tisch. Sie beugte sich nach vorne, berührte den Boden mit beiden Handflächen, verlagerte ihr Gewicht nach vorne und ließ sich langsam nieder. Sie schaute nach oben, wo Decke und Wand zusammentreffen, und kratzte sich am Kopf. Sie zeigte alle Merkmale des Alters.
Aama verfiel dann in Erinnerungen, denen wir nicht folgen konnten: an jemanden, der einem anderen Geld gibt, was irgend etwas mit ihr zu tun hatte; sie verspürte ein ungutes Gefühl, wußte aber nicht, warum. Sie driftete ab. Ihre Wahrnehmung der Zeit war ausgedehnt, vielleicht sogar verschoben. Es fiel ihr schwer zu unterscheiden, was heute früh geschehen war oder vor zwei Wochen, oder vor zwei Jahren.
»Was betrübt dich?« fragte Didi. »Susan und ich haben gekocht und warten auf euch.«
»Warum für jemanden kochen, der keinen Hunger hat?«
Sie sprach, als hätten wir sie betrogen, insbesondere ihr Dharma-Sohn. Ich fühlte mich wieder schuldig, meine eigene Mutter im Stich gelassen zu haben, nachdem sie mich unterstützt hatte.
Unsere Pilgerreise endete im Sakrileg.
Susan brachte Aama einen kleinen Teller mit Essen, und David, Susan und ich setzten uns zu ihr auf den Holzfußboden. So hatten wir auch damals zusammengesessen, in den Stunden nach dem Tod meiner Mutter. David war mein Zimmergenosse im College gewesen und hatte mir ausgerichtet, daß ich zu Hause anrufen solle. Auf dem Holzfußboden unseres Collegezimmers hatten David und Susan mich gehalten und mich lange in die Nacht hinein weinen lassen.
»Hier vaAmrita habe ich Gutes und Schlechtes gesehen, ich habe geweint, und ich habe gelacht«, sagte Aama mit tonloser Stimme. »Ich habe die verschiedensten Dinge gegessen und alle möglichen Menschen gesehen. Wenn ich nichts verstehen kann, fühle ich mich schlecht. Bitte nehmt mir nicht übel, wenn ich etwas Verletzendes sage, es ist nicht aus Ärger.«
Susan legte Aama ein Kissen unter und faltete eine Decke für sie auf. »Hare Om, Ram Ram Ram«, seufzte Aama, und es hörte sich an, als würde sie ihren Frieden mit den Dingen machen und sagen: »So ist es, und so wird es sein.« Sie schlief ein, noch bevor sie mit ihrem Abendmantra fertig war.
Ich schaute Didi an, dann Susan und David.
Aama war reif, nach Hause zurückzukehren.
Während wir bei den Kühen waren, hatten sich Didi und Susan unterhalten. An diesem Abend zeigte Didi für meine Erzählung über das Melken kein sonderliches Interesse. Sie sagte, sie habe Kopfweh - ein Kopfweh, das seit einer Weile immer wiederkehre.
Etwas hatte sich verändert. Didi sah so aus wie in der Transithalle in Tokio: müde und belastet, aber doch nicht ohne Stärke. Ich fragte mich, was Susan ihr wohl über mich erzählt haben mochte, und hoffte, daß Didi nicht glaubte, ich sei immer noch derselbe Kerl wie damals mit Susan im College.
Vielleicht hielt unsere Beziehung den Amerikatest nicht aus. Für mich war das in Ordnung, jedenfalls jetzt. Ich würde noch einen Monat in Amerika bleiben und sehen, was sich mit alten Freundinnen anließ. Wenn da nichts lief, würde ich nach Nepal zurückkehren und mir die Sache mit Didi noch mal überlegen. Es war nicht ganz ehrlich, als ich Didi sagte, ich wolle noch eine Zeitlang in den Vereinigten Staaten bleiben, um mich nach langfristigen Arbeitsmöglichkeiten umzusehen. Ob sie mit Aama nach Nepal zurückkehren könne? Als habe sie diese Frage erwartet, nickte sie nur mit dem Kopf.
Am nächsten Morgen im Auto war Didi bedrückt. »Was ist los?« fragte ich sie. Ich war nicht scharf darauf, mich mit zwei launischen Frauen herumzuschlagen.
»Mein Kopfweh ist nicht besser geworden.« »Nimm doch Aspirin, warum denn nicht?« war meine logische, wenn auch nicht sehr beruhigende Antwort.
»Das habe ich getan, aber Aspirin nutzt bei dieser Art Kopfweh nichts.« Sie sah aus, als wolle sie weitersprechen, sagte aber nichts.
Kapitel 16
Der Rhythmus unserer Energie und unserer Gefühle hatte sich Aamas Zustand angeglichen. Unser Kombi war ebenso erschöpft wie wir. Freunde in Washington D.C. kauften ihn mir als Reservefahrzeug ab. Unsere Reise war zu Ende.
»National Airport«, sagte ich zum Taxifahrer. Entschlossen, nach Hause zurückzukehren, stieg Aama als erste ins Taxi. »Meine Verwandten werden sich fragen, ob ich so, wie ich jetzt bin, wieder nach Hause komme, oder ohne Körper.« Aama seufzte. »Sie werden staunen, wenn sie mich sehen, und mit nieinen Geschichten werde ich sie von der Arbeit abhalten - ich werde Platz im Haus schaffen müssen, um sie unterzubringen.« Im Flugzeug nach Seattle lehnten wir uns alle drei erschöpft in die Sitze. Das Blau des Himmels wurde immer dunkler, je höher wir stiegen. Ich dachte, ich sähe einen Meteoriten, kleiner als der echte, den wir vor ein paar Tagen gesehen hatten, aber wahrscheinlich war es ein Staubkorn der Müdigkeit. Hinter meinen geschlossenen Augenlidern zogen noch einmal die Bilder unserer Fahrt von Maine die Ostküste hinunter an mir vorbei: der Showdown im Stadtpark von Boston zwischen einem Hare-Krishna-Jünger und einem Propheten der Bewegung »Hüte dich vor Kulten«; die Nachtfahrten auf den überfüllten, hell erleuchteten Schnellstraßen durch nicht enden wollende Städte.
Die Halle der Meteoriten im Museum of Natural History in Manhattan dürfte der letzte heilige Ort gewesen sein, den Aama vor ihrer Rückkehr nach Nepal besucht hat. Als ich ihr sagte, daß der zwei Meter hohe Arizone-Meteorit vom Himmel gefallen sei, verschlug es ihr einen Augenblick den Atem, sie murmelte ihr Mantra und streichelte zärtlich die metallische Oberfläche. Sie preßte die Stirn an den Stein, warf ein paar Münzen obendrauf und umschritt ihn. Der Museumswärter bedachte Didi und mich mit einem jener Blicke, die sagten: »In New York muß man auf alles gefaßt sein.« Im Flügel der amerikanischen Ureinwohner war sie ganz versessen auf die Handwerkszeuge, die von der Freude kündeten, mit der sie hergestellt und benutzt worden waren. Hier in der Zeitkapsel des Museums fand sie Belege für eine Kultur, zu der sie eine Beziehung fühlte, für ein Volk, das ihre Weltsicht teilte. Wo sind sie geblieben?
In einer Galerie hing ein Foto, das in Indien aufgenommen worden war und den Titel »Ältere Witwe auf Pilgerreise« trug. Ich übersetzte Aama die Zeile. »Ja, das sollten wir alle tun, ob alt oder jung.«
Vom Dach des World Trade Center sah die Stadt wie eine Miniaturausgabe einer zukünftigen Zivilisation aus, eine Karikatur einer großartigen, materiellen Welt. »Wann wird es wieder so ein Volksfest geben wie das mit der riesigen Maus und den tanzenden Tieren mit den großen Augen?« fragte sie, als könnten jederzeit Disneyfiguren hinter den Gebäuden hervorspringen und mit einem beschwingten Lied auf den Lippen durch die Gegend stolzieren. Am Boden fügten sich die Autos mit den gelben Taxis zu einer endlosen, farbigen Kette zusammen. Aama wußte zunehmend weniger, ob die Dinge, die sie sah, real waren oder von Menschen geschaffene Fiktionen. Aber das war unwichtig. Sie hatte sich dem Chaos ausgeliefert, und alles, was sie sah, wurde auch ein Teil von ihr.
In der Hauptstadt Washington hatte uns der Botschafter von Nepal eingeladen, ihn vor dem Capitol bei einem der Springbrunnen zu treffen. »Ist dieses hochschießende Wasser natürlich, so wie die Quelle in Yatrastan?« fragte Aama, als wir warteten. »Dann wäre das ein günstiger Wohnort für den Präsidenten von Amrita.«
Aama verbeugte sich tief mit einem Namaste vor dem Botschafter und seiner Gattin. Sie erwiderten beide den Gruß und setzten sich mit ihr auf die ausladenden Marmorstufen. Aama erzählte ihnen Einzelheiten von unserer Reise, als wolle sie die Bilder ihrem eigenen Gedächtnis noch einmal einprägen. In der Art, wie im Dorf gesprochen wird, enthielt jeder Satz ein zufälliges Schlüsselwort, das den Anstoß zum nächsten Gedanken gab.
»An manchen Orten schreit das Land nach Wasser, und anderswo sieht man riesige, brodelnde Wassermassen. Vielleicht könnte man Priester oder Schamanen hinschicken, um herauszufinden, welche Götter dort ihre Wohnstätte haben, und dann können Sie den Präsidenten davon in Kenntnis setzen. Allerdings bin ich mir unklar über den Präsidenten hier. Wir sahen die Gesichter von vier von ihnen oben auf einem Berg in Stein gehauen, aber der dritte war zurückversetzt und versteckte sich hinter den anderen. Die Leute haben über ihn gelacht. Das war der Ort, wo Säuglinge in einer Art von Wagen herumgefahren wurden und alte Leute in einer anderen Art.
Einmal sind wir an einem Platz vorbeigekommen, wo der Müll einer ganzen Stadt abgeladen wurde, wie mir mein Dharma-Sohn gesagt hat. Vögel haben dort Nahrung gesucht, haben aber statt dessen den Tod gefunden. Maschinen, die den Müll herumschieben, haben die weißen Vögel überrollt, und sie lagen mit gebrochenen Flügeln am Boden, phyat-phyat-phyat-phyat. Und wir sahen Kühe, die hatten Zitzen, größer als mein Daumen. Es war eine Schande, wie sie behandelt wurden, die Milch wurde ihnen mit Maschinen weggenommen und verschwand in Röhren.
Und am Rande des großen Gangesozeans sahen wir Leute, die auf einem Stück Holz ritten und die Wellen gezähmt haben wie der schlaue Affengott Hanuman. Wenn sie das Brett unter ihren Füßen verloren hätten, hätten sie Wasser schlucken und ertrinkenkönnen, aberwennsie einfach an einer Stelle sitzengeblieben wären, dann würden sie wahrscheinlich keinen Fisch fangen.«
»Aama«, sagte der Botschafter mit aufrichtigem Staunen, »Sie haben mehr von Amerika gesehen als wir.«
»Werden Sie von Ihrem Dharma-Sohn auch gut versorgt?« erkundigte sich die Frau des Botschafters wie eine besorgte Tochter. Sie sprach laut in der Annahme, Aama würde schlecht hören. Sie hatte das Alter von Sun Maya. »Ja, das Essen ist ausgezeichnet. Selbst wenn ich um einfaches Essen bitte, bekomme ich es nicht. Die Leute hier essen sehr fett und schwer, aber sie machen nicht die Arbeit, die mit solcher Nahrung erforderlich wäre. Amerikaner sind gesund, schön und gesegnet«, fuhr Aama fort, »und sie benutzen ihren Verstand, damit Dinge wie Menschen funktionieren. Aber warum? Der Geist ist unser einziger Anker, und Natur und Kind sind unser einzig wahrer Reichtum, denn sie sind die Quelle der Schöpfung. Wir müssen ihnen mit Respekt und Staunen entgegentreten und von ihnen lernen.«
Ihre Hände unterstrichen jedes Wort mit nachdrücklichen Gesten. Der Botschafter und seine Frau hörten ihr aufmerksam, wenn auch mit einer gewissen Zurückhaltung zu. Aama war anders als die Nepalesen, die sonst nach Washington kamen, obwohl ihre Ansichten doch im großen und ganzen von der nepalesischen Landbevölkerung geteilt wurden. Ich fragte mich, ob der nepalesische Botschafter ihre Worte wohl ernst nahm. Er nickte höflich, während er zuhörte, und schien darüber nachzusinnen, wie er als Gesandter Nepals in den Vereinigten Staaten diese beträchdiche kulturelle Kluft überbrücken könnte.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten, schaute Aama mich und Didi an.
»Wenn ich weg bin, dann werdet ihr wahrscheinlich den Leuten erzählen, daß ich durch Amrita gefahren bin und diese Dinge gesagt habe. Sie werden vielleicht sagen, daß ich nur eine alte Frau bin, die sich das alles ausgedacht hat.« Sie schaute mich schmunzelnd an: »Du hast ihnen doch nicht gesagt, daß ich an diesen Geldautomaten gespielt habe?«
Die Stewardeß brachte das Essen. Didi fand Aamas Brille und half ihr, sie aufzusetzen. Aama hatte, als sie das letzte Mal die Brille trug, geweint, was noch an den Salzspuren auf den Gläsern zu sehen war.
Nachdem Aama fertig gegessen hatte, waren ihre Kleider mit Krümeln des Schokoladenkuchens übersät. Sie hatte den Kuchen mit den Händen gegessen und einen Teil der Glasur an ihrer Schärpe abgewischt.
»Das ist ja eine schöne Bescherung«, sagte Didi. »Warum muß eine alte Frau gut aussehen?« Aama nahm die Brille ab, steckte sie sorgfältig in die Plastiktüte, die das Besteck enthielt, und ließ sie in ihrer Schärpe verschwinden. »Wie unsere Seele innen aussieht - nur das ist wichtig. Aber ihr habt ja kein Dharma hier, und da ist es egal, was ihr tut.« »Das ist unfair«, gab ich zurück in dem Gefühl, mich gegen ihre Verallgemeinerung wehren zu müssen. Sie hatte sich mißmutig in sich selbst zurückgezogen und reagierte nicht. Die Fülle der Eindrücke und Ereignisse hatten sie überschwemmt, und sie verspürte kein Bedürfnis mehr, ihnen Sinn abzugewinnen. Es blieben keine vollen zwei Tage mehr bis zum Rückflug nach Nepal.
Didi schlief, und Aama sagte kein Wort mehr bis zur Gepäckausgabe am Flughafen von Seattle.
»Ich habe Plätze gesehen, die neu und fremd waren und auch heilig, als sei ich schon im Himmel angekommen. Aber ich bin noch nicht reif für den Himmel. Obwohl wir im Dorf nur Hirsebrei essen, möchte ich nach Hause zurück.«
Didi und ich mußten dringend zur Toilette und einige Telefongespräche führen. Ich führte Aama zu einem Stuhl und sagte ihr, sie solle sich hinsetzen. Aber sie wollte stehenbleiben, später weigerte sie sich aufzustehen - wie ein Kind, das gegen stundenlange Gefangenschaft auf dem Rücksitz eines Autos rebelliert.
»Wo ist dieser Kasten, der Stimmen einfängt - ich möchte hineinsprechen. Du sagst den Leuten nicht das Richtige über mich, und bevor ich Amrita verlasse, möchte ich ihnen den Kopf zurechtrücken.« Ihre unausgesprochenen Gedanken waren reif geworden.
Ich stellte den Taschenrecorder an und gab ihn ihr in die Hand. »Sprich hier hinein. Didi und ich kommen zurück, wenn du in besserer Stimmung bist.« Sie heftete ihren Blick entschlossen auf den Apparat in der Gewißheit, daß er ihre Gedanken genauer und mit mehr Mitgefühl festhalten würde als ich.
Als ich zurückkam, hielt Aama das Tonbandgerät wie einen Handspiegel vors Gesicht und belehrte es stirnrunzelnd und gestikulierend. »Die Menschen hier denken nur an dieses Leben, nicht an das nächste. Wir bleiben die ganze Nacht wach und vollziehen Rituale mit Butterlampen und Trommeln und Räucherwerk, aber hier sind die Leute zu beschäftigt für solche Dinge. Sie verdienen ihren Lebensunterhalt mit Maschinen, als wenn ihnen diese Dinge helfen würden, in den Himmel zu kommen.«
Der sterilen Hintergrundmusik der Gepäckhalle gelang es nicht, ihre düsteren Worte zu dämpfen. Sie äußerte ihre tiefe Enttäuschung darüber, daß die Menschen am Morgen aufwachen und sich in ihre Aktivitäten stürzen, ohne den Tag durch Gebet zu heiligen, ohne Waschung, Opfergaben, ohne Reinigungsritual oder auch nur ein paar flüchtig gemurmelte Mantras oder angedeutete Handbewegungen. Wo war die spirituelle Grundlage, von der die Taten des Tages ihren Ausgang nahmen? Uns sind die menschliche Form geschenkt worden und das Licht der Sonne, die täglich auf- und untergeht, und wir sind deswegen zu andächtiger Verehrung verpflichtet - damit unsere Wahrnehmung nicht in Stumpfheit und Unbewußtheit absackt.
Ihre Erzählung wurde dann zu einem Kaleidoskop von Bildern Amerikas, die wie die wechselnden Farben der Landschaft, über die wir geflogen waren, auftauchten, sich veränderten und wieder auflösten. Sie sprach von Hunden und Katzen, denen man Kleider und komische Hüte anzog, von Autos, die unserem Blut die Lebensenergie rauben, die wir brauchen, um zu denken, zu arbeiten und zu beten, von einem Haufen Sand, den wir nicht berühren durften, weil er jemandem gehörte. Schließlich, als würde sie einen Live-Kommentar abgeben, sprach sie von ihrem eigenen Tod und der Aufteilung ihres Besitzes, der Auflösung von Leben und Land in seine wesentlichen Bestandteile.
Sie befand sich im Übergang zu ihrer letzten Lebensphase.
»Wenn ich es verstehen würde, dann hätte ich es inzwischen verstanden. Wenigstens finde ich Zuflucht in dem Wissen, daß alles Wichtige in den heiligen Schriften niedergelegt ist. Wer das hier hört, sollte sich den heiligen Schriften zuwenden, um herauszufinden, was ich wirklich sagen will.«
»Aama, du hast zugenommen«, sagte Ann, als wir nach über zwei Monaten ihr Haus auf Whidbey Island wieder betraten. »Und dein Gesicht sieht gesund aus.«
»Die Ärzte glauben also, daß ich doch nicht in der Fremde sterben werde?« Ann war Ärztin. »Auf dieser Reise jedenfalls nicht«, antwortete sie lachend.
Obwohl sie an Gewicht zugelegt hatte, wirkte Aama schwach und müde. Vielleicht hatte sie Energie von den Menschen aufgenommen, die sie unterwegs berührt hatte, und damit auch etwas von der Malaise dieser Kultur. Viele Yogis und inkar-nierte Lamas und auch Jesus haben aus diesem Grund gelitten. Indem sie Menschen aus Mitgefühl berührt haben, um sie zu heilen, nahmen sie wissentlich die Konsequenzen des Karmas von anderen auf sich.
Ein Brief aus dem Dorf lag unübersehbar auf der Kommode im Eingang. Ich hätte ihn am liebsten noch ein Weilchen dort »kochen« lassen - wer weiß, welche Nachrichten er enthielt? Aber Aama hatte ihn bereits entdeckt. Er war, wie die meisten Briefe, in einem formalisierten Sanskrit-Nepali geschrieben, und statt konkrete Nachrichten zu enthalten, erging er sich mehr in Lob- und Segenssprüchen. Er schloß mit der Mitteilung, daß Verwandte und Tiere wohlauf seien und die Ernte zufriedenstellend ausgefallen sei. Alle dächten an Aama in der Hoffnung, daß der Rest der Reise sicher und erfreulich verliefe. Es war die Art von Brief, wie sie ein Armeerekrut aus dem Dorf erhielt und wie er zurückschreiben würde. Den Brief hatte Sun Maya unterzeichnet.
Während ich ihn laut vorlas, starrte Aama an die Wand. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Ich nahm an, es wären Freudentränen.
»Warum sollten sie schreiben, daß alles in Ordnung ist, wenn nichts passiert wäre?« sagte sie, als sei das die einzig schlüssige Interpretation. Sie konnte Sun Mayas Handschrift nicht erkennen, so daß sie immer noch mißtrauisch vermutete, ich würde ihr schlechte Nachrichten vorenthalten.
Didi und Aama würden am nächsten Tag nach Nepal fliegen. Aama würde also in Kürze Bescheid wissen, und wenn ich einen Monat später nachkam, würden im Dorf alle herzlich darüber lachen können.
Am Abend packten wir ihre Geschenke und Andenken in zwei Metallkoffer.
»Wo hast du die Kette hingetan, die mir von dem abgetrennten Zweig unseres Volkes geschenkt wurde? Und die anderen beiden Halsketten? Ich habe sie ein paar Tage getragen, und dann hat Didi sie weggelegt. Sind sie unter meinen Sachen? Und das Sandelholz und die Glücksmuscheln und die anderen Meeresknochen?«
Ihre Erinnerungen begannen sich aufzulösen. Die Neue Wrelt verblaßte wie ein Bild auf dem Fernsehschirm. Wenn sie mehr nach Hause mitbringen wollte als flüchtige Erinnerungen, dann mußte sie sichergehen, daß ihre Geschenke alle wohlverstaut in ihrem Gepäck waren. Sie zog die Schals und Schmuckstücke aus, auch die blauen Turnschuhe, und legte sie in den Koffer. Die billigen indischen Stoffschuhe, mit denen sie angekommen war, hatten brav in einer Schachtel auf ihre Rückkehr gewartet. Sie stellte sie für den Morgen bereit.
Zur Vorbereitung auf ihre Rückkehr bat Aama um kaltes Wasser, um ihr Gesicht zu waschen. Als wolle sie alle angesammelten Unreinheiten entfernen, knetete sie ihre Falten. Sie hatte eine schöne Haut, nur mehr, als auf die Oberfläche ihres Gesichts paßte. Tränen flössen ihr aus den Augen wie das Wasser aus dem undichten Hahn des Spülbeckens, über das sie gebeugt war. Und in einem rührseligen Tonfall rief sie die Götter an und sprach ihr Abschiedsgebet - sie wußte, nach Amrita würde sie nie wieder zurückkehren. Ihre Stimme war von Dankbarkeit erfüllt. »Hare Om, Shiva Narayan, Narayan, Heil dir Kaansi, Vishnumati, Bagmati, Pasupatinath, Gujeswori, Muktinath, Narayan Narayan Vishnu, Kailaspati, Baigundanath, Jagganath, Rameswor, Badrinath, Bhairav Kali Mai und alle Götter und Göttinnen, Bindhyebasini Kalo Bhairav. Mögen Sünde, Gotteslästerung und Leiden von uns genommen werden, möge es Frieden und Schutz und einen günstigen Stand aller neun Planeten für alle geben. Narayan Narayan Vishnu Bhagwan. Ich weiß, daß die Götter ihren Sitz im Himmel haben und am Kailash, bitte erlöse die fühlenden Wesen, die in der Hölle sind, o Bhagwan; auch wenn ich gesündigt haben mag, so hatten meine Handlungen und Gedanken doch keine böse Absicht. Ich habe in mir nur das Bild Bhagwans getragen, den ich jetzt um Vergebung bitte. Ich habe im großen Gangesozean gebadet, bin in die vier Himmelsrichtungen gereist, und nur du, o Bhagwan, bleibst noch, den ich nicht gesehen habe, und das bedeutet gewiß, daß ich nahe dran bin, dich zu sehen...«
Am Morgen standen wir draußen und schauten still zu, wie Aama mit Ann, Greg und den Kindern sprach. Ihre Worte, die von der dicken Schicht Tannennadeln auf dem Einfahrtsweg gedämpft waren, schwebten über das Wasser zu den Olympic Mountains und von dort nach Ganga Sagar, dem Tempel im großen Gangesozean.
»Obwohl ich in Unwissenheit hierher gekommen bin, gebe ich meinen Segen und meine Namaste allen Menschen in Amrita. Wenn ich Nachrichten von meinen neuen Freunden hier bekomme, werde ich mich satt fühlen, auch wenn ich nicht gegessen habe; denn bis zu dem Augenblick, an dem meine Augen zum letztenmal das Tageslicht erblicken, werde ich die Gesichter und Taten von euch allen in meinem Herzen behalten. Ich habe euch gesehen und euch kennengelernt und werde bis zu meinem letzten Atemzug Liebe zu euch empfinden.«
Still kehrte ihre Aufmerksamkeit zu dem Platz zurück, an dem sie stand. Das Licht reflektierte vom Wasser unterhalb der Klippen und beleuchtete unsere Gesichter und die dunkelgrünen Tannen, deren Wipfel im Wind tanzten. Ich spürte, daß Aama über Ganga Sagar hinausgegangen war, daß sie einen Ort des inneren Friedens erreicht hatte, von dem aus sie zu allen Amerikanern sprach, so daß diese sie hören und verstehen konnten. Einen Augenblick lang waren wir dieses ganze amerikanische Volk.
Ich empfand Dankbarkeit für ihren Segen, auch wenn ein Teil von mir Zweifel hatte, ob ich ihn wert war. Sie schaute zu Didi und Ann auf, die beide liebevoll eine Hand von ihr hielten. »Ich bin jetzt überzeugt, daß meine Pilgerreise vollendet ist. Das ist alles, was ich zu sagen habe.« Sie drückten einander die Hände, und die Kinder umarmten sie.
Zu dritt führen wir zum Flughafen. Wir sprachen nicht. Nachdem wir die Milchfarm gesehen hatten und die Ostküste, hätten wir nicht auf demselben Weg nach Seattle zurückkehren können - jedenfalls nicht in diesem Leben. Aama sprach es nicht vor mir aus, aber im Flugzeug sagte sie zu Didi, daß sie fürchtete, mich nie wiederzusehen, daß sie sterben würde, bevor ich sie besuchen könnte. Didi versicherte ihr, daß ich schon in einem Monat wieder in Nepal sei und sogleich ins Dorf kommen würde, um sie zu sehen.
Zermürbt vom Flug und der Zeitverschiebung landeten die beiden in Katmandu. Aamas ganzes Sinnen und Trachten war darauf gerichtet, zu ihren Enkelkindern zurückzukehren, zu den Hühnern, deren Glucke sie war, und auf die Vorbereitung des Dasain-Festes. Außerdem mußte sie mit dem Tod von Sun Maya fertig werden, an den sie noch immer glaubte.
Sie füllte eine leere Fantaflasche mit Wasser des Bagmati-Flusses, der noch schmutziger war als der Ganges und fast so heilig. Sie fragte Didi, ob sie auch etwas Saft oder Wein aus Amerita mitnehmen dürfe. Didi richtete eine Schachtel mit Lebensmitteln aus dem Westen her - wie für eine letzte Kommunion.
Aama stieg barfuß den Pfad zu ihrem Dorf hinauf. Ihre Füße waren müde, aber innigst vertraut mit dem Weg. Als ihr Haus in Sichtweite kam, blieb sie stehen, um ihre Brille aufzusetzen, das unvermeidliche Symbol einer Frau, die von einem Besuch ihres Sohnes bei den Gurkha-Regimentern heimkehrt. Didi wollte sie ihr abnehmen, um zu putzen, aber Aama meinte, das trübe Glas würde ihre Tränen verbergen. Mantras murmelnd trat sie mit gesenktem Kopf über die Schwelle ihres Hauses.
Sun Maya saß auf dem Holzklotz neben der Feuerstelle und buk Brot für Verwandte, die zu Besuch gekommen waren. Aama blieb einen Augenblick wie angewurzelt stehen, dann leuchtete ihr Gesicht auf. Sun Maya sah genauso überrascht und glücklich aus wie sie.
Das Dorf lief zusammen, so wie auch alle bei ihrem Abschied dagewesen waren; nur die Hühner waren tot - was ihre Vorahnung bestätigte, daß etwas passiert sei.
Sämtliche Verwandten sammelten sich auf der Veranda, um Aamas übersprudelnde, zusammenhanglose Geschichten zu hören und von einem riesigen mechanischen Fisch, Spielautomaten, Maschinen mit Klauen, die Baumstämme bewegen können, von Heißwasser-Springbrunnen und ihren Gottheiten, langen Unterhosen, gotteslästerlichen Melkapparaten und dem großen Gangesozean. Während sie sprach, öffneten Kinder ihre Metallkoffer. Die amerikanischen Kunst- und Naturprodukte versickerten laudos im Dorf.
»Mein eigener Sohn - hätte ich einen geboren - hätte das nicht für mich getan. Nani muß der Sohn sein, der mir bestimmt war. Und auch meine Schwiegertochter war sehr hilfreich.« Didi hatte ihre Pflicht erfüllt und war jetzt aus ihrer Rolle entbunden. Ihre Bindung an Aama, die an die Beziehung zu mir geknüpft war, wurde gelöst. Didi blieb nur kurz, bevor sie sich verabschiedete. Aama tauchte im warmen Strom des Dorfes unter, und es dauerte nicht lange, bis ihr das amerikanische Leben sehr fremd erschien und es in der Ferne verschwand.
Meine Bemühungen, während des nächstens Monats in Amerika andere Frauen aufzutun, war vergeblich - genaugenommen eine Katastrophe - als habe ich ein Warnschild auf der Stirn getragen. Auf dem Weg zurück nach Nepal dachte ich über die Beziehung zu Didi nach. Obwohl ich immer noch unsicher war, ob wir gemeinsam auskommen könnten, begann ich doch einzusehen, daß ich ihr mehr Aufmerksamkeit und Achtung schuldete, als ich ihr bisher gegeben hatte. In der Nacht meiner Ankunft in Katmandu bekam ich die Rechnung klar und deutlich serviert. Das Taxi ratterte zu Didis Haus. Sie gab mir einen freundschaftlichen Kuß auf die Wange und sagte, sie habe mich anderswo untergebracht. Sie habe jemand anderen kennengelernt. Mein Atem blieb stehen. Etwas schnürte mir die Brust ein. Da war es wieder, dieses niederschmetternde Gefühl wie nach der Nachricht vom Tod meiner Mutter: gefangen zu sein und gleichzeitig verlassen. Ich war fix und fertig. Ich wollte Didi fragen, was genau vorgegangen sei, konnte aber nicht ertragen, es zu hören. Ich machte ihr einen lahmen Heiratsantrag, doch ihre Antwort war auf ihrem Gesicht und von ihren Bewegungen her klar abzulesen. Ich versuchte meinen Antrag zu trivialisieren, um wenigstens noch ein wenig von meinem Stolz zu retten, da ich ihn nicht gleich wieder zurücknehmen konnte.
»Könnte man ja mal drüber nachdenken. Wie wär's mit der Western-Kapelle in Las Vegas? Vielleicht haben sie einen katholischen Priester bei der Hand - um deine Mutter zufriedenzustellen - oder wir könnten einen Brahmanen-Priester im Trump Taj Mahal in Atlantic City ausfindig machen oder sonst was.« Ich konnte kaum sprechen. Didi lächelte mich mitleidig an. Es gab keinen Rückweg.
Tage vergingen, dann Wochen, und jeden Tag hatte ich das Gefühl, daß ich mit Didi sprechen mußte. Jedesmal wenn ich anrief, zog sich mein Magen vor Furcht zusammen, ein anderer Mann könnte am Telefon sein oder daß sie den Kontakt ganz abbrechen würde. Unsere Unterhaltung ging mir den ganzen Tag durch den Kopf, und ich überlegte hin und her, welche Worte ich hätte sagen sollen, oder was ungesagt geblieben war. In meiner Verunsicherung versuchte ich, mit Hilfe der Sprache Kontrolle über sie zu bekommen. Ich verstand mich besser als sie aufs Manipulieren mit Worten und Bedeutungen, aber ich merkte, daß ich damit die Beziehung nur noch mehr aushöhlte.
Meine Unfähigkeit zu funktionieren führte zu noch größerer Unsicherheit. Eine brutale, fremde Macht hatte Besitz von mir ergriffen und ließ mich nicht los, weder konnte ich arbeiten noch mich entspannen. Im Kopf versuchte ich verzweifelt, die Vergangenheit zu verändern. So fratzenhaft, wie sie sich mir jetzt darstellte, konnte sie gar nicht gewesen sein. Mein Blut wurde mit den chemischen Ausschüttungen der Depression überschwemmt, die sich durch einen Teufelskreis negativer Gedanken ständig verstärkte. Diese toxische Angst löste sich weder in heißem Badewasser noch in Alkohol auf und auch nicht in der Zerebralflüssigkeit der Meditation - worin ich mich vergeblich versuchte.
»Leiden ist ein großer Lehrer«, sagte der tibetanische Lama, dessen Dharma-Vorträge ich Jahre zuvor gehört hatte. Er hatte die illusionäre Natur des menschlichen Geistes und der Phänomene beschrieben und das unausweichliche Entstehen von Leiden. Diese Lehre leuchtete mir ein, und eine gewisse Neugierde auf die buddhistische Philosophie war immer in mir wach geblieben. Aber es fiel mir schwer, mich an die Konzepte zu erinnern oder sie praktisch auf meinen Zustand anzuwenden.
Ich schob den Besuch bei Aama hinaus, um ihr keine Erklärungen über Didi abgeben zu müssen, die mir peinlich waren - aber mit irgend jemandem mußte ich sprechen. Der tibetische Lama lehrte rund um den Globus und war wohl kaum in seinem Kloster anzutreffen. Nach einem lustlosen Mittagessen kaufte ich einen khatta, einen seidenen Opferschal, an einem Stand für Ritualgegenstände. Ich stieg die drei Stockwerke zu seiner Wohnung hinauf, wohl wissend, daß nur wenige Lamas nachmittags Besuch empfingen.
Vor der Tür stand ein Paar Schuhe. Ich zog meine aus, atmete flach ein und zog den Leinenvorhang zur Seite.
Tulku Chyöki Nyima Rimpoche saß allein auf seiner Couch im Empfangszimmer. Seine Hände waren friedlich im Schoß gefaltet.
»Komm herein«, sagte er fröhlich. Er stand auf und streckte mir beide Hände entgegen. »Ich habe auf dich gewartet.« Ich hatte ihn fünf Jahre lang nicht gesehen, aber ich fiel ihm in die Arme. »Jetzt kannst du samsara sehen, das weltliche Universum der Verhaftung und des Leidens. Das ist eine Gelegenheit, ein Segen.« Ich sagte nichts zu ihm.
Das war derselbe Lama, den Didi vor seiner Abreise nach Amerika um Rat gefragt hatte. Aber woher konnte er wissen, daß ich zu ihm kommen würde?
Ich bat ihn um ein mo, eine Weissagung, eine Antwort auf meine einfache Frage, ob Didi und ich zusammenpaßten und wieder zueinanderfinden würden. Ich war versucht, ihn zu fragen, welchen Rat er ihr gegeben hatte, aber ich wußte, daß seine Antwort darauf nur ausweichend sein konnte.
Rimpoche zog eine Gebetskette heraus und hielt sie zwischen Daumen und Zeigefinger; er streichelte jede Perle, die er zwischen den Fingern hindurchschob. Der Raum wurde eng und still. Rimpoche schaute von seiner Gebetskette auf. Er hatte die Antwort.
»Schwierig. Schwierig.« Mein Magen krampfte sich zusammen. »Aber möglich«, fügte er hinzu, was ich als ein Zeichen des Optimismus auffaßte. »Das Leben ist seltsam.« Diese Aussage konnte ich voll unterschreiben. Er lächelte und kicherte. »Ich glaube, daß die Menschen im Westen mehr leiden als wir Asiaten, und das ist der Grund, warum sie so gute Studenten des Buddhismus und der östlichen Philosophie werden. Im Westen wachsen die Menschen mit dem Gefühl auf, daß sie viel vom Leben erwarten können, und verlieren sich dann im Auf und Ab zwischen großen Hoffnungen und tiefer Verzweiflung. So bekommen sie Angst, was ihnen als nächstes zustoßen könnte, und sind im allgemeinen nicht darauf vorbereitet, wenn es geschieht. Wir Asiaten schleppen nicht so viele Erwartungen mit uns herum. Schau dich um: Gibt es da etwas zu hoffen?« Ich hätte mich am liebsten an seinem Gewand festgehalten, aber ein anderer Besucher war eingetroffen. Ich dankte ihm, verbeugte mich und ging.
Als ich draußen vor dem weißgetünchten Kloster stand, mußte ich mich besinnen, wohin ich jetzt eigentlich wollte. Ich dachte an die buddhistische Disziplin, sich in den Wald zur Meditation zurückzuziehen, was mir vielleicht wenigstens helfen könnte, meinen Kopf wieder klarzubekommen.
Rimpoche hatte mich nicht von meiner Depression befreit, dachte ich selbstbezogen. Seine Worte waren weise, aber ich war unfähig, sie mir zu Herzen zu nehmen. Die Warnung eines Freundes klang mir in den Ohren: Bitte nicht um ein mo, wenn du nicht bereit bist, dich der Antwort zufügen. Das könnte wohl nichts anderes heißen, als daß ich eine zweite Meinung einholen mußte.
Der zweite Lama machte mir noch weniger Hoffnung. Es sah schlecht aus. Das erste mo hatte mir eine neutrale Prognose gegeben, das bedeutete, daß ich noch eine dritte Meinung brauchte, um eine Zwei-zu-drei-Entscheidung treffen zu können.
Ich suchte einen der höchsten Lamas auf, die in der tibetischen Flüchtlingsgemeinschaft leben. Tulku Urgyen Rimpoche, der dem Dalai-Lama Dharma-Lehren in speziellen tantri-schen Übungen erteilt hatte. Ich bat seine westlichen und tibetischen Mitarbeiter dringend, mir eine Audienz zu verschaffen. Nachdem ich schließlich zum inneren Heiligtum vorgedrungen war, überreichte ich ihm den ÄT^to-Schal und hockte im Schneidersitz zu seinen Füßen. Rimpoche lächelte und schüttelte seine Gebetskette zwischen beiden Händen. Er zog sie heraus und fixierte mich durch die untere Hälfte seiner Brille wie ein Wissenschaftler, der durchs Mikroskop schaut. Ich ertappte mich dabei, daß ich nach einem Muster in den Perlen suchte. War es die Art, wie sie das Licht reflektierten, ihre Anordnung oder eine mystische numerische Formel? Ich schaute ihm ins Gesicht auf der Suche nach einem Hoffnungsschimmer. Ich versuchte, ruhig zu werden und festzustellen, auf welcher Ebene mein Problem eigentlich lag: auf der physischen, der psychischen oder der spirituellen? Oder war meine rastlose Angst ein Überhang aus einem früheren Leben? »Es kann in beide Richtungen gehen«, erklärte er und lächelte unparteiisch.
Aama sagte, sie habe gewußt, daß ich komme. Die Schulkinder hänselten sie fast täglich vom Weg über ihrem Haus und hatten dieser Tage gerufen, ich sei auf dem Weg herauf zum Dorf, um sie wieder mit nach Amerika zu nehmen.
Die mündlichen Samen einer neuen Mythologie waren die einzigen Überbleibsel unserer Odyssee, wenn man von ein paar amerikanischen Artefakten absah - einer zerbrochenen Mickymouse-Tasse und Perlen einer Halskette, die in ihrer staubigen Dachkammer einen Platz gefunden hatten.
Noch bevor Aama dazu kam, mir eine Tasse Tee anzubieten, gestand ich ihr, daß Didi mich verlassen hatte. Die Worte kamen lauter heraus, als ich sie aussprechen wollte. Mein Herz schlug heftig. Ich wartete gespannt auf ihre Reaktion. Sie schaute von der Feuerstelle nicht auf. Nach einer Weile sagte sie ganz sachlich: »Ich sah es kommen.« »Was?« Ich forschte wieder in der Vergangenheit, welche Zeichen ich übersehen hatte, die Aama aufgefallen waren. »Warum hast du es mir nicht gesagt?« »Du hättest mir nicht zugehört.«
Ich verstand, warum die Gurung Todesnachrichten zurückhielten. Tod war das Hauptgefühl, das mich überkam, wenn ich mich der Realität der Nichtbeziehung zu Didi stellte. Aama schaute mich an: »Wenn ein Kürbis zu groß wird, dann zerbricht er am eigenen Gewicht. Wenn ein Bambus zu hoch wächst, dann zieht ihn seine eigene Höhe herunter.«
»Aber du hast doch gesehen, daß es eine Ebene gab, auf der ich Didi geliebt habe, nicht wahr?« Vielleicht wußte Aama besser als ich, ob das stimmte. Sie schob die Maiskolben tiefer unter den Teekessel und blies durchs Bambusrohr ins Feuer.
Wieder schaute sie nicht auf. Ihr Gesicht sagte, daß ich nicht die richtige Frage gestellt hatte. »Warum suchst du dir nicht eine andere?« »Eine andere?« fragte ich, als läge das weit von mir. »Wenn du nicht eine andere Frau finden wolltest, warum bist du dann nicht mit Didi und mir nach Nepal gefahren? Ich kann gut allein zurückkommen. Aber was ist mit Didi?« »Nun, ich gebe zu, ich habe es versucht. Ich weiß jetzt, daß ich es nicht hätte tun sollen, aber vermutlich brauchte ich das.« Ich drückte mich vor der Realität, watete in der Ignoranz des Nichtsehens herum, wovon der Lama gesprochen hatte. »Wenn der Strom einmal überquert ist, wird der Stock vergessen.« »Schön und gut, aber jetzt möchte ich Didi zurückhaben«, sagte ich trotzig.
Aama atmete ein, die erste Hälfte eines Seufzers, der Vorbote von etwas, für das ich fürchtete, nicht reif zu sein. Sie verstand mich so tief wie meine Mutter. »Ram und Laxman gingen jagen, Und störten keinen Stein. Sie wußten, mit gutem Karma Geht alles von allein.«
Unsere Unterhaltung nahm nicht den Verlauf, wie ich ihn erwartet hatte. Mir stand nicht der Sinn nach ihren Sprichwörtern, die nur dem Zweck dienten, mich auf mich selbst zu verweisen. »Du glaubst, du könntest das erzwingen? Du glaubst, du könntest es bekommen, nur weil du sagst, du willst es?« forderte sie mich heraus.
So schien es bisher immer funktioniert zu haben, dachte ich und erinnerte mich an meine relativ glückliche Kindheit. Dann fiel mir ein, was Aama einmal gesagt hatte - daß es besser sei, das unvermeidliche Leiden frühzeitig im Leben durchzustehen, statt später.
Wenn ich aus Aama schon keinen Rat herausquetschen konnte, wie ich auf leichte Weise etwas bekommen könnte, was nicht zu bekommen war, dann durfte ich zumindest Mitleid erwarten. Aber auch darauf hoffte ich vergebens. Ihre Stimme hatte den Ton einer Mutter, die ihre Enttäuschung nicht verhehlen kann, daß das Kind immer noch nicht erwachsen ist. Ich wollte es so dringend, dachte ich, aber wußte nicht, wie. Die körperlichen und professionellen Herausforderungen, denen ich mich routiniert und stolz gestellt hatte, erschienen lächerlich im Vergleich zu der Aufgabe, Verantwortung für meine eigene Rettung zu übernehmen. Mich mit mir selbst zu konfrontierten, erschien mir zu mühselig, um es in Betracht zu ziehen.
Ich wollte von Aama, daß sie Didi für mich umstimmte, sie irgendwie zu mir zurückbrachte, um den Schmerz loszuwerden. Darüber hinaus wollte ich, daß sie mich aufbaute, wie ich das von meiner Mutter erwartet hätte. Ich fühlte mich von allen Seiten verraten, und meine Ansprüche und Erwartungen brachen rundherum zusammen.
»Ein Mann muß den Hunger seiner Frau spüren«, fuhr Aama fort, »so wie die Frau den Hunger ihres Mannes spüren muß. Sie müssen beide etwas verstehen: Keiner wird genug geben können, um seinen Gatten zu befriedigen, und keiner wird so viel nehmen können, um seine Gier zufriedenzustellen. Miteinander auskommen ist wie Buttern: Die Milch muß genau die richtige Temperatur haben, und das Schlagen muß genau stimmen - nicht zu schnell und nicht zu langsam - sonst wird sich die Butter nicht von der Milch trennen. Du mußt ein Gefühl dafür haben.« Und das sagte eine Frau, die von den Eltern verheiratet worden war, eine Frau, die sich am Morgen der Heirat im Maisfeld versteckt und gebetet hatte, daß die Eltern statt ihrer die Schwester nehmen würden!
Es schmerzte mich, mir Didis Geduld in den Jahren unseres Zusammenlebens vorzustellen. Ich hoffte noch immer, daß unsere Trennung nur vorübergehend sein würde und daß ich jetzt an der Reihe war, auf sie zu warten. Aber wie lange konnte ich warten? Ich lief über Aamas Hof, durch das Dorf und am Rand der Maisterrassen entlang. Der Ort erschien mir plötzlich so fremd wie an dem Tag, an dem ich das erste Mal hierhergekommen war und im Haus des Dorfvorstehers, Aamas Schwiegersohn, nach einer Unterkunft gefragt hatte. Mein erstes Zuhause hatte ich vor vielen Jahren verlassen. Jetzt war es an der Zeit, mein zweites Zuhause zu verlassen und ein neues Leben aufzubauen.
Aama wußte das.
Bevor ich aufbrach, um nach Katmandu zurückzukehren, sagte Aama, sie hoffe, daß ich keine Angst habe, weiterzusuchen und mich in meiner Umgebung umzusehen.
Meine Depression hielt an. In einem stetigen Rhythmus schickte ich Didi Geschenke: ein neues Motorrad, Rubinohrringe. Sie wollte sie erst nicht, schien mit sich zu kämpfen, ob sie sie annehmen sollte, tat es dann aber doch. Freunde lieferten die hilfreiche Erklärung, daß etwas aus meiner Vergangenheit zum Durchbruch komme. »Er hat den Tiger des Dschungels besiegt, aber der Tiger seines Denkens hat ihn erwischt.« Aamas Sprichwort ging mir endlos im Kopf herum.