Kindheit

1974 bis 1982

»Nun, es hat keinen Zweck, wenn du versuchst, ihn aufzuwecken«, sagte tweedledum, »wo du doch nur eine gestalt aus seinem traum bist. du weisst genau, dass du nicht wirklich bist.« »Aber ich bin wirklich«, rief Alice und fing an zu weinen. »du machst dich um keinen deut wirklicher, wenn du weinst«, bemerkte tweedledee. »es gibt nichts, worum du weinen müsstest.« »Wenn ich nicht wirklich wäre«, sagte Alice - und lachte beinahe unter ihren Tränen, das alles war so lächerlich - »dann könnte ich doch auch nicht weinen.«
»Ich hoffe, du denkst nicht allen ernstes, dass deine Tränen wirklich sind?« unterbrach sie tweedledee mit verächtlicher stimme.
Lewis Carroll, »Alice im Wunderland«

So einfach war das: Vor einer Minute war ich noch eine ganz normale Neunjährige in Shorts und T-Shirt, mit langen, braunen Zöpfen, die in der gelb gestrichenen Küche saß, sich eine Wiederholung von Bugs Bunny ansah, eine Tüte Chips in sich hineinstopfte und dabei den Hund mit dem Fuß kraulte. In der nächsten Minute ging ich, gefangen in einem unwirklichen Nebel, den ich später mit dem Gefühl vergleiche, das das Rauschen der Geschwindigkeit in mir auslöst, zur Küchentür hinaus, die Treppe hinunter, ins Badezimmer. Ich schloß die Tür, hob den Toilettensitz, hielt meine Zöpfe mit der einen Hand zurück, steckte mir die anderen zwei Finger tief in den Hals und übergab mich, bis ich Blut spuckte.
Ich betätigte die Toilettenspülung, wusch mir Hände und Gesicht, kämmte mir das Haar, ging die Treppe durch das sonnige, leere Haus wieder hinauf, setzte mich vor den Fernseher, nahm meine Chipstüte wieder zur Hand und kraulte weiter den Hund mit dem Fuß.
Wie hat Ihre Eßstörung begonnen? fragen mich die Therapeuten Jahre später, während sie mich dabei beobachten, wie ich an den Nägeln knibbele und mich in einen der unzähligen Ledersessel kauere. Ich zucke die Achseln. Verdammt, wenn ich das nur wüßte, sage ich.
Ich wollte einfach nur sehen, was geschehen würde. Neugier, die mir zum Verhängnis wurde.
Erst am nächsten Tag in der Schule wurde mir bewußt, was ich getan hatte. Ich saß im Speisesaal meiner Grundschule in Minnesota zwischen meinen präpubertären, schlaksigen Freundinnen, kauerte über meinen schmerzenden Brustwarzen und starrte auf meinen Teller. Ich hatte es einmal getan und würde damit weitermachen müssen. Panik. Mein Kopf pochte, mein Herz flatterte, und mein Adrenalinspiegel schoß in die Höhe. Die Wände schienen auf mich niederzustürzen, der Boden öffnete sich unter meinen kleinen Turnschuhen. Ich stieß den Teller beiseite. Keinen Hunger, sagte ich. Ich sagte nicht: Lieber verhungere ich, als noch einmal Blut zu spucken.
Und so ging ich durch den Spiegel, betrat die Unterwelt, wo oben und unten sich verkehren und Nahrung gleich Gier ist, wo sich konvexe Spiegel an den Wänden wölben, wo Tod Ehre bedeutet und das Fleisch Schwäche. Der Weg dorthin ist leicht - der Weg zurück um so schwerer.
Ich blicke auf mein Leben, wie man im Kino einen schlechten Actionfilm verfolgt: Ich hocke auf der Kante des Sitzes und schreie: »Nein, nein, nicht die Tür öffnen! Dahinter wartet der böse Mann, und er wird dich packen und dir die Hand über den Mund legen und dich fesseln. Und dann wirst du den Zug verpassen, und alles wird ein schlimmes Ende nehmen!« Nur daß es in dieser Geschichte keinen bösen Mann gibt. Der Mensch, der mir hinter der Tür auflauerte, mich packte und fesselte, war unglücklicherweise ich selbst. Mein Alter ego, ein böses, mageres Hühnchen, das mir zuzischte: Nicht essen. Ich lasse es nicht zu, daß du etwas ißt. Ich lasse dich frei, sobald du dünn bist, das schwöre ich. Wenn du erst einmal dünn bist, ist alles gut.
Lügnerin. Sie hat mich nie gehen lassen. Und ich konnte mich nie ganz losreißen.

Kalifornien

Fünf Jahre alt. Gina Lucarelli und ich stehen in der Küche meiner Eltern, unsere Köpfe auf gleicher Höhe wie die Arbeitsplatte. Wir suchen nach etwas Eßbarem. Ihr habt gar keine normalen Lebensmittel im Haus. Ich weiß, sage ich entschuldigend. Meine Eltern sind komisch, was Essen angeht. Habt Ihr keine Chips? fragt sie. Nein. Kekse? Nein. Wir stehen beisammen und starren in den Kühlschrank. Wir haben Erdnußbutter, verkünde ich. Sie zieht sie 'raus, steckt einen schmutzigen Finger hinein, leckt ihn ab. Schmeckt komisch, sagt sie. Ich weiß, sage ich. Ist nicht gesalzen. Sie zieht eine Grimasse, sagt igitt. Ich stimme zu. Wir starren in den Abgrund aus Nahrungsmitteln, die sich in zwei Kategorien aufteilen lassen: gesund.e Sachen und Sachen, die wir nicht kochen können, weil wir zu klein dafür sind - Möhren, Eier, Brot, eklige Erdnußbutter, Alfalfa-Sprossen, Gurken, ein Sixpack mit Diäteistee von Lipton, in blauen Dosen mit einer kleinen gelben Zitrone über dem Wort Tee. Dose an der roten Lasche öffnen. Wir könnten eine Scheibe Toast essen, biete ich an. Sie wirft einen Blick auf das Brot und erklärt: »Es ist braun.« Wir packen das Brot wieder weg. Plötzlich habe ich eine Idee: Wir machen uns Cornflakes! Wir öffnen einen der Unterschränke. Wir starren die Cornflakes an. »Die sehen aber komisch aus«, sagt sie. »Ich weiß«, sage ich. Ich ziehe eine Schachtel heraus, betrachte die ernährungsphysiologischen Informationen, lasse meine Finger an der Kante entlanggleiten und verkünde mit autoritärer Stimme: »Sie enthalten nur fünf Gramm Zucker.« Ich recke das Kinn und gebe an: »Wir essen keine Cornflakes mit Zucker. Das macht nämlich dick.« Gina will mithalten und sagt: »Ich würde noch nicht einmal das da essen. Ich esse nichts, das mehr als zwei Gramm Zucker hat.« »Ich auch nicht«, sage ich und werfe die Cornflakes in den Schrank, als ob sie vergiftet wären. Ich springe vom Boden auf, strecke Gina die Zunge heraus.,»Ich bin auf Diät«, sage ich. »Ich auch«, sagt sie, und ihr Gesicht verzieht sich zu einer finsteren Grimasse. »Nana-nah-na-nah-nah«, sage ich. »Ätschibätschle«, gibt sie zurück. Ich gehe zum Kühlschrank und hole mit viel Getöse den Diäteistee mit der kleinen gelben Zitrone heraus, öffne die Dose und schlürfe, ttthhhppppttt. Der Tee schmeckt wie Sägemehl und hinterläßt ein trockenes Gefühl im Mund. »Siehst du<~, sage ich und deute auf das Wort Diät, »wenn ich groß bin, werde ich genauso dünn wie meine Mutter sein. «
Ich denke an Ginas Mutter, von der ich genau weiß, daß sie gezuckerte Cornflakes und Müsll kauft. Ich weiß es, weil wir, immer wenn ich bei Gina schlafen darf, Erdbeerflakes bekommen, deren künstliche Lebensmittelfarbe die Milch rot färbt. Gina und ich saugen sie dann mit Strohhalmen auf und wetteifern darum, wer es lauter kann. »Deine Mama«, sage ich aus reiner Boshaftigkeit, »ist dick.«
Gina sagt: »Zumindest kann meine Mama kochen.«, »Meine Mama hat zumindest einen Job«, schreie ich. »Meine Mama ist zumindest nett«, sagt sie höhnisch. Ich haue ihr eine runter. Sie weint. »Baby«, sage ich. Ich stürme auf die Terrasse hinaus, klettere auf den Tisch, hole meine blaue Mickey-Mouse-Sonnenbrille aus Plastik hervor und stelle mir vor, daß ich die kultivierte Lady im Badeanzug aus dem Werbespot für Liptons Diäteistee bin, sonnengebräunt, langbeinig und dünn. Ich lehne mich lässig zurück und hebe die Dose an die Lippen. Ich trinke einen bitteren Schluck und verschütte den Rest auf melnem T-Shirt.
Am Abend kocht mein Vater das Abendessen. Ich schmiege mich an seine Knie und verkünde: »Ich habe keinen Hunger. Ich bin auf Diät.« Mein Vater lacht. Meine Füße baumeln vom Stuhl und stoßen an den Eßtisch, ich starre das Essen an, stochere darin herum, schaue mißtrauisch auf den Teller meiner Mutter, beobachte ihre nervösen, kleinen Bissen. Die Art, wie sie sich auf ihrem Stuhl zurücklehnt, wie sie die Gabel ablegt und hastig mit den Händen gestikuliert, während sie redet. Mein Vater beugt sich über seinen Teller, schlingt das Essen in großen Bissen hinunter. Meine Mutter schiebt ihren Teller von sich, er ist genau zur Hälfte leer gegessen. Mein Vater sagt zu ihr, daß es ihm nicht gefällt, wie verschwenderisch sie mit Nahrungsmitteln umgeht. Meine Mutter antwortet scharf: »Ich bin satt, Liebster.« Ich stoße meinen Teller weg und sage laut: »Ich bin satt.« Alle Augen richten sich auf mich. »Komm schon, Schweinchen«, sagt meine Mutter. »Noch ein paar Bissen. Noch zwei Happen.« »Drei«, sagt mein Vater. Wütend sehen sie einander an.
Ich esse eine Erbse.

Ich hatte niemals ein normales Verhältnis zum Essen, nicht einmal als Baby. Meine Mutter konnte mich nicht stillen, weil es ihr das Gefühl gab, verschlungen zu werden. Ich war gleichermaßen allergisch gegen Kuh- und Sojamilch. Meine Eltern mußten mich mit einer ekligen Mischung aus Schafs- und Ziegenmilch füttern, wovon beiden schlecht wurde. Ich aber trank sie offensichtlich immer bis zum letzten Tropfen leer. Später gaben sie mir Orangensaft in der Flasche, was jedoch meine Zähne ruinierte. Wahrscheinlich hatte ich schon im Mutterleib ein anormales Verhältnis zum Essen; auf jeden Fall waren die Ernährungsgewohnheiten meiner Mutter äußerst bizarr. Als Kind litt ich unter einer ganzen Reihe von Lebensmittelallerglen. Zucker, Lebensmittelfarben und Konservierungsstoffe machten mich zu einem hyperaktiven Kind, das nächtelang nicht schlafen konnte und seine Umwelt in Atem hielt. Meine Eltern legten für gewöhnlich Wert darauf, daß wir zusammen zu Abend aßen, daß ich drei Mahlzeiten am Tag bekam, daß ich nicht zuviel Fast Food und genug Gemüse aß. Doch es gab auch sporadisch auftauchende, geradezu paranoid anmutende Phasen, in denen die Familie sich ausschließlich »gesund« ernähren sollte. Diese wechselten mit Zeiten, in denen es nur Fast Food gab oder wir oft spontan noch um 11 Uhr nachts ins Restaurant gingen (wo ich dann regelmäßig unter den Tisch rutschte und einschlief).
Ich erinnere mich an Augenblicke, in denen ich normal zu sein schien: Pizzas auf Mitternachtsparties mit meinen Freundinnen, mit neun Jahren einen Sahnewindbeutel, den ich zum Valentinstag bekam, mit vier ein überbackenes Käsesandwich, das ich aß, während ich mich auf dem großen schwarzen Sessel im Wohnzimmer herumfläzte. Erst heute, da ich sie im Zusammenhang betrachte, kommen mir diese Ereignisse irgendwie seltsam vor beispielsweise die Tatsache, daß ich mich ganz genau an die Peperoni-Pizza erinnere, daran, wie wir alle betont sorgfältig das Fett mit unseren Papierservietten aufsaugten, und daran, wie viele Stücke ich aß (zwei) und wie viele Stücke alle anderen Mädchen aßen (zwei, außer Leah, die nur eines aß, und Joy, die sogar vier hinunterschlang), und an die unbezähmbare Angst, die dieser Aktion folgte, die Angst, daß mein Hintern gewachsen war und jetzt aus meinen kurzen Pyjamahosen hervorquoll. Ich erinnere mich daran, wie ich meine Mutter bat, mir Schokoladepudding zu machen. Ich erinnere mich, daß es vorher Steaks mit Erbsen gab. Und ich kann mich daran erinnern, daß meine Mutter am Samstagnachmittag, wenn alles ruhig war, überbacken-e Toasts oder Rühreier für mich zubereitete. Sie waren etwas Besonderes, weil sie sie für mich machte, weshalb ich überbackene Toasts und Rühreier immer mit Ruhe, meiner Mutter und friedlichen Samstagnachmittagen verbinde. Manche Menschen, die von Lebensmitteln besessen sind, werden Gourmetköche. Andere entwickeln Eßstörungen.

Ich hatte niemals ein normales Verhältnis zu meinem Körper. Er kam mir immer seltsam vor, wie ein fremdes Wesen. Soweit ich zurückdenken kann, war ich mir meiner Körperlichkeit bewußt, und zwar als einer Last. Meine erste Erinnerung ist die, wie ich im Alter von drei Jahren aus keinem besonderen Grund von zu Hause weglief. Ich denke daran, wie ich den Walnut Boulevard in Walnut Creek, Kalifornien, entlanglief und Rosen in den Vorgärten fremder Leute pflückte. Mein Vater, wütend und besorgt, fing mich wieder ein. Ich erinnere mich, wie ich nach Hause geschafft wurde und dort, zum ersten und letzten Mal in meinem Leben, den Hintern versohlt bekam. Ich schrie wie verrückt, daß er gemein und böse sei, dann versteckte ich mich im Wäschekorb, der im Kleiderschrank meiner Mutter stand. Ich erinnere mich daran, wie vergnügt ich darüber war, daß ich genau die richtige Größe für den Wäschekorb hatte, so daß ich mein ganzes Leben darin bleiben konnte. Ich saß dort wie ein Maulwurf in der Höhle und kicherte vor mich hin. Ich erinnere mich an die ganze Begebenheit, als ob ich mich selbst beobachte: Von der gegenüberliegenden Seite des Zimmers aus sehe ich zu, wie mein Vater mir eine Tracht Prügel verpaßt. Und als ich mich im Wäschekorb verkrieche, ist es, als ob ich mich von oben betrachte. Als ob ein Teil meines Gehirns sich abgespalten hätte und mich im Auge behielte, um ständig zu beobachten, wie ich aussehe.
Ich habe das Gefühl, als ob eine kleine Kamera an meinem Körper angebracht worden wäre, die alles, was geschieht, für die Nachwelt festhält: ein Kind, das sich über sein aufgeschrammtes Knie beugt, ein Kind, das die Mahlzeit auf seinem Teller hin und her schiebt, ein Kind, das mit einem Fuß auf dem Boden steht, während sein Halbbruder ihm den Schuh zubindet, ein Kind, das sich über den Sessel der Mutter beugt, während die Mutter zauberhafte Dinge aus Baumwolle und Spitze näht. Kleider, wie für Engel gemacht, entstanden unter ihren Händen und hingen schließlich auf einem Bügel an der Tür. Ein Kind in der Badewanne, das auf seinen im Wasser liegenden Leib hinabblickt wie auf einen Fremdkörper, der auf unerklärliche Weise mit seinem Kopf verbunden ist.
Die Erinnerungen an meine ersten Lebensjahre schwanken hin und her zwischen sinnlichen und physischen Wahrnehmungen: von der deutlichen Erinnerung an das Parfüm meiner Oma bis hin zu den Ohrfeigen, die ich mir selbst versetze, weil ich mich für fett und häßlich halte - ich sehe den roten Fleck auf der Wange, aber ich spüre keinen Schmerz. Nur wenige Dinge erinnere ich so, als ob ich sie selbst erlebt hätte. Ich erinnere mich nicht daran, wie es war, Dinge zu berühren, oder wie sich das heiße Badewasser auf meiner Haut anfühlte. Ich mochte es nicht, berührt zu werden, aber diese Abnelgung war in sich widersprüchlich. Ich ließ mich nicht gerne berühren, weil ich mich zu sehr danach sehnte. Ich wollte, daß man mich ganz fest hielt, damit ich nicht auseinanderbrach. Noch heute, wenn Menschen mich berühren, mich umarmen, mir eine Hand auf die Schulter legen, halte ich den Atem an, wende das Gesicht ab, will weinen.
Ich erinnere mich an meinen Körper wie eine Unbetelligte, die ihn von außen betrachtet. Es macht mich traurig, wenn ich darüber nachdenke, daß ich ihn so sehr gehaßt habe. Schließlich war es der typische Körper eines kleinen Kindes, rundlich, gesund, ein Körper, der gerne kletterte, nackt war, ein Körper mit sinnlichen Bedürfnissen. Ich erinnere mich an meine Bedürfnisse. Und ich erinnere mich, daß ich mich ihrer schämte und mich gleichzeitig vor ihnen fürchtete. Ich hatte das Gefühl, daß meine Sehnsüchte mir ganz allein gehörten, ebenso wie die Schuldgefühle, die sie verursachten.

Noch bevor ich es aussprechen konnte, lernte ich, daß der Körper - mein Körper gefährlich war. Er war ein dunkler, feuchter Sumpf, möglicherweise sogar schmutzig. Und verschwiegen. Der Körper schwieg, und man sprach nicht über ihn. Ich vertraute ihm nicht. Er kam mir vor wie ein Verräter. Ich beobachtete ihn mißtrauisch. Später lernte ich, daß es sogar breitangelegte Studien gibt, die dieses spezifische Gefühl von Frauen mit Eßstörungen untersuchen, sich selbst von außen zu betrachten, als ob es einen Großen Wächter gäbe, der sie ständig im Auge behielte. Dabei richten sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf ihren Körper, an dem sie mit der Zeit immer mehr Fehler entdecken.

Mein ganzes Leben kommt mir vor wie eine Folge von Spiegeln. Meine kindliche Welt war bestimmt von Spiegeln, Schaufenstern, reflektierenden Motorhauben. Überall sah mich mein Gesicht an, ängstlich, suchte nach einem Härchen, das nicht an seinem Platz war, nach etwas, das anders war, prüfte, ob meine Shorts noch richtig saßen oder ob nicht vielleicht die Bluse rausgerutscht war, betrachtete meinen Hintern, der zu dick, oder meine Oberschenkel, die zu schwabbelig waren. Mit fünf Jahren begann ich, den Atem anzuhalten, damit mein Bauch sich nach innen wölbte. Und dabei ertappe ich mich manchmal auch heute noch. Ich hastete neben meiner Mutter her, eine kleine Nörglerin, die in. jede spiegelnde Oberfläche blickte. Und meine Mutter rümpfte die Nase und sagte: »O Maryal. Du bist so eitel.«
Heute glaube ich, daß sie mit dieser Einschätzung im Unrecht war. Es war keineswegs Eitelkeit, die mich veranlaßte, mein Gesicht in jedem Spiegel wieder aufs neue zu suchen. Im Gegenteil: Meine Wachsamkeit hatte einen anderen Ursprung: Ich wollte mich davon überzeugen, daß ich, zumindest oberflächlich betrachtet, akzeptabel aussah, ich hatte das Bedürfnis, mich davon zu überzeugen, daß ich immer noch da war.
Ich war etwa vier, als ich dem Spiegel zum ersten Mal völlig verfiel. Ich saß im Badezimmer meiner Mutter, sang vor mich hin und spielte Verkleiden. Ich wühlte mich durch ihre große magische Kiste mit Bühnenmakeup, die einen moschusartigen Duft verströmte, wenn man das Messingschloß öffnete. Ich schminkte mir das Gesicht: Sorgfältig trug ich Blau und Grün auf die Augenlider auf, leuchtend rote Streifen auf die Wangen, grellen orangefarbenen Lippenstift auf den Mund; dann betrachtete ich mich lange im Spiegel. Plötzlich fühlte ich, wie mein Gehirn sich spaltete: Dieses Mädchen dort war mir gänzlich unbekannt. Ich wurde zu zwei Personen: zu dem Menschen in meinem Kopf und dem Mädchen im Spiegel. Es war ein seltsames, aber keineswegs unangenehmes Gefühl der Desorientierung, der Dissoziation. Häufig kehrte ich zum Spiegel zurück, um zu schauen, ob ich dieses Gefühl wiederbeleben konnte. Wenn ich ganz still dasaß und dachte: Nicht ich - nicht ich - nicht ich, immer wieder, dann fühlte ich mich bald wieder wie zwei Mädchen, die einander durch das Glas des Spiegels hindurch ansahen.
Ich wußte damals nicht, daß dieses Gefühl meine Zukunft bestimmen würde. Ich und Abbild. Körper und Geist. Die Phase des »Spiegelstadiums« in der kindlichen Entwicklung bekam für mich eine neue Bedeutung. »Spiegelstadium« - dieser Begriff beschreibt das Wesen meiner Existenz.
Plötzlich tauchten überall Spiegel auf. Ich war vier, vielleicht fünf Jahre alt, in der Ballettstunde. Das Studio auf der Main Street war von Spiegeln gesäumt, die die Sonne des Samstagmorgens reflektierten, ebenso wie eine Gruppe niedlicher kleiner Mädchen in babyblauen Gyn-inastikanzügen - und mich. Ich hatte einen nagelneuen blauen Gymnastikanzug an, nicht babyblau, sondern strahlend blau. Ich stach wie ein stahlblauer Daumen aus der Gruppe hervor. Ständig löste sich mein Haarknoten. Ich stand an der Ballettstange, betrachtete meinen Körper - wieder und wieder - ich in meinem blauen Gymnastikanzug - und plötzlich packte mich blankes Entsetzen: Ich war in diesem Raum der vielen Spiegel gefangen.
Ich bin keineswegs schmächtig, sondern eher recht stabil gebaut. Eine mesomorphe Statur: wenig Fett, viel Muskeln. Ich kann einen Ball problemlos viele Meter weit schießen oder einem Typen die Nase blutig schlagen. Mit anderen Worten: Ich bin fürs Boxen und nicht fürs Ballett geschaffen.[3]
So bin ich auf die Welt gekommen - selbst auf Babyphotos sieht man meine stämmige und muskulöse kleine Gestalt durch die Rosen stapfen. Mit vorgeschobenem Kopf renne ich auf das Gartentor zu. Aber mit vier Jahren stand ich, eine winzige Eva, im Ballettsaal und erstickte fast vor Scham über meinen Körper, über die Kurven und die ebene Fläche meines Bauches und meiner Schenkel. Mit vier Jahren wurde mir klar, daß ich den Ansprüchen nicht genugte. Mein stämmiger Körper war einfach zuviel. An diesem Tag kehrte ich vom Tanzkurs nach Hause zurück, zog einen Pullover meines Vaters an, rollte mich auf meinem Bett zusammen und weinte. Abends kroch ich in die Küche, wo meine Eltern gerade das Abendessen kochten. Mit dem Kopf reichte ich immer noch nicht ganz bis zum Küchentisch. Ich erinnere mich, wie ich es ihnen sagte, wobei ich das bittere Geständnis kaum über die Lippen brachte: Ich bin dick.
Da ich nichts dergleichen war, hatten meine Eltern keinen Grund, anzunehmen, daß ich tatsächlich daran glaubte. Beide zogen ein Gesicht, ein Gesicht, das ich später hassen lernte, ein Gesicht, das mir sagte: O bitte, Maya, mach dich doch nicht lächerlich. Und sie gaben einen verächtlichen Laut von sich, zzzzsh. Sie kochten weiter. Ich schlug mir kräftig auf den kleinen Bauch und brach in Tränen aus. Das Gesicht meiner Mutter verzog sich tadelnd, und sie warf mir diesen bestimmten Blick zu, den ich später das Fliegenklatschengesicht nannte. Es war, als ob sie mich allein dadurch, daß sie mich ansah, zum Verschwinden bringen konnte. Zzzsh-klatsch. Ich trat gegen den Schrank, und sie warnte mich: »Paß bloß auf.« Ich schlich mich auf mein Zimmer.

Und dann erinnere ich mich an das Fitneßstudio für Frauen, in das meine Mutter mich mitnahm. Ich erinnere mich vage, daß vor dem Trainingsraum die Plastikimitation der Venus von Milo stand, der eine Brust und beide Arme fehlen. Drinnen warf der Fitneßwahn der achtziger Jahre seine Schatten voraus: Frauen hüpften herum, schoben den Hintern rauf und runter und hoben die gewichtbeschwerten Beine wie Hunde am Baum. Sie alle hatten einen gequälten, verängstigten Gesichtsausdruck, der am besten von Galway Kinnell beschrieben wurde: »Als ob es eine Hölle gäbe und sie entschlossen wären, sie zu finden.« Außerdem gab es in diesem, Fitneßstudio eine Art Krabbelstube. Das Ganze war als eine Art Käfig angelegt. Zumindest verliefen Stangen vom Boden zur Decke, und die kleinen Gören mit den klebrigen Fingern hängten sich daran und schluchzten nach ihrer Mami. Mami trug einen komischen Badeanzugverschnitt, kugelte sich mit ein paar anderen mageren Damen auf dem Boden herum, die immer knochiger wurden und hinterher gar nichts mehr hatten, worauf das Sitzen Spaß gemacht hätte. Die kleinen Kinder im Kinderkäfig weinten und stritten sich um den einen Ball, der zu unserer Unterhaltung bereitgestellt war. Es gelang mir, die Tür zum Käfig zu öffnen, eine Tür aus schmiedeeisernen Stangen. Ich stellte mich darauf und schaukelte vor und zurück, während ich meine Mutter und den Rest dieser Frauen dabei beobachtete, wie sie herumhüpften und sich auf der Erde rollten, um ihrem Körper etwas mehr Grazie zu verleihen. Ich erinnere mich daran, wie ich sie in den Spiegeln, die die Wände säumten, beobachtete. Viele, viele verrückte Frauen. Im Kopf teilte ich sie ein, ordnete sie nach Schönheit, Haarfarbe, der Farbe ihrer Sportanzüge und was mir das meiste Vergnügen bereitete - nach Schlankheitsgrad.
Etwa zehn Jahre später würde ich genau das gleiche tun, während ich in einer kleinen Klinik für eßgestörte Jugendliche - dem Methodist Hospital Eating Disorders Institute - meine Ferien verbrachte. Nur diesmal gehörte ich selbst ebenfalls zu den Gestalten, die ich im Kopf katalogisierte, und so mager, wie wir waren, war keiner von uns noch in der Lage, herumzuhüpfen. Wir verfertigten Stickarbeiten im Kreuzstich oder spielten auf dem Boden Solltaire, und aus den Augenwinkeln betrachteten wir aufmerksam die Körper der anderen, ganz ähnlich, wie Frauen in einem Fitneßstudio es zu tun pflegen: Immer stellen sie sich die Frage, ob die andere Frau vielleicht schlankere Hüften hat als sie selbst. Und immer finden sie sich zu dick. Immer haben sie das Gefühl, zuviel Raum in der Welt einzunehmen.

Ich wurde in Walnut Creek, Kalifornien, geboren. Meine Eltern sind außergewöhnlich intelligente, humorvolle und wunderbare Menschen, die vielleicht nur besser nie ein Kind bekommen hätten. Aber ich selbst besaß auch keine große Begabung zum Kindsein, das muß ich zugeben. Vielleicht wäre ich besser voll entwickelt zur Welt gekommen, wie das Kind von Mork und Mindy, die einen alten Mann aus einem Ei ausbrüteten, der mit der Zeit immer jünger wurde. Meine Zeugung war ein Unfall. Als meine Mutter erfuhr, daß sie schwanger war, schloß sie sich drei Wochen lang im Schlafzimmer ein und weinte, während mein Vater im Garten unter dem Kirschbaum stand und rauchte wie ein Schlot. Zum Zeitpunkt meiner Geburt hatten sie den Schock dann wohl verarbeitet, denn ich wurde mit erheblich mehr Freude begrüßt, als man es nach solch einem Beginn hätte erwarten können. Ich hatte eine glückliche Kindheit. Ich war zwar kein glückliches Kind, aber zumindest fand ich das Leben spannend. Ganz bestimmt sogar dramatisch.
Ich erinnere mich daran, daß es eine Zeit gab, in der alles vollkommen normal verlief. Ich kletterte auf die Hügel hinter dem Haus, rutschte auf Papiertüten die Abhänge hinunter, spielte im Bach, kletterte auf den Kirschbaum. Ich kann mich nicht erinnern, daß meine Kindheit besonders chaotisch verlief, obwohl ich sie im Rückblick so bezeichnen würde. Ich wußte nie, wie ich andere Menschen einschätzen sollte, was sie als nächstes tun wurden, ob sie dasein oder fortgehen würden, ob sie verrückt oder gemein, glücklich oder warmherzig waren. Die Farben, die meine Erinnerung mit jener Zeit verbindet, sind Grün und Gold - die Bäume und die Hügel - und dann die Hitze, die unglaubliche Hitze. An Sommerabenden, wenn die Sonne noch nicht ganz untergegangen war, wälzte ich mich auf dem Bett hin und her. Durch die geöffneten Fenster konnte ich das Klirren von Gläsern und den. Klang der Stimmen auf der Terrasse hören. Ich nahm die betäubende Sommerluft wahr, den Staub, den Garten, die herrlichen Blumen, den starken Duft der Eukalyptusbäume, der sich in die Lungen ergoß. Die spätsommerliche Brise, die flimmernde Luft über der Straße hinter dem Bach, das grau gesprenkelte Pferd im Hof am Ende der Straße, die Kirschen, an denen ich mich verschluckte, weil sie so sauer waren, und die Zitronenbäume, die Walnußbäume, die Frauen in Weiß. Die rosa Steintreppenstufen und das rosa Stuckhaus, die Orangen, die wir mit einer fremden Frau aßen. Parfüm und Zigarettenrauch, späte Stunden auf Parties, wo ich unter den Mänteln der Gäste auf dem Bett einschlief, die flüchtigen Träume, die diese Phasen des Schlafes begleiteten und die mit Schatten und Worten durchsetzt waren. Der Blick eines Dreikäseliochs auf eine Welt, die er nur auf HinternEbene erlebt, ständig auf der Suche nach dem Hintern der Mutter in der Menge, während er den Geruch und das Schimmern des Weins in den Gläsern wahrnimmt. Das Lachen von Männern mit Bärten und Hängebäuchen, die Smokings, ein Wirbel aus Kostümen und Masken. Ich betrachtete die Welt durch das Schlüsselloch meiner jungen Jahre und streckte meine kleine Hand aus, um sie zu berühren.
Meine Kindheit war nicht unglücklich, nur unbehaglich. Ich hatte das Gefühl, einerseits ein ganz normales Leben zu führen und mich andererseits ständig von außen zu beobachten. Ich sehnte mich danach, dazuzugehören, und fürchtete mich zugleich vor dem, was geschehen würde, wenn meine Sehnsucht sich erfüllte. Tatsächlich verlief mein ganzes Leben so: Ich betrat die Alltagswelt und verließ sie wieder, war von ihrer Sinnlichkeit fasziniert, und gleichzeitig machte sie mir angst. Die Parallelen in meinem Verhältnis zum Essen und zu meinem Körper sind offensichtlich: Bullmie - im Essen schwelgen und es dann erbrechen; Anorexie - das Essen verweigern und im Hunger schwelgen.
Als Kind war ich ständig unterschwellig nervös, als ob mir immer Gefahr drohte: Da war immer etwas
Dunkles und Bedrohliches, ein tiefer Punkt im Wasser, ein Ort, der still und kalt war. Ich befürchtete, daß der Schah von Persien, den ich im Fernsehen gesehen hatte, unter meinem Bett lag und nur darauf wartete, mich zu schnappen und zu verschleppen. Ich hatte schrecklich, schrecklich viel Angst vor der Dunkelheit und vor meinen Träumen, in denen ein furchteinflößender Ziegenmailn mich nachts, wenn ich schlief, kidnappte. Menschen machten mich nervös. Ich zog es vor, bei fest verschlossener Tür auf meinem Zimmer zu bleiben, die Kommode vor die Tür zu schieben (sie wog nicht allzu viel) und mich dann mit einem Buch auf dem Bett zusammenzurollen.
Zehn Jahre später wird in den Therapieaufzeichnungen stehen:

»Marya will in ihrer privaten Welt leben ... es fällt ihr schwer, anderen Menschen zu vertrauen ... sie neigt dazu, andere Menschen auszuschließen, wenn sie ihr zu nahe kommen.«

Außerdem notieren die Therapeuten folgendes:

»Übermäßig wachsam. Ausgeprägte Angst vor dem Verlassenwerden. Kontrolliert diese Verlustangst durch Angst vor Nahrung.«

Die Welt außerhalb meines Zimmers kam mir verführerisch, faszinierend, aber auch sehr gefährlich vor. Dieses Bewußtsein der Gefahr wuchs durch die übertriebene, fast schon paranoide Beschützerhaltung meines Vaters. Das Gefühl der Unzulänglichkeit angesichts einer bedrohlichen Welt fand Bestätigung in den Versuchen meiner Mutter, mich zu bremsen. Ich mißdeutete ihre Ratschläge. Heute sagt sie mir, daß sie sich Sorgen wegen meiner hochfliegenden Träume machte und fürchtete, ich würde umso tiefer fallen und mich schlimm verletzen. Ich jedoch sah nur ihre skeptisch in die Höhe gezogenenAugenbrauen, wenn ich ihr erzählte, daß ich am Nachmittag geflogen war. Ich sah nur ihren schmalen, geraden Rücken durchs Haus huschen., während ich liinter ihr her trottete und ihre selektive Taubheit zu durchdringen versuchte: »Mama. Mama. MAMA! « »Was?« sagte sie dann schließlich. »Laß das Geschrei.« Ich war etwa vier: Meine Mutter saß im Wohnzimmer, hielt sich die Ohren zu und versuchte zu lesen, während ich auf dem Klavier herumklimperte: »Mama! Hör doch mal! Mama! Hör doch mal!« »Was denn, Marya?« fragte sie. »Ich spiele Bach! Mama!« Sie erhob sich von der Couch und verließ das Zimmer, ihre Stimme und der Duft nach Chanel Nr.5 wehten hinter ihr her: »O Marya«, sagte sie. »Das ist doch nicht Bach.« Ich hörte auf herumzuklimpern. Das weiß ich doch, dachte ich.

Laut Therapieaufzeichnungen sahen meine Eltern die Notwendigkeit, »meine Erwartungen herunterzuschrauben«. In einer einzigen Sitzung erwähnten sie, offensichtlich nicht nur einmal, sondern gleich viermal, Pläne, die ich im Alter von drei Jahren für eine Geburtstagsparty machte und die - zugegebenermaßen - ziemlich exaltiert waren. Ihr »Zurückschrauben« meiner Erwartungen kam mir eher vor wie der anhaltende Zweifel an meiner Fähigkeit, mir auch nur die Nase zu putzen. Und dieses Gefühl dauerte von meiner frühen Kindheit bis, oh, bis zum letzten Jahr an. Und es hatte eine interessante Auswirkung: Mein Verhalten wurde immer großspuriger, während ich selbst immer unsicherer wurde und bezweifelte, auch nur die einfachsten Aufgaben ausführen zu können, ganz zu schweigen davon, irgendwelche nennenswerten Erfolge zu erzielen.[2] Meine Eltern glaubten, daß sich sicher bald alles wieder einrenken wurde. Wer weiß? Vielleicht hätte es so kommen können. In den Therapieaufzeichnungen steht: Ängste, Alpträume, zuviel Phantasie.
Der Schrei in der Nacht, das Schluchzen, während ich hastig durch das riesige dunkle Haus stolperte, den schier endlosen Weg bis zur Tür meiner Eltern zurücklegte, das unzusammenhängende Gebrabbel über Monster, die Pennies aus meiner Spardose stahlen, das verzweifelte Weinen: Ich weiß nicht einmal mehr, wie viele noch drin sind, heulte ich. Mein Vater, mit Bartstoppeln und in gestreiftem Pyjama, setzte sich schläfrig in seinem Bett auf, trug mich in mein Zimmer zurück, setzte sich neben mich auf die Bettkante und sang mir im Dunkeln etwas vor, bis ich wieder einschlief. Dann der Kassettenrecorder, den ich unter mein Kopfkissen legte, um mir Geschichten auf Kassette anzuhören. Wenn ich ihnen nachts nur lang genug lauschte, dann würde der Morgen kommen, aber wenn ich nicht zuhörte, dann würde das schreckliche Gebet wahr werden: »Wenn ich sterben sollte, bevor ich aufwache...«.
Die Psychologen kritzeln Worte auf ihre Notizblöcke: Magisches Denken. In ihren Büchern nennen sie dies »eine Disposition, die das Metaphorische als Faktum definiert« und die mit der Neigung einhergeht, Objekten »primitive, magische Kräfte« zuzuweisen.«[2] So weise ich auch Nahrungsmitteln magische Kräfte zu. Ich bin drei, als ich auf einem Stuhl stehe und mir selbst ein Erdnußbuttersandwich mache. Ich weiß: Wenn ich dieses Sandwich mit genau zwanzig Bissen, nicht mehr und nicht weniger, esse, dann werde ich glücklich sein. Wenn ich mehr als zwanzig Bi.sse dafür brauche, werde ich traurig sein. Mit neunzehn Jahren und 30 Kilo Körpergewicht entwickle ich dann eine ganz ähnliche Vorstellung: Wenn ich nur einen Becher Joghurt am Tag esse und dafür genau zwei Stunden brauche, und wenn ich zusätzlich alle fünfzehn Minuten eine Zigarette rauche, um mir zu beweisen, daß ich mit dem Essen aufhören kann, wann ich will, dann bin ich in Sicherheit. Auf diese Weise bewahre ich die diktatorische Kontrolle über meinen Körper, mein Leben, meine Welt. Aber wenn auch nur ein Bissen »unsicheres« Essen. über meine Lippen kommt, wird es nicht auf die übliche biologische Weise von meinem Körper verarbeitet werden, sondern auf magische Weise dazu führen, daß mein Körper wächst, wie bei Alice im Wunderland, als sie einen Bissen vom falschen Kuchen aß.
Viele Kinder entwickeln komplizierte Selbstschutzmechanismen, die ihnen das Gefühl geben, ihre Umgebung kontrollieren zu können: Sie erfinden imaginäre Freunde, bestimmte Arrangements von Stofftieren, die sie im Arm halten, wenn sie schlafen gehen. Mit zunehmendem Alter halten sie immer weniger an diesen Systemen fest, denn sie entwickeln ein Gefühl der inneren Sicherheit, ein Gefühl, daß die Welt ihnen nicht ausschließlich feindlich gesonnen ist. Meine Systeme präzise Anordnungen von Nippes auf meiner Kommode, von Stofftieren, die mit »urtümlichen, magischen Kräften« ausgestattet waren, genaue Vorschriften, wie ich die Straße entlanggehen mußte, und ein seltsam ritualisiertes Eßverhalten, selbst in frühester Kindheit (die Anzahl der Bissen, die Größe der Bissen und die Anzahl der Kaubewegungen betreffend) - wirkten wie ein Puffer zwischen mir und der Welt. Meine Konzentration auf Details beruhigte mich. Ich weigerte mich einfach, die Welt als größeren Zusammenhang zu sehen, und wenn ich es doch einmal tat, dann weiteten sich meine Pupillen vor Angst, ich blinzelte und wich ihrem bösen Blick aus.
Auch eine Eßstörung ist ein solches System. Durch sie fühlte ich mich sicher, was letztlich nur ein Indiz dafür ist, wie unsicher ich war.
Im Rückblick bestand das Problem unter anderem auch darin, daß viele widersprüchliche Dinge auf einmal geschahen. Ich lebte in einer vollkommenen kleinen Familie, bestehend aus drei Menschen, wir drei gegen die Welt, eine verschworene Gemeinschaft. Wir standen einander sehr nahe - die meiste Zeit über zumindest. Aber es irritierte uns, wie schnell sich das Leben veränderte. Plötzlich stand die Welt auf dem Kopf, und dann wieder auf den Füßen; die vollkommene kleine Familie wurde von der kleinsten Berührung auseinandergerissen, das Team zersplitterte in kleinere Bündnisse, wobei die Spieler ohne Vorwarnung die Mannschaft wechselten. Mein Vater, ein brillanter Mann, der unter schweren Depressionen litt, war wechselweise voller Bewunderung und voller Unsicherheit. Meine Mutter, eine wundervolle Frau, die ihre Gefühle zu verdrängen pflegte, war wechselweise zärtlich und eisig. Meine Kindheit war der Fahrt in einem Autoscooter vergleichbar. Wir rasten herum wie die Verrückten, stießen zusammen und prallten wieder voneinander ab. Mir machte das damals nichts aus. Normalerweise zog ich mich in mein Zimmer oder ins Bad zurück, wo alles ruhig und beständig war. Die weißen  Vorhänge waren immer die gleichen. Der Bettüberwurf mit den kleinen rosa Blumen war immer der gleiche, ebenso wie meine endlosen Sammlungen - Steine, Dosen, Federn, Nippes und Tonenten, die mit Sorgfalt auf meiner Kommode angeordnet wurden - immer wieder zwanghaft organisiert, abgestaubt und arrangiert. Die Bücher und die Ecke, in die ich mich verkroch, waren immer dieselben.
Meine Eltern dagegen, waren niemals dieselben. Wenn ich meine Schlafzimmertür öffnete, konnte ich nie sicher sein, was ich vorfinden würde: meinen Vater, liebevoll, fröhlich. und spielbereit? Meinen Vater, der mit rotem Gesicht meine Mutter anschreit? Den Hund tritt? Meine Mutter, heiter und zum Plaudern aufgelegt? Meine Mutter mit steinernem Gesicht, die meinen Vater angiftet? Die in raschelnder Seide zur Tür hinausrauscht? Meine Eltern, eine Einheit, elegant, nach Parfüm und Scotch duftend, die um 11 Uhr nachts noch zum Essen ausgehen will? Meine Eltern, eine Einheit, die mit besorgten Gesichtern wissen will, warum ich denn so weine?
Oder würde ich mich in einem leeren Haus wiederfinden? Die Babysitterin vor dem Fernsehen sieht sich Loveboat an, bietet mir ungetoastete englische Muffins mit Honig an. Nein danke, sagte ich. Ich wartete auf meinem Zimmer, unter einer Decke in meinem Schrank, die Taschenlampe in der einen und das Buch in der anderen Hand, bis ich das Auto vorfahren hörte. Dann die gedämpften Streitgespräche, die zuknallenden Türen. Dann schoß ich zu meinem Bett hinüber, zerrte mir die Decke über den Kopf, vergrub den Kopf in den Kissen, preßte die Lider aufeinander und stellte mich schlafend.

Bei bullmischen jungen Frauen geht man davon aus, daß sie aus chaotischen Familien stammen. Bei Frauen, die unter Anorexie leiden, nimmt man an, daß die Ursprungsfamilien eine sehr strenge Kontrolle ausüben. Zufällig war in meiner Familie beides gleichzeitig der Fall.
In unserer Kindheit lernen wir, uns zu beherrschen uns zu beruhigen, die Tränenflut zu stoppen, unserer Ängste Herr zu werden. Hierbei handelt es sich um einen notwendigen Prozeß. Normalerweise beobachten Kinder ihre Eltern, nehmen sie als Vorbild und ahmen sie nach. Aber man bekommt ganz schöne Probleme, wenn die Mittel der Selbstregulierung, die die Eltern anwenden, etwas seltsam sind.

Mein Vater aß wie ein Scheunendrescher, soff wie ein Loch, rauchte wie ein Schlot und schrie ständig herum. Meine Mutter hörte auf zu essen, wurde immer dünner, schärfer, stiller. Ich beobachtete sie und richtete mich nach beiden: essen, übergeben, verhungern, schreien, ausreißen, verschwinden, wiederauftauchen, schreiend und mager, rauchen, rauchen, rauchen. Natürlich gab es noch zahlreiche andere Faktoren, die zu meiner Eßstörung beitrugen, aber eigentlich tat ich nichts anderes, als die typische Situation am heimischen Abendbrottisch zu verarbeiten und auszufeilen. Meine Beziehung zu meinen Eltern war zwar immer sehr komplex, trotzdem bleibt die einfache Tatsache, daß sie beide Nahrung als Kommunikationsmittel einsetzten: der eine aß übermäßig viel, die andere verzichtete fast völlig darauf. Essen war gleichzeitig Trost und Suche. Es war von Anfang an ein Problem in meiner Familie. Ein großes Problem. In der Psychologie geht man davon aus, daß es zwei Elemente gibt, die allen Ursprungsfamilien anorektischer Frauen gemeinsam sind: zum einen die Konzentration auf Nahrung und Diät und zum anderen eine signifikante Persönlichkeitsstörung bei einem oder beiden Elternteilen.[3] Mein Vater war ein Quartalsäufer, er aß ständig und machte sich geradezu zwanghafte Sorgen um sein Gewicht - er hielt Diät und geißelte sich selbst, wenn er sie nicht durchhielt, bezeichnete sich selbst als Schwein.[4] Meine Mutter war eine ehemalige - oder vielleicht auch heimliche? - Bulimikerin mit seltsamen Eßgewohnheiten. Eine Weile aß sie normal, dann hielt sie Diät, stocherte in ihrem Essen herum, stieß den Teller weg, starrte im Spiegel ihren Hintern an.
Wenn man die beiden beobachtete, bot sich einem folgendes Bild: Mein Vater, unersättlich, versuchte meine Mutter zu verschlingen. Meine Mutter, hochmütig und mit steifem Rücken, ließ meinen Vater unberührt auf dem Teller liegen. Genausogut hätten sie sich ständig anschreien können: Ich brauche dich/ich brauche dich nicht.
Und ich saß auf meinem Stühlchen neben ihnen zwei, drei, vier Jahre alt - weigerte mich, zu essen, was sie von der förmlich greifbaren Spannung zwischeneinander ablenkte. Ich wurde zu ihrem Bindeglied, zu dem einzigen Thema, bei dem sie sich einig waren. Schweinchen, sagten sie, bitte iß etwas.
Ich war, so sagen uns die Psychologen später, die Person, die in unserer Familie die Symptome entwickelte. Man führt ein Pantomimenspiel auf, eine Darstellung der Familienprobleme, und übernimmt alle Rollen. Das Publikum - in diesem Fall die Eltern applaudiert, und die Pantomimin verbeugt sich. Der eigentliche Hintergrund aber ist, daß die ganze Familie jede Menge Wind um die betreffende Person macht und deshalb für eine Welle mit dem Streiten aufhört. Doch dieser Mechanismus wirkt nur beim ersten oder zweiten Krankenhausaufenthalt. Danach halten sie einen sowieso nur noch für verrückt, deshalb muß man eine neue Legitimation dafür suchen, daß man sich zu Tode hungert. - Denn darauf läuft es immer hinaus. - »Die Eltern anorektischer Personen sind häufig sehr stark auf sich selbst fixiert, scheinen nach außen hin allerdings sehr besorgt um andere Familienmitglieder zu sein.«[4] Ich war das einzige Kind, wa-s ein ziemliches Unglück ist, denn Einzelkinder sind der ganze Stolz der Eltern, die Freude und der Fluch ihrer Existenz - alles auf einmal. Man erhält ein Übermaß an Aufmerksamkeit und beginnt, seine Umwelt zu manipulieren. Aus einer früheren Ehe hatte mein Vater zwei Söhne Zwillinge -, die sich ab und zu bei uns aufhielten und die ich liebte und bewunderte. Wenn sie nicht da waren, gab es keine mildernden Umstände, nichts, was die Aufmerksamkeit meiner Eltern von mir abgelenkt hätte. Der Zorn meiner Eltern richtete sich in gewisser Weise immer auf mich, wurde durch mich kanalisiert, auf mich projiziert.
Um das, was offensichtlich nicht funktioniert, doch noch zum Laufen zu bringen, reißt man sich ständig beide Beine aus. Man stellt sich vor, ein kleiner Herkules zu sein, die zankenden Eltern auf die Schultern zu hieven und sie umherzutragen. Doch irgendwann ist man es leid. Man weiß, daß man sich eines Tages aus dem Staub machen wird. Erst einmal allerdings immer schwächer wird. Sie dann fallen läßt - oh. Man schlägt seinen ständigen Wohnsitz in einem Krankenhausbett auf, wo man im Zentrum des Interesses steht. Wo man selbst, rachsüchtig und infantil, wie man ist, die eingesunkenen Augen auf sie richten und sagen kann: J'accuse.
Woraufhin sie prompt anfangen, sich gegenseitig die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben, daß man so verkorkst ist.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß es eindeutig nicht ihre »Schuld« ist. Wenn jemand Ihnen sagt, daß Sie von der Brücke springen sollen, dann müssen Sie nicht springen. Aber wenn Sie springen, können Sie es sich leicht machen und behaupten, man hätte Sie gestoßen. Es wäre so einfach, meinen Eltern die Schuld für alles zu geben, wenn mir nicht schmerzhaft bewußt wäre, wie neugierig ich selbst darauf war, wie es sich anfühlen würde, zu fallen.
Die Psychologie nennt dies »Dreieckskonstellation«. Sie spricht in diesem Fall von Identitäts-und Autonomiekonflikten innerhalb der Familie: jedes Familienmitglied schenkt den Ideen, Gedanken und Bedürfnissen der anderen mehr Aufmerksamkeit als seinen eigenen. Die Psychologen behaupten, daß »anorektische Personen von frühester Kindheit an gelernt haben, eher auf die Art und Weise zu reagieren, wie andere ihre Bedürfnisse wahrnehmen, als auf die Bedürfnisse selbst.«[5] Wir sind Bauchredner auf höherer Ebene: Papa findet, daß Mama ihn grausam behandelt, deshalb lädt er Marya zum Eisessen ein. Marya ist dankbar und anhänglich, weshalb Papa froh und Mama eifersüchtig ist. Mama glaubt, daß Papa sie aus der Familie drängt, deshalb kauft Mama Marya neue Bücher, die Papa für nicht kindgerecht hält, und sie streiten darüber in der Küche, während Papa das Abendessen kocht.[5]
Oma Donna, Mamas Mutter, kommt zu Besuch und sagt zu Marya, daß sie nicht so fett wäre, wenn ihr Vater ihr nicht dauernd etwas zu essen gäbe (Oma Donna ist völlig blind, und Marya ist nicht fett). Oma Ellen, Papas Mutter, kommt zu Besuch und steckt Marya unaufhörlich Süßigkeiten zu, wobei sie bissige Kommentare darüber macht, wie dürr Mama ist.
Ich habe die Erwartungen meiner Eltern nicht erfüllt. Mein Vater erwartete - oder hoffte zumindest darauf -, daß ich ihn bewundern und ihm das Gefühl geben würde, gebraucht zu werden. Ich sollte immer Kind bleiben, jetzt und in alle Ewigkeit. Im Gegensatz dazu erwartete meine Mutter eine Minlaturerwachsene. Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen, sagte sie. Das verwirrte mich. Ich war doch schließlich ein Kind, aber trotzdem hatte ich verstanden. Hör auf, dich wie ein Kind zu benehmen. Sei, was du willst, aber laß es keinen merken. Zieh kein Gesicht, lerne auswendig, was du antworten sollst, setz dich gerade hin. Benutze die richtige Gabel, lege die Serviette in den Schoß, sag Entschuldigung, sag bitte, lächle, verdammt noch mal, lächle, hör mit der Heulerei auf, quengle nicht herum, frag nicht dauernd, warum, weil ich es gesagt habe, verdammt noch mal, gib keine Widerworte, paß auf, was du sagst, benimm dich, beherrsch dich. Ich hatte immer ein bestimmtes geistiges Bild von mir, Flüssigkeit drang durch die Hülle meiner Haut nach außen, meine Tränen fluteten den Raum. Ich biß mir auf die Lippe, bis sie blutete, und legte die Stirn in tiefe, grimmige Falten.
Als ich etwa fünf war, begann ich, ohne daß ich es hätte aussprechen können, zu glauben, daß alles gut würde, wenn es mir nur gelänge, meinen Körper zu beherrschen. Wenn meine Körperflüssigkeiten den Raum nicht mehr erfüllten, hätte ich die Kontrolle. Wenn ich ein schmächtiger, ordentlicher, knochiger kleiner Schatten meiner selbst wäre, dann würde die krachende Flutwelle meines Selbst, das in meiner Haut steckte, verebben, die Gefahr der Überflutung und des Übermaßes wäre gebannt, alles wäre still. Ich schloß mich im Badezimmer ein, stand am Spülbecken und starrte auf den Körper, den ich vor mir im Spiegel sah. Ich weinte. Und dann kniff ich mich selbst, so, daß es weh tat, und befahl mir, mich nicht länger wie ein Baby zu benehmen. Heulsuse, dachte ich bei mir. Fettes, kleines Schwein.
Die Verhaltensmuster in eßgestörten Familien sind in gewisser Weise so verschieden und unvorhersehbar wie das Bild in einem Kaleidoskop. Andererseits sind sie aber auch wieder so vorhersagbar wie das Aufgehen und Untergehen der Sonne. In früheren Studien waren die Psychologen absolut davon überzeugt, daß die folgenden Zutaten notwendig wären: eine übermächtige, zudringliche, bedürftige Mutter; ein abwesender und emotional unzugänglicher Vater; ein auf materieller Ebene verwöhntes, aber emotional vernachlässigtes, regressives, passives, unreifes Kind. Diese spezielle Konstellation ist so weit von meiner eigenen Familie entfernt, daß es mir theoretisch - gar nicht gestattet sein dürfte, eine Eßstörung zu haben. Doch das oben geschilderte Muster läßt sich auf folgende Weise anpassen: eine abwesende und emotional unzugängliche Mutter; ein übermächtiger, zudringlicher, bedürftiger Vater - ein seltsames, von Ängsten heimgesuchtes, hyperaktives, aggressives kleines Mädchen, das sich nach Kräften bemüht, sich wie eine Erwachsene zu benehmen.
Ich war zu klein, um zu verstehen, wie sehr die Eheprobleme meiner Eltern dazu beitrugen, daß beide nicht direkt auf mich reagierten, sondern auf dem Umweg über mich auf den jeweiligen Partner. Mein Vater hatte das Gefühl, daß meine Mutter ihn nicht brauchte, und deshalb wandte er sich mir zu, denn ich brauchte ihn. Meine Mutter hatte das Gefühl, daß mein Vater zu bedürftig war, weshalb sie sich von mir abwandte. Die allumfassenden Bedürfnisse meines Vaters ängstigten sie, wie sie sagte, und meine Bedürfnisse kamen ihr wie eine Verlängerung der seinen vor. Immer wieder erwähnte sie ihr starkes Bedürfnis, sich selbst zu sch.ützen. In dem Versuch, meine ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, teilte mein Vater ihr schon frii,h seine Ansicht mit, daß sie eine schlechte Mutter sei. Sie glaubte ihm. Ein klassischer Fall von sich selbst erfüllender Prophezeiung.
Soweit ich weiß, mochten meine Eltern sich nicht besonders, obwohl sie sich liebten. Sie sind noch immer miteinander verheiratet. Sie schreien und beißen und schlagen drohend mit den Flügeln wie wunderliche alte Gänse, aber sie sind noch verheiratet. Wie viele Eltern eßgestörter Menschen boten sie sich in meiner Kindheit bemerkenswert wenig gegenseitige Unterstützung. Jeder war eifersüchtig auf den Erfolg des anderen; bittere und sarkastische Bemerkungen waren an der Tagesordnung. Die psychologische Literatur geht davon aus, daß Partner, die sich gegenseitig keine Stabilität geben und einander nicht fürsorglich behandeln können, kaum in der Lage sind, einem Kind die beständige emotionale Wärme und Fürsorge zu geben, die es benötigt. In Ermangelung einer ehelichen Allianz werden die beiden sich unabhängig voneinander mit dem Kind zu verbünden suchen. Das Kind wird zum Faustpfand, zum Tauschobjekt: Jedes Elternteil versucht, das beste, das liebevollste, warmherzigste, fürsorglichste zu sein. Der Erfolg bemißt sich daran, wen das Kind am meisten liebt. Mein Job bestand darin, mich so zu verhalten, als ob ich sie beide am meisten liebte wenn der jeweils andere gerade nicht in der Nähe war.
Wenn also nur ein Elterntell anwesend war, dann aß ich auch. Jeder hatte besondere Lebensmittel, die nur er/sie mir geben durfte, alles Trostpflaster, jede Mahlzeit ein Zeichen der Liebe und der Fürsorge, ein Sinnbild dessen, was dem anderen Elternteil fehlte. Die Domäne meines Vaters waren die Schultage und die Mahlzeiten nach der Schule: ein gutes, zünftiges amerikanisches Frühstück, die Grundnahrungsmittel, das tägliche Muß, mein ausgewogenes Pausenbrot in der braunen Tüte. Meine Mutter war die Königin der Leckereien: Tee mit Trüffeln am Nachmittag, Rühreier zum Abendbrot, wenn mein Vater nicht da war, Croissants nach dem Einkaufsbummel, geheime Ausflüge zum Burger King, wo wir Pommes Frites aßen. Sandwiches mit Hüttenkäse und Gurken, wenn wir im Sommer auf der Terrasse frühstückten.
Ich verstand die Bedeutung des Wortes »hungrig« gar nicht, und ich kann mich auch nicht erinnern, einmal gegessen zu haben, weil ich tatsächlich physischen Hunger verspürte. Hunger manifestierte sich nicht in Magenknurren, sondern in der Bitte an meine Mutter, Brot zu backen und mich einige Zeit in der Nähe ihres Duftes aufhalten zu dürfen, auf einem Stuhl zu stehen - mit ihren Händen auf meinen Händen - und gemeinsam Teig zu kneten. »Hungrig« war, meinen Vater zu beschwatzen, mich zu einem Fruchtsorbet einzuladen und mir auf diese Weise seine Scherze, seine komischen Geschichten, seine lustige Stimme und seine kräftige Schulter zu sichern, an die ich mich anlehnen konnte. »Hungrig« war gleichbedeutend mit dem Gefühl von Einsamkeit, und »nicht hungrig« war dasselbe wie Angst. Meine Erinnerungen an die Kindheit sind fast alle mit Essen verbunden. Die Psychologie versteht Nahrung als »einigermaßen konsistente und verfügbare Quelle der nährenden Fürsorge«.[6] Damit will ich nicht sagen, daß meine Eltern nicht fürsorglich gewesen wären - das waren sie durchaus: meine Mutter in der Hauptsache mittels besonderer Bücher und Leckerbissen, mein Vater, weil er mir ständig etwas zu essen gab, mich in den Arm nahm oder mit mir spielte. Ich war der Liebling meines Vaters, und er zeigte diese Liebe durch Nahrung. In der Schule verschenkte ich mein Pausenbrot, sprang dann ins Auto meines Vaters, und wir fuhren in ein Fast-Food-Restaurant und schlemmten, was das Zeug hielt. An bestimmten Tagen »verabredete« er sich mit mir vor der Schule, und wir fuhren zu McDonald's, wo wir Cheeseburger, Pommes und Milchshakes kauften. Dann setzten wir uns in den Park, aßen und unterhielten uns miteinander. Wir sahen uns Baseballspiele an und stopften Popkorn und Lakritze in uns hinein. Als er das Rauchen aufgegeben hatte, aßen wir die ganze Zeit Erdnußflips.
Bei meiner Mutter war das alles völlig anders. Sie aß manchmal. Sie stocherte in ihrem Hüttenkäse herum, nuckelte an Salatgurken und lutschte zuckerfreie Bonbons. Aber genau wie mein Vater und ich verband sie Essen mit Liebe und Liebe mit Bedürftigkeit. Während mein Vater sich seiner Bedürfnisse schmerzhaft bewußt war, tat meine Mutter alles in ihrer Macht Stehende, um zu beweisen, daß sie keine hatte. Daher die Distanz zu meinem Vater und mir, die sie uns allen auferlegte, ihr übertriebener Ekel vor allem Eßbaren, die ordentlichen Bissen, die sie auf dem Teller übrig ließ und die jedesmal die gleiche Größe hatten. Daher warf sie mich mit meinem Vater in einen Topf, als ob wir eine andere Rasse wären, eine Rasse, die unmäßig, bedürftig, hungrig und gierig war und damit in scharfem Kontrast zu ihr selbst stand.
Nahrung hat für den Menschen zwei grundlegende Funktionen: Sie sättigt und vermittelt ein Gefühl der Geborgenheit. Das physikalische Essen verwandelt sich in unserem Denken in menschliche und emotionale Wärme, in das Gefühl, daß unser grundlegender Hunger gestillt wurde. Selbst wenn man sich in einem Freßanfall Hände voller Pommes in den Mund stopft, hat man das Gefühl, daß die Leere sich füllt, wenn auch nur für kurze Zeit. Zweitens löst Nahrung eine einfache, chemische Reaktion aus, die eine beruhigende Wirkung auf Gehirn und Nervensystem hat. Essen gab mir das Gefühl, daß alles gut werden würde. Wenn ich die Dinge nur auf eine bestimmte Art und Weise zu mir nahm, wenn ich besonderen Speisen den Vorzug gab - Pilzsuppe, Toast, Käsetortillas, Rühreiern -, dann standen meine rasenden Gedanken still, ich versank nicht länger im verwirrenden Strudel der Welt, und meine Augen hatten einen Punkt, auf den sie sich konzentrieren konnten: das Buch neben dem Teller, das Essen, die vor mir liegende Hausarbeit. Wenn ich aß, kehrte Ruhe ein.
Ich ging immer nur ein paar Tage lang zur Schule. Den Rest der Zeit über blieb ich im Bett und gab vor, schwer krank zu sein. ich bezweifle, daß meine Eltern mir glaubten. Doch sie ließen mich gewähren, wahrscheinlich wollten sie meine fast schon ans Hysterische grenzende Angst vor der Schule mildern. Meine Mutter hatte einen Großteil ihrer Kindheit ebenfalls zu Hause mit ihren Büchern verbracht. So blieb ich zu Hause, um zu lesen und zu essen oder genauer: um gefüttert zu werden - passiv - und in die Welt in meinem Kopf zu flüchten, die Welt, von der ich in Büchern gelesen hatte.
In der Hauptsache las ich Märchen, Theaterstücke, Bücher von Ramona Quimby, Anne of Green Gables. Italo Calvinos Sammlung italienischer Volksmärchen, einen Wälzer von 900 Seiten. Ich las ihn von vorne bis hinten durch, um dann noch einmal von neuem anzufangen. Das war mein Lieblingsbuch. Es schien eine ungeheure Macht zu besitzen, es war ein solch schweres Buch, bot unendliche Ablenkung und konnte die Welt etwas länger fernhalten als andere. Ich war schwer bekümmert, wenn ich ein Buch zu Ende gelesen hatte. Ich glitt aus meiner Sitzposition auf das Bett hinunter, legte die Wange auf das Kissen und seufzte eine ganze Zeit lang vor mich hin. Es kam mir so vor, als ob es niemals ein anderes Buch mehr geben würde. Alles war vorüber, das Buch war tot. Es lag in dem geschlossenen Buchdeckel neben meiner Hand. Was hatte das Leben noch für einen Sinn? Warum mir die Mühe machen und das Gewicht meines kleinen Körpers zum Abendbrot hinunterschleppen? Warum sich bewegen? Warum atmen? Das Buch hatte mich verlassen, und es gab keinen Grund, warum ich hätte weitermachen sollen.
Vielleicht können Sie jetzt schon die Reihe meiner schrecklich dramatischen Beziehungen voraussehen, die alle damit endeten, daß ich mich wie die zusammengebrochene Ophelia in meine Bettdecke hüllte. Ich war eine Liebesbeziehung mit Büchern eingegangen, mit den Figuren und ihren Welten. Bücher leisteten mir Gesellschaft. Wenn die Stimmen des Buches leiser wurden, schloß sich der Buchdeckel, wie der letzte Akkord einer Platte verhallt - und ich hätte jedesmal schwören können, daß ich eine Tür ins Schloß fallen hörte.
Aber Bücher waren bei weitem besser als die Schule, und wenn man sehr schnell und ohne Pause las, so daß man nicht einmal mehr Zeit hatte, den Flur entlangzulaufen und auf die Toilette zu gehen, wenn man einen Stapel Bücher genau neben dem Bett aufbewahrte und die rechte Hand oben drauf legte, während man ein weiteres Buch las, dann war es sogar noch besser. Man las das Buch zu Ende, schloß es, nahm das nächste zur Hand, las die Titelseite, trank einen Schluck Wasser, öffnete die erste Seite. Keine Pause in der Phantasie, keine Spalte, durch die die Realität hätte hineinsickern können. Also blieb ich zu Hause und schrie sporadisch: »Papa!« Und manchmal wieder, noch drängender: »PAPA!« Und Papa kam zu mir und sagte: »Was möchtest du haben, Schweinchen?« Und ich antwortete: »Suppe. Und Ginger Ale. Bitte.« Und sieh da! Es kam, in einer Schüssel, zusammen mit Crackern, die man mit dem Löffel einweichen konnte. Ich aß die Pilzsuppe im Bett, während wir beide zusammensaßen und uns unterhielten. Und dann nahm er die Schüssel fort, schloß die Jalousien, während ich unter meine Decke kroch und mich vom Geräusch des nachmittäglichen Windes in den Schlaf wiegen ließ. Voller Panik wachte ich dann wieder auf. Was ist los? Wo ist meine vertraute Umgebung? Was für ein Tag ist heute, wieviel Uhr ist es, muß ich zur Schule gehen, wo ist Papa, sind alle weg? Sind sie fort? Ich spitzte die Ohren, horchte auf den Klang eines Stuhls, der zurückgeschoben wurde, oder auf den eines Seufzers. Kein Geräusch. Sie sind ganz bestimmt fort. Aber wenigstens die Bücher und das Glas Wasser standen noch da. Alles war an seinem Platz. Kein Grund zur Sorge. Nur lesen.
Aus dem Bett klettern, zur Schlafzimmertür schleichen, hinau,sspähen. Sich umsehen, nach Monstern Ausschau halten. Nach Papa rufen? Keine Antwort. Zur Küche rennen, den Kühlschrank öffnen, nach etwas Eßbarem suchen. Schnell. Bevor man Zeit genug hat, um traurig zu werden.
Ganz wichtig: Ich bin im Theater aufgewachsen. Meine Eltern waren Schauspieler und Regisseure, und ich stand mit vier Jahren zum ersten Mal auf der Bühne.[6]  Es gibt keinen anderen Ort auf der Welt, der den Narzißmus so fördert wie das Theater, und aus dem gleichen Grund ist es auch nirgends einfacher, zu glauben, daß man eigentlich leer ist, daß man sich selbst beständig neu erschaffen muß, um das Publikum weiterhin in seinen Bann zu ziehen. Ich war fasziniert von den Verwandlungen, von Trugbildern, Rauch und Spiegeln. Ich lungerte neben meiner Mutter vor dem Spiegel herum, wenn sie ihre Schminktasche herausnahm, wenn sie die Haare zurückkämmte und sich durch das Make-up langsam in eine andere Frau verwandelte. Ich hielt ganz still, als sie mir die Nase puderte und mir das Haar in Locken legte. Ich wuchs in den Seitenflügeln des Theaters auf. Umschlungen von den samtenen Vorhängen beobachtete ich meine Eltern auf der Bühne, wie sie beim Ausgehen der Scheinwerfer verschwanden oder sich in Rauch auflösten.
Ich liebte die Garderobe. Spiegel, die von blendenden Lichtern umgeben waren, Kostüme, das geschäftige Treiben, den Tüll, die Perücken, Masken, Schachteln, die Hüte, die Frauen, die Räume, die lauten Stimmen, das Gelächter, die Gesangsfetzen, die vorbeihuschenden Schatten aus Stoff und Haut. Ich zog mein, Kostüm an, Jemand machte mir den Reißverschluß zu und band mir die Schärpe um. Ich nahm die Düfte wahr, horchte auf das Plappern, setzte mich vor die Spiegelwand, um den Lippenstift aufzutragen. Ich war fünf. Eine Frau wandte sich mir zu und bot an: »O Liebes, komm, laß mich das tun.« Mein Lippenstift ging über die Lippenränder hinaus, und er war etwas zu rot. Ich erinnere mich an den Duft von Parfüm und Haarspray, an den moschusartigen Geruch von Samt. Sie raschelte. Sie beugte sich näher zu mir hin und zeigte mir, wie man einen Schmollmund zog: ganz weich, so, führte sie mir vor. Und sie zog mein Haar nach unten, bürstete es aus und legte es in Locken: die Hitze des Lockenstabes im Nacken, das weiche Gefühl der gewellten Haare auf meiner Wange. Sie kämmte es zurück, steckte es mit einer Taftschleife fest und drehte mich zum Spiegel: »Siehst du? jetzt bist du richtig hübsch.« Ich starrte dieses fremde, ferne Mädchen im Spiegel an, erfreut darüber, wie erwachsen ich aussah. Nicht das ängstliche kleine Baby mit den weit aufgerissenen Augen, das mir im Spiegel zu Hause entgegenblickte. Richtig hübsch. Ein neues Ich.
Damals verschmolzen alle Frauen zu einem einzigen, gut riechenden. Wesen. Sie nahmen mich auf den Schoß, und dort schlief ich ein, wenn es bei Proben mal wieder spät wurde. Diese Frauen waren unglaublich warm. Ich erinnere mich an das Flattern meiner Augenlider, an Hände, die mit einem weichen Bürstchen meine Augenbrauen bearbeiteten, an das Bemalen der Lippen, der Augenlider, an das Auftragen von Mascara. Halt still, sagten sie. Ich blii fast fertig. Ich hörte alles, merkte mir alles. Sie gaben mir Schokoriegel mit Karamellkern und lachten, wenn ich einen Kopfstand machte. Ich aß die Schokoriegel immer auf die gleiche Weise: Erst die Schokolade, dann die Mitte. Erst am flachen Teil unten knabbern. Dann jede Seite essen, dann den oberen Teil, dann - die Finger klebrig, schokoladenverschmiert - den Karamellkern, dabei viel Schweinerei machen. Wenn man den Schokoriegel auf die falsche Weise aß, würde etwas Schreckliches passieren.
Mein Vater war Regisseur: grimmig, verbissen, phantastisch. Eines Abends war ich völlig außer mir. Ich rannte hinter ihm her, verbarg mein Gesicht in seinen Kniekehlen. Er sagte immer wieder: »Verdammt!« Ich weinte und rieb mir die Augen, verschmierte mein Makeup. Schließlich packte er mich an den Schultern, schüttelte mich und befahl: »Kind, wenn du hierher kommst, dann laß deine Probleme zu Hause.«
Diesen Spruch hatte ich schon früher gehört, normalerweise wurde er Schauspielern zugerufen, die sich über irgend etwas beklagten oder jammerten. In solchen Fällen pflegte die Stimme meines Vaters die Luft im Raum förmlich zu zerschneiden: »Reiß dich zusammen«, bellte er dann. Wenn wir proben, laß deine Probleme zu Hause. Für eine Minute hörte die Welt auf, sich zu drehen. Ich wurde sehr still, errötete, wollte mich bei ihm entschuldigen und alles wiedergutmachen. Wenn er sich so verhielt, versteckte ich mich manchmal im Schrank. Aber bis zu diesem Abend hatte er diese Worte niemals zu mir gesagt.
Ich hörte auf zu weinen. Ich putzte mir mit dem Handrücken die Nase. Er stellte mich auf einen Stuhl, wischte mir das verschmierte Make-up aus dem Gesicht und sagte: »Siehst du? The Show must go on.«
Meine Familie und ich, wir trieben es mit der Theater-Metapher ein bißchen zu weit. Schon in frühester Jugend ging ich davon aus, daß nichts so war, wie es schien. Dem äußeren Schein durfte man nicht trauen. Tatsächlich durfte man nichts und niemandem trauen. Die Welt war in Schichten geordnet, und unter jeder Schicht lag eine weitere Schicht, wie bei den russischen Petruschka-Puppen. Es kam immer auf den Zusammenhang an. Es kam darauf an, welches Kostüm und welches Make-up man trug und welche Rolle man gerade spielte. Wenn einer von uns zu lang monologisierte, begann ein anderer langsam und sarkastisch zu klatschen und mit ausdrucksloser Stimme zu rufen: »Wunderbar, wunderbar.« Unsere Lieblingsbeleidigung war: »Oh, komm von der Bühne herunter.« Aber keiner ist dieser Aufforderung je gefolgt.
Irgendwo im hintersten Winkel meines Hirns gibt es die Gewißheit: Der Körper ist nicht mehr als ein Kostüm und kann durch reine Willenskraft verändert werden. Ein neuer Körper würde mich wie ein Kostüm zu einem anderen Menschen machen, einem Menschen, der möglicherweise irgendwann sogar gut wäre.
Ich lernte sehr früh, meinen Text sorgfältig zu wählen. Ich habe immer noch die schreckliche Angewohnheit, Menschen, die zu lange Pausen zwischen den Worten machen, vorzusprechen, was sie sagen sollen. Ich weiß im voraus, was ich sagen soll. Ich kleide mich den Anlässen entsprechend, wie es die Rolle erfordert. In meinem Kleiderschrank hängen verschiedene Frauen auf den Bügeln, jedes Kostüm repräsentiert eine ganz andere Person, jedes Kleid, jedes Paar Schuhe. Ich sammle Kleidungsstücke. Mein Make-up quillt aus den Schubladen des Badezimmerschranks, und es gibt auch eine Frau zu jedem Lippenstift. Das lernte ich schon in sehr jungen Jahren. Ich war nicht so, wie ich nach außen zu sein schien. Es gefiel mir. Ich war ein Zauberer. Keiner konnte erkennen, was ich unter meiner äußeren Hülle verbarg, und das war auch gut so, denn was ich versteckte, war wie rohes Fleisch. Rot, heiß und entzündet.
Wir nahmen unsere Plätze ein und spielten unsere Rollen. Ich war das verrückte Kind, unkontrollierbar, wie eine kleine, tickende Zeitbombe. Meine Mutter war die Frau, die in einer Familie gefangen war, die sie nicht wollte, bitter und voller Groll. Mein Vater war der mißverstandene, sensible Typ, der zu unkontrollierten Wutausbrüchen neigte. Es war entzückend. Wir alle waren unglaublich melodramatisch. Aber natürlich waren wir bei all dem auch einfach nur drei Menschen, die einander liebten und nicht wußten, wie sie miteinander leben sollten.
Als ich zwischen fünf und sieben Jahre alt war, wurde die Ehe meiner Eltern immer schlechter, Ruhe und Chaos wechselten in immer schnellerer Folge. Meine Mutter besuchte Abendkurse, um als Mitarbeiterin in der Schulverwaltung zugelassen zu werden. Danach begann sie tagsüber bei der Schulbehörde zu arbeiten. Abends probte sie oder stand bei Aufführungen auf der Bühne. Sie führte bei verschiedenen Shows Regie und gewann sogar Preise dafür. Mein Vater wurde immer wütender über ihre Abwesenheit, und noch mehr ärgerte ihn ihr Erfolg. Außerdem war er in einen heftigen Krieg mit den Kolle,gen am Theater verstrickt. Man sprach von Trennung, von Scheidung. Es gab laute Streitigkeiten in der Küche darüber, wer einkaufen gehen sollte, wer der größere Märtyrer war. Genausogut gab es Abende, an denen man einträchtig miteinander ausging, Händchen hielt, Bilder, auf denen beide ein strahlendes Lächeln zur Schau stellen. Und dann gab es die Abendessen, bei denen wir uns glücklich miteinander unterhielten und einander zum Lachen brachten, bis ich einschlief und mit dem Kopf in die Suppe fiel. Es gab spontane Ausflüge, die beide oder auch nur ein Elterntell aus unerfindlichen Gründen mit mir unternahmen und die regelmäßig aus der Stadt hinausführten. Gelegentlich besuchte ich meine Großeltern. Ich besaß einen kleinen, karierten Koffer. Dunkel erinnere ich mich an einen Streit im Wohnzimmer, während dessen ich auf dem Klavierhocker saß und die Beine baumeln ließ. Ich glaube, meine Mutter und ich sollten nach Portland fahren. Mein Vater schrie meine Mutter an, bat sie, ihn nicht zu verlassen. Und meine Mutter gab lauthals zurück, daß wir auf jeden Fall gehen würden und daß er uns nicht aufhalten könne. Im Geiste summte ich die Lieder der Sonntagsschule vor mich hin und wünschte mir, daß sie sich gleich einen Kuß geben und versöhnen würden. Als die Lautstärke es unmöglich machte, weiter vor sich hin zu summen, sprang ich auf und schrie - lauter als sie - daß ich sie liebte, forderte, daß sie ruhig sein sollten, verkündete, daß alles wieder gut werden würde. Mein Vater weinte, hob mich auf und umarmte mich, und dann verließen meine Mutter und ich das Haus. Meine Mutter kann sich an den Streit erinnern, ebenso wie an die darauffolgende Reise. Mein Vater nicht. Am Telefon seufzt er nur und sagt: »Es gab so viele Auseinandersetzungen dieser Art.« Wir nahmen den Zug. Ich erinnere mich, daß ich lachen mußte, als ich sah, wie in unserem Schlafabteil das Bett aus der Wand geklappt wurde. Ich erinnere mich an das Nickerchen, das ich machte, an die Bäume, die an unserem Fenster vorbeiflogen. Ich erinnere mich daran, daß meine Großmutter mir Toast und Tee brachte, als wir dort ankamen. Danach sagte sie, daß ich eines Tages noch richtig fett werden würde und schob den Toast außer Reichweite.
In den alten Pappschachteln finde ich seltsame Dinge aus dieser Zeit: Briefe, Zeichnungen, erste Zeugnisse, Zeitungsartikel und ein Schild, das ich an die Tür meines Zimmers geheftet haben muß. Darauf stand: WENN DU DARÜBER NACHDENKST, HEREINZUKOMMEN, BESINNE DICH EINES BESSEREN! ICH WILL DICH NICHT SEHEN. Unter diesen Papieren gibt es zwei, die mich neugierig machen. Das eine ist eine Karte, die ich an meine Mutter geschrieben habe und die - der Rechtschreibung und Interpunktion nach zu urteilen - noch aus der Kindergartenzeit stammt: Auf der Vorderseite ist ein Abziehbild von einem traurigen Mädchen zu sehen und darunter in roter Tinte: »für Mama«. In der Innenseite verlaufen die Linien schräg nach unten: »Lihbe Mamma/Ich find es gahnich gut./Wenn du wech/ bis. Ich will dich Zurück!/Ich kann nich schlahfen wenn/du aus bis! Lihbe, marya.« Unter der Karte ist ein rotes Herz abgebildet. Herzen malte ich gar nicht gern. Meine Herzen waren immer schief und mager, niemals wie die runden, symmetrischen Herzen, die die anderen Mädchen malten. Dieses besondere, ebenfalls ziemlich entstellte Herz weint rote Tränen.
Ich fragte meine Mutter - über E-Mail, wie wir es immer machen -, ob sie sich an diese Karte erinnerte. Sie tat es nicht. Sie schrieb zurück: »Möglicherweise war es diese Reise nach London. Aber genausogut kann es einer der Abende gewesen sein, an denen ich auf der Bühne stand ... aaaahh ... Habe ich die Karte überhaupt je bekommen? Und wenn nicht, warum nicht? Wenn ja, wo war ich mit meinen Gedanken? Offensichtlich bei meinem Arsch.« Mein Vater erinnert sich ebensowenig daran. Und den merkwürdigen Brief, den mein Vater mir geschickt hat, als ich sechs war, können sie mir auch nicht erklären. Er wurde während des Sommers geschrieben, als er an einem Theater in Scotsdale, Arizona, Regie führte. Darin ist wiederholt die Rede von seiner plötzlichen Erkenntnis, daß er es nicht aushalten könne, von uns getrennt zu sein, daß er uns ganz schrecklich vermisse und uns in seiner Nähe haben wolle. Nachdem ich dieses Schreiben gefunden hatte, rief ich ihn an und fragte ihn, ob er vorgehabt hatte, ohne uns in Arizona zu bleiben. »Ich glaube nicht«, sagte er. Er hielt inne. »Vielleicht doch. Im Hinterkopf.«
Später erklärte er mir, daß im folgenden Jahr, als ich sieben war, der Tiefpunkt erreicht war. Das erklärt vielleicht, warum mir dieses Jahr nicht im Gedächtnis geblieben ist, abgesehen von vagen Erinnerungsfetzen an mitternächtliches Geschrei und klirrendes Porzellan im Eßzimmer, nachdem meine Eltern aus dem Theater nach Hause gekommen waren. Normalerweise hatte ich die Bettdecke über den Kopf gezogen und las, doch eines Nachts drang ein durchdringender Alkoholgestank aus der Küche, dem ich nachgehen wollte. In der Küche stand meine Mutter und schüttete einige Flaschen mit Schnaps ins Spülbecken. Und dann ist da noch mein siebter Geburtstag (da hatte ich einen Splitter in der Nase). Das nächste, an das ich mich erinnern kann, geschieht ein Jahr später: Ich werde aus heiterem Himmel darüber informiert, daß wir ohne ersichtlichen Grund nach Minnesota ziehen.
Und an folgendes kann ich mich wieder erinnern: Meine Eltern verloren, wie mein Vater es formulierte, »jegliche Kontrolle« über sich selbst und ihre Beziehung. Meine Mutter hatte eine Midlife-Crisis. Mein Vater hatte gleichzeitig eine berufliche und eine Identitätskrise. Meine Mutter wurde vierzig. Mein Vater hatte ein paar korrupte Machenschaften am Theater ausgeplaudert, woraufhin er denunziert und rausgeschmissen worden war. Er sagt, ihm sei damals schmerzhaft bewußt geworden, daß er seinen Traum niemals würde verwirklichen können (»großartig zu sein«). Er sagt, er sei sich plötzlich wie ein Mensch vorgekommen, »der sich so gut wie möglich über die Runden schleppt«. Aber einen solchen Mann konnte er nicht respektieren. »Ich konnte nur eines sehen: daß ich ein Versager war. Und das machte mich verrückt.« Er trank viel zuviel, »in der Hauptsache, um den Schmerz zu betäuben«. Ich erinnere mich an seine Wutausbrüche. Meine Mutter war immer besessener von ihrem äußeren Erscheinungsbild, machte sich Sorgen, ihre Schönheit zu verlieren. Sie begann, sich die Haare zu färben, trug zentimeterlange, perlmuttfarbene Fingernägel (an die kann ich mich ebenfalls erinnern), gab mehr Geld für Kleidung aus, nahm ab und flirtete - zumindest in den Augen meines Vaters - mit zahlreichen Männern (ich erinnere mich an ein paar Blusen mit extrem tiefem Ausschnitt). Mein Vater war, wie er sagt, »verrückt vor Eifersucht und die ganze Zeit hinter ihr her«. Obwohl sie kein Verhältnis mit einem anderen Mann hatte, entfernte sich meine Mutter langsam von ihm. Er glaubte, daß sie darüber nachdachte, ihn zu verlassen. »Natürlich trieb ich sie fort«, sagt er. »Aber ich hatte das Gefühl, daß sie mich angesichts ihrer eigenen Krise mit anderen Augen sah und sich sagte: >Damit habe ich nichts zu tun. Was immer ich tat, es war viel zu emotional. Meine Nerven lagen blank. Ich war nicht nur dünnhäutig - ich hatte gar keine Haut mehr.«
Ich frage ihn, ob er damals, selbstmordgefährdet war. »Wahrscheinlich die ganze Zeit über, weißt du? Ohne tatsächlich etwas in diese Richtung zu unternehmen. Schließlich mußte ich für dich sorgen.«
»Du und deine Bedürfnisse«, sagt er, »erhielten mich in diesem Jahr aufrecht. Du warst das einzige, was mir Halt gab.« Er macht eine Pause. »Ich dachte bei mir: Na gut, im Augenblick bist du also das einzig Stabile in meinem Leben. Ich weiß, daß du gerade erst sieben Jahre alt bist, aber -« Ich falle ihm ins Wort: »Aber gib dein Bestes.« »Ja.« Er seufzt. »Es war zuviel verlangt.«
Ich und meine Bedürfnisse gaben meinem Vater also Stabilität. Ich und meine Bedürfnisse trieben meine Mutter fort. Ich und meine Bedürfnisse zogen sich zurück, verschwanden im Märchen. Ich begann, mir eine Welt zu schaffen, in der meine Bedürfnisse nicht länger existierten.

Wir alle tragen unendlich viele Kisten und Taschen mit staubigem, altem Krimskrams aus der Kindheit mit uns herum: Sammlungen aus Groll, lange Listen mit Wunden von größerer oder kleinerer Bedeutung, Erinnerungen, die wir verklärt haben, absolute Gewißheiten, die sich später als Irrtümer entpuppen. Menschen tragen emotionale Rucksäcke. Diese Taschen bestimmen uns. Mein Gepäck machte mich zu jemandem, der ich nicht sein wollte: ein unterwürfiges Mädchen, eine empfindliche Pflanze, ein bedürftiges, gieriges Wesen. Ich begann schon in frühen Jahren, mich meines Gepäcks zu entledigen. Ich begann, eine neue Rolle zu konzipieren. Ich legte mir einen Plan zurecht. Als ich sechs war, schrieb ich ihn mit meinem Schönschreibfüller in grüner Tinte nieder und vergrub den Zettel im Hinterhof. Mein Plan: Dünn zu werden. Großartig zu werden. Herauszukommen.
Ich glaubte sogar damals schon, daß ich, wenn ich erst dünner wäre, mein Elternhaus verlassen und großartig in welcher Disziplin auch immer werden würde, wenn ich also wie meine Mutter sein würde, schließlich etwas Eigenes entwickeln könnte - etwas, das ich damals nicht so recht in Worte hätte fassen können und das ich heute mit dem Begriff Identität umschreiben würde. Erst im Rückblick wird mir klar, daß ich versuchte, dem zu entrinnen, was mein Schicksal zu sein schien: eine Imitation eines meiner Elternteile zu werden und auf diese Weise den Zorn des anderen zu erregen. Wie oft schon war es vorgekommen, daß einer von beiden ausgespien hatte: Oh, du bist genau wie dein Vater/deine Mutter. Doch wenn ich etwas tat, was ihnen gefiel, dann frohlockten sie: Oh, du bist genau wie ich.
Als ich acht war, erreichte, ohne daß ich es wußte, der Krieg zwischen meinen Eltern seinen Höhepunkt. Mein Vater informierte meine Mutter, daß er sie verlassen und mich mit nach Minnesota mitnehmen wollte. Meine Mutter antwortete, daß sie mitginge. Er antwortete gehässig, daß er sich nicht erinnern könnte, sie eingeladen zu haben. Sie befürchtete, höre ich, daß er mich von ihr fernhalten würde, was sicherlich nicht völlig aus der Luft gegriffen war. Rückblickend, so sagt er, ist er »dankbar für ihre Weisheit«. Also teilten sie mir mit, daß wir umziehen würden. Am 4. Juli 1982 machte unsere Familie sich auf den Weg nach Minnesota. Ein Jahr und drei Monate später aß ich meine Chips, kraulte den Hund mit dem Fuß und hastete plötzlich die Treppe hinunter.