ABER ALS DAS KANINCHEN TATSÄCHLICH EINE UHR AUS DER WESTENTASCHE HOLTE, EINEN BLICK DARAUF WARF UND DANN WEITEREILTE, SPRANG ALICE AUF DIE FÜSSE, DENN WIE DER BLITZ TRAF SIE DER GEDANKE, DASS SIE NOCH NIE EIN KANINCHEN MIT EINER WESTENTASCHE GESEHEN HATTE, AM ALLERWENIGSTEN MIT EINER UHR, DIE ES DARAUS HERVORZOG. SIE BRANNTE VOR NEUGIER, RANNTE ÜBER DAS FELD HINTER IHM HER UND KAM GERADE RECHTZEITIG, UM ZU SEHEN, WIE ES IN EINEM GROSSEN KANINCHENLOCH UNTER DER HECKE VERSCHWAND. LEWIS CARROLL, »ALICE IM WUNDERLAND«
HURTIG FOLGTE IHM ALICE HINEIN UND DACHTE AUCH NICHT IM GERINGSTEN DARÜBER NACH, WIE UM ALLES IN DER WELT SIE WIEDER HINAUSKOMMEN WÜRDE.
Wir stiegen in einen riesigen Umzugswagen - es war ein sonniger Tag, auf den Bildern blinzeln wir in die Kamera, beschatten unsere Augen mit den Händen - und fuhren nach Osten Richtung Edina, einem kleinen, sehr wohlhabenden Vorort von Minneapolis. Meine nachhaltigsten Erinnerungen an diese Reise quer durch das ganze Land - mein Vater zum ersten Mal im Leben am Steuer eines Hertz Trucks mit achtzehn Rädern, meine Mutter am Steuer des alten Ford - sehen folgendermaßen aus: In Reno erstickt mein Vater fast an einem Hühnchenknochen (Essen, Tod), dann, auf der Fahrt durch die Rockies, der Blick aus dem Führerhaus des LKWS: über die geländerlose Felskante, hinab ins Bodenlose. Ich stellte meine Stofftiere um mich herum auf und legte ihnen die Ohren über die Augen, damit sie nichts sahen (Tod). Ich erinnere mich an den gegrillten Lachs, den meine Halbbrüder an ihrem fünfzehnten Geburtstag in Yellowstone aßen (Essen). Und daran, vor einem Spiegel in einem Hotelzimmer in Wyoming zu stehen, über meine Frisur in Panik zu geraten, an meinem Körper hinabzublicken und zu »erkennen«, daß ich fett bin, fett, fett, fett. Meine Schenkel und mein Bauch und mein Gesicht sind Fett (Körper, Essen). Ich breche in Tränen aus. Das Bild, das von diesem Tag im Fotoalbum meiner Eltern klebt - ich in einem geblümten Overall, mein Haar naß, weil ich es in dem besessenen Versuch, meine Frisur in Ordnung zu bringen, zum achten Mal gewaschen hatte - zeigt mich mit unglücklichem Lächeln, eine in sich zusammengesunkene Gestalt, das Gesicht vom Weinen geschwollen. In dem Jahr, in dem wir nach Minnesota zogen, gaben meine Eltern den halbherzigen Versuch auf, sich um Stabilität zu bemühen. Sie waren einfach nur deshalb zusammen, weil sie mir Mutter und Vater sein wollten. Punkt. Außerdem hatte keiner von beiden einen Job in Aussicht, was natürlich noch eine zusätzliche Belastung war. Nachdem sich der Umzugstumult gelegt hatte, vertrugen sich die beiden und begannen, einander wieder zu mögen. Ich hingegen wurde jetzt vollkommen neurotisch. Meine Neurose überraschte sogar mich selbst. Ganz plötzlich versank ich im absoluten Chaos. Gut möglich, daß ich schon vorher latent depressiv gewesen war, eine Angststörung und/oder Manie gehabt hatte, und daß die Verwirrung diesen Störungen einfach nur eine Gelegenheit bot, an die Oberfläche zu kommen. Und sie kamen an die Oberfläche! Fast sofort nach unserer Ankunft entwickelte ich eine akute, bizarre Furcht vor allem und jedem. Ich war ein wandelndes Bündel Angst, brach leicht in Tränen aus, fürchtete mich vor der Dunkelheit, vor den Kindern in der Schule, vor den Lehrern, der Sonne, dem Mond, den Sternen. Vielleicht konnte Gott mir ja helfen. Ich begann also, regelmäßig zu beten, verzweifelt, wobei ich ständig über die Schulter blickte, um mich davon zu überzeugen, daß auch niemand zusah. Ich fiel auf die Knie, preßte die Nägel in die Handflächen, bat Gott inständig, mir zu vergeben, murmelte verzweifelte Gebete, die für keinen Gott irgendeinen Sinn ergeben hätten: Bitte Gott es tut mir leid laß mich nicht fett werden es tut mir leid vergib mir Vater denn ich habe gesündigt segne meine Mutter und meinen Vater und den Hund und meine Freunde und es tut mir leid und danke für Bücher und vergib mir und laß mich nicht fett werden es tut mir leid daß ich die Limonade in die Pflanze geschüttet habe. Plötzlich verfügte jedes Objekt über jene »primitiven magischen Kräfte«, Treppen, Stühle, Bücher, Gabeln, Vorhänge. Alles mußte seine höchst präzise Ordnung haben: Das Bett mußte auf bestimmte Weise gemacht sein, die Uhr mußte immer im Auge behalten werden, damit bestimmte Aufgaben auch pünktlich abgewickelt wurden. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Bett meiner Eltern lag und beobachtete, wie die alte Digitaluhr ihre Zahlen wie wechselnde Spielkarten in die Höhe hielt: 5:21, 5:22, 5:23. Ich überzeugte mich davon, daß die Zeit nicht stillstand, daß das Abendessen, wie von meinen Eltern angekündigt, zu einer bestimmten Uhrzeit auf dem Tisch stand. »Jetzt sind wir schon eine Dreiviertelstunde überfällig!« rief ich die Treppe hinunter, wenn es mal wieder nicht klappte, und brach in Tränen aus, wenn das Abendessen dann immer noch nicht fertig war. Die Zeit hatte mich betrogen. Nichts geschah in der richtigen Reihenfolge. Ich führte ständig Selbstgespräche, im Bett, im Bad, im Park, im Garten. Ich erstellte Listen, plante sorgfältig Tag um Tag auf meinem Mickey-Mouse-Papier. Die Tage, an denen »nichts« geplant war, stürzten mich in tiefe Verzweiflung; was sollte ich nur tun? Mit wem konnte ich spielen? Wer würde mir Gesellschaft leisten und mir dabei helfen, die Zeit zu vertreiben? Ich hob unsere kalifornischen Nummernschilder auf, damit sie nicht traurig waren, weil wir sie wegwarfen. Ich legte mich mit meinem Harlekin, der ein Geschenk von kalifornischen Freunden war, aufs Bett und zog die Puppe auf, damit sie »Send in the Clowns« sang - wieder und immer wieder. Das schrecklich traurige Spiel der Puppe, die silberfarbene Träne, die auf seine Wange gemalt war, brachten mich zum Weinen. Ich sprach mit ihr, lehnte sie ordentlich gegen die Kissen, sagte ihr, daß sie nicht so traurig sein sollte. Daß alles gut würde.
Einer Studie über Anorexie zufolge waren die meisten Patienten in der Kindheit, etwa fünf Jahre vor Ausbruch der Magersucht, an Angststörungen erkrankt.[7]
Während des ersten Jahres in Edina wohnten wir in einem schrecklich häßlichen, braunen Bungalow an einer stark befahrenen Straße. Der Teppich in meinem Schlafzimmer war kotzgrün. Ich bekam neue Schulkleider. Ich trug keine Röhren-, sondern Karottenjeans, und meine Cousine, der ich wie ein Hündchen folgte und der ich in jeder Hinsicht nacheiferte, durfte Röhren tragen, eine Tatsache die, wie ich mich erinnere, zwischen meiner Mutter und meiner Tante lang und breit diskutiert wurde. Ich entwickelte eine tiefe, anhaltende Angst vor Jeans, die ich auch heute noch habe. Ich halte den Atem an und schließe die Augen, wenn ich eine anziehe, jetzt wie damals voller Angst, daß sie an meinen Hüften klebenbleibt. Und dann stehe ich da, eine absurde Gestalt, die ihre ausladenden Hüften anstarrt, die »schlank« sein müßten, wenn sie ein guter Mensch wäre.
Schlank ist ein seltsames Wort, es scheint förmlich zu grinsen, ist glatt und geschmeidig und kommt einem leicht über die Lippen. Es ist das Zauberwort der achtziger Jahre: schicke Werbespots für Jeans, Mädchen, die wie Schlangen in ihre schlanken, schicken Jeans schlüpfen. Schlllllannnk. Ich war es nicht. Ich war normal. Ich besaß ein graues Kleid, das meine Mutter für »niedlich« hielt. Ich wollte nicht niedlich sein. Ich war es leid, niedlich zu sein. Ich wollte schlank sein. Oder schick. Das Kleid war ein formloser, grauer Sack, der an der Taille durch zwei gelbe Schnüre zusammengehalten wurde. Ich zog es an, als sie es mir mitbrachte, stellte mich auf die Toilette, um mich im Spiegel zu betrachten, und jaulte: »Ich sehe aus wie ein Elefant!« Ich brüllte wie am Spieß. Sie sagte, nein, Liebes, du siehst niedlich aus. Ich weinte unaufhörlich, während sie mir die Haare flocht. Ich löste die Zöpfe wieder, weil sie nicht vollkommen waren. Die sind doch völlig unförmig, sagte ich. Entgeistert sah sie mich an, hob in einer Geste der Hilflosigkeit die Hände und verließ kopfschüttelnd das Zimmer. Ich stellte mich erneut auf die Toilette, hob mein Kleid in die Höhe und betrachtete mich im Spiegel von allen Seiten. Jemandem hätte der Gedanke kommen können, daß ich an der Schwelle zur Pubertät stand. Aber sie kam ja auch ziemlich früh, deshalb hat es wahrscheinlich niemand bemerkt. Und ich wurde mehr als alle anderen davon überrascht, zumal man mir bis dahin nur in sehr abstrakten Begriffen erklärt hatte, was Sex überhaupt war. Es hätte mir sicher geholfen, wenn mir jemand gesagt hätte, warum ich - im hohen Alter von acht Jahren - drei höchst unwillkommene Haare an einem absolut unpassenden Ort auf meinem glatten, allerheiligsten Selbst fand, während ich auf der Toilette hockte. Ich nahm eine Pinzette, zog sie aus und fragte mich, ob ich mich in einen Affen verwandeln würde. Je mehr ich Tag für Tag zupfte, um so mehr Haare tauchten auf, seltsame, drahtige, kleine Haare, bis ich etwas hatte, das man nur als kleinen Bart zwischen den Beinen beschreiben konnte. Schließlich wurde mir klar, daß es vergebliche Liebesmüh war, und ich gab die Zupferei auf.
Ein paar Jahre später, als ich auf Mitternachtsparties mit anderen Mädchen in Pyjama und Pferdeschwanz bei peinlichen Wahrheitsspielchen Geständnisse austauschte, berichteten diese, daß sie ihre Schamhaare gezählt hatten. Da dachte ich bei mir: Sie zählen? Wo sollte ich anfangen? Mit acht Jahren stand ich auf dem Badewannenrand, so daß ich mich im Spiegel betrachten konnte, und beobachtete, wie meine Hüften sich plötzlich verbreiterten, wie meine Handgelenke, meine Knochen und mein Unterbauch schwerer wurden. Meine vage Überraschung angesichts der Tatsache, daß mein Körper mehr Präsenz beanspruchte, meine Neigung, wie ein Elefant im Porzellanladen alles umzuwerfen, trugen dazu bei, daß ich ein latentes Haßgefühl auf meinen Körper entwickelte. Ich hatte blaue Flecken an den Hüften, die im Vergleich zu früher regelrecht ausladend waren. Ich hatte ein gestörtes Verhältnis zum Raum, fühlte mich immer unwohler in meiner Haut und war über meine eigene Größe und Breite, über meine Ellbogen und Knie wütend. Ich war wie Alice, nachdem sie von den Pilzen gegessen hatte. Die Jahre, die ich in der Grundschule von Edina verbrachte, verschwammen in einem Nebel von Demütigungen. In der dritten Klasse begann ich, mich mit den Mädchen aus der Nachbarschaft herumzutreiben. Wir saßen im Keller, unter der Treppe, und gaben meiner wütenden, allnächtlichen Selbstgeißelung für unendlich viele Sünden neue Nahrung. Sex war in meinem Elternhaus ein Tabuthema. Niemand hatte mir je auch nur andeutungsweise erklärt, wo die Babys herkamen, obwohl ich es natürlich herausbekommen hatte und - wie jedes Kind - sehr interessiert an der ganzen Sache war.
Dieses Interesse konkurrierte jedoch mit meiner manischen Angst, und plötzlich bekamen die ziemlich unschuldigen Berührungen und das Kichern mit meinen Freundinnen den Ruch des Bösen, Falschen, Schmutzigen, Verwerflichen. Stumm lag ich hinterher auf dem Bett, die Hände gegen die Schläfen gepreßt, um die Kopfschmerzen niederzukämpfen, ebenso wie die rasenden Gedanken. In meiner Brust tat sich ein gähnender Abgrund auf, der so groß war wie der traurige, sonnige Himmel, zu dem ich emporstarrte. Man nimmt gemeinhin an, daß Frauen mit Eßstörungen eine neurotische Angst vor Sex haben und daß diese Furcht sich in dem verzweifelten Versuch manifestiert, in der Pubertät die immer sichtbarer werdenden Zeichen ihrer Weiblichkeit zu unterdrücken. Manche Frauen haben diese Angst tatsächlich, aber in einigen Fällen ist es vielleicht weniger die individuelle Furcht vor Sex, sondern eher - ich zum Beispiel hatte absolut keine Angst vor Sex - ich schämte mich nur, weil ich dermaßen fasziniert davon war. Für die Entwicklung von Eßstörungen spielt oft die Furcht davor, daß andere Menschen einen sehen, daß sie einen als sexuelles Wesen beurteilen, eine Rolle. Eßgestörte Menschen machen sich häufig sehr viel mehr Sorgen darüber, wie andere sie wahrnehmen, als um ihre eigenen Gefühle. Die Furcht vor Sexualität rührt möglicherweise daher, daß unsere Kultur ein höchst zwiespältiges, konfliktbeladenes Verhältnis zur weiblichen Sexualität entwickelt hat, das sich in den Familien spiegelt.
Als die Schule meldete, daß ich mit anderen Mädchen über schmutzige Themen sprach - man argwöhnte, meine Freundinnen und ich trieben im Keller unserer Schule Abscheuliches - kamen meine Eltern nicht auf die Idee, sich mit mir zusammenzusetzen und mir zu erklären, daß Sexualität und die damit verbundenen Gefühle völlig normal seien, daß es aber angesichts unserer kulturellen Normen ratsam sei, sie nicht öffentlich breitzutreten. Statt dessen starrten sie mich nur an, befremdet und wütend, und verboten mir, mich in Zukunft dieser »Gossensprache« zu bedienen. In der vierten Klasse machte ich mir schreckliche Sorgen über die seltsamen und schmerzhaften Schwellungen an meinem Oberkörper, die sich langsam entwickelnden Brustwarzen. Ich zerrte meine Mutter zu mir ins Zimmer, riß mein T-Shirt hoch und sagte: »Sieh mal! Mit mir stimmt irgend etwas nicht! Ich habe Krebs!« Sie ging mit mir zum Arzt. Der Arzt, der sehr nett zu mir war, sagte: »Sie fängt an, sich zu entwickeln.« - »Oh«, sagte meine Mutter. »Oh«, pflichtete ich ihr bei. Wir stiegen wieder ins Auto und fuhren heim. Nach einer Weile frage ich: »Was heißt das?« - »Das heißt, daß du Brüste bekommst«, antwortete sie. »Oh«, sagte ich. »O ja.« Ich sah aus dem Autofenster, beobachtete, wie wir an McDonald's vorbeifuhren, an Bridgemanns Eisdiele, an Poppins Bistro, in dem es so herrliche Pasteten gab. Der Tag war sonnig, und der Gurt schnitt mir in die Brust. Ich konnte nicht still sitzen. Lieber Gott, ich bereue alles. Die Auffahrten zählen, die Autos, meine Atemzüge, zählen, zählen, zählen, das gleichmäßige, unaufhörliche Pulsieren in meinem Kopf. Mir ist klar, daß jeder irgendwann in die Pubertät kommt, aber ich war (a) nicht vorbereitet und (b) nicht daran interessiert. Mein Körper, den ich ohnehin schon als ungebärdig und widerspenstig erlebte, tat plötzlich das, was ich insgeheim schon die ganze Zeit über befürchtet hatte: Er wurde zum Feind. Ohne meine Erlaubnis und ohne Vorwarnung begann er, zu »erblühen«.
Eines Morgens wachte ich auf und hatte das Gefühl, daß er das ganze Zimmer erfüllte. Schon seit langem war ich der Meinung, daß ich fett war, deshalb kam es, als mein Körper - wie bei allen Mädchen dieses Alters - plötzlich viel mehr Fettzellen entwickelte, zur Krise. In der Pubertät wuchs mein latentes, nagendes Unbehagen zu einer ausgewachsenen, ständigen Zwangsvorstellung heran. Als ich in der vierten Klasse war, kamen zu meinem ständig weiter anschwellenden, widerlichen Körper auch noch ein neues Haus, doppelt soviel Furcht, Schlaflosigkeit, Alpträume, zwanghaftes Essen, Kopfschmerzen und eine verzweifelte Angst vor dem Alleinsein hinzu. Und da ich Masochistin bin, bat ich meine Eltern, mich nach der Schule nach Hause gehen zu lassen. Sie arbeiteten beide viel, und normalerweise blieb ich bei Babysittern oder Tagesmüttern. Ich war schließlich kein Kleinkind mehr (heulte ich) und mußte nicht ständig bewacht werden. Es war eine Prinzipienfrage. Ich wollte, daß sie mich für verantwortungsbewußt hielten. Ich wollte, daß sie mir vertrauten. Schließlich stimmten sie mir zu, daß ich alt genug war. In Wirklichkeit jedoch war Alleinsein das Letzte, was ich wollte. Wenn ich um die Ecke bog und die Nancy Lane herunterlief, starrten mich die leeren Augen des Hauses an. Ich begann, mir das Innere vorzustellen: den Spiegel in meinem Schlafzimmer, im Bad, das Bad im Keller, den Waschkeller. Ich begann darüber nachzudenken, was ich essen würde, wenn ich im Haus war. Hatte ich Hunger? Nicht besonders. Ich war von der Zeit überwältigt, all diese unausgefüllte Zeit, die vor mir lag, ein paar Stunden, die sich zu stillen Äonen auszudehnen schienen, das Haus ebenso leer und voll traurigen Lichts wie meine Brust. Wenn ich die Straße hinab und auf das Haus zuging, stieg Panik in mir auf. Ich rannte den restlichen Weg, öffnete hastig die Tür, ließ die Tasche auf den Boden fallen und fand Trost vor dem Kühlschrank, wobei mir das Herz bis zum Hals klopfte.
Ich schmolz Käse auf Toast und aß es auf. Noch mehr Käse, noch mehr Toast. Cornflakes. Pilze, die ich in Butter und Brandy briet. Sie füllten den Mund, die Leere in meinem Herzen, die endlosen Stunden mit dem dumpfen Stumpfsinn des Essens. So verbrachte ich die Nachmittage, sah mir die Bill Cosby Show und Wiederholungen von Baywatch an, führte mechanisch die Hand mit dem Essen zum Mund. Und wie vorauszusehen war, nahm ich zu. Abends dann stand ich vor dem Spiegel, kniff meine Hüften heftiger, heftiger, bis ich Striemen und blaue Flecken bekam, schlug meinen Hintern, um zu sehen, ob er wackelte, damit ich sagen konnte: Fette Sau. Wie die Tänzerin auf einer Spieluhr drehte ich mich vor dem Spiegel, wieder und wieder, mit verkniffenem Gesicht. Und so kam es, daß ich eines Tages, vollgestopft mit Chips, einen kleinen Ausflug nach unten ins Bad unternahm. Niemand hatte mich auf diesen Gedanken gebracht. Es schien mir naheliegend zu sein, daß man das, was man hineingestopft hatte, auch wieder herausholen konnte. Als ich zurückkehrte, war alles anders. Alles war ruhig, und ich fühlte mich rein. Alles war in Ordnung. Alles war, wie es sein sollte. Ich hatte ein Geheimnis. Es löste Schuldgefühle aus, zugegeben. Aber es war unzweifelhaft meins. Jetzt hatte ich etwas, an das ich mich halten konnte. Es leistete mir Gesellschaft. Es hielt mich ruhig. Es erfüllte mich und schenkte mir gleichzeitig eine wohltuende Leere.
Bulimie ist immer beides: verführerisch und beängstigend. Sie teilt den Geist in zwei Teile: man kann etwas aufnehmen, man kann es verweigern; man braucht, man braucht nicht. Diese Spaltung ist kein besonders schönes Gefühl, auch nicht am Anfang. Doch zu Beginn scheint mehr dafür zu sprechen als dagegen. Man hat ein Zentrum gefunden, die Gedanken beruhigen sich etwas. Sie bekommen Struktur, eine Reihenfolge: nach Hause gehen, essen, erbrechen. Das Problem im Leben ist der Körper: Er ist klar definiert, er hat Anfang und Ende. Das Problem wird gelöst, indem man den Körper schrumpfen läßt. Sich selbst bändigt. Das Öffnen der Haustür ist nicht mehr bedrohlich. Man muß nicht mehr befürchten, kopfüber in das weiße Licht der stillen Stunden und wilden Sorgen zu stürzen, während man den Flur auf und ab wandert, auf der Couch sitzt und aus dem Fenster starrt und das Leuchten auf der anderen Seite des Sees beobachtet. Im Licht, den fehlenden Konturen verloren zu gehen, dazusitzen und den Worten zuzuhören, die durch die Ohren rauschen, auf den Atem oder den Wind oder das Licht zu lauschen, das in der leeren Höhle der eigenen Brust widerhallt. Zu vergessen, wer man ist, wo man ist und ob man ist. Sich zu verlieren in dem Gedanken, daß alles vielleicht nur Ausgeburt der eigenen Phantasie ist, daß man sein Leben träumt. Man hält seine Hand in die Höhe, betrachtet sie: Sie ist umgeben von Licht, und das Herz schlägt wild, während man denkt: Ich träume, ich bin noch nicht einmal hier, ich existiere gar nicht. Dieser Gedanke, daß man nicht ist, ist allzu faszinierend. Der Gedanke, daß man den See nur lang genug betrachten muß, um sich in den weißen Flammen des Lichts, das über dem Blau lodert und das nur wenige Zentimeter vom eigenen Gesicht entfernt zu sein scheint, aufzulösen. Es zieht einen in seinen Sog, wie gebannt starrt man hinein, hat nur noch ganz wenig Angst. Und wenn dann die Mutter zur Tür hereinkommt, schreit man laut auf vor Schreck. Mit einem Schlag landet man wieder auf der Erde. Es ist dunkel. Es ist Abend. Man ist in seiner vertrauten Umgebung, und die Mutter sieht einen an und fragt: »Was ist los?« Hör auf damit. Verrücktes Mädchen. Du hast sie nicht mehr alle. Komm jetzt runter, essen. Erfülle den Raum mit deinem Körper. Bleib auf dem Boden der Tatsachen.
- Sie erfährt die Welt manchmal als seltsam und entpersonalisiert ... Die an Bulimie erkrankte Person ist häufig nicht in der Lage, zwischen dem, was außerhalb und innerhalb des Körpers ist, zu unterscheiden... die Freßanfälle sind der Versuch, Identität zu erleben, indem sie das kontrolliert, was in ihren Körper hineinkommt... Das Erbrechen definiert ihre körperliche Grenze, indem sie bestimmte Dinge wieder an die Außenwelt abgibt ... Das Individuum ist auf der Suche nach dem Gefühl, am Leben und voll(ständig) zu sein, indem es ... Substanzen ... einnimmt, und diese Suche wird paradoxerweise gespeist von der Erfahrung, daß es selbst und der eigene Körper - eigentlich leer oder tot ist. [8]
Kurz nachdem ich an Bulimie erkrankt war, ging ich in die Bibliothek, um mir ein Buch über Magersucht auszuleihen, das auch für das Fernsehen verfilmt worden war. Ich wollte sein wie die Hauptdarstellerin: in sich gekehrt, reserviert, kühl, ganz und gar in ihrer Zwangsvorstellung gefangen, vollkommen rein. Das Ganze ist ein ziemlich romantisierter Bericht, geschrieben von einem Arzt, der in der Hauptsache nicht die Eßstörung beschreibt, sondern seine eigenen Heilungserfolge herausstellt. Im Buch stand, daß man an einer Eßstörung sterben könne. Das machte mir nichts aus. Nur auf eines wurde nicht hingewiesen: Wenn die Krankheit einen nicht sofort umbringt, dann muß man für den Rest seines Lebens damit leben und stirbt letztendlich an den Folgen. Ich wünschte, ich hätte das gewußt. Ich beschloß, daß ich, wenn ich schon sonst nichts mit meinem Leben anfangen würde, als Erwachsene magersüchtig werden wollte. Bulimie schien mir ein guter Anfang zu sein. Wie sich herausstellte, war ich in dieser Disziplin hervorragend. Meine Babysitterin, Kelly, lachte mich aus, als ich damit prahlte, einen ganzen Laib Brot allein aufessen zu können. Nein, kannst du nicht, sagte sie. Entschlossen schnitt ich mir ein paar Scheiben ab und steckte sie mit klopfendem Herzen in den Toaster. Ich erinnere mich an das Toastbrot, an die Butter, die ich darauf strich, an das Knuspern des Brotes zwischen meinen Zähnen, an die Liebkosung der Butter auf meiner Zunge. Ich erinnere mich, daß ich Stück für Stück verschlang, daß ich wütete, daß mein Hunger unstillbar war, daß sich kein Gefühl der Sättigung einstellte.
Ich erinnere mich, wie ich mich fröhlich auf den Weg ins Badezimmer gemacht habe. Nacht, sagte ich. Dann schloß ich die Badezimmertür ab, drehte den Wasserhahn auf, beugte mich über die Toilette und erbrach mich in einer Woge des Glücks. Aber das Glück dauerte nicht lange. Durch die tägliche Völlerei nahm ich zu, und obwohl ich keine Verbindung sah, wurde ich immer launischer. Zunächst erbrach ich mich nur relativ selten - vielleicht ein oder zweimal die Woche - und genau in dieser Zeit begannen meine Probleme in der Schule. Ich geriet häufig in Streit. Meine Noten schwankten, die Lehrer schickten meinen Eltern Nachrichten über mein aufrührerisches Verhalten: Ich gab Widerworte, war sarkastisch, war eine Aufwieglerin. Ich begann, noch mehr Zeit auf meinem Zimmer zu verbringen, auch wenn meine Eltern zu Hause waren, und malte Bilder von skelett-dünnen Frauen. Meine Eltern und ich bekamen Streit miteinander. Eine unerklärliche Wut bahnte sich langsam ihren Weg an die Oberfläche, steigerte sich in den darauffolgenden Jahren, bis ich meinem Vater vorkam wie eine »Zeitbombe«. Mit neun, zehn, elf Jahren blätterte ich die Teenager-Zeitschriften aus Clancys Drugstore durch. Während meine Freundinnen vor den Lipgloss-Regalen, wo es die wildesten Farben für 99 Cent gab, standen, brütete ich über den Diättips, starrte die Models auf den Seiten an, saubere, haarlose, grinsende Mädchen (»Mandi trägt muschelrosafarbenen Lipgloss«) mit glatten Zahnstocherbeinen, die fröhlich vor sich hin tänzelten. (Meine Beine in ihren Karottenjeans waren zu dick und zu behaart.) Ich schlug die Zeitschrift zu. Zu Hause vor dem Schminkspiegel unterzog ich mein Gesicht dann einer kritischen Betrachtung: runde Wangen, runde, sommersprossige Wangen, Kuhaugen. Nachts lag ich auf dem Boden meines Zimmers und machte Oberschenkelgymnastik. Ich befeuchtete meinen Finger und blätterte die Zeitschriften durch, betrachtete die Gesichter. Mandi und Sandi und Karl und Shelli mit ihrer muschelrosafarbenen Haut und den strahlendweißen Zähnen, die mit sexy Augenaufschlag in die Kamera sahen und mit knabenhaften Körpern herumstolzierten. Ich übte ihren Blick, warf meinem Spiegelbild Schlafzimmerblicke zu, wackelte mit den Hüften und warf das Haar über die Schulter. Mit meinem Körper stimmte etwas nicht - meine Brüste stachen unter meinem T-Shirt hervor, mein Hintern ragte heraus, kurvenreich und furchtbar verkehrt. Alles war verkehrt.
Während der Grundschulzeit wachte ich jeden Morgen um 6.30 Uhr mit einem Schreck davon auf, daß der Radiowecker die fürchterlichen Popsongs der achtziger Jahre spielte. Unter die Dusche, raus aus der Dusche, mit einem Handspiegel auf die Toilette klettern: beobachten, betrachten, prüfen, kritisch beäugen. Zuerst von vorn. Die Beine zu kurz, zu rund, die Oberschenkel berühren sich. Die Zeitschrift Seventeen sagt, daß sich die Oberschenkel nicht berühren sollten. Meine berühren sich. Ich bin potthäßlich. Das Ende. Wie kann ich das alles nur verstecken? Was soll ich tun, um nicht immer mit krummem Rücken dazustehen? Wie kann ich mich nach innen krümmen, als ob ich implodieren wollte? Linke Seite: Hintern zu rund, ragt vor, riesig, ohmeingott, der Hintern, dieser schreckliche Hintern, der Hintern, den man so gar nicht verleugnen kann. Von hinten: Die Hüften verbreitern sich unter der Taille. Sind das vielleicht schon Reiterhosen? Hintern, der Hintern! Zwei Handspannen breit. Oh, zur Hölle damit! Rechte Seite! Dieser verdammte Hintern! Wer hat gesagt, daß ich einen Hintern wollte? Warum kann ich nicht einen flachen Hintern haben, die Art, die förmlich in der Tasche der Guess Jeans zu verschwinden scheint, wenn man das Bein nach hinten stellt? Ich will das Ding nicht, nicht diesen runden, alles beherrschenden, stolzen kleinen Hintern.
Ich bin vielleicht neun oder zehn: Morgens nach dem Aufstehen setze ich mich auf die Couch und nehme eine Zeitung zur Hand. Auf der ersten Seite ist die Geschichte eines Mädchens zu lesen, die in meiner Stadt, in Edina, wohnte und Selbstmord begangen hat. Betrachten wir dieses Ereignis etwas näher. Folgendes weiß ich: Das Mädchen war sechzehn Jahre alt, lebte in der gleichen Stadt wie ich und ist implodiert. Sie hat sich in das Auto ihrer Mutter gesetzt, ist auf einen Hügel gefahren (es gibt keine Hügel in Minnesota, ich stelle es mir nur so vor, ein James-Dean-Hügel). Sie hat das Auto dort abgestellt. Sie trägt Jeans. (Ob das in dem Artikel zu lesen war? Warum sollte man so etwas erwähnen? Habe ich sie mir in Jeans vorgestellt? Mit langem, braunem Haar.) Sie hat einen Kreis aus Benzin um sich gezogen. (Benzin aus dem Kanister? Feuerzeug oder Streichhölzer?) Sie hat das Benzin angezündet. Sie hat sich selbst verbrannt. Ich weiß, daß sie magersüchtig war. Ich weiß, daß sie einen Abschiedsbrief hinterlassen hat, in dem stand, daß sie nicht weiterleben wollte, weil sie es nicht aushalten könnte, noch länger in ihrem Körper zu leben. Die Bürde war zu schwer für sie. Mein erster Gedanke: Das verstehe ich. Ich lese den Artikel, dann die Comics, das Horoskop, die Wettervorhersage, die überregionalen Nachrichten, das Feuilleton. Ich stand auf, als mein Vater mich zum Frühstück rief, frühstückte, tschüs Papa, verließ die Nancy Lane linker Hand, bog dann nach rechts ab und ging zum Ufer des Sees am Ende der Straße, ging zu ein paar Bäumen hinüber, hielt meinen Pferdeschwanz zurück, steckte den Finger in den Hals, schob mit dem Fuß Blätter über den Dreck, spuckte, steckte mir zwei Kaugummis in den Mund. Ging aus dem Wäldchen wieder hinaus, die St. John's Avenue hinunter, auf die Concord Elementary School zu, dachte über Gewicht nach, die unerträgliche Bürde des Gewichts, und verstand. Das Mädchen tat mir leid. Ich war traurig, daß sie niemals heiraten oder Kinder bekommen würde. Und voller Trauer verstand ich sie, und ich entschuldigte mich bei Gott, weil ich nicht gedacht hatte: O nein! Wie schrecklich! Wie konnte sie das tun? Wie konnte so etwas nur passieren? So eine Verschwendung! So eine Schande! Statt dessen dachte ich: Ich könnte es tun. Ich könnte es tun. Was für ein Schock! Ich bleibe stehen. Narzißtin. Aufmerksamkeitsgeile Egozentrikerin. Immer denkst du nur an dich selbst. Bete für das Mädchen! Aber ich kann nicht. Ich denke an die unerträgliche Bürde des Gewichts. Ich denke darüber nach, wo man Benzin herbekommen kann. In der Stadt, in der ich wohnte, drehte sich alles um Geld. Geld - also sozialer Status - und Eßstörungen stehen in einem direkten Verhältnis zueinander. In unserer Kultur wird Schlankheit mit Wohlstand, mit sozialem Aufstieg und Erfolg gleichgesetzt.
Müßig auszuführen, daß all dies mit Selbstkontrolle und Disziplin einhergeht: die Yuppifizierung des Körpers und der Seele, vollkommene Menschen mit hoch angesehenen Jobs und persönlichen Trainern. Beim Lächeln stellen sie ihre ebenmäßigen Zähne und ihr ach-so-glückliches Leben zur Schau. Im Gegensatz dazu wird Dicksein mit Schwäche, Faulheit und Armut gleichgesetzt. Schlankheit ist zum Ideal geworden, das »Selbstdisziplin, Kontrolle, sexuelle Freizügigkeit, Selbstbewußtsein, Konkurrenzbewußtsein und die Zugehörigkeit zu einer höheren sozioökonomischen Klasse symbolisiert«.[9] Um es auf den Punkt zu bringen: Der neue Fitneßwahn, das Bedürfnis, durchtrainiert und sportlich zu sein und nicht einfach nur dünn, ist Ausdruck von Sexualität - aber »einer kontrollierten, beherrschten Sexualität, die, nicht auf peinliche und unerwünschte Weise auszubrechen droht.«[10] Den Fitneßwahn zu teilen erfordert Zeit und Geld, ein Privileg, das nur denen zusteht, die auch die Mittel dazu haben. Der »vollkommene Körper wird zum öffentlichen Ausdruck dieser Mittel«. Der Körper als kostspieliges Schmuckstück. Meine Generation ist mit den Medien aufgewachsen, mit dem Fernsehen, mit Teenagerillustrierten, mit Plakaten, die uns entgegenschrieen: »Wenn du deinen Körper wählen könntest, welchen würdest du wählen?« Mit Bildern durchtrainierter, stahlharter Körper, die in durchgestylten Fitneßstudios immer härter wurden. Und - was zum Teufel glauben Sie, würde ich - wählen? Den vollkommenen Körper natürlich. Die Frauenzeitschriften sind randvoll mit Tips, wie man ihn erreichen kann. »Runter mit dem Babyspeck!«, »So purzeln die Pfunde!« Wir lesen die endlosen, langweiligen Serien der Sweet Valley High Liebesromane wie die Bibel, verschlingen diese furchtbar fröhlichen Geschichten von Zwillingen, die natürlich die beliebtesten Mädchen der ganzen südkalifornischen High School sind. Sie sind klug und schön, und sie bekommen natürlich immer ihren Traumtyp. Und jeder einzelne Band erinnert uns daran, daß sie blond, blauäugig und rank und schlank sind. Die personifizierten Barbiepuppen. Wir lasen diese Bücher in der Schule, versteckten sie hinter unseren Mathebüchern. Hinterher standen wir auf der Schultoilette, diskutierten über die Handlung und verglichen unsere Oberschenkel miteinander. Sieh dir das an, sagten wir und schlugen unsere Körper so heftig, daß sich weiße Striemen auf unserer Haut bildeten. Sieh mal, wie mein Fett wabbelt. Aber du - sagten wir dann zu einem anderen Mädchen - du hast so etwas wie den vollkommenen Körper.
Es ist wichtig, auf die Sprache zu achten, mit der wir über den Körper sprechen. Wir reden, als ob es einen kollektiven, vollkommenen Körper gäbe, eine einzige Einheit, hinter der wir alle her sind. Das Problem ist nur, daß wir tatsächlich alle hinter diesem einen Körper her sind. Wir sind mit der Idee aufgewachsen, daß unter unserem Fleisch, tief vergraben hinter den überzähligen Winkeln und Falten unseres gesunden Leibes, der vollkommene Körper verborgen liegt, der nur auf seinen Durchbruch wartet. Er sieht genauso aus wie der vollkommene Körper aller anderen. Ein Klon der gestaltlosen, androgynen Models, der unbehaarten Pornostars mit den Silikonimplantaten. Der Natur zum Trotz würden wir zahnstocherdünne Schenkel und üppige Brüste haben, einen stahlharten Hintern und flache, feste Bäuche. Wie Andy Warhol schrieb: »Je mehr man nach dem genau Gleichen Ausschau hält... um so besser und leerer fühlt man sich.«
Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der die Kinder unnatürlich sauber waren, angezogen mit Kleidern, die alle aus demselben Geschäft stammten. Sie spielten Erwachsene - sie waren Vorzeige-Ehefrauen im Miniaturformat, denen Miniaturanwälte zur Seite gestellt waren. Sie tänzelten auf dem Schulhof herum, mit vollkommenen Zähnen, vollkommenem Haar und sonnengebräunter Haut - entweder aus den Ferien in Mazatlán oder, im Winter, aus dem Sonnenstudio. Perfekt gefaltete Banknoten und Seifenoper-Grundschuldramen. Ich war eine unbestimmte Größe. Man mochte mich zwar, aber ich war keineswegs besonders begehrt. Ich war zu schrullig, um richtig beliebt zu sein, zu vorlaut und zu jähzornig, recht klug, ans Verrückte grenzend, zu wild.
Außerdem gab es an meiner Schule ein Kastensystem. Ich stammte aus dem falschen Viertel, in dem die Häuser zu einfach und zu klein waren, planlose Bauwerke im Stil der fünfziger Jahre. Ich wohnte in dem Teil der Stadt, in dem auch die öffentliche Schule lag, eine Gegend, in der die Mütter arbeiten gingen und die Kinder Schlüsselkinder waren. Auf der anderen Seite, in der Nähe des Country Club, standen Häuser im viktorianischen Landhausstil: Dort hatte man Haushälterinnen und Gärtner, das Grundstück war von hohen Steinmauern umgeben und darauf wuchsen große Eichenbäume. In der für drei Autos ausgelegten Garage stand ein BMW. Die Mütter gingen einkaufen und schmückten zwanghaft das Heim. Ihre schlaksigen Kinder trugen Kleidung von Ralph Lauren und Laura Ashley. Die Väter schienen auf dem Speicher versteckt worden zu sein und tauchten nur dann und wann auf, um ihren Töchtern beim Abendessen den Hintern zu tätscheln. Schon in der fünften Klasse gingen die Mädchen zur Maniküre, fluchten nicht, aßen mittags in diesem schrecklichen Speisesaal weißes Brot und gaben ein geziertes Lachen von sich, das zu ihren zierlichen Schultaschen paßte, auf die sie mit Kugelschreiber »I luv (Name).« geschrieben hatten.
In der ersten Zeit in Minnesota unternahm ich einen verzweifelten Kreuzzug, um meine Eltern dazu zu bringen, all das zu kaufen, was »die anderen« auch besaßen: Mikrowellen, Videorecorder, Reproduktionen zweitklassiger Kunstwerke in goldenen Rahmen, weiche Sofas, Sportwagen, teure Kleider, aus denen ich innerhalb weniger Wochen herausgewachsen sein würde. Sie weigerten sich. Also gab ich auf und konzentrierte mich statt dessen darauf, dünn zu werden.
Wir schreiben das Jahr 1984. Es ist Herbst, und ich bin in der fünften Klasse bei Mrs. Novakowski.
Ich lebe im Land des Hübschen Blonden Mädchens in Weiß. Ich bin kein hübsches blondes Mädchen. Ich bin klein, stämmig, habe braunes Haar, Sommersprossen, eine Stupsnase und eine laute Stimme. Ich kann nichts dafür. Ich versuche, zierlich und angenehm und nett zu sein. Es funktioniert etwa fünf Minuten am Stück, dann plötzlich lache ich wieder zu laut, schreie in der Klasse herum oder gerate mit Mitschülern in Streit. Nach dieser Katastrophe bin ich immer schrecklich fett. Ich ziehe mir den Pullover über den Hintern, weil er zu dick ist. Auch meine Oberschenkel sind zu dick, und meine Titten ragen unter meinem T-Shirt hervor. Ich kreuze die Arme über der Brust und lege die Hand über den Mund, um mich am Reden zu hindern. Ich bin zuviel. Es gibt zuviel von mir. Meine Eltern sind seltsam, und ich trage Lee Jeans und nicht Guess Jeans. Außerdem kotze ich in der Pause auf dem Schulklo, und das ist ganz bestimmt nicht anmutig. Eindeutig unappetitlich. »Iiiiih«, rufen die blonden Mädchen im Aufklärungsunterricht, während wir auf dem Bildschirm den seltsamen Querschnitt des weiblichen Unterkörpers betrachten. Der Körper ist rosafarben und beginnt plötzlich zu bluten, als eine mütterliche Stimme den blonden Mädchen verkündet, daß auch sie irgendwann Blutungen bekämen und daß es in dieser Phase ihrer Entwicklung besonders wichtig sei, auf die Ernährung zu achten, damit sich keine Zysten bildeten oder sonstige Probleme entstünden. Unterdessen blute ich unter dem Schreibtisch heimlich vor mich hin. Ich stelle mir meinen Körper im Querschnitt vor. Ich kreuze die Arme über der Brust und sage übertrieben laut: »Iiiiih!«
In jenem Jahr begann ich, meiner Mutter Briefe zu schreiben: eine Nachricht im Nähzimmer, ein elfseitiges Schreiben auf meinem besten Briefpapier, das ich ordentlich zusammengefaltet in ihr Schmuckkästchen legte. Und ungefähr zur gleichen Zeit sagte mir mein armer Vater, daß ich einen BH bräuchte, weil ich in einem weißen T-Shirt (er stand auf, starrte seine Schuhe an) etwas (er rieb sich die Bartstoppeln am Kinn), ich sähe eben ein bißchen (er zuckte zusammen und zupfte sich am Ohr), naja, ich hätte eben Busen.
Die Briefe an meine Mutter, in denen ich förmlich um ein paar Daten über den weiblichen Körper und über das, was sich theoretisch auch in meinem irgendwann abspielen könnte, flehte, wurden nie beantwortet. Die einzige Reaktion kam von meinem Vater. Er flippte aus. Er war eifersüchtig, daß im Haus Briefe mit der Aufschrift PERSÖNLICH kursierten. Er begann, mich zu meiden. Meine Mutter wandte die Augen ab, als ich sie fragte: »Hast du meinen Brief gelesen?« »Ja und?« - »Wir reden später darüber.«
Irgend etwas mußte geschehen. Schließlich stellte ich sie im Wohnzimmer zur Rede und forderte, mir einen BH zu kaufen. »ICH MUSS EINFACH EINEN BH HABEN«, erklärte ich. »Warum?« fragte sie. Ich brach in Tränen aus, weil sie nicht erkannte, daß ich in alle möglichen Richtungen wackelte und wabbelte und daß ich viel lieber ein gutes Fleischermesser gehabt hätte, um die Rundungen kurzerhand abzuschneiden. Einmal drohte ich tatsächlich damit, es zu tun, als ich gerade in düsterer Stimmung mit meinem Vater im Auto saß. Er glaubte mir. Aber meine Mutter seufzte nur tief und sagte, na gut. Und der Rest verlief in eisigem Schweigen: unsere Fahrt zum Kaufhaus, unser Gang durch die Läden, unsere Suche in der Kinderabteilung des Dayton's, wo natürlich keines dieser verdammten Dinger passen wollte. Aber wir kauften trotzdem welche, häßliche, weiße Sport-BHs, die überall kratzten und zwickten. Sie waren zu eng. Meine Mutter war auf unerklärliche Weise wütend, deshalb beschloß ich, verdammt noch mal den Mund zu halten. Meine erste Periode bekam ich ebenfalls im Alter von zehn. Ich nahm eine Fünf-Dollar-Note von dem Geld, das ich zurückgelegt hatte, um mich über Wasser halten zu können, wenn ich von zu Hause ausreißen würde, und stapfte zum Valley View Drugstore. Dort knallte ich eine Schachtel Tampons auf den Ladentisch, starrte angestrengt zur Decke und zahlte. Wieder zu Hause, schloß ich mich im Badezimmer ein und las mir sorgfältig die Gebrauchsanweisung durch. Ich haßte die Zeichnungen, die Querschnitte halbierter weiblicher Körper.
Aber ich war, um die Wahrheit zu sagen, gleichzeitig dankbar dafür. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte ich das Gefühl, daß die Menstruation durchaus ein Segen war. In der Literatur über Eßstörungen wird durchgängig behauptet, daß Magersüchtige ihre Menstruation haßten. Ich liebte sie und vermißte sie sehr, als sie dann zwei Jahre später aussetzte.[7] Ich glaubte, daß ich dem Erwachsensein nun ein Stück näher gekommen wäre und daß es nun nicht mehr lange dauern könnte, bis ich aus dem Haus kam. In dieser Phase meines Leben hatte nichts Gültigkeit, was meine Mutter nicht lobte. Und in diesem Fall war meine Mutter wirklich die Person, von der am allerwenigsten Lob zu erwarten war. Also behielt ich mein perverses Vergnügen an den Blutungen für mich. Tatsächlich behielt ich sogar die Blutungen für mich und erzählte meiner Mutter fast ein ganzes Jahr nichts davon. Doch dann hatte ich kein Geld mehr und mußte gestehen. Ich murmelte, daß ich wohl gerade zum ersten Mal meine Periode bekommen hätte und ob sie mir, hmmm, irgend etwas, hmmm, besorgen könnte. Sie kaufte Binden und ging der Sache natürlich nicht weiter nach. Fast zwölf Jahre später finde ich heraus, daß sie die Menstruation bestenfalls für ein Ärgernis hält, auf keinen Fall aber für einen Grund zum Feiern. Ich war also in der fünften Klasse, blutete wie ein angestochenes Schwein und wurde mit einer einzigen Binde zur Schule geschickt. Beiläufig fragte ich sie, ob sie eine einzige Binde für ausreichend hielte. Natürlich, antwortete sie, und verzog das Gesicht, weil ich so überaus dumm war. An diesem Tag trug ich eine neue, weiße Guess-Jeans und ein T-Shirt, das ich von meinem eigenen Geld gekauft hatte, und stand in der vordersten Reihe des Chors in der Aula. Irgendein Idiot schrie plötzlich: He, Marya, wo hast du dich denn reingesetzt? Ich drehte mich um und betrachtete meinen Hintern: Blut von der Taille bis zu den Kniekehlen. Ich ging den schier endlosen Weg vom Chor zur Tür, das Kinn in die Luft gereckt, und suchte die Schulkrankenschwester auf, die mich darüber informierte, daß sie keine Binden hatte, weil (dummes Kind) dies doch eine Grundschule sei. Ups! Entschuldigung, ich dachte, ich wäre schon auf dem College. Sie nahm den Hörer ab, um meine Mutter anzurufen. Ich sagte ihr, daß meine Mutter nicht zu Hause sei. Wo ist sie? Sie arbeitet. Oh. (Diese Art Mutter.) Und wer ist dann zu Hause? Mein Vater. Oh, ich verstehe. Nun. Sie rief meinen Vater an, der mit weit aufgerissenen Augen zur Schule gerast kam und anbot, mich zum Arzt zu fahren. Danach schlug er einen Besuch in der Eisdiele vor. Er zuckte zusammen, als ich ihm zu Hause die Tür meines Zimmers vor der Nase zuknallte. Ich kroch in mein Bett, ließ die Jalousien herunter und kam eine ganze Woche nicht mehr raus. Ich konnte die flüsternden Stimmen durch die Wand hindurch hören: Was stimmt nicht mit ihr? Flüster Flüster. Flüster verrückt Flüster. Flüster.
Im folgenden Sommer war ich elf und fuhr allein an die Westküste. Ich wohnte bei meinem Großvater und meiner Stiefgroßmutter, die beide ununterbrochen tranken und buchstäblich nie aßen. Ich erinnere mich an ein Hors d'oeuvre (sie sagten mir, daß ich keine richtige Vorspeise bestellen sollte, das wäre zuviel gewesen) aus Muscheln in Weißwein. Ich aß, während sie mit dem Besitzer des Restaurants plauderten und Brüderschaft tranken. Ich entschuldigte mich, ging ins Bad, kaufte einen Tampon aus dem Automaten. Er kostete zehn Cent. Ich betrachtete mein Spiegelbild, das rosaweiß gestreifte Kleid, das extra für die Reise gekauft worden war, und dachte darüber nach, wie erwachsen ich aussah. Bei meinen Großeltern nahm ich ab, zumal ich vornehmlich von Cocktails namens Mint Julep und Shirley Temple lebte und ansonsten mit meinem Großvater um die Wette soff (Martinis). Ein Brief an meine Eltern, in dem die Zeilen meines Gekrakels nach unten laufen, endet mit dem P.S.: »Ich nehme kein Gramm zu!!!!!«
Als ich wieder zu Hause war, stritten meine Eltern und ich uns noch häufiger. Grundlos bekam ich Wutanfälle oder Heulkrämpfe. Ich wurde immer öfter »krank«, blieb zu Hause, stopfte alles in mich hinein, rollte mich auf der Couch zusammen und sah mir Seifenopern oder Quizshows an. Wenn ich alles aufgegessen hatte, übergab ich mich, kehrte nach oben zurück und holte mir noch mehr zu essen. Dann übergab ich mich wieder usw. Meine Bulimie entwickelte sich proportional zu meinem Körper. Bald übergab ich mich täglich. Wenn ich »krank« zu Hause lag, erbrach ich mich sogar mehrmals täglich. Mit elf Jahren trafen sämtliche diagnostischen Kriterien für Bulimia nervosa (in schwerem und unkontrolliertem Ausmaß) auf mich zu; mit elf Jahren war mein Körper voll entwickelt.
»Voll« ist das Schlüsselwort, und zwar sehr zum Vergnügen der älteren Jungs an meiner Schule, die im Flur an meinem BH zogen oder in der Mittagspause zu mir kamen und lüstern fragten: »Marya, trägst du einen BH?« Nein, sagte ich und starrte auf mein Essen, den klebrigen Ball aus Kartoffelbrei, die grauen Erbsen, das Boeuf Stroganoff, das wie Erbrochenes auf dem Teller lag. »Doch, das tust du. Gib es zu«, quälten sie mich grinsend weiter. Einer zeichnete auf meinem Rücken mit dem, Finger die Umrisse meines BHs nach, sanft, fast schon verführerisch; dann zog er daran und ließ ihn hart zurückschnellen. »Und was ist dann das hier?« fragten sie. »Hmmm? Hmmm? Ist das etwa kein BH? Wachsen dir etwa Brüste? Sag es!« riefen sie, wobei sie immer lauter wurden. »Sag: >Ich kriege Titten.« Sie lachten. Vor Zorn errötete ich vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. »Oh, jetzt wird sie auch noch rot! Werden deine Titten auch rot, Marya? Was für eine Größe trägst du denn?« Ich blickte auf, sah den Typ an, der mir gegenüberstand, einen blonden Hurensohn in einer Edina Hockey-Jacke, oder den brünetten, rotgesichtigen, mageren Knirps, dessen kleiner Schwanz in seiner Jeans zu sehen war, obwohl er die Hand in der Hosentasche vergrub, um ihn zu verbergen. Zwecklos. Sie alle waren ein und dieselbe gräßliche Kreatur. Ich zermarterte mir das Hirn auf der Suche nach einer schlagfertigen Antwort, doch schon platzte ich heraus: »Fuck off.« Ooooh, sagten sie und erzählten es gleich der Lehrerin, die gerade die Aufsicht hatte. Sie wiederum packte mich am Arm und zerrte mich aus dem Speisesaal hinaus. Ich drehte mich um und sah, daß sie mich auslachten. Einer legte zwei Finger in einem V vor den Mund und wackelte mit der Zunge dazwischen herum. Ich hatte keine Ahnung, was er damit meinte. Im Bad zog ich meinen BH aus, stopfte ihn dann in meine Schublade und kreuzte die Arme über der Brust. Inzwischen gibt es eine Vielzahl von Daten, die die Beziehung zwischen Pubertät und Eßstörungen dokumentieren. Die Wissenschaft wendet sich mittlerweile von der lange vertretenen Überzeugung ab, daß Eßstörungen das Ergebnis angeborener Neurosen seien, und richtet die Aufmerksamkeit auf das gesellschaftliche und familiäre Umfeld. Zum Thema Gesellschaft muß ich wohl nicht allzu viel sagen. Wenn die vorpubertäre Figur (leicht zu beeindruckenden, pubertierenden) Mädchen als Ideal vor Augen gestellt wird, dann ist es nur zu verständlich, daß diese sich gegen die plötzliche, stumme Weigerung ihres Körpers, den kulturellen Normen zu entsprechen, sträuben. Wenn sie sich körperlich normal entwickeln, reißen sie sich den Arsch auf, um die eigene Natur zu besiegen. Es ist nicht leicht, sich in einem Körper wohlzufühlen, der das genaue Gegenteil des gesellschaftlichen Ideals ist. Statt sich an der eigenen Weiblichkeit, an Zyklen und Kurven zu erfreuen, geraten Mädchen in Panik und wehren sich dagegen. Die Pubertät ist in unserer Kultur ein perverser Übergangsritus. Die nette Schulkrankenschwester kommt in die Klasse und erzählt, wie aus einem Mädchen »eine Frau wird«. Man möchte vor Entsetzen am liebsten schreien, weil einem sofort Visionen von Zellulitis im Kopf herumspuken. Mädchen, die zu Frauen werden, die anfangen, die älteren Frauen in ihrem Leben nachzuahmen: Sie halten Diät. Sie eignen sich das Vokabular ihrer Mutter an, deren Ausdrücke und Manierismen. Zwischen dem Brüten über Divisionsaufgaben und dem Völkerballspiel in der Pause diskutieren sie mit merkwürdig erwachsen klingenden Stimmen darüber, wie sie »ihr Gewicht in den Griff kriegen« können, wobei sie ein wissendes Lächeln aufsetzen. Sie kneifen in ihre Bäuche und verkünden: »Heute esse ich nichts zu Mittag, o nein, das sollte ich wirklich nicht tun.« Eine Frau zu werden bedeutet, ein vom eigenen Körper getrenntes Dasein zu führen und ihn zu verabscheuen. Sich ständig als fehlerhaft wahrzunehmen.
Selbst der Zeitpunkt, an dem die Pubertät einsetzt, ist für die Entwicklung von Eßstörungen von großer Bedeutung. Untersuchungsergebnisse stützen die Annahme, daß ein frühes Einsetzen der Pubertät eine signifikante Voraussetzung dafür ist, daß junge Frauen Eßprobleme entwickeln, während Mädchen, deren Pubertät später oder zum gleichen Zeitpunkt wie bei ihren Altersgenossinnen einsetzt, ein eher positives Körperbild und seltener Probleme mit dem Essen haben. Ich war nicht die einzige, der plötzlich schmerzhaft bewußt wurde, daß ihr Körper sexuell »gereift« war, während alle Mitschülerinnen noch schlaksig und kindlich waren. Genausowenig war ich die einzige, die versuchte, ihren Körper zu bekämpfen. Immerhin war er der sichtbare Beweis dafür, was alles falsch mit mir war: Ich hatte Hüften, einen Hintern, Titten und Kurven, was mich eindeutig als jemanden auswies, der Nahrung zu sich zu nehmen pflegte. Ich war ein Mensch und infolgedessen den ätherischen, blassen Mannequin-Typen oder dem großen, dünnen, blonden, blauäugigen skandinavischen Bikini-Typ, von dem meine kleine turnhallengroße Welt vornehmlich bevölkert war, diametral entgegengesetzt. Schlimmer noch: Ich war voll entwickelt und deshalb eindeutig ein sexuelles Wesen, und das zu einer Zeit, da die Jungs einem normalerweise immer noch auf die Schulter klopften und »Kumpel« nannten.
Zu diesen inneren Widersprüchen kommt, daß weibliche Sexualität gemeinhin mit sexueller Unersättlichkeit gleichgesetzt wird, mit Schwäche, mit der Unfähigkeit, den eigenen Appetit, den Hunger, die Bedürfnisse zu kontrollieren. Manche Experten gehen davon aus, daß Nahrung und Essen die Stelle der Sexualität als größtes kulturelles Tabu eingenommen haben.[11] Bis zu einem gewissen Grad teile ich diese Auffassung, möchte aber hervorheben, daß dieses Tabu sich nicht gegen Nahrung, gegen Sex oder das Fleisch selbst richtet, sondern gegen den Verlust von Kontrolle. Selbstbeherrschung gilt in unserer modernen Gesellschaft als persönliche »Macht« (im übrigen war dies auch innerhalb meiner Familie so). Blättert man die philosophischen Meisterwerke durch, stößt man auf Äußerungen des Heiligen Augustinus und anderer, die mit der gleichen Furcht und Bösartigkeit über Frauen sprachen wie wir heute von Nahrung: Sie war etwas »Sündiges«, etwas, das den Menschen »in Versuchung führt«, etwas, das zum Verlust der Kontrolle führt. Augustinus beispielsweise spricht von der schleimigen Begierde des Fleisches. Beachten Sie: Nicht das Fleisch selbst ist schlecht, sondern die Begierden, die es provoziert und die uns die Kontrolle verlieren lassen.[12]
Also meine Kontrolle oder zumindest das bißchen, das ich hatte. Meine sexuelle Entwicklung versetzte mich in Angst und Schrecken, und zwar nicht aus den Gründen, die Psychologen oft zitieren, sondern weil ich ohnehin schon voller Angst vor meinen Bedürfnissen, vor meinen Leidenschaften und - zugegebenermaßen auch vor meinem Hinterteil war. Das letzte, was ich mir wünschte, war mehr von den oben erwähnten Dingen. Ich glaubte, daß meine Umwelt mich ohnehin schon als unkontrollierbar wahrnahm, weshalb ich aufs höchste beunruhigt war, als sich auch noch mein Körper meiner Kontrolle entzog - und zwar sowohl innerlich als auch äußerlich - und ich war beunruhigt angesichts der Reaktionen, die dies hervorrief. Es war, als ob meine Umwelt schon durch die bloße Anwesenheit meiner Brüste sehen konnte, daß ich schlecht war, daß ich ein sexuelles Wesen mit diversen Begierden war. Ich schreckte vor meinem Körper zurück, als ob er mich zu verschlingen drohte.
Die Mißklänge in meinem Kopf waren jedoch keinesfalls ausschließlich kulturell bedingt. Meine Familie, die beim Thema Sex immer nervös wurde, reagierte auf meine Pubertät, die sich vom achten bis zum zwölften Lebensjahr hinzog, zunehmend bizarrer. Sie schienen ebenso überrascht und verärgert darüber zu sein wie ich. Jahre später sagte mein Vater, daß ich so etwas wie »ein fremdes Tier« für ihn wurde. Meine Mutter wußte schlicht und ergreifend nicht, wie sie sich verhalten sollte. Diese Situation ist keineswegs ungewöhnlich. Väter fühlen sich angesichts des Erwachsenwerdens ihrer Töchter häufig unbehaglich, und bei meinem Vater war die Reaktion ziemlich extrem. Meiner Mutter jagte meine körperliche Entwicklung solche Angst ein, daß sie verzweifelt alle möglichen Bücher zum Thema Das begabte Kind oder Das Kind, das zu schnell erwachsen wird las. Die Nähe, die ich vorher mit meiner Familie geteilt hatte - so seltsam und zaghaft sie auch gewesen war verschwand nun vollkommen, und schuld an dieser Entwicklung war in meinen Augen nur eines:[8] mein Körper. Meine körperliche und intellektuelle Entwicklung waren meiner emotionalen um Längen voraus. Meine Mutter war berechtigterweise besorgt, denn ich hatte gar nicht die emotionalen Mittel, der Verwirrung, die aus den neuen sexuellen und intellektuellen Möglichkeiten erwuchs, Herr zu werden. Bis zum Rand voll mit Hormonen schwadronierte ich am Abendbrottisch wie besessen über meine Noten und darüber, daß ich mit fünfzehn, also nach der High-School, die Columbia Medical School besuchen und Neurologin werden wollte, um mit zwanzig einen Weg gefunden zu haben, alle Krankheiten der Welt zu heilen. Meine Eltern starrten mich nur an und ermahnten mich, etwas realistischer zu sein. Da bekam ich einen Wutanfall, der meinem Alter durchaus entsprach. Neuere Studien gehen davon aus, daß Leistungsdenken und akademischer Ehrgeiz eine ebenso wichtige, wenn nicht sogar noch wichtigere Voraussetzung für die Entwicklung von Eßstörungen sind wie die sexuelle Reifung.[13] Insofern lassen sich Eßstörungen auf eine Kombination verschiedener Faktoren zurückführen: eine Familie, die hohe Erwartungen an die Leistungen ihres Kindes stellt (was sich deutlich von positiver Ermutigung unterscheidet, durch die das Kind angespornt wird, seine intellektuellen Fähigkeiten zu entwickeln); ein Kind, das dazu neigt, sich selbst übermäßig unter Druck zu setzen und das ein ungewöhnlich hohes Maß an Intelligenz und Begabung zeigt. Die Kombination dieser Faktoren hat oft genug eine geistige Lähmung des Kindes zur Folge. Es sagt sich von den Erwartungen - vor allem von seinen eigenen - los und flüchtet sich in vollkommen irrationale Verhaltensmuster, denen jedoch eine hoch organisierte Struktur zugrunde liegt.
Meine eigene Erfahrungen sahen folgendermaßen aus: Plötzlich war ich zutiefst und leidenschaftlich an allem interessiert. Ich konnte nicht aufhören, nachzudenken. Ich wachte nachts auf, mein Herz klopfte, meine Gedanken rasten. Ich schaltete das Licht an und begann, auf Notizzetteln Pläne zu entwerfen. Planen war - und ist immer noch - die einzige Möglichkeit, die Gedanken in einen langsameren Rhythmus zu zwingen. Und so plante ich mein Leben Schritt für Schritt, plante mein Vorgehen, um alle Aufgaben rechtzeitig zu lösen, damit letztlich alles gut würde. In der Hauptsache plante ich meine berufliche Laufbahn - wie ich Ärztin, Schauspielerin, Politikerin, Schriftstellerin, Geologin, Sängerin, Violinistin, Fußballspielerin, Schwimmerin, Professorin werden konnte. Alles schien möglich. Und alles schien notwendig, weshalb ich natürlich sofort damit anfangen mußte, mich auf jede mögliche Laufbahn vorzubereiten, denn sonst war es zu spät. Ich steigerte mich in helle Aufregung hinein. Ich besuchte zu viele Proben, nahm an zu vielen Sportkursen und Musikstunden teil, las bis spät in die Nacht unter der Bettdecke, las in der Schule, las in der Badewanne, fragte meine Eltern wieder und wieder: Glaubt ihr, daß ich das tun könnte? Dieses? Jenes? Sicher, antworteten sie. Warum nicht? Als ich etwa zwölf war, entwickelte ich ein zwanghaftes Verhältnis zur Zeit, war immer sicher, zuwenig Zeit zu haben, daß ich Zeit verschwendete und immer noch nichts Besonderes, Großartiges war. Ich begann, College-Kataloge zu lesen und meine Eltern zu nerven, mich ins Internat zu schicken, in der Hoffnung, daß ich dann schneller vorwärtskommen würde. Konfrontiert mit einer scheinbar unendlichen Anzahl von Möglichkeiten, gab ich schließlich innerlich auf. An einem bestimmten Punkt der Entwicklung droht man, im stetig anschwellenden Meer der Gedanken zu ertrinken. Diese Erfahrung überwältigt und überfordert einen jungen Menschen, der eigentlich noch damit beschäftigt ist, die Funktionsweise von Tampons zu verstehen und sich ansonsten mit der Frage herumquält, wie das Liebesbriefchen an den Mitschüler zu formulieren ist. Ich wollte Chirurgin werden und wünschte mir gleichzeitig nichts sehnlicher, als daß Chad mir etwas zum Valentinstag schenkte. Ich wollte, daß meine Mutter mich auf den Schoß nahm und daß sie mich - sofort - aufs College schickte. In dieser Phase der Entwicklung sind die Dissonanzen im Gehirn besonders extrem. Einige Kinder haben die Fähigkeit, sie zu ertragen. Ich hatte sie nicht. Der Gedanke an meine Zukunft erregte und ängstigte mich gleichermaßen. Es war, als stünde ich am Rand einer sehr steilen Klippe - ich konnte fliegen oder fallen. Ich wußte nicht, wie man fliegt, und ich wollte nicht fallen. Also wich ich zurück und machte mich auf die Suche nach einer klaren, vorgesehenen Flugbahn, der ich folgen konnte. Wie bei einer Diät.
- Heranwachsende Mädchen können dieses Emanzipationsstreben als Forderung an sie auffassen (...), sie müßten irgend etwas Besonderes tun. Viele meiner Patientinnen haben das Gefühl, sie könnten zwischen zu vielen Wegen wählen und lebten in der Furcht, nicht die richtige Wahl zu treffen.«[14]
In der sechsten Klasse begann ich, mir immer mal wieder »ein paar Tage frei« vom Essen zu nehmen, um »meinen Körper zu reinigen«. Ich warf mein Mittagessen in den Abfalleimer und behielt nur die Möhren und den Apfel. Wenn ich heute darüber nachdenke, erkenne ich, daß ich damals begann, mich in mich selbst zurückzuziehen, mich abzuwenden vom Lachen und dem Lärm meiner Freundinnen, daß ich mich statt dessen auf die Empfindung des Hungers konzentrierte, auf das herrliche, wirbelnde Gefühl in meinem Kopf, daß ich mich aus Unterhaltungen ausblendete und wieder hineindriftete. Während mein Mund vor sich hin schwatzte, wanderten meine Augen in die Ferne, und meine Gedanken wandten sich dem Schmerz in meiner Magengrube und dem Gefühl absoluter Macht zu, das so stark war, daß es mir Herzklopfen verursachte. Schließlich brach ich wieder zusammen und aß. Und aß und aß und aß. Auf dem Nachhauseweg hielt ich am Supermarkt in der Nachbarschaft an, um mir gläserweise scharfe Saucen, Karamellcreme, Marshmallow-Creme zu kaufen. Ich löffelte jedes Glas leer. Der Freßanfall lieferte mir eine vollkommen vernünftige Entschuldigung, um mit dem Essen wieder aufzuhören. - An manchen Nachmittagen war ich mit zwei Freundinnen aus der Nachbarschaft verabredet. Wir gingen zu Sarah nach Hause und setzten uns in die gemütliche Küche ihrer Eltern. Dort pflegten wir eine Art kleine Gemeinschaft mit hysterischem Gelächter, gefolgt von plötzlichem Schweigen und Essen. Während wir über unsere Hausaufgaben sprachen oder uns auf der weißen Couch vor dem Fernseher räkelten, aßen wir: süße Mürbekuchen mit Butter, Eiscreme mit Schokoladensauce, Kartoffelchips, Doppelkekse mit Schokoladenfüllung, Hamburger, die wir in der Mikrowelle zubereitet hatten, Bisquitrollen mit Fruchtcreme, Multivitaminbonbons. Schließlich hörten die anderen beiden auf zu essen. Ich nicht. Erst kurz vor der Abendessenszeit trennten wir uns wieder. Ich ging nach Hause, übergab mich, aß mit meinen Eltern zusammen zu Abend, stritt mit dem einen oder der anderen, machte meine Hausaufgaben, nahm noch einen Snack zu mir, badete (übergab mich) und ging dann zu Bett. Schlaflos lag ich da. Warf mich herum. Der Kopf pochte. Die Finger geschwollen, die Kehle aufgebläht wie die eines Ochsenfrosches. Das Licht ausgeschaltet, die Dunkelheit und die rasenden Gedanken. Die Ängste. Die Gebete.
- Nach dem Erbrechen kommt es vor, daß sich im Körper der an Bulimie erkrankten Person Flüssigkeit sammelt ... was Ödeme an Händen und Beinen verursacht ... Störungen im Elektrolythaushalt führen außerdem zu den verschiedensten anderen Symptomen. Hierzu gehören allgemeine Schwächeanfälle, Verwirrung, Gedächtnisverlust und Denkstörungen sowie emotionale Labilität.[15]
Meine Freundinnen waren allesamt erstaunlich intelligent und phantasievoll, wenn auch ein paar von ihnen etwas eigenartig. Und traurig. Die Mädchen in unserer Clique, die sich in den folgenden Jahre zusammenfand, ertasteten sich den Weg durch eine puppenhausgroße Welt, erzählten sich gegenseitig Geheimnisse, übernachteten gelegentlich beieinander und probierten vielleicht auch ein- oder zweimal aus, wie es sich anfühlte, einander zu berühren. Mädchen, die mit vorsichtigen gedämpften Stimmen die schmutzige Familienwäsche voreinander ausbreiteten. Die Familien hatten Geheimnisse, die keiner von uns wirklich mit Gewißheit je durchschaute: eine verrückte Mutter, ein inzestuöser Vater, Geld, das mehr Schmerz als Freude verursachte, eine kleine, bösartige Anwandlung von Katholizismus, ein Hauch davon, ein Spritzer hiervon. Meine eigene Familie war für sie ebenso ein Geheimnis, wie ihre Familien es für mich waren. Sie wußten, daß ich häufig Streit mit meinem Vater hatte und selten mit meiner Mutter sprach. Sie wußten, daß ich meinen Körper haßte. Sie wußten schon fünf Jahre vor meiner ersten Krankenhauseinweisung, daß ich eine Eßstörung hatte. Aber was hätten sie tun sollen? Wir hätten einander so gern etwas Tröstliches gesagt, aber es gab nichts. Wir lagen dicht beieinander in unseren Betten und besprachen die typischen Ängste, unter denen Teenager leiden: Jungs, Schule, die Zukunft, Sex, unsere Körper, das Leben. Diese Mädchen halfen mir eine ganze Weile, geistig relativ gesund zu bleiben. Kurz darauf endete meine Kindheit und mit ihr das existentielle Gefühl von Angst. Heute weiß ich, daß sie lediglich sublimiert, hinuntergeschluckt, ausgekotzt, weggehungert wurde. In dem Sommer, der zwischen Grundschule und Junior High School lag, verwandelte ich mich in eine junge Frau mit Namen Miss Unmöglich. Ich erinnere mich nicht daran, was in jenem Sommer geschah. Aber auf dem Foto, das mich an meinem ersten Schultag in der sechsten Klasse zeigt, trage ich einen knielangen blauen Rock und eine karierte Bluse, Socken und Tennisschuhe, Pferdeschwanz, Haarschleife und lächele ins teuflische Auge der Kamera. Ein Jahr später lehne ich an unserem Haus, trage die Haare offen und einen langen schwarzen Rock mit einem unförmigen Top; kein Lächeln, das Gesicht dünner, Lippenstift, Morgenlicht. Ich bin zwölf Jahre alt. Und sehe aus wie zweiundzwanzig.
Während der Übergangsphase von der Grundschule zur Junior High School begann ich förmlich mit dem Spiegel zu verschmelzen. Meine Mutter fand, daß ich aussah wie eine Vagabundin, mein Vater schwankte zwischen Wut, Sorge und Schweigen hin und her. Mein Gesicht verblaßte, verwandelte sich vom Kindergesicht in etwas Schmaleres mit klareren Konturen. Meine Knochen wuchsen zu etwas beinahe Hübschem heran: Ich wurde größer, und mein Körper verlor das linkische Aussehen, das die Brüste der kindlichen Gestalt verliehen hatten. Stundenlang stand ich vor dem Spiegel, steckte mir das Haar hoch, ließ es wieder hinunter, probierte Kleid um Kleid an. Beobachtete die winzigen Bewegungen der Haut, die sich um die magere Gestalt spannte, horchte auf das seltsame Rauschen der Seidenbluse auf der nackten Haut. All dies sah ich und sagte, daß es gut sei. Meine Eltern jedoch hielten es keineswegs für gut. Im Rückblick ist ihre Reaktion verständlich - wenn die Tochter viel zu schnell erwachsen wird, verursacht das Angst - aber zum damaligen Zeitpunkt konnte ich das nicht nachvollziehen. Mein ganzes Leben lang hatte ich geglaubt, daß meine Eltern die Kindheit für einen wenig erstrebenswerten Zustand hielten und daß sie sich ein erwachseneres Verhalten von mir wünschten. Als ich schließlich unwiderruflich tatsächlich älter wurde, erlebte ich ihre Reaktion als Ablehnung. Sie schienen meinen Anblick zu meiden. Ich manövrierte und drängelte mich in ihr Blickfeld, ich stritt mit ihnen: SEHT HER! sagte ich. SEHT HER, ich werde erwachsen, was ist daran so schrecklich? Wo seid ihr hingegangen? Warum will mich nicht einmal jemand ansehen? Wie die Befürchtung, daß mein Körper zum Feind überlaufen würde, so war auch die Angst, meine Eltern würden eines Tages verschwinden, wahr geworden. Eines Tages ging ich ins Badezimmer, zog die Schublade auf, in der meine Mutter ihr Makeup aufbewahrte, und ließ das, was ich als sehr kleines Kind getan hatte, auf merkwürdige Weise noch einmal geschehen: Ich schminkte mich. Schwarzer Eyeliner im Cleopatra-Stil, grüner Lidschatten, leuchtend roter Lippenstift, dick aufgetragene Wimperntusche. Ich trat zurück und betrachtete mein Werk im Spiegel. Ich befeuchtete meine Lippen. Dann wollte ich mich auf den Weg zur Schule machen. An der Tür kam mir mein Vater entgegen. Er sah mich an und fragte: »Hast du etwa Make-up aufgetragen?« - »Ja«, sagte ich. »Wasch es ab«, befahl er. Ich ging zur Tür hinaus und tänzelte davon, während er im Pyjama auf der Treppe stand und hinter mir herschrie. Als ich zur Tür hineinkam, rümpften meine Mitschüler die Nase. Ist das Parfüm? Meine Mutter wiederholte die Worte, die ihre eigene Großmutter geprägt hatte: Du kannst dich verkleiden, wie du willst, aber dein Arsch bleibt trotzdem derselbe. Ich stand im Badezimmer, Stapel von Kleidungsstücken auf dem Boden, auf dem Bett, auf dem Stuhl, ich zog erst dieses an, dann jenes, jede mögliche Kombination von Kleidern, irgend etwas, das mich älter aussehen ließ, etwas, das die endlose Spanne zwischen hier und dort verkürzen würde. Im Rückblick kann ich die Angst meiner Eltern durchaus verstehen. Später sagen sie mir, sie befürchteten, daß ich drogensüchtig war, daß sie nicht beurteilen konnten, was als normale Stimmungsschwankungen und Rebellion eines Teenagers anzusehen war und wo die wirkliche Störung begann. Und so verschoben sie die Grenzen dessen, was als normal gelten konnte, immer weiter. Meine Mutter sagt, daß sie glauben wollte, mit mir sei alles in Ordnung. Schließlich war ich objektiv gesehen zu jung, um auszusehen, wie ich aussah, und daherzureden, wie ich daherredete. Wenn ich heute darüber nachdenke, fühle ich mich hin und her gerissen zwischen der kleinlichen Haltung der Erwachsenen, die ein Kind mit hohen Absätzen und toupierten Haaren ablehnen (Hure) und meinen eigenen Erinnerungen an jene Zeit. Ich sah nicht aus wie ein Kind und fühlte mich auch nicht so. Mit mir geschah irgend etwas Unfaßbares: Gift war in mein Blut gedrungen. In meinem Geist wird alles dunkel: Die Farben dieser Zeit sind düster und allgegenwärtig, Blutrot und Schwarz, Schatten, dunkle Zimmer, dunkle Flure und sehr dunkle Begierden. Nach der Schule stand ich in der Küche, schlang Essen herunter ohne den Geschmack wahrzunehmen, starrte auf das Fernsehen, ohne etwas mitzubekommen. Ich lebte routinemäßig: wusch mein Geschirr ab, ging ins Badezimmer, kotzte. Im Schlafzimmer starrte ich in den Spiegel. Als ich mit zwölf in die Junior High School kam, übergab ich mich schon seit drei Jahren fast täglich. In der siebten Klasse steigerte sich die Rate auf zwei bis dreimal am Tag. Mittlerweile erbrach ich mich, wann immer ich Gelegenheit dazu hatte. Bis zu meinem zwölften Lebensjahr hatte ich wahrscheinlich immer noch Angst vor der Bulimie, obwohl meine Erkrankung immer ernster wurde. in der morbiden Stille meines Elternhauses fraß und kotzte ich nach der Schule täglich. Meine Gedanken fliehen vor diesen frühen Jahren, wollen sie nicht näher betrachten. Mein Hirn sagt: Das sind nur die Aufwärmübungen. Die Schulzeit. Es war doch alles gut. Ich durchlebte die üblichen Auseinandersetzungen auf dem Schulhof, die melodramatischen Krisen. Ich hatte viele Freunde, enge Freunde, die ich sehr liebte und schließlich verlor. Nichts war wirklich so schlimm, sagte ich mir immer wieder. Es gab nichts, was nicht durch einen kleinen Gewichtsverlust wieder hätte behoben werden können. Aber nach meinem zwölften Geburtstag verblaßte die Angst vor der Bulimie immer mehr, und das ist der springende Punkt! Man sollte schließlich Angst vor selbstquälerischen Aktionen haben. Doch das Gegenteil war der Fall: Sie führten mich in Versuchung. Sie bettelten und lockten. Der dunkle Ort, in den mein Geist sich verwandelte, verschmilzt in meiner Erinnerung mit dem dunklen Schoß der Kirche: dem Gesang, der Fuge des Gebets, der seltsam erotischen Energie, die ich verspürte, als ich mir mit einem Nagel ein kleines Kreuz in den Oberschenkel ritzte. In der grellen, gleißenden Bilderbuchsonne der kleinen Stadt schuf ich mir sorgfältig meine eigene, private Hölle. Und hier beginnen die Bilder vor Hitze zu flimmern, zu schmelzen, weiße Flecken auf dem Bildschirm, kein Bild. Die Chronologie endet - Zeit und Sprache kreisen um sich selbst, verwandeln sich in etwas anderes. Die Zeiten, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verlieren ihre Bedeutung. Jetzt wird mein Leben zu einem Theater des Absurden: die Verwechslung von Identitäten, die schrecklichen Zufälle, die übertriebenen Gesten, die leeren Auseinandersetzungen, zwei Handlungsstränge, die einander umkreisen, die den Kontakt um den theatralischen Bruchteil einer Sekunde verpassen. Mein Ich am Tag, mein Ich bei Nacht. Das Leben innerhalb der vier geblümten Wände meines Kinderzimmers und das Leben in den widerhallenden, makellosen, weißen Fluren des Elternhauses, der Schule, der Kirche. Hinter der Bühne und auf der Bühne. Hinter den samtenen Vorhängen des Bühnenvorraums saß ich vor dem Spiegel, nahm die kalte, weiße Creme und die Papiertücher und wischte mir das dunkle Schwarz von den Augen, dann das Rosenrot und den weißen Puder von den. Wangen, das Blutrot von den Lippen. Ich saß da und starrte schweigend auf das weiße Nichts, das übrig geblieben war. Auf die ovale Abwesenheit, umrahmt von wildem, schwarzem Haar. In dem Jahr, als ich in die Junior High School kam, veränderte sich alles. Zum einen diktierte die Bulimie nun mein Leben. Sie war nicht länger eine Nachtwanderung, ein Strudel, in den ich dann geriet, wenn meine Gedanken wieder einmal besonders verrückt spielten, wenn ich wütend, einsam, traurig war oder mich leer fühlte. Sie begann, Macht über mich auszuüben und ein Eigenleben zu führen. Von diesem Zeitpunkt an gibt es keinerlei Erinnerungen mehr, die nicht mit Essen, meinem Körper oder dem Erbrechen verbunden sind. Die Bulimie wurde zur Zentripetalkraft, die mich aufsog, sie war etwas, das ich kannte und brauchte. Verzweifelt. Ständig. Bei jedem Bissen, den ich in den Mund steckte, mußte ich unwillkürlich daran denken, ob, wann und wo ich mich übergeben würde. Ich sah nicht ein einziges Mal in den Spiegel, ohne daß ich dachte: Fett. Denken wir zum Beispiel an die Parties, die wir auf der Junior High School feierten. Sie begannen um 19 Uhr und endeten um 21 Uhr. Wenn man Glück hatte, etwas später. Vorher probierte man jedes einzelne Kleidungsstück an, das man selbst oder die Mutter besaß auf der Suche nach dem einen Teil, in dem man besonders dünn aussähe. Fünfzehn etwas seltsam wirkende Kinder versammeln sich im Keller eines eleganten, riesigen Hauses. Und alle fangen an zu essen. Bis dahin ist alles noch relativ normal. Das tun Menschen auf Parties nun einmal. Sie essen Mäusespeck, Brezeln und Chips, und keiner rührt die Salate an. Man knabbert Kekse und Schokoküsse, die irgendeine Mutter in eine Schüssel aus geschliffenem Kristall gefüllt hat. Eine andere Mutter lauert im Türrahmen und wirft der Mischung aus Jungen und Mädchen nervöse Blicke zu. Dann wird die Pizza bestellt. Jemand legt einen Film in den Videorecorder ein.
Wie auch immer. Wenn man an Bulimie leidet, dann zieht man sich zurück, sobald die Lichter ausgehen und die kindlichen Paare sich zusammenfinden, sich abknutschen und ungeschickt auf den Sofas zusammenhocken und aneinander herumfummeln. Das Gesicht ist rot vor Angst, daß das Essen verdaut ist, bevor man es herausbekommt. Man fragt die liebreizende, perfekt gestylte Mutter im Türeingang, wo das Badezimmer sei. Sie zeigt einem den Weg und lächelt liebenswürdig. Man geht ins Badezimmer, nimmt die Messingarmaturen am Waschbecken wahr, die Laura-Ashley-Tapete, die frischen Blumen in der Waterford-Vase, den Weidenkorb mit Zeitschriften, unter denen sich der Condé Nast Traveler und das Forbes-Magazin befinden. Man erstellt im Geiste eine Inventarliste all dieser Dinge und betrachtet prüfend sein Gesicht im Spiegel. Man betet zu Gott, daß man auch nach der Kotzerei noch normal aussieht, dreht das Wasser voll auf, um das Würgen und Platschen zu übertönen, und betet zum Teufel, daß die Wände dick genug sind, so daß niemand etwas hört. Man hebt den Toilettensitz, läßt die Finger vorsichtig in den Mund und die Kehle hinabgleiten und kotzt, bis man orangefarbene Flecken vor den Augen hat. Der Mäusespeck. Ihn hat man zuerst gegessen, weil man, wie die meisten Bulimiker, ein System von »Markierungslebensmitteln« entwickelt hat. Man ißt Nahrungsmittel mit kräftigen Farben zuerst, damit man hinterher sehen kann, wann alles draußen ist, und es kommt alles heraus, in umgekehrter Reihenfolge: die Pizza, die Kekse, die Chips, die Brezeln, der Mäusespeck, alles schwimmt in einem dunklen Colastrudel. Man richtet sich auf und spült. Dann dreht man das Wasser herunter, hält die Hände darunter, schrubbt sie mit der Seife aus dem Designer-Seifenspender und mit der Nagelbürste. Man schrubbt kräftig, riecht dann an Händen und Unterarmen. Man betrachtet das Gesicht. Danke Gott. Nicht aufgedunsen, die Augen ein bißchen wäßrig, aber nicht rot oder verquollen. Man spült den Mund mit Wasser aus, dann sucht man im Unterschrank nach Mundwasser, findet es, schüttet es in den Mund, spült. Trägt neuen Lippenstift auf. Lächelt seinem Spiegelbild zu, die Augen strahlend und weit geöffnet. Öffnet die Tür, geht die Treppe hinunter. Die Freunde wenden sich um und sagen: »Warum hast du das Wasser laufen lassen?« In den Häusern in Minnesota laufen die Wasserrohre durch die Mitte des Hauses und enden im Keller. Man kann auch noch drei Stockwerke darunter hören, wie das Wasser rauscht. Man lacht und sagt: »Ich bin ein bißchen paranoid, wenn andere mich pinkeln hören.« Alle lachen. Der Freund sagt neckend: »Wir haben es trotzdem gehört.« Man erstarrt, immer noch lächelnd. »Nein, das war nur ein Scherz«, sagt er. Man lacht nervös, nimmt seinen Platz neben ihm ein, setzt sich auf die Hände, um ihr Zittern zu verbergen, ebenso wie die Kratzer auf den Knöcheln der ersten beiden Finger der rechten Hand.
- Selbstinduziertes Erbrechen ... verursacht Abschürfungen auf dem Rücken der beherrschenden Hand oder den Knöcheln, wo sich auch Narben bilden können.[16]
Mein Freund war süß. Unsere Teenager-Liebe war denkbar unschuldig. Doch sowohl meine als auch seine Eltern gerieten in Panik. Du bist viel zu jung für so etwas, sagten sie. »So etwas«, das waren Teddybären am Valentinstag, Samstagnachmittage, die wir händchenhaltend auf der Couch saßen und uns Filme ansahen, während mein Vater unzählige Entschuldigungen fand, um durch den Raum zu schleichen und uns mißtrauische Blicke zuzuwerfen. Wir küßten uns zum Abschied, flüsterten bei nächtlichen Telefonaten dramatische Liebesschwüre, tauschten in den Schulfluren Liebesbriefe aus. Alles war vollkommen sittsam. Ich begann, mich zu fühlen, als ob mir in großen Neonschriftzügen die Worte FUCKED UP auf der Stirn stünden. Es gab keinen sichtbaren Grund, warum seine Eltern mir hätten mißtrauen sollen und auch keinen, warum meine Eltern diese Beziehung so mißtrauisch beobachteten. Ich hatte das Gefühl, sie wußten, daß etwas mit mir nicht in Ordnung war, sie den Grund kannten, warum ich schwierig war, ihn jedoch nicht in Worte fassen konnten. Das gleiche galt in der Schule. Gerüchte über mich daß ich schwanger sei, daß ich leichtfertig sei, daß ich Drogen nähme - machten in der siebten Klasse die Runde, was mich wütend machte, denn nichts von all dem war bis zu diesem Zeitpunkt wahr. Die Schule war die Hölle für mich. Meine Noten wurden schlechter. Aus den Einsern wurden Dreier und Vierer, gelegentlich auch mal eine Fünf. Ich hatte die ganze Zeit über Probleme. Ich gab Widerworte, saß in der hintersten Reihe des Klassenzimmers, las während des Unterrichts Romane, schwatzte, schrieb Briefchen und Zettelchen und prügelte mich mit den Jungen, die mich wütend machten.
Meistens waren es die Mitschüler, die Geld hatten, die Hokkey spielten, die den Mädchen in den Hintern kniffen, schmutzige Witze erzählten, die einen zum Erröten brachten und denen es immer gelang, mich zu einer lautstarken Schimpfkanonade aus Obszönitäten zu provozieren. Ich verbrachte ziemlich viel Zeit mit Nachsitzen, mit Strafarbeiten oder wurde einfach nur aus dem Klassenzimmer verbannt. Eines Tages mußte ich nach der Schule wieder einmal nachsitzen: Ich las ein Buch und aß eine Tüte Chips. Die Lehrerin wußte nicht, daß diese Chips das erste waren, was ich an diesem Tag zu mir nahm und daß es auch das letzte sein würde. Sie wußte nicht, daß ich an Bulimie litt. Sie war eine nette Frau, die mich dazu ermutigte zu schreiben und die mich häufig genug zu sich rief und mich mit sehr besorgter Stimme darauf hinwies, daß ich mein Potential nicht ausschöpfte. Sie meinte es gut, weshalb ich ihr nicht vorwerfe, daß sie in diesem Augenblick den Finger vor meiner Nase hin und her schwenkte und mit Blick auf die Chips, die ich gerade in mich hineinstopfte, sagte: »Eine Sekunde auf der Zunge, für immer auf den Hüften.« Ich hielt mitten im Kauen inne. Betrachtete ihre Hüften. Sie waren sehr ausladend. Sie lächelte mir zu. Ich lächelte zurück. Auf dem Weg zur Tür warf ich die Tüte mit den restlichen Chips in den Mülleimer. Dann lief ich geradewegs zur Toilette und übergab mich in der ersten Kabine neben der Tür. Heftiger Schwindel befiel mich, als ich den Flur hinabging, meine Schritte hallten seltsam laut wider. Ich stolperte, als ich die Treppe hinunterging, stieß mir den Kopf an der Wand. Ich rieb mir die Beule und betrachtete das Muster auf dem Kachelboden, das sich meinem Gesicht zu nähern und dann wieder zurückzuweichen schien. Ungefähr ab diesem Zeitpunkt begann ich, regelmäßig unter schweren Migräneanfällen zu leiden, die mich zu strikter Bettruhe zwangen. Zitternd lag ich in der künstlichen Nacht der heruntergezogenen Jalousien unter kalten Tüchern. Ich bekam heftige Menstruationskrämpfe, litt im Sportunterricht unter Schwindelanfällen. Dann zog ich mich in den Umkleideraum zurück, wo ich kotzen und mich in aller Ruhe hinlegen konnte. Auch in anderen Schulstunden wurde mir schwindlig. Schwarze Punkte tanzten mir vor den Augen, wenn ich das Klassenzimmer verließ und mich auf den Weg zur Schulkrankenschwester machte, wo ich mich hinlegen konnte. In ihrem Büro war es immer sehr still. Man hörte nur, wie sie mit den Papieren raschelte. Ich bekam heftige Rückenschmerzen. Meine Mutter massierte mich, wobei sie Knoten behandelte, die so groß waren wie ihre Faust. Meine Eltern gingen mit mir zu verschiedenen Ärzten. Viele Jahre verbrachte ich damit, mit Neurologen, Spezialisten für Biofeedback, Orthopäden, Kieferorthopäden, Gynäkologen, Kinderärzten und Rückenspezialisten über meine diversen Leiden zu sprechen. Ich saß in den Wartezimmern, blätterte die Frauenzeitschriften durch, las die Diätartikel und die Anzeigen, die die neuesten Methoden zum Fettabsaugen anpriesen. Man gab mir Tabletten und versuchte, die Ursache herauszufinden, aber niemand kam dahinter. Seltene und geheimnisvolle Krankheit. Psychosomatische Beschwerden.
- (Bulimische) Patienten neigen dazu, zu somatisieren, d.h. andere Körpersymptome zu entwickeln. Diese Patienten werden häufig zu anderen medizinischen Spezialisten überwiesen, denn sie klagen über Kopf- und Rückenschmerzen, Atembeschwerden, Bauchkrämpfe und Übelkeit, Muskel- und Gelenkschmerzen und so weiter ... Zweifellos ist der Schmerz da, aber er taucht sozusagen am falschen Ort auf. Die Gefühle sind es, die den Körper von innen heraus zu sprengen drohen ... (der Patient) aber möchte viel lieber eine konkrete und behandelbare Krankheit haben als eine peinliche, diffuse, potentiell nicht behandelbare psychische.[17]
Eines Abends setzte ich mich an den Abendbrottisch, sah meine Mutter an und beobachtete, wie sie den Mund aufriß und schrie. »Was, zum Teufel?« sagte ich und entschuldigte mich gleich wieder. »Mein Gott«, sagte mein Vater und starrte mich an, als ob mir gerade Hörner gewachsen wären. »Was?« fragte ich. »Liebes, was ist mit deinen Augen los?« Er streckte die Hand nach mir aus. Ich riß mich los und hastete zum Spiegel, der über dem Büffet hing. Ich sah hinein: Die untere Hälfte des Weißen in meinen Augen war tief rot. Meine Augen sahen aus, als ob sie blutige Tränen weinten. Tatsächlich waren beim Erbrechen an diesem Nachmittag sämtliche Blutgefäße geplatzt, und die rote Flüssigkeit lag nun unter der schimmernden, durchsichtigen Haut. Ich schrie und lief auf mein Zimmer.
Mein Leben war in zwei Teile geborsten, endgültig und definitiv, genau zu diesem Zeitpunkt, in der siebten Klasse. Die äußere Welt rückte in weite Ferne, zog sich schließlich ganz in den Hintergrund zurück. Kalter Schweiß rann mir das Gesicht hinunter, während ich auf den Fluchtpunkt zulief. Damals hatte ich nicht das Gefühl, daß es endgültig sei. Es war mir nur peinlich. Ich hatte Pech und wäre beinahe erwischt worden - mehr nicht. Manchmal denke ich darüber nach, wie anders mein Leben verlaufen wäre, wenn ich das getan hätte, was ich hätte tun sollen: Ich hätte beichten sollen. Ich hätte Angst haben sollen. Ich hätte auf diesen Fingerzeig des Schicksals, daß es nur noch schlimmer werden könnte, achten sollen. Doch das tat ich nicht. An diesem Abend übergab ich mich erneut, wobei ich fast befürchtete, daß meine Augäpfel explodieren würden. Aber es war viel viel wichtiger, das Abendessen loszuwerden. Natürlich war das Erbrechen zu diesem Zeitpunkt der einzige Weg, den ich kannte, um mit meinen Ängsten klarzukommen. Dieses Paradox bestimmte mein Leben: Man weiß, daß das, was man tut, einem Schaden zufügt, einen vielleicht sogar umbringt, und man hat Angst davor - aber trotzdem hält man an der Vorstellung fest, daß es einen retten könne und daß letztlich alles gut würde. Irgendwann hat eine Eßstörung nichts mehr mit den Umständen zu tun. Es geht nicht mehr um die Familie oder um die Kultur, in der man aufwächst. Die Störung wird einfach zur Sucht, emotional und körperlich. Und sie verwandelt sich in einen Kreuzzug. Wer ehrlich zu sich selbst ist, der glaubt irgendwann nicht mehr daran, von seiner Umwelt zu einem solchen Verhalten »gebracht« worden zu sein - wer sollte so etwas tun, die Eltern vielleicht? Sie wollen, daß man sich zu Tode hungert? Nicht sehr wahrscheinlich. Die Umgebung? Der könnte es kaum gleichgültiger sein. Man tut es für sich selbst. Man nimmt die Abkürzung, um ans Ziel zu gelangen, ein Ziel, das jedoch nur Frauen ohne Eßstörung wirklich erreichen können: respektiert zu werden und Macht auszuüben. Die Eßstörung ist ein Wutanfall. Eine wirkungslose Aussage über diesen oder jenen Mißstand, ein groteskes, selbstzerstörerisches Spottgedicht auf das kulturelle Schönheitsideal und die Frauenfeindlichkeit in unserer Gesellschaft. Sie ist ein Schlag gegen die Eltern, auf die man wütend ist. Und eine Eßstörung ist auch so verführerisch. Sie beruhigt, sie verschlingt einen mit Haut und Haaren, und sie ist unterhaltsam.
Am Anfang.
»Nun!« dachte Alice bei sich. »Nach einem solchen Fall würde es mir wahrscheinlich nicht einmal mehr etwas ausmachen, die Treppe herunterzufallen! Zu Hause werden sie bestimmt darüber staunen, wie mutig ich bin! Nein, ich würde nicht einmal mehr einen Mucks von mir geben, wenn ich vom Dach eines Hauses hinabfiele!« ... Hinab, hinab, hinab. Würde der Fall jemals enden?
Die Zeit auf der Junior High School ist für die meisten Menschen eher unangenehm. Für mich war sie das jedenfalls ganz sicher. Meine Familie versank in wütendem Chaos. Meine Eltern kamen, wie üblich, nicht besonders gut miteinander aus, und ich kam sowieso mit niemandem gut zurecht. Mein Vater und meine Mutter waren extrem unberechenbar. Wenn ich mit meiner Mutter heute darüber spreche, sagt sie, daß sie sich damals in der Familie nicht willkommen fühlte. Damit sind wir schon drei. Wir flatterten zur Tür hinein und wieder hinaus. Wir kauerten uns auf der Couch zusammen, wir schleppten uns durch die ritualisierte Farce des Abendessens, bei dem das Besteck gegen die Teller klirrte. Meine Mutter ist, ebenso wie ich, ein Workaholic von erstaunlichen Ausmaßen, und sie tauchte in Meetings und Konferenzen unter. Mein Vater hatte ungewöhnliche Arbeitszeiten und war häufiger zu Hause als sie. Aber er und ich lebten im unausgesprochenen Kriegszustand. Nichts war uns unwichtig genug, um darüber nicht mit roten Gesichtern lautstark zu streiten. Ich entdeckte die kathartische Wirkung der Zerstörungswut, wobei meine Aktivitäten sich auch gegen unsere Türrahmen richteten (sich jedoch keinesfalls darauf beschränkten), die von meiner Angewohnheit, ständig die Türen zu knallen, in Mitleidenschaft gezogen wurden. Ebenso gern stürzte ich mich von der Tür direkt aufs Bett, vergrub das Gesicht in den Kissen und trat und schlug gegen die Wände. Jahre später, als wir uns im Rahmen einer Familientherapie mal wieder anschrien, wurde uns unsanft vor Augen geführt, daß wir nur aus einem einzigen Grund so heftig und so häufig miteinander stritten: Dies war die einzige Verbindung, auf die wir uns einigen konnten. Wir quälten und peinigten uns, schlugen aufeinander ein, zerrten und zogen aneinander - aber auf diese Weise blieb zumindest der Kontakt erhalten. Wir hatten die Sicherheit, daß die anderen noch da waren, daß sie wußten, daß man selbst da war, daß wir alle die uns gebührende Aufmerksamkeit erhielten, daß wir noch zusammen waren, und sei es auch nur zu dem einzigen Zweck, einander zu bekämpfen. In Ermangelung von Zärtlichkeit zogen wir den Kampf einem langsamen Rückzug voneinander, den das Schweigen zur Folge gehabt hätte, vor. Haß ist der Liebe viel verwandter als Gleichgültigkeit. Als ich älter wurde, wurden auch unsere Auseinandersetzungen immer härter. Wahrscheinlich hatten wir alle Angst vor dem unabwendbaren Augenblick, da es still werden würde auf unserem gemütlichen kleinen Schlachtfeld. Wir fürchteten den Moment, da unsere Familie auf die verbrannte Erde und die Ruinen unseres getrennten Lebens zurückblicken würde. Und wo genau lag das Problem? Eine interessante Frage, auf die es möglicherweise keine eindeutige Antwort gibt. Es gab kein klar umrissenes und ausgesprochenes Problem. Alles, so lautete die Parole, war in Ordnung. Die Leute, die wir in der Kirche trafen, hielten uns für die vollkommene Familie. Meine Freunde fanden meine Eltern absolut reizend. Die Freunde meiner Familie hielten mich für ein liebes, wenn auch etwas hyperaktives und vorlautes kleines Ding. Später sagten die Therapeuten: »Ihre Familie hatte sich ein sorgfältiges Selbstbild konstruiert, das besagte: Wir sind eine gute, bodenständige Familie. Alles ist in Ordnung.« Und wir bemühten uns alle verzweifelt, daran zu glauben. Niemals diskutierten wir über die emotionale Abwesenheit meiner Mutter, über ihren beißenden Sarkasmus, über ihre ätzenden Kommentare zu meiner Kleidung (»Du siehst aus wie eine Nutte« war meine persönliche Lieblingsbemerkung), über ihre höhnischen Äußerungen zu meinen pubertären Ängsten, über ihr melodramatisches Nachäffen meiner Klagen (»Du sollst mich nicht VERSPOTTEN, Mama«, schrie ich, und mit hochtönendem Wimmern, wobei sie meinen Minnesota-Akzent imitierte, antwortete sie: »Du solls mich nich VERSPOATN, Maaahhmaa«). Wir sprachen auch nie über die gereizten Seufzer, mit denen sie auf jede noch so kleine Frage meinerseits reagierte, oder über das totale Schweigen. Auch die unglaubliche Panik meines Vaters angesichts meiner abrupten Verwandlung zur Frau war niemals ein Thema, eben sowenig wie seine unausgesprochenen und fehlgeleiteten emotionalen Bedürfnisse oder seine grundlosen Wutausbrüche. Von dem Zeitpunkt an, als ich dreizehn war, bis zu dem Augenblick, als ich im Alter von fünfzehn mein Elternhaus verließ, diskutierten wir lang und breit über meine Defizite: über melodramatische Ausbrüche, Ansprüche, Stimmungsschwankungen, Wutanfälle, schlechtes Benehmen, Verantwortungslosigkeit, Kindlichkeit, Altklugheit, vorlaute Bemerkungen, verrücktes Gebaren etc. Ich war das Problem. Aber niemand fragte sich, warum ich mich so verhielt. Und niemals erwähnten wir, daß ich nicht nur das Problem war, sondern auch eines hatte aber vielleicht war uns das ja auch gar nicht bewußt. Mir ging es wie dem Alkoholiker, der in den hintersten Windungen seines Gehirns ahnt, daß er ein Problem hat, der jedoch davon überzeugt ist, alles unter Kontrolle zu haben. Das Bequeme bei einer Eßstörung ist, daß man per definitionem zunächst davon ausgeht, daß die eigene Eßstörung nicht außer Kontrolle geraten kann, weil sie ja Kontrolle ist. Man glaubt, daß sie das einzige Mittel ist, um das eigene Leben in den Griff zu bekommen, wie also sollte es dann möglich sein, daß sie das Heft in die Hand nimmt? So weiß man beispielsweise durchaus, daß man außer Kontrolle geraten ist, wenn man sich eines Abends ein ganzes Pfund Makkaroni kocht, sie förmlich in Butter ertränkt und sich dann in den Mund schiebt. Aber das ist nicht schlimm, sagt man sich, denn man wird ja schließlich alles wieder auskotzen. Man wird von dem unkontrollierbaren Reflex, sich zu übergeben, überwältigt und erlangt dadurch die Kontrolle wieder. Danach atmet es sich wieder leichter, der Magen ist nicht mehr aufgebläht und das Gesicht nicht länger aufgedunsen. Die Seele fühlt sich leicht. Man hat den genialen Einfall, etwas zu trinken. Man geht in die Küche, trinkt schlechten Rotwein, bis man blau und glücklich wie ein Schwein auf der Kleewiese ist, dann geht man im Flur auf und ab, jongliert mit Orangen, und schließlich fällt einem ein, daß Wein Kalorien hat. Also kehrt man ins Badezimmer zurück, erbricht sich, geht schlafen. Ein Problem? Ja, Essen ist eindeutig ein Problem. Man muß mit dem Essen aufhören. Ich muß auf die naheliegende Frage antworten: Wie ist es möglich, daß meine Eltern von all dem nichts mitbekamen? Sie bemerkten, daß etwas nicht mit mir stimmte - meine Wut war völlig außer Kontrolle geraten. Ich wurde Tag für Tag verrückter - aber Bulimie, besonders bei jemandem, der noch so jung ist, ist keineswegs das erste, woran Eltern denken, wenn ihre dreizehnjährige Tochter ausflippt. Ich kotzte, wenn sie nicht zu Hause waren, wenn ich draußen war oder hinter verschlossener Badezimmertür, während das Wasser in die Badewanne lief. Mir wurde immer klarer, daß ich eine außergewöhnlich talentierte Lügnerin war. Meine Eßstörung war für mich, wie für so viele von uns, das einzige, das wirklich mir gehörte, etwas, das ich für mich behalten konnte. Mein Vater respektierte meine Privatsphäre in keiner Weise. Das war seine Methode, mit seinen Ängsten vor meiner physischen Reife und den unzähligen Problemen, die sie mit sich bringen konnte, fertigzuwerden. Ich will nicht ungerecht sein: Ich verhielt mich tatsächlich etwas merkwürdig, und meine Eltern fragten sich, was zum Teufel eigentlich mit mir los war. Mein Vater quälte mich mit unangemessenen und intimen Fragen. Er stöberte in meinen Schubladen, in meinem Papierkorb, las meine Briefe, er bestrafte mich schwer für kleine Verstöße. Er befürchtete, daß ich ernsthafte Probleme hätte und hatte Angst, sein kleines Mädchen zu verlieren. Dafür habe ich Verständnis. Aber der Schuß ging nach hinten los. Psychologen bezeichnen dieses Verhalten als »emotionalen Inzest«. Ich persönlich halte den Begriff für etwas übertrieben. Mein Vater war nicht anders als viele andere Väter auch: Er flippte aus, als ich in die Pubertät kam, und er begann zu vermuten, daß ich überaus freizügig sei. Wenn er mir einfach nur gesagt hätte, daß er sich Sorgen um mich machte, wäre vielleicht alles viel besser gelaufen. Aber leider verhielt er sich wie ein eifersüchtiger Liebhaber. Er entwickelte einen übertriebenen Beschützerinstinkt, wurde immer ängstlicher und zorniger. Wie die meisten Jugendlichen lehnte ich seine Einmischung in mein Leben ab. Das wiederum nahm er persönlich und tat sein verdammt noch mal Bestes, um mir zu zeigen, wer hier der Boß war. Wir steigerten uns dermaßen in unsere Zwangsvorstellungen hinein, daß ich mich wundere, daß wir beide noch am Leben, geschweige denn Freunde sind.
Eine Umgebung, die die Autonomie des Kindes fördert, so die Psychologen, trägt dazu bei, daß das Kind ein Gefühl des eigenen Wertes entwickelt, der Selbstbestimmtheit, der Eigenständigkeit. Kurz: Wenn die Familie davon ausgeht, daß das Kind in der Lage ist, selbst etwas zu bewerkstelligen, verinnerlicht es diese Annahme ebenfalls und verhält sich entsprechend. Es entwickelt ein stabiles Selbstwertgefühl, einen Glauben an die eigene Kraft. Wenn es jedoch in einer Familie aufwächst, in der seine Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und unabhängig zu handeln, beständig in Frage gestellt wird, entwickelt es tiefe Selbstzweifel. »Das Gefühl, etwas wert zu sein, ist in einem solchen Fall von äußeren Belohnungen und der Einschätzung anderer abhängig.«[18]
Viel zu häufig gehen Psychologen davon aus, daß eine Eßstörung eine Strategie sei, die Entwicklung zur Frau zu verhindern, Sexualität und Verantwortung zu umgehen, indem die physische Entwicklung in einem frühpubertären Stadium eingefroren wird. Aber vor kurzem haben ein paar sehr kluge Menschen festgestellt, daß einige von uns von ganz anderen Motiven getrieben sind, dem Wunsch nach Raum zum Atmen oder - so verrückt es klingen mag - nach weniger Aufmerksamkeit oder einer anderen Art von Aufmerksamkeit. Dem Wunsch nach Macht. Eine Eßstörung scheint die perfekte Antwort auf den Verlust von Autonomie zu sein. Indem man die Nahrungsmenge kontrolliert, die aufgenommen und wieder abgegeben wird, glaubt man, das Ausmaß kontrollieren zu können, in dem andere Menschen Zugang zu den persönlichen Gedanken, zum eigenen Herzen haben. Außerdem verursacht man ein gehöriges Familienchaos, das die Beteiligten praktischerweise von ihrem endlosen Gezänk ablenkt, weil sich ihre Sorge ja auf die »Verrücktheit« des Eßgestörten richtet, während dieser selbst sich leise davonmacht. Die Psychologen haben dem Resultat der Eßstörungen viel zuviel Aufmerksamkeit gewidmet - sie betrachten ihre Patienten, wenn sie schon vollkommen machtlos geworden sind, wenn sie in ihrer Illusion gefangen sind, im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen und in einen passiven, infantilen Zustand regrediert sind - und so behandeln sie sie auch als passive, infantile Wesen und verurteilen damit ihre Heilungsbemühungen selbst zum Scheitern. Das Endergebnis einer solchen Krankheit besteht nicht darin, daß der Patient seine ursprüngliche Absicht verwirklicht und übermenschlich wird, mit Haut wie aus Stahl, unerschütterlich, auch angesichts der größten Widrigkeiten, dem Zugriff der anderen entzogen. »An Anorexie erkranken Kinder, deren Bemühen um Unabhängigkeit gescheitert ist.«[19] Und damit ist diese Krankheit nicht der verzweifelte Versuch, wieder ins Nest zurückzukehren, sondern der hochfliegende Sprung nach draußen. Nein, es funktioniert nicht. Aber damals glaubte ich daran. Die Magersucht war meine Große Idee, mein Bestreben um Unabhängigkeit, Identität, Freiheit, Rettung etc., etc. Es ist schon erstaunlich, wie viele Eier man in einen Korb legen kann, wieviel symbolisches und emotionales Interesse man an einer kleinen Krankheit entwickeln kann. Die Anorexie - nicht einfach nur eine »Diät«, nicht einfach nur Gewichtsverlust, sondern ein absolutes, unweigerlich auf den Tod durch Verhungern hinauslaufendes Riesenproblem - schien mir der Königsweg zum Glück zu sein. Das ist eine sehr häufig anzutreffende Entwicklung bei Bulimikern, die über den Zaun springen. Die Bulimie stieß mich ab, und ich war angewidert genug von mir selbst, um mich auf eine Alternative einzulassen. Als ich dreizehn war, begann ich also, mich Zentimeter um Zentimeter auf die Magersucht zuzubewegen. Man erkrankt nicht einfach daran, so wie man eine Erkältung bekommt, zunächst ist da nur ein Gedanke. Man spielt geistig die einzelnen Verhaltensweisen durch, beobachtet, ob sie sich festsetzen. Die meisten Menschen, entwickeln die Magersucht schneller, als ich es getan habe, aber viele Menschen wechseln nahtlos zwischen Bulimie und Anorexie, hin- und hergerissen zwischen zwei Geliebten. Und genau das tat ich auch. Ich wollte magersüchtig sein; aber ich war gleichzeitig so süchtig nach der Bulimie, daß ich sie nicht einfach aufgeben und fallenlassen konnte. Ich hatte das Gefühl, verrückt zu werden. In meinem Kopf herrschte niemals Ruhe. Ruhe ist das Gleichgewicht zwischen Lärm und Schweigen, zwischen den seltsamen Blackouts, die ich jetzt immer häufiger erlebte - einer absoluten Stille, die nicht wie der Schlaf, sondern wie der Tod war - und dem teuflischen, kreischenden Durcheinander meiner eigenen Gedanken und der Stimmen draußen. Und dann das scharfe Flüstern dieser einen Stimme. Es begann ganz leise, als ob sie unter Moosschichten begraben läge - oder unter Fleisch - bis sie dann mit der Zeit so laut wurde, daß sie alles andere übertönte: Dünner, sagte sie. Du mußt dünner werden. Aber selbst zu diesem Zeitpunkt weiß man, daß dieses Wort falsch ist. Es ist mehr als das Dünnsein, nach dem man sich verzehrt. Es ist die Vorstellung, die dahinter steht. Die stille Drohung. Die Ähnlichkeit mit Houdini, die man erlangt, wenn man dünn wird: Man geht auf heißen Kohlen, ohne zusammenzuzucken, man schläft auf einem Bett aus Nägeln. Man möchte das Dünnsein vor sich her tragen, wie eine kühl lächelnde Galionsfigur. Durch ein unsichtbares, schwingendes Band, wie es auch Liebende miteinander verbindet, möchte man ständig mit dem Dünnsein Kontakt haben - auf einer Party, auf der Straße, überall. Man will das Band spüren, das leise zwischen einem selbst und dem Tod summt. In der Zeit zwischen jetzt und dünner suchte ich nach etwas anderem, das die Leere füllen konnte. Im Sommer 1987 verlor ich jeden Kontakt zu meiner Selbstachtung und damit auch den letzten Rest an Vorsicht. Mir war alles egal - bis auf die Selbstzerstörung. Die interessierte mich außerordentlich. In der achten Klasse war ich es leid, zwischen zwei verschiedenen Persönlichkeiten zu wechseln - der guten Schülerin/der Unruhestifterin, dem netten Mädchen/der gemeinen Ziege - und ich warf das Handtuch. Entschlossen tauchte ich hinab, lebte das Leben einer Nutte. Ich färbte mir die Haare in einem dunkleren Schwarzton, kaufte einen neuen Lippenstift, bestritt die Gerüchte nicht, die in der Schule über mich kursierten. Auf einem Bild aus dieser Zeit blicke ich mit glasigen Augen in die Kamera: die Lippen schimmern, schwarze Locken fallen mir verführerisch über das eine Auge. Ich war dreizehn. Im Sommer hatten mein Freund und ich uns getrennt, weil ich mit einem Typ aus dem Ferienlager herumgemacht hatte (ich hatte mit ihm geschlafen, obwohl das niemand wußte). Meine neue Persönlichkeit zwang mein Kinn in die Höhe, wenn die Freunde meines Exfreundes mich auf dem Schulflur als Hure beschimpften. Ich rauschte an ihnen vorbei. Ich wurde in ein Wechselbad von Verliebtsein und Vögeln geworfen. Über die Jungs, für die ich schwärmte, wußten meine Freundinnen Bescheid. Es waren diese Junior-High-School-Typen mit Sonnenbrille und coolen Namen. Die Bumserei erwähnte ich nicht. Sie fand außerhalb der Schule statt. Mit schlaksigen Schwachköpfen aus der Stadt oder aus den angrenzenden Vororten, die ein kleines Entenschwänzchen im Nacken und einen obszönen, an Schambehaarung erinnernden Schnurrbart im Gesicht trugen. Ich lernte sie in Einkaufszentren oder im Kino kennen. Sie drückten sich in den Vororten herum, auf der Suche nach einem Mädchen, das ihnen auf den Leim ging. Die Unterhaltung verlief immer gleich: Hey/Hey. Dann die Routine-Anmache, und man steht da, schlägt die Augen nieder und denkt, wie potthäßlich sie sind. Telefonnummern werden ausgetauscht. Verabredungen getroffen. Sie sagen, Hi, gut siehst du aus. Dann stecken sie dir die Zunge in den Hals, und der Rest ist Geschichte.
Möglichkeiten, Möglichkeiten. So viele Mittel zur Selbstzerstörung, So wenig Zeit. Ich expandierte. Ich erweiterte meinen Horizont. Warum sich auf die Kotzerei beschränken, wenn man jeden Tag in der Schule herumbumsen konnte, ohne daß jemand es merkte? Warum nicht Wodka in einer Mineralwasserflasche mit in den Chor nehmen und ihn während des Singens trinken? Und wenn einen sowieso jeder für eine Hure hielt, warum nicht beweisen, daß sie recht hatten? Warum nicht mit Fremden flirten und vögeln? Warum nicht mit Fremden schlafen, die mit Drogen dealen oder die der Freund eines Freundes sind, der mit Drogen dealt, und mit sexy Schmollmündchen (den hatte ich vor dem Spiegel geübt) fragen, ob man auch etwas haben dürfe? Warum nicht quengeln »Das ist nur fair?« Und dann strahlen vor Glück, wenn man ein Tütchen mit Pillen oder Pulver bekommt, die Beine aus dem Auto schwingen und mit süßer Stimme »Danke« sagen. Den Rest des Nachhauseweges zu Fuß zurücklegen, mit der Hand über das zerwühlte Haar fahren, denken, ich brauche eine Dusche. Ich hörte nicht auf zu fressen und zu kotzen. Ich machte damit weiter, normalerweise zweimal am Tag. Ich ergötzte mich an der Illusion, daß die Bulimie nicht so interessant wie andere Dinge war. Sie schien plötzlich zur Nebensache zu werden, ein Bestandteil des Alltags, so grundlegend und voraussagbar wie das Atmen. Ich hatte Besseres zu tun, als meine Zeit mit kindischen Dingen wie Essen zu verbringen. Dieses ganze Jahr ist wie in Nebel getaucht. Das einzige, an das ich mich mit großer Klarheit erinnere, sind die Schultoiletten (im Untergeschoß, im Obergeschoß, neben den Umkleidekabinen), die Toiletten zu Hause, die Toiletten in der Kirche. Das einsame Trinken von geklautem Alkohol, die Drogen. Das Gefühl an meinem Hinterkopf, wenn ich gegen den Griff einer Autohintertür stieß, der Klang des Atmens über mir. Meine Zeugnisse, auf denen nur noch Vierer auftauchten. Ich wurde aus dem Förderprogramm der Schule gestrichen und mit traurigen Seufzern und tiefem Mitgefühl für meine Eltern als leistungsschwach bezeichnet. Meine Eltern führten lange und sorgenvolle Gespräche mit meinen Lehrern. Ich starrte nach oben, zählte die kleinen Punkte in den Deckenpaneelen, während sie sich darüber unterhielten, warum ich mein Potential nicht ausschöpfte. Meldungen wurden nach Hause geschickt, in denen stand: Schwatzt zuviel. Strengt sich nicht an. Ist streitsüchtig. Hausaufgaben unvollständig. Mein Lieblingsbrief dieser Art, ein Brief, der in der Mitte des Schuljahres nach Hause geschickt wurde und auf dem eine obszöne Fünf prangte, lautet: »Marya ... scheint sich zu isolieren ... ihre Arbeitsqualität hat sich drastisch verschlechtert. Sie macht den Eindruck, als ob sie der Situation völlig >gleichgültig< gegenüberstünde.« Ich war gleichgültig. Ich erinnere mich, wie meine Gedanken während der Schulstunden abdrifteten, im Kopf schrieb ich Geschichten, richtete den Blick auf die besondere Gestalt eines Zweiges vor dem Fenster. Dann hörten die Geräusche auf. Ich sah mich um. Die Stunde war vorbei. Ich ging aus dem Klassenzimmer, hinunter zum Mittagessen, aß eine Minipizza und ein Eis am Stil, ging auf die Toilette, um mich zu übergeben, ging zur nächsten Schulstunde. Manchmal verließ ich die Schule, wanderte allein die Straße hinab. Ließ mich treiben. Kam zurück, wenn nach der Schule Musicalproben stattfanden oder die Schulzeitung geschrieben wurde. Danach ging ich ins Jugendzentrum neben der Schule, kaufte mir einen Schokoladenriegel und Chips. Aß sie im Toilettenvorraum des leeren Gebäudes, übergab mich. Während ich bei den Schulaufführungen mit breitem, glücklichen Lächeln vor mich hin tanzte und sang und lächerliche Klugscheißer-Artikel für die Schülerzeitung schrieb, während ich meinen Eltern erzählte: »Ich gehe mit ein paar Freundinnen bummeln«, stahl sich mein Schatten davon, schloß die Badezimmertür hinter sich ab, öffnete die Schublade seines Nachttisches, griff mit der Hand dahinter, löste das kleine Plastikbeutelchen mit Kokain, das er vorher mit Tesafilm an die Rückseite geklebt hatte, schob sich das Pulver mit dem Finger in die Nase und atmete heftig ein: unendlich viele Glassplitter, die in die graue Masse meines Gehirns flogen.
- Mindestens 30%, vielleicht sogar bis zu 50% aller an Bulimia nervosa leidenden Patienten neigen oder neigten zu regelmäßigem Drogenmißbrauch ... Ihre Sucht ist häufig nicht auf die sogenannten Straßendrogen beschränkt ... Valium, Stilnox, Dalmadorm werden von diesen Patienten ebenfalls eingenommen, weil sie unter Schlaflosigkeit leiden.[20]
Zitternd lag ich in einem dunklen Feld aus beißendem Gras und Nesseln und beobachtete die Sterne, die sich wie stecknadelkopfgroße Räder drehten, biß mir auf die linke Seite meiner Unterlippe, um nicht zu schreien. Ich habe Spritzen immer schon gehaßt. Mein Rock war hochgeschoben, der trockene Staub und das Unkraut zerkratzten meine Schenkel, der zerfetzte Streifen eines Autoreifens um meinen rechten Arm quetschte mir die Haut zusammen. Ich lehnte mich zurück, angespannt, fiel in die unbeholfene Umarmung eines Jungen, der leise auf mich einsprach. Ich erinnere mich an den Gedanken, daß eine gute Krankenschwester aus ihm werden konnte. Ich lachte dreckig, und er sagte Psst. Sein Daumen fuhr die Innenseite meines Armes auf und ab. Im blauen Licht sah es aus, als ob das Gelenk sich vom Arm gelöst hätte, als ob es gebrochen wäre, auf traurige Weise keine Verbindung mehr mit meinem Körper hätte, und ich begann, um den Verlust meines Armes zu weinen. Er klopfte mit dem Daumen leicht auf den Hügel der Vene und sagte wieder Pssst. Die Nadel grub sich beißend in meinen Arm. Ich spürte den scharfen Schmerz der Flüssigkeit in der Vene, stellte mir vor, daß ich ihren Weg in mein Gehirn nachvollziehen konnte. Ich stand auf, taumelte davon, setzte mich an den Rand eines in der Nähe liegenden Tümpels. Er folgte mir und setzte sich neben mich. Ich betrachtete die trübe Reflektion unserer Gesichter im brackigen Wasser, blasse, mondbeschienene Ovale. Er sagte: »Erstaunlich, nicht wahr?« Ich sagte: »Erstaunlich.« Er war irgend jemand, wie alle anderen auch. Ich erinnere mich nicht an sie, nur an ihre Hände. oder vielleicht nicht so sehr an ihre Hände, sondern an meinen Körper unter ihren Händen. An die Art, wie ich meinen Körper unter Hände gleiten ließ, wie man vielleicht eine Notiz unter der Tür hindurchgleiten läßt. Ich wollte ihre Hände, die klammernden Hände von Jungen, die das Gewicht ihrer Körper ebensowenig kennen wie das Gewicht ihrer Worte, so daß sie beides sorglos auf einen herabfallen lassen und einen verletzen, obwohl sie einen nur berühren wollen. Ich wollte verletzt werden. Ich wollte wissen, daß ich existierte. Ich wollte berühren und berührt werden, und sei es nur, um der alles begrabenden Explosion der Nervenenden willen, die mir zurief - Ich bin hier er ist da wir sind hier. Und ich wollte mich benutzt fühlen. Oder mich zumindest nützlich fühlen. Und ich wollte, ewige Masochistin, die ich bin, hinterher nach Hause gehen, meine Schenkel betrachten, meinen Hintern, mich mit zusammengekniffenen Augen begutachten und mein Spiegelbild beschimpfen.
Sex ist wie das Fressen der Versuch, die Leere zu füllen ... Patienten, die an Bulimie erkrankt sind, neigen dazu, in Vergangenheit wie Gegenwart mehr sexuelle Beziehungen zu haben als Magersüchtige... sie neigen dazu, sexuell aktiver zu sein als Menschen, die keine Eßstörungen haben ... wobei es sich nicht so sehr um die Suche nach dem passenden Partner handelt als um den Versuch, sich selbst als ganz und lebendig zu erfahren ... Sex lindert die schreckliche Angst und schafft Nähe zu einem anderen Menschen ... so stark, daß die Patientin irgendwann die Grenze zwischen sich selbst und ihrem Partner nicht mehr wahrnimmt ... erschreckendes Erlebnis ... zeitweiliger Verlust von Identität ... der Körper beginnt... endet ... Fragmentierung ...[21]
Nachts blieb ich immer lange auf: Ich legte ein Handtuch vor die Türritze, um zu verhindern, daß die dünne Klinge des Lichts die Dunkelheit des Flurs durchschnitt und ließ nur die Nachttischlampe an. Ich lag vor dem Spiegel auf dem grünen Teppich des Schlafzimmerbodens auf der Seite und beobachtete, wie meine Beine sich auf und ab bewegten, auf und ab, in endlosen gymnastischen Übungen, jede genau abgezählt. Selbst wenn die geschwächten Muskeln zu zittern begannen, hob und senkte ich die Beine weiter, dachte immer wieder faules Schwein. Linke Seite zuerst, dann die rechte Seite, dann aufstehen, dann auf dem Rücken, dann auf dem Bauch. Ich beobachtete jeden Zentimeter meines Fleisches, wie es sich anspannte und entspannte, verlor mich in der Wiederholung, löste mich von meinem Spiegelbild, stellte mir vor, wie ich kleiner und immer kleiner wurde, bis ich dünn und flach wie ein Papierfetzen war. Ich spreizte die Schenkel, um zu sehen, wie sie wohl aussehen würden, wenn ich mager wäre, kniff in das Fleisch, das mich noch davon trennte, versuchte, die Quelle der Angst zum Schweigen zu bringen, die in meiner Brust zu sprudeln begann, wenn ich dachte: Ich bin fett. Wenn das Entsetzen nicht nachließ, versprach ich mir: Morgen kein Essen. Gar keins. Dann konnte ich wieder leichter atmen. Die Strafe schien gerecht, schien die Dinge leichter zu machen, organisierter, der beruhigende Schmerz des Hungers in der Brust würde mich daran erinnern, daß alles gut war. Dann legte ich mich auf das Bett, öffnete die Schublade meines Nachttisches. In der Schublade Tabletten für die Nacht, Pulver für den Tag, meine kleine Tasche voller Tricks, meine Erweiterung des Geistes, mein großes Experiment, mein Mr. Hyde. Das glasig dreinblickende, grinsende Gesicht, das mir allmorgendlich entgegenblickte, ist das Leben nicht aufregend, was sollen wir denn heute spielen, wie ist das alles traumatisch, dramatisch, so hoch und schrill, das undeutliche Summen der Zahnrädchen in meinem Kopf. Meine Freundinnen sahen mich an, wunderten sich vielleicht ein oder zweimal über den hysterischen Ton meiner Stimme, über meine Stimmungsschwankungen, mein Lachen und mein Schreien, die kaum einen Atemzug voneinander entfernt waren. Ich war lebhaft, rebellisch, unverschämt, häufig krank, manchmal grausam, und manchmal brach ich auf dem Boden der Umkleidekabine zusammen. Normalerweise kochte ich vor Wut über irgend etwas, riß nachts von zu Hause aus. Schlüpfte zur Hintertür hinaus, über die gefrorene, weiße Stille des Sees hinter dem Haus meiner Eltern, über die weißblau schimmernde Ruhe der vom Schnee reingewaschenen Wiesen, durch die knirschenden, von Laternen beleuchteten Straßen. Manchmal stand ich auf der eisüberzogenen Brücke, die über die Autobahn führte, meine kalten nackten Hände umklammerten den Metallzaun, und beobachtete die vorbeirasenden Autos. Später fragten sich meine Eltern, wo ich die Drogen her hatte. Sie fragten sich, wer sie mir gegeben hatte und wie. Sie wollten wissen, wann. Sie saßen auf der Couch des Therapeuten, starrten mich an, verwirrt, ungläubig, wollten wissen, wie das rotwangige, stubsnasige kleine Mädchen, an das sie sich erinnerten, unter ihrem Dach einen solch phantastischen Betrug hatte inszenieren können. Meine Schauspieler-Eltern im Familien-Theater saßen da, sahen aus dem Fenster und stellten immer wieder die gleiche absurde Frage, wo ich gelernt hätte, so gut zu lügen. Sie beschlossen, mir nicht zu glauben. Das ist nur fair.
Ich lernte Sex, wie man das Schreiben lernt: indem man es tut. Niemand hat mir je erklärt, wie es geht. Im Aufklärungsunterricht sprachen wir über die Menstruation. Niemand hat in meiner Gegenwart je über Verhütung gesprochen. Die Psychologen sagen übrigens, daß es eine starke Verbindung zwischen dem frühen Kontakt zum anderen Geschlecht und extremen Sorgen über das eigene Gewicht gibt. Meiner Erfahrung nach gibt es eine starke Verbindung zwischen Sex, einem vorübergehenden Adrenalinschub und dem alles verschlingenden Gefühl, fett zu sein und sich übergeben zu müssen. Trotz meiner sexuellen Aktivitäten und meiner Faszination wußte ich ziemlich wenig über die Zusammenhänge. Mit neun Jahren, als ich noch unbestreitbar Jungfrau war, stand ich vor dem Spiegel, steckte meinen kleinen Bauch heraus und fragte mich voller Panik, ob ich von, den Arztspielen, die ich mit einem Jungen unternommen hatte, als ich fünf war, wohl schwanger geworden war, ob ich immer noch schwanger war, und wie ich es meinen Eltern erklären sollte? Was würden sie sagen? Fünf Jahre später, mit vierzehn, stand ich vor dem Spiegel und wußte, daß ich tatsächlich schwanger war. Wie sollte ich das meinen Eltern erklären? Was würden sie sagen? Ich fragte meine Freundinnen, was sie tun würden, wenn ich schwanger würde. Sie waren an meine seltsamen, morbiden, hypothetischen Fragen gewöhnt. Ich fragte sie regelmäßig, was sie tun würden, wenn ich starb. Nein, ernsthaft, sagte ich. Was würdet ihr tun? Beiläufig sammelte ich Ansichten über eine Abtreibung: ein einstimmiges Nein scholl mir entgegen, hallte wider von der selbstgerechten Sicherheit katholischer Mädchen, die noch nie mit einem Mann geschlafen hatten. Wir einigten uns darauf, daß Abtreibung falsch war. Ich fragte meine Mutter, was sie mir raten würde, wenn ich schwanger wäre. Sie fühlte sich bei diesem Thema eindeutig unbehaglich, antwortete aber, daß sie in einem solchen Fall eine Abtreibung für mich arrangieren würde. Dann, eines Abends am Abendbrottisch, als ich gerade eine kleine Stadt aus Kartoffelbrei und Erbsen baute, spürte ich, wie irgend etwas in meinem Inneren Schnapp machte. Es war ein witziges Schnappen, nicht als ob man sich die Knochen bricht, sondern anders, eher wie das kleine Schnapp eines Fadens, vielleicht eher ein Schnipp. Plötzlich merkte ich, wie ich blaß wurde, mir wurde von Grund auf übel. Ich entschuldigte mich. Ging ins Bad, wobei ich mich mit der Hand an der Wand entlangtastete. Ich verschloß die Tür, setzte mich auf die Toilette, kippte vornüber. Es fiel mir schwer, den Wasserhahn der Badewanne aufzudrehen. Ich konnte nicht verhindern, daß mir die Hände zitterten. Ich sah mein Gesicht im Spiegel: ein häßliches Grau. Ich hatte ein dumpfes, schneidendes Gefühl im Bauch. Dann plötzlich nahm es an Heftigkeit zu, stach zu. Ich erinnere mich, wie ich ganz klar dachte: Na ja, das war ja ganz leicht. Ich erinnere mich, wie ich mich auf den Toilettensitz stellte, als es vorüber war, wie ich meinen Rock in die Höhe hob und das Blut betrachtete, das das Innere meiner Schenkel bedeckte. Und dann erinnere ich mich daran, wie etwas mich ablenkte. Ich drehte mich auf die Seite und betrachtete meinen Hintern. Fetter Arsch, dachte ich. Schwein.
Von diesem Zeitpunkt an beschleunigt sich alles. Um die Drogen zu bekommen, schlafe ich mit dem Freund einer Freundin eines Freundes, wann immer es möglich ist. Morgens bringe ich mich mit einem Aufputschmittel in Schwung, das ich mit dem lauwarmem Wasser im Glas auf meinem Nachttisch herunterspüle; wenn ich mich nach dem Mittagessen übergeben habe, nehme ich Beruhigungsmittel. Nach der Schule begann die Zeit des Tages, die ich am meisten fürchtete: Ich öffnete den Kühlschrank. Trank etwas Wein, nippte an den selten genutzten Flaschen in unserer Bar, schlief oder las, aß zu Abend, übergab mich, nahm Beruhigungsmittel, schlief. Mitten im Strudel der Ereignisse gibt es ein paar klare Blitze: ein Junge auf dem Rücksitz eines Autos, die Hand auf meinem Bauch, der sagt: Was für ein hübscher Bauch, was für ein hübscher, kleiner Körper. Und der Gedanke, der mir durch den Kopf schießt: Ich muß diesen Bauch loswerden. Die Feuchtigkeit der Betonwand im Toilettenvorraum neben den Umkleidekabinen, die schweißnasse Hand, die sich nach oben tastet, nach etwas sucht, woran sie sich festhalten kann, der Kopf schummrig, Mittagessen und Blut wirbeln umher. Diese deutlichen Bilder, die sich irgendwie, auch heute noch, wo ich weiß, daß es so war, nicht mit dem Menschen in Einklang bringen lassen, der ich war oder für den ich mich hielt oder der ich zu sein schien; die alltäglichen, sonnendurchfluteten Flure der Southview Junior High School und ich nur ein weiteres junges Mädchen, das auf Abwege geraten war. Meine Eltern glaubten, daß ich dabei war, den Verstand zu verlieren.
Die Raupe und Alice sahen einander eine Zeitlang schweigend an: Schließlich nahm die Raupe die Wasserpfeife aus dem Mund und sprach sie mit langsamer, schleppender Stimme an. »Wer bist du?« fragte die Raupe. Das war keine allzu ermutigende Einleitung für eine Unterhaltung. Alice antwortete einigermaßen schüchtern: »Ich - ich weiß es nicht so genau, Sir, jedenfalls im Augenblick nicht - das heißt heute morgen, als ich aufstand, wußte ich noch, wer ich war, aber ich glaube, seitdem bin ich einige Male verwandelt worden.« »Was meinst du damit?« fragte die Raupe streng. »Erkläre dich!« »Ich fürchte, ich kann mich nicht erklären, Sir«, sagte Alice, »weil ich nicht ich selbst bin, versteht Ihr?« »Ich verstehe nicht«, sagte die Raupe. »Ich fürchte, ich kann es nicht deutlicher ausdrücken«, antwortete Alice sehr höflich, »denn ich verstehe es ja selbst nicht; außerdem ist es sehr verwirrend, an einem einzigen Tag so viele verschiedene Größen zu haben.« »Das ist es nicht«, sagte die Raupe ... »Nun, vielleicht empfindet Ihr das etwas anders«, sagte Alice. »Ich weiß nur eines: Mir kommt das alles sehr seltsam vor. « »DIR!« sagte die Raupe verächtlich. »Wer bist DU?« ... Weil die Raupe offensichtlich sehr schlechter Laune war, wandte Alice sich ab ... »Komm zurück!« rief die Raupe hinter ihr her. »Ich habe dir etwas Wichtiges zu sagen! Das klang vielversprechend. Alice wandte sich um und kehrte zurück. »Du mußt dich beherrschen«, sagte die Raupe. »Ist das alles?« fragte Alice.
Der Psychiater, der mich haßte, weil ich ihn Doktor Freud nannte - vielleicht auch aus anderen Gründen war ein sehr kleiner, grauer Mann in Maßanzügen und schwarzen, mit Spucke auf Hochglanz polierten Schuhen, die im Lampenlicht höhnisch funkelten. Ich wußte nicht genau, warum ich gerade ihn aufsuchen sollte. Er war der Psychiater meiner Mutter, wahrscheinlich war es also leichter, mich zu ihm zu schicken als zu einem anderen. Meine Kopfschmerzen waren noch immer rätselhaft, ebenso wie die gelegentlichen Besuche bei der Schulkrankenschwester, weil ich ohnmächtig geworden war. Ich hielt das Problem nicht für ein medizinisches. Ich fragte mich, ob ich wegen meiner Noten zu einem Psychiater geschickt worden war, aber ich konnte mir nicht vorstellen, wie er mir dabei helfen sollte. Trotzdem ging ich hin, und zwar durchaus nicht widerwillig, denn an diesen Tagen mußte ich nicht zur Schule.
Bei meinem ersten Besuch öffnete er die Tür, deutete mit einer ausladenden Geste auf das Zimmer und hieß mich eintreten. Ich stand regungslos da, ging nirgendwo hin. Er deutete auf einen Sessel. Im Zimmer war es sehr still, die klimatisierte Luft brannte in der Nase. Ich setzte mich in den Sessel. Er war aus schwarzem Leder, und ich glaube, er hatte Rollen. Er war dem Schreibtisch zugewandt. Eine Pflanze stand, glaube ich, am Fenster zu meiner Rechten, von dem aus man auf den Parkplatz des Bürokomplexes blicken konnte, in dem wir waren, sowie auf den wohlgepflegten Park, die Autobahnbrücke und auf Amerikas erstes Einkaufszentrum, Southdale, errichtet im Jahre 1958, ein wichtiges Datum, das wir in der Grundschule oft genug gelernt hatten.
An der mir gegenüberliegenden Wand standen Bücherregale: in der Hauptsache Freud oder über Freud oder über den Freudschen Ansatz in bezug auf irgend etwas. Dann noch etwas Jung, die DSM Kriterien,[9] ein paar abnorme Psychologiebücher. Voller Schrecken erkannte ich ein Buch wieder, das meine Mutter gelesen hatte: Das Drama des begabten Kindes. Ich hatte es ihr geklaut, es gelesen und als vollkommen lächerlich verworfen, vor allem, weil ich annahm, daß sie es las, weil mit mir etwas nicht stimmte. Des weiteren viele Bücher, deren Titel nicht zu erkennen waren, so daß ich den Hals reckte, um sie zu entziffern. »Was tust du da?« fragte er. Ich schrak zusammen. Er hatte auf seinem Stuhl gesessen und mich beobachtet. »Ich betrachte die Bücher«, sagte ich. Er trug eine große, viereckige, schwarze Brille, wie sie in den fünfziger Jahren modern war, weshalb er etwas gemein und übertrieben väterlich aussah. »Warum?« fragte er. Ich hatte keine Ahnung. »Warum nicht?« antwortete ich. Er machte sich eine Notiz. Er schrieb auf liniertem, gelbem DIN-A4-Papier und benutzte einen schwarzen Füller mit breiter Feder. Ich reckte den Hals, um zu sehen, was er schrieb. Er entzog mir den Block. Wir saßen keine zwei Meter voneinander entfernt, und ich brauchte eine Brille, hatte es aber noch niemandem gesagt. Seine Handschrift war sehr klein, sehr kantig, Druckbuchstaben, alles in Großschreibung. Ich konnte die Umrisse erkennen, aber nicht lesen, was er schrieb. Er beschrieb, wie ich später bemerkte, immer nur eine Seite des Papiers, wobei er jede volle Seite mit etwas übertriebenem Schwung zurückschleuderte, um dann in affenartigem Tempo weiterzuschreiben. Einmal machte ich eine Bemerkung darüber, daß das Papierverschwendung sei. Er sah mich an und machte sich eine Notiz. Zu meiner Linken stand eine schwarze Ledercouch. Ich sagte halb im Scherz: »Muß ich auf der Couch liegen? « Er sah mich an, die buschigen Augenbrauen hoben sich. »Willst du das denn?« fragte er. Ich fühlte mich gedemütigt. »Nein«, sagte ich. »Warum sollte ich auf der Couch liegen wollen?« Er sah mich an. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Warum willst du auf einer Couch liegen?« »Ich WILL ES NICHT«, sagte ich und warf ihm einen wütenden Blick zu. Schweigend saßen wir ein paar Minuten da. Ich blickte auf den Parkplatz hinaus. »Möchtest du gehen?« fragte er. »Wie bitte?« »Willst du gehen?« »Eigentlich ist mir das egal«, sagte ich, was der Wahrheit entsprach. Wir saßen da. Er machte sich Notizen. »Was schreiben Sie denn da?« fragte ich. »Notizen.« »Vielen Dank«, sagte ich vorlaut. »Das ist sehr hilfreich. Notizen über was?«
»Beobachtungen.« »Beobachtungen über mich?« Er hielt im Schreiben inne und sah mich an. »Es ist dir wichtig, wie andere Menschen dich wahrnehmen?« »Nicht wirklich«, antwortete ich, was eine glatte Lüge war, »ich wundere mich nur, weil ich bislang ja noch gar nichts gesagt habe.« Er antwortete nicht. Ich nahm eine Zeitschrift zur Hand und blätterte sie durch. National Geographic. Giraffen.
Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Mayra«, sagte er, nachdenklich. »Marya.« »Verzeihung?« »Marya. Ich heiße Marya. Nicht Mayra. M-A-R-Y- A.« »Ah«, sagte er. »Maria« »MARYA. MAR-YA. Zwei Silben. Nicht Maria. Nicht Myra, nicht Mayra, nicht Mara. Marya.« »Stört es dich, wenn man deinen Namen falsch ausspricht?« »Ja.« Er machte sich Notizen. Ich begann, in meinem Sessel nach unten zu rutschen. Während der ersten paar Besuche wiederholte sich dieses Ritual: Ich kam herein. Er sah mich an. Ich starrte wütend zurück. Ich sah aus dem Fenster. Er stellte mir Fragen, von denen ich später auf der Journalistenschule lernte, daß es Suggestivfragen waren (»Du hast also Angst vor Schlangen, ja?«). Ich stellte Gegenfragen. Dann begann ich, mich zu langweilen, und weil ich eine Stunde lang nichts Besseres zu tun hatte, begann ich, ihm ziemlich unvermittelt - die Wahrheit zu erzählen. »Worüber willst du heute sprechen?« fragte er. »Nun, ich glaube, ich habe eine Eßstörung.« Ich zog die Knie hoch in den schwarzen Ledersessel und knibbelte an dem zerfransten grauen Baumwollstoff meiner Hose. »Oh?« »Ja. Ich denke schon. Ich habe ein paar Bücher gelesen.« Er machte sich Notizen. »Und ich trinke viel. Wenigstens, na ja, viel für, na ja ich denke, für mein Alter, oder so.« Pause. »Und ich schlafe mit allen möglichen Typen, und ich nehme manchmal Drogen.«
Lange Pause. »Zum Beispiel Heroin.« Er warf mir über die Brille hinweg einen Blick zu. »Und?« sagte er verwirrt. »Hmm. Na ja, ich weiß nicht.« Ich zog an meinen Sohlen, die sich von meinen Schuhen lösten. Mit arroganter Geste warf ich das Haar zurück. »Ich denke, es ist irgendwie gut. Ich meine, was auch immer. Ich meine, wen kümmert es schon? Es ist irgendwie keine große Sache.« Er machte sich Notizen. Während der restlichen Sitzungen redete ich unaufhörlich. Ich erzählte ihm alles, was mir gerade in den Kopf kam, schwadronierte fröhlich vor mich hin, fluchte wie ein Matrose. Zog die Ärmel meiner Bluse hoch, um ihm die Druckstellen am Arm zu zeigen, öffnete den Mund so weit, daß er die wunde Stelle in meiner Kehle sehen konnte, die wie Feuer brannte, wenn ich Orangensaft trank. Rieb die gleichmäßige Reihe aus Wundschorf, kleinen Narben und Zahnabdrücken, die die Hast auf den Knöcheln der Zeige-und Mittelfinger meiner rechten Hand zurückgelassen hatte. Dann schwieg ich, lehnte mich im Sessel zurück und reckte das Kinn in die Höhe, forderte ihn heraus, damit er das alles als Bluff abtat. Aber es war kein Bluff. Er sprach nie ein Wort - zumindest nicht bis zum letzten Tag, an dem ich ihn wie so häufig anschrie, weil er nichts sagte. Warum sagte er nie etwas? Es machte mich so verdammt nervös, und was schrieb er da überhaupt vor sich hin? Wollen Sie das etwa mal verarbeiten? Das ist irgendwie alles andere als HELFEN, Sie ARSCHLOCH und überhaupt, WARUM KNÖPFEN Sie meinen ELTERN dieses ganze verdammte GELD ab, etwa nur, damit Sie da SITZEN und ÜBER MICH LACHEN?« »Glaubst du, daß die Leute über dich lachen, Maria?« »MARYA! ICH HEISSE MARYA, Sie Arsch! Wollen Sie mir jetzt endlich sagen, was mein PROBLEM ist, oder WAS? Los, sagen Sie was! SAGEN Sie mir, was mit mir nicht STIMMT!« brüllte ich mit rotem Gesicht, zitternd und wütend über die unerschütterliche Gelassenheit dieses Bastards. »Ich denke«, sagte er ruhig und lehnte sich lächelnd in seinem Sessel zurück, »daß du«, fuhr er fort und ließ die Kappe auf seinen eleganten Füllfederhalter gleiten, »eine sehr wütende junge Dame bist.« Ich war schon fast zur Tür hinausgerannt, als ich mich umdrehte und begann, wie eine Hyäne zu lachen, schreckliche, krächzende Laute. »Das ist alles?« sagte ich. »Sie haben all diese Zeit gebraucht, um DAS festzustellen? Brillant! Sie sind verdammt noch mal wirklich brillant! Oh, mein GOTT!« Und ich schlug die Tür hinter mir zu, hoffte, daß sie aus den Angeln fallen würde. Das tat sie nicht. Aber ich kehrte niemals zurück. Tatsächlich ging ich erst drei Jahre später wieder zur Therapie, und zwar als ich zum ersten Mal ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Jahre spielen hier eine ungeheuer wichtige Rolle. Forschungsergebnisse haben gezeigt, daß die Dauer einer Krankheit einer der wichtigsten Faktoren bei »chronischen« Eßstörungen ist. Als ich im Alter von sechzehn Jahren professionelle Hilfe bekam, hatte ich die magische Grenze von fünf Jahren schon deutlich überschritten, die Grenze, nach der die Ärzte sich die Akte ansehen, die Augenbrauen hochziehen, die Köpfe schütteln und sagen: »Seit Sie neun Jahre sind, hmm?« Man nickt und wirft einen Blick auf die Waage, die kalt und teilnahmslos an der Wand steht und nur darauf wartet, die Sohlen deiner schuppigen Füße aufzureißen. »Wollen Sie gesund werden?« fragen sie. Man zuckt die Achseln und schaut auf die Waage, fragt sich, wie gut sie geeicht ist, ob sie lügen wird und ihnen sagen wird, daß man drei Pfund mehr wiegt, als es tatsächlich der Fall ist. Dann ist man verpflichtet, diesen Fehler zu korrigieren - aus Prinzip - um die eigene Seele zu retten, und für die eigenen Anstrengungen bekommt man eine neue Adresse: Station für Eßstörungen, achter Stock, denn damit hat man ihren Verdacht bestätigt: Welcher Mensch mit einem Puls von dreiundvierzig und einem systolischen Blutdruck, der gleich Null ist, gibt auch nur einen Furz darum, ob die Waage drei Pfund mehr anzeigt. Nur eine Magersüchtige, sonst niemand. Und kümmert es sie, daß sie stirbt? Zum Teufel, nein.
Am Ende der achten Klasse verriet mich eine Freundin, die ich aus dem Kirchenchor kannte. Wir standen uns nicht besonders nahe, kannten uns aber schon ziemlich lange, und durch den Konfirmationsunterricht hatte sie mehr von mir mitbekommen als die meisten meiner besten Freundinnen. Sie erzählte der Schulpsychologin, daß ich mich ständig erbrach. So wütend ich mich damals auch aufführte, ich war niemals in meinem Leben dankbarer für etwas gewesen. Ich wurde in das Büro der Schulpsychologin gerufen. Als ich dasaß und über ihre Schulter vorbei zum Fenster hinausstarrte, spürte ich keinerlei Scham. Ich hatte nicht einmal Angst. Ich fühlte mich geschmeichelt. Und ich war stolz. Es hatte sich etwas bestätigt: Ich war es wert, daß man sich mit mir beschäftigte; ich entwickelte mich zu einer erfolgreichen Kranken. Krank ist man erst dann, wenn sie es sagen. Natürlich war ich schon seit fünf Jahren krank. Aber jetzt, vielleicht war ich jetzt wirklich krank. Vielleicht war ich ja gut darin, gut genug, um meiner Umwelt einen Schrecken einzujagen. Vielleicht würde ich ja fast sterben, und am Rande des Abgrundes balancieren, während ihnen beim Anblick meiner todesmutigen Kapriolen der Atem stockte, sie einander hilfesuchend an den Armen packten und mir schließlich Beifall zollten.
Aber wer zur Hölle waren SIE? Was versuchte ich zu beweisen, und vor allem wem? Dies ist eine der schrecklichen, banalen Wahrheiten über Eßstörungen: Mit ihrer schlanken Figur beweist eine Frau in unserer Kultur ihren Wert, und zwar auf eine Weise, der keine Leistung, keine noch so steile Karriere, absolut gar nichts gleichkommt. Wir glauben, daß sie etwas geschafft hat, was Jahrhunderte des kollektiven Unbewußten für unmöglich gehalten haben - sie hat die Kontrolle über sich selbst erlangt. Eine Frau, die sich auf diese Weise im Griff hat, ist fast so gut wie ein Mann. Eine dünne Frau kann ALLES HABEN. Vor dem Spiegel zog ich die Haut meines Gesichts straff und verzog die Lippen zu einem unheimlichen, knöchernen Grinsen. Die Schulpsychologin war sehr besorgt, und zwar auf eine Weise, wie Menschen es sind, die keinen blassen Schimmer haben, wie sie sich verhalten sollen oder worin das Problem besteht. Sie sagte, eine von uns würde es meinen Eltern erzählen müssen, entweder sie oder ich. Ich dachte darüber,nach, versprach, es ihnen selbst zu erzählen, weil ich glaubte, daß sie es weniger ernst nehmen würden, wenn ich es ihnen selbst sagte. Ich hatte richtig getippt. Als wir an diesem Abend am Eßtisch saßen, fing ich an mit dem Mama-und-Papa-ich-muß-euch-was-sagen. Den Blick auf meinen Teller gerichtet, beichtete ich, daß ich mich selbst zum Erbrechen gebracht hatte. Es folgte eine lange Pause. Das Licht im Zimmer war gedämpft. Das Fenster zu meiner Linken gab den Blick in die Nacht frei. Der Spiegel zu meiner Rechten reflektierte die Steinwand. Auf dem Teller wartete mein Abendessen. Die Gabel in meiner Hand zitterte und klirrte gegen das Glas. Meine Mutter sagte: »Das habe ich auch gemacht.« Mein Vater sagte: »Ich hab es gewußt! « Mit ausdruckslosem Gesicht saß ich da. Mein Vater sagte: »Siehst du?« und tippte sich an die Stirn. »Mr. Schwein weiß alles. Kannst du dich an den Tag erinnern, als ich in dein Zimmer kam und dich fragte, ob du Zwangsvorstellungen wegen deines Gewichts hättest?« Ich sagte: »Ja.« Ich sagte: »Hmm, du hattest recht.« Ich weinte. Ich sagte, ich hätte aufgehört. Aus irgendeinem Grund fingen wir an zu lachen. Ich hatte nicht aufgehört. Meine Eßstörung hatte sich dramatisch verschlimmert. Ich fraß, allein, wann immer ich konnte, gab mein ganzes Geld dafür aus. Fast-Food-Restaurants, Imbißbuden, Essen von zu Hause, Essen aus den Kühlschränken anderer Häuser. Stundenlang machte ich in meinem Zimmer Gymnastik. Ich war zwar erst vierzehn, trotzdem fragte ich mich, ob ich mir von einem Schönheitschirurgen das Fett absaugen lassen sollte. Jedes Fettmolekül meines Körpers sollte abgesaugt werden, so daß hinterher nur noch die fröhlich klappernden Knochen übrig blieben. Ich lag jede Nacht im Bett und starrte meinen Körper mit einem Haß an, der mir sogar heute noch die Galle hochkommen läßt. Mein Haß auf die Bulimie wuchs ebenfalls ständig. Dieser Haß verwandelte sich im Laufe der Zeit in absolute Hingabe an das Ziel, magersüchtig zu werden. Ich aß weniger regelmäßig, begann, »Diäten« zu machen, log meine Freundinnen an, die mich natürlich fragten, warum ich nichts aß, ob ich mich wieder übergäbe, was zum Teufel mit mir los sei. Ich begann, in der Schule immer häufiger ohnmächtig zu werden. Die Grippe, sagte ich. Kopfschmerzen. Eine allergische Reaktion, fix und fertig, zuwenig Schlaf, schlimme Erkältung, Bronchitis. Bulimie ist für die Umwelt nur schwer zu erkennen, weil sie den Körperumfang nicht verändert. Und sie ist gefährlich. Ich gab einem Jungen nach dem anderen den Laufpaß, Telefonsex bis tief in die Nacht. Aufrisse im Kino. Ich sah jetzt wirklich gut aus, älter. Ich hatte meinen Babyspeck verloren und hielt mein natürliches Gewicht, eine hübsche Stundenglasfigur, die ich in tief ausgeschnittene Pullover und kurze Röcke hüllte. Mein Leben drehte sich jetzt um Männer, wie das bei vielen Frauen der Fall ist. Wir saßen zusammen - ein paar Mädchen, deren Wortkargheit beim Thema Sex sich natürlicherweise schnell verflüchtigte - und diskutierten über Schwänze. Ich gab bis zu einem gewissen Grad vor, unwissend zu sein, aber bei einem Großteil der Themen war ich tatsächlich völlig ahnungslos. Ich wußte, wie man jemandem vernünftig einen blies und zum richtigen Zeitpunkt stöhnte, aber wahrscheinlich hätte ich nicht erklären können, was Hoden sind, wenn man mich gefragt hätte. Ebensowenig hätte ich die biologischen Hintergründe für das bizarre Phänomen eines Steifen erklären können. Die Natur des Schwanzes war ein Mysterium für uns - die Funktionsweise des Schwanzes, das Zittern des Bauchs, während die eigenen vorsichtigen, spinnenartigen Hände sich nach unten tasteten. Wir diskutierten über die Richtung von Schwänzen: Peters deutete nach rechts oben, Davids nach links, Brians geradewegs nach unten, wie ein Pfeil. Wir waren sicher, daß sie eigentlich nach oben deuten sollten. Wir lachten und lachten. Wir diskutierten: Konnte man schwanger werden, wenn man jemandem einen blies? Ein Mädchen sagte ja; ein anderes sagte nein, zumindest, solange man nichts schluckte. Ich beharrte darauf, daß es nur möglich wäre, wenn er ein Geschwür hätte und der ganze Mist irgendwie rauskam, und wir stellten uns vor, wie die kleinen, blinden Kaulquappen sich ihren Weg durch unsere Eingeweide bahnten, mit den Köpfen gegen die Leber und Milz stießen und einen Umweg machten. Leslie hatte zum Thema Schwanzrichtung noch die Alternative parat, daß er immer auf die Frau zeigte. Wirklich wahr, sagte sie und nickte bekräftigend. Ihre Mutter hatte ihr das erzählt. Daß Schwänze direkt auf die Frau deuteten. Ich fragte mich laut: Was also, wenn man aufsteht und vor ihnen auf und ab geht, wechselt der Schwanz dann die Richtung? Wie ein Radar? Ich stellte mir meinen Hund vor, der dem Knochen folgte, den ich über seinem Kopf kreisen ließ. Allein die Vorstellung, den Körper eines Mannes kontrollieren zu können, war berauschend; daß man bewirken konnte, daß sein Kopf sich nach dir umdrehte, daß er deinen Schritten folgte, daß man sich auf bestimmte Weise zu ihm beugen, mit ihm sprechen oder ihn einfach nur ansehen und den Kopf in den Nacken werfen konnte, und schon hatte man ihn in der Hand. Das Wunder des weiblichen Körpers mit all seinen unmöglichen Geheimnissen kann man zwar instinktiv verstehen, aber nicht leicht in Worte fassen. Die Sprache ist zu begrenzt und man selbst zu unerfahren, um zu wissen, warum der eigene Körper bei einem anderen Menschen solch eine plötzliche, wenn auch ungeschickte Reaktion auslösen kann. Genausowenig kann man erklären, wie man selbst seinen Körper spürt, kann man das innere Trommeln beschreiben, das man empfindet, wenn man der warmen Haut eines anderen Menschen nahe ist. Was man fühlt, ist ein verwirrendes Knäuel aus Widersprüchen: Macht, Freude, Angst, Scham, Frohlocken, das seltsame Bedürfnis, Geräusche von sich zu geben. Man kann nicht beschreiben, wie sich diese Dinge irgendwo im Unterleib und im Blut zu einem Ganzen verweben. Wir wußten, was wir tun und fühlen konnten, aber wir konnten nicht sagen, warum. Ich glaube, wir verstanden, daß der weibliche Körper mehr ist als die Summe seiner stummen Einzelteile. Wir mißverstanden die Macht, die wir spürten, ebenso wie unseren Geruch, unsere Gestalt. Was wir entdeckten, während unsere erhitzten Leiber übereinander lagen und vor sich hin zappelten, war etwas Körperliches, Sinnliches, Sexuelles, Greifbares, und es war Macht. Warum muß die Macht des weiblichen Körpers die Macht des weiblichen Geistes auslöschen? Haben wir so viel Angst davor, beides zu besitzen? Welche Bedeutung hätte das für die Frau? Es ist kein Problem für eine Frau, klug zu sein, solange sie eine graue Maus ist, mit Brille, schüchtern, denn dann ist sie offensichtlich kein Objekt der Begierde. Ebenso unproblematisch ist es für eine Frau, sinnlich zu sein, mit wippenden Titten und hervorquellendem Hintern, denn dann ist sie offensichtlich keine Konkurrenz im Kampf um intellektuellen Ruhm. Was aber, wenn sie beides ist? Wir beklagten uns bitterlich darüber, daß diese doppelte Moral nicht fair sei: Wenn ein Mädchen sexy aussah, wurde es gleich als Nutte abgestempelt; wenn ein Typ sexy aussah, galt er als guter Aufreißer. Aber wahrscheinlich glaubten wir in gewisser Weise selbst daran. Ich war Lichtjahre von der ersten Lektüre feministischer Literatur entfernt, ganz zu schweigen davon, mein eigenes Verständnis von Feminismus, von Sexualität, von Intellekt und - letztlich - von Gesundheit zu entwickeln. Lautstark bezeichnete ich mich als Feministin, aber das war eine rein programmatische Äußerung - ohne Substanz. Ich hatte keine Ahnung, was Feminismus wirklich bedeutete, mal abgesehen von der Tatsache, daß ich es für Scheiße hielt, wenn den Jungs in den Kursen für besonders begabte Schüler und Schülerinnen die Füße geküßt wurden, weil sie mal wieder eine hingeschmierte Seite über irgendwelche phantastischen, wissenschaftlichen Errungenschaften abgaben, wohingegen meine Freundinnen und ihre vor Fußnoten nur so strotzenden Analysen des Amerikanischen Rechtssprechungssystems, ihre Kunstwerke, ihre Gedichte, meine Geschichten, belächelt, dann mit einer Auszeichnung für besondere Kreativität versehen und anschließend ignoriert wurden. Wo ich herkomme, ist »Feministin« ein Schimpfwort. Meine Freundinnen - von denen später einige feministische Seminare an der Universität besuchten - nahmen mich gelegentlich beiseite und sagten mir, daß ich »irgendwie etwas militant« in bezug auf diese ganze »Feminismus-Geschichte« sei. Ich hatte schon mehr als einmal nachsitzen müssen, weil ich den Kunstlehrer als sexistisch beschimpft hatte oder weil ich Jeff Seick geboxt hatte, der mich ständig Möse nannte. Um die Wahrheit zu sagen, Möse klang mir in den Ohren wie Getöse, deshalb war mir der Begriff an sich egal. Aus irgendeinem für mich nicht nachvollziehbaren Grund interessierten sich die lüsternen und unverschämten Jungen in meiner Schule ebenso wie die schlaksigen Hurensöhne, die ich wie patinaüberzogene Pennies in der Gosse der Nachbarstädte auflas, außerordentlich für meinen Körper. Ich hatte die Vorstellung, daß meine Macht über sie proportional zu meinem Gewichtsverlust ansteigen würde.
Es gibt jede Menge Untersuchungen zu diesem Thema, die mir zeigen, daß ich mit diesem Glauben nicht allein dastand. Studien zeigen, daß Mädchen Schlankheit sowohl mit akademischem als auch mit sozialem Erfolg gleichsetzen.[22] Ich betrachtete sie als Voraussetzung für Erfolg jeglicher Art. Als Fahrkarte hinaus aus dem erstickenden Vorortleben, aus dem Strom widerspenstiger Gedanken, der meinem Kopf entsprang und der darauf hinauslief, daß ich einfach nicht gut genug war. Der anorektische Körper scheint zu sagen: Ich brauche nichts. Er sagt: Ich habe Macht über mich selbst. Und unsere Kultur vertritt mittlerweile buchstäblich die Auffassung, daß Macht über den Körper einen Schneeballeffekt hat: Macht über den Körper, Macht über das Leben, über die Menschen in der Umgebung, Macht über eine Welt, die wahnsinnig geworden ist.
Wir können jetzt den systematischen, vollkommenen Verlust jeglicher Macht am Beispiel eines ganz bestimmten Menschen verfolgen: mir selbst. Vierzehn Jahre alt, am Ende der achten Klasse. Ein surrealer und höllisch heißer Sommer folgte. Ich lauschte sentimentalen Liebesliedern von den Beatles und von Simon and Garfunkel, während ich im Erdgeschoß auf der Couch lag und versuchte, mich an diesem langen, gleißend hellen Nachmittag abzukühlen. Ich wanderte in die Küche, aß, kotzte, legte mich wieder hin. Legte mich im Garten in die Sonne und las. Die Tage verschmolzen miteinander, eine Folge von Mahlzeiten, Badezimmern und Dösen.
Die neunte Klasse begann, das letzte Jahr auf der Junior High School, und ich begann, ernsthafte Pläne zu schmieden, um auszubrechen. Ich haßte Edina und hatte nicht das geringste Interesse daran, hier auf die High School zu gehen. Ich bat meine Eltern, mich ins Internat zu schicken, mich in ein eigenes Appartement ziehen zu lassen, mich irgendwohin gehen zu lassen, egal wohin. Ich wollte mich von dem Ort, an den ich gebunden war, ebenso befreien wie von der Person, die hier aus mir geworden war, wollte einen neuen Menschen erschaffen. Das Mädchen steht jeden Morgen auf und erschafft sich selbst aus Stoff und Farbe. Nachts schreibt sie über die Männer, die ihr nachgestarrt haben, Jungen, die sie berührten, und über Gewicht. Sie schreibt über ihre große Schwäche, die sie zum Schrank trieb und sie zum Essen veranlaßte. Das Schreiben ist nicht genug. Die Beichte reicht nicht aus. Die Absolution kann nicht durch Worte kommen, nur durch Buße. Sie denkt an die Heiligen: an ihre Geißeln, die Betten aus Nägeln, die jahrhundertelange Abbitte, die Buße für Eva, für die Sünden der Welt, die sie auf ihre Schultern genommen haben. Sie tragen härene Gewänder oder Rasierklingen auf der Haut. Sie liest Bücher über die Heiligen. Die geheiligten Machtsüchtigen, die in heiliger Askese darauf beharrten, daß Gott ihnen aufgetragen hatte, zu verhungern. Sie denkt über Gott nach. Sie beschließt, daß er ihr, wenn sie miteinander sprechen würden, ganz sicher befehlen würde, für die Sünden der Welt zu verhungern. Ihr härenes Gewand ist ihre eigene Haut, die auf der wunden Oberfläche dessen, was darunter liegt, scheuert. Ihre Willenskraft triumphiert über das Fleisch: kein Essen, kein Sex, keine Berührung, kein Schlaf. Sie schnupft Kokain in ihrem geblümten Zimmer, um nicht dem Schlaf nachzugeben, dieser Schwäche, und sie, die selbst schon viel zu schwach ist, weigert sich, aufzugeben. Die Bulimie und die Drogen führen zu Schlaflosigkeit und einem gestörten Gleichgewicht ihres Organismus. Die Schlaflosigkeit führt zu Manie, zu rasenden Gedanken und sadistisch lebendigen Bildern - »die grausame Klarheit der Schlaflosigkeit«, wie Borges es nennt - die Gedanken rasen in einer endlosen Spirale, pfeifen im Innern des Gehirns schrill wie ein Teekessel. Sie kommt zu lange ohne Schlaf aus und wird verrückt. Sie weiß nicht mehr, wann es beginnt. Sie entwickelt eine ungeheure Angst vor der Dunkelheit. Ihre Eltern erinnern sie daran, daß sie zu alt dafür ist. Jeden Abend bittet sie ihren Vater, jedes Schloß zu überprüfen, jedes Fenster und jede Tür, das gesamte Erdgeschoß nach dem Mann zu durchsuchen, von dem sie weiß, daß er gekommen ist, um sie zu überfallen, dem Mann mit dem Messer. Sie liegt im Bett, steif wie ein Leichnam, und wartet auf die Schritte auf der Treppe. Sie kann nicht schlafen. Jedes Knacken oder Seufzen im Haus, jeder Windstoß, der die Wände und Bäume berührt, lassen sie kerzengerade vor Schreck im Bett sitzen und nach ihrem Papa schreien. Papa kommt und bemüht sich nach Kräften, sie zu verstehen. Sie kann nicht allein zu Hause bleiben. Sie ist seit ihrem neunten Lebensjahr immer allein zu Hause geblieben. Mit vierzehn wird das unmöglich. Wenn sie von der Schule nach Hause kommt, setzt sie sich auf die Vordertreppe und wartet dort, bis jemand nach Hause kommt. Das Zittern: Sie erinnert sich vornehmlich an das Zittern, ihr ganzer Körper, angespannt und zitternd, in Erwartung des Mannes, der sie in ihrem Zimmer in die Ecke drängt und sie mit seinem Messer aufschlitzt. Rückblickend hält sie diese Zeit für eine Phase der Vorahnung. Dies ist das letzte Jahr, das sie zu Hause verbringt. Sie will, daß ihre Mutter und ihr Vater sie retten. Sie spricht es aus, und Papa fragt ganz ernst: Wovor? Vor mir selbst.
Meine Angst vor der Nacht hörte ebenso plötzlich auf, wie sie begonnen hatte. Ich bewarb mich für High Schools mit künstlerischem Schwerpunkt. In meinen drei Jahren auf der Junior High School hatte ich einige Preise für meine schriftstellerischen Versuche gewonnen, hatte ein paar Hauptrollen im Schultheater gespielt. Jeder behauptete, daß ich singen könnte, jeder sagte, daß ich das Zeug für den Broadway hätte bla bla bla. Ich wollte mich einfach nur vom Acker machen, und »Talent« war eine genauso gute Entschuldigung wie alles andere. Zu diesem Zeitpunkt war ich genauso fest wie alle anderen davon überzeugt, daß ich nicht besonders intelligent sei. Ich hielt mich für eine Niete mit vernünftigen Titten, die für einen Fick und ein paar Lacher gerade gut genug war. Im Winter in der neunten Klasse tippte ich meine Gedichte und Geschichten sorgfältig ab, heftete sie in ein blaues Ringbuch und übte zwei Monologe ein. Mein Vater probte mit mir. Zum ersten Mal, seit ich ein kleines Mädchen war, bat ich meinen Vater um Rat. Im März schickte ich meine Bewerbung zur Interlochen Arts Academy, einer kleinen Schule im Norden Michigans, und wurde zum Vorsprechen eingeladen. Ich verliebte mich sofort in die Schule: die lauten, theatralischen Stimmen, die Bäume, die Schlafsäle, die Studenten, die Klassenzimmer, die Bühnen. An meinem ersten Abend, den ich zusammen mit meiner Mutter dort verbrachte, sagte ich begeistert zu ihr: »Es ist herrlich hier. Ich muß die Aufnahmeprüfung einfach schaffen. Ich muß es einfach.«
Ich schaffte sie.