Chronistinnen des Krieges

Frauentagebücher im Zweiten Weltkrieg

Die Frauen und Mädchen, deren Tagebücher und Erinnerungsberichte mir zur Verfügung stehen, waren keine politisch exponierten Menschen. Es gibt kein Tagebuch in meiner Quellensammlung, das ich als ein Dokument des Widerstandes bezeichnen würde, wenn auch einige wenige Verfasserinnen, wie Hannah Hoch, deren Kalendernotizen im Interpretationsteil ausführlicher behandelt werden, ein deutlich abgegrenztes Verhältnis zum Nationalsozialismus haben (vgl. Die Kalendernotizen der Malerin Hannah Hoch). Auf der anderen Seite fällt es mir schwer, die Aufzeichnungen als durchgängig nationalsozialistisch orientiert auszuweisen. Da glaubt die Sparkassenangestellte Charlotte G. bis kurz vor Kriegsende an den militärischen Sieg, weil sie sich davon nach Kriegsende die Erfüllung ihres privaten Glücks mit Eigenheim und Familie erhofft (B. 460-489). Oder Ingeborg T., junge Ehefrau und Mutter mehrerer Kinder, die den Krieg vom ersten Moment an haßt, sich aber wie ein Kind freut, als ihr Mann zum Oberst befördert wird, und nach Kriegsende darüber trauert, weil sie sich nicht mehr mit ihm in Oberstuniform sehen lassen kann (143-167). Die Schülerin Lieselotte G. kommt aus einem sozialdemokratischen Elternhaus, kann sich jedoch nur mühselig von ihrem Glauben an Nationalsozialismus und Führer lösen, weil beides eng verknüpft ist mit ihrem Ich-Ideal einer opferbereiten preußisch-deutschen Frau (vgl. Das Mädchentagebuch von Lieselotte G.). Die über 80jährige Pfarrfrau und Großmutter Marie von N. lehnt als gläubige Christin alle »ismen« ab, dennoch unterstützt sie die nationalsozialistischen Kriegsziele (vgl. Das Brieftagebuch der Marie von N.).
Nicht anders als bei lebensgeschichtlichen Erzählungen aus der Zeit des Nationalsozialismus ist es eine der grundlegenden Erfahrungen, daß sich bei der Mehrheit eine Gradlinigkeit von durchgängiger Resistenz oder ungebrochenem »Mitmachen« nicht ausmachen läßt. Man wird vielmehr mit einer »Gemengelage« von Distanzieren und »Mitmachen«, Hinnehmen und »Sich-Verdrücken« konfrontiert (Lüdtke 1987,19). Unabhängig von den politischen und gesellschaftlichen Orientierungen gingen Lebensziele und Einschätzungen immer auch an den gesellschaftlichen Orientierungen vorbei und über sie hinaus. Scheinbar unvereinbare Gedanken und Gefühle konnten in den Tagebüchern nebeneinander stehen, ohne daß die Schreibenden dies selbst zu bemerken schienen. Der Riß, den ich mir zwischen unterschiedlichen Personen und Gruppen vorgestellt hatte, verlief mitten durch die Personen. Schreibend beziehen die Verfasserinnen Position, grenzen sich von politischen Ereignissen ab oder stellen im kollektiven >Wir< der deutschen >Volksgemeinschaft< Übereinstimmung zum Geschehen her. Das komplexe Miteinander von Distanznahme und Selbstformierung läßt sich nur durch die genaue Analyse einzelner Texte erfassen. Bevor ich zu den eingehenden Interpretationen ausgewählter Tagebücher komme, möchte ich erst einmal einen Überblick über das Quellenmaterial geben.

Meine Quellensammlung umfaßt 32 Tage- und Notizbücher, 7 Erinnerungsberichte und 3 Briefsammlungen von Frauen. Von Männern stehen mir 20 Tage- und Notizbücher und 10 Briefsammlungen zur Verfügung. Zählt man die 1984 in der Sammeledition von Heinrich Breloer veröffentlichten Auszüge der 10 Mädchen- und Frauentagebücher hinzu, dann ergibt sich ein Quellenkorpus von etwas mehr als 50 autobiographischen Texten mit weiblicher Autorenschaft, deren Umfang allerdings erheblich schwankt.
Diese Quellengrundlage ist notwendigerweise nur ein Ausschnitt dessen, was Frauen und Mädchen in den Kriegsjahren an autobiographischen Texten verfaßt haben. Generalisierende Schlußfolgerungen - etwa über die Haltung der weiblichen Mehrheit in Deutschland zu Nationalsozialismus und Krieg - sind auf einer solchen Grundlage aber in Form von Hypothesen möglich, die es weiterzuverfolgen gilt. Allein der Umstand, daß keineswegs in allen Lebensphasen und sozialen Umfeldern der Tagebuchbrauch in gleicher Weise verbreitet ist, macht pauschale Rückschlüsse problematisch.
Der in den empirischen Untersuchungen zur Verbreitung des Tagebuchschreibens festgestellte überproportionale Anteil jugendlicher Verfasserinnen zeichnet sich auch bei meiner Quellengrundlage deutlich ab. Ein großer Teil der Diarien wurde von jungen Autorinnen verfaßt.[14] Charakteristisch für die Tagebuchkultur ist auch, daß bei der Mehrzahl der Tagebuchautorinnen ein bildungsbürgerlicher Hintergrund feststellbar ist.[15] Obwohl mir auch Aufzeichnungen von Hausfrauen aus anderen sozialen Schichten zur Verfügung stehen, wie die Tagebuchnotizen von Frau K. und von Frau H., zwei Ehefrauen von Berliner Arbeitern, und der Fortsetzungsbrief der Woolworth-Angestellten Stefanie S., kann ich bei einer solch schmalen Quellengrundlage der Frage nach unterschiedlichen sozialen Prägungen des Schreibens nicht nachgehen. Hier wären Feldpostbriefe, die von Frauen aus allen sozialen Schichten verfaßt wurden, die geeignetere Quelle.
Mir stehen primär Aufzeichnungen von Frauen aus Großstädten zur Verfügung, vor allem aus Berlin. Gerade dieser Umstand macht die Quellengrundlage aber auch in besonderer Weise aufschlußreich für die Interpretation. Die Großstädterinnen waren vor allem gegen Ende des Krieges permanent von Luftangriffen betroffen. Die Berliner Autorinnen erlebten außerdem noch die militärische Eroberung der Stadt. Es gibt somit in diesem Punkt einen relativ homogenen Erfahrungshintergrund.

Bei meiner Auswertung des Gesamtmaterials, einschließlich der von Männern verfaßten Tagebücher, stieß ich auf eine Differenz in der autobiographischen Schreibtätigkeit. Männer werden in verstärktem Maß schon seit Beginn des Krieges zu Tagebuchautoren und Chronisten des Kriegsgeschehens, während viele Frauen erst gegen Ende des Krieges ab 1943 ein Tagebuch beginnen. Kriegstagebücher von Frontsoldaten beginnen häufig mit dem Fronteinsatz. Der Schreibzeitraum fällt teilweise mit ihren militärischen Einsätzen zusammen.[16] Die Mehrzahl der Tagebücher und Kalendernotizen von Frauen hingegen beginnt im Jahr 1943, als durch die verstärkte Bombardierung die Heimat zur Front wird und der Krieg den Alltag zunehmend dominiert.[17] Innerhalb des Schreibzeitraums 1943-1945 sind das Kriegsende und die ersten Nachkriegsmonate deutlich als Schreibschwerpunkte auszumachen. Manche Autorinnen beginnen ihr Tagebuch kurze Zeit vor Kriegsende, und ihre Aufzeichnungen enden mit den ersten Anzeichen einer Normalisierung des Alltags.[18] In den letzten Kriegsmonaten häufen sich die schriftlichen Spuren auch in den persönlichen Kaiendarien. Mir stehen mehrere Notizkalender des Jahres 1945 zur Verfügung, in denen Frauen in der Zeit des Kampfes um Berlin stichwortartige Chroniken der Ereignisse festhalten.[19] Gegen Ende des Krieges und in der unmittelbaren Folgezeit ist darüber hinaus in Tagebüchern, die über eine längere Phase geführt werden, oft eine Häufung von sehr ausführlichen Eintragungen zu finden. Typisch sind dichte Erlebnisschilderungen, in denen das Zeitgeschehen eine zentrale Rolle spielt. Ein extremes Beispiel hierfür sind die Tagebuchaufzeichnungen, die Sabine K. in den Jahren 1944 und 1945 verfaßt, mehr als die Hälfte ihres 200 Seiten umfassenden Diariums schreibt sie von Ende April bis Mitte Mai 1945 (vgl. Das Ereignistagebuch von Sabine K.).
Bei der Sammlung von Kriegstagebüchern, die Heinrich Breloer 1984 veröffentlichte, liegt der Schwerpunkt der autobiographischen Berichterstattung der Frauen ebenfalls im letzten Kriegsdrittel; auch hier ist das Jahr 1945 der Höhepunkt der autobiographischen Berichterstattung. Während Breloer für die ersten Kriegsjahre bis 1942 nur Tagebücher männlicher Verfasser abdruckte, gibt es im letzten Teil des Buches einen Abschnitt mit der Überschrift Deutschland 1945; 6 der 8 Tagebücher aus diesem Zeitraum sind von Frauen verfaßt.
Eine solch auffällige Materialhäufung berechtigt zu der Annahme, daß in der Endphase des Krieges eine verstärkte autobiographische Schreibtätigkeit von Frauen einsetzt, die ihren Höhepunkt im Jahr 1945 hat. Der Anstieg der diaristischen Aktivität von Frauen fällt zusammen mit der sich verschärfenden und zunehmend aussichtslosen militärischen Situation in Deutschland, in der die >Heimat< vom Krieg dominiert wurde. Während Männer schreiben, wenn sie in den Krieg ziehen, schreiben Frauen, wenn der Krieg zu ihnen kommt.
Im folgenden werde ich die unterschiedlichen Gründe herausarbeiten, die Frauen dazu veranlaßten, in der letzten Kriegsphase Tagebuch zu schreiben. Hier sind zunächst die massenhaften Trennungen und die Einsamkeit zu nennen. Die gewaltsamen Einbrüche des Krieges in den Alltag bringen zudem ein verstärktes Bedürfnis nach autobiographischer Selbstreflexion mit sich. Während für Männer der Einbruch des Krieges ins Leben mit der Rekrutierung beginnt, setzt die permanente Durchdringung von Alltag und Krieg in Deutschland für die Daheimgebliebenen - mehrheitlich Frauen und Mädchen - erst in der letzten Kriegsphase ein. Zu Beginn des Jahres 1945 kommt dann der von Deutschland ausgegangene Krieg mit dem Einmarsch der Alliierten ins eigene Land zurück, und viele Frauen werden durch Flucht und Eroberung unmittelbar ins Kriegsgeschehen verwickelt. Der Überhang an Tagebüchern und Erinnerungsberichten dieser Monate, in denen das Zeitgeschehen im Mittelpunkt steht, wie auch die stichworthaften Chronologien in Kalendern führen vor Augen, daß das Kriegsende Frauen in besonderem Maß zu Chronistinnen des Krieges machte.
Den engen Zusammenhang zwischen Schreiben und Krieg verdeutlichen die Aufzeichnungen von Frau H. Sie begann als junges Mädchen während des Ersten Weltkrieges ein Tagebuch. 26 Jahre später - Ende 1944 - setzt die nun circa 40jährige ihre Aufzeichnungen in ihrem Mädchentagebuch fort:

Im November 1944. Ich sitze allein. Es ist wieder Krieg und zwar schon im 6. Jahr. Erich ist Soldat und in Norwegen. Gerhard ist schon Leichtmatrose und auf dem Schulschiff Radun. So bin ich jetzt allein. (...) Wir leben in ständiger Angst vor Bombenangriffen. Berlin ist zum größten Teil verwüstet. Ganze Stadtteile sind tot. Ich habe heute noch gelesen, was ich über den Krieg 1914-18 schrieb. Es war gar nichts.

Die Trennung von ihrem Ehemann Erich und ihrem Sohn Gerhard ist für die Berliner Hausfrau ein Grund, auf ihr altes Mädchentagebuch zurückzugreifen. Im Rückblick scheinen ihr die Entbehrungen des Ersten Weltkrieges gering im Vergleich zu den Bedrohlichkeiten der Luftangriffe, die sie nun miterleben muß.
Bereits im vorherigen Kapitel habe ich darauf hingewiesen, daß die Feldpostkommunikation zu einer breiten Schreibschule wurde. Briefe waren häufig die einzig mögliche Form, den unfreiwilligen, oft jahrelangen Trennungen der Frontsoldaten von Familie und Freund(inn)en zum Trotz den Kontakt aufrechtzuerhalten. Frauen und Mädchen, die für die familiäre Kommunikation verantwortlich sind, waren hier stärker involviert als Männer. Die Sorge um die nächsten Anverwandten, die Klage über Einsamkeit und Trennung wird aber auch zum Motiv von Tagebuchaufzeichnungen. Sowohl die Ankunft eines Briefes wie das Ausbleiben von Post sind ein häufiger Schreibanlaß. Beispielhaft sind die Aufzeichnungen der Burgdorfer Sparkassenangestellten Charlotte G., die im Tagebuch ab 1943 detailliert die eingehenden Feldpostbriefe und Päckchen ihres Mannes neben ihren Erlebnissen vom Tage festhält. Die Feldpostbriefe spielen in ihrem durch die Kriegsentsagungen oft harten und arbeitsintensiven Alltag eine zentrale Rolle. Sobald eine längere Pause in der Korrespondenz entsteht, hält Charlotte G. dies im Tagebuch fest. »Ich habe keine Post von Adolf bekommen und fühle mich schrecklich einsam« (B. 463). »4.8.44 (...) Der letzte Brief ist vom 12.7. Hoffentlich ist nichts passiert. Ernst meldet sich auch nicht« (B. 465). Markiert die Briefbilanz zum einen die Höhen und Tiefen des Alltags der Tagebuchautorin, so sind Briefresümees auch Ausdruck der Teilnahme am Frontleben des Ehemanns. Kurz vor Ende des Krieges erhält Charlotte G. die Nachricht von der Ostfront, daß ihr Mann als vermißt gilt. Die Einsamkeit, ihre Angst und die Bemühungen, etwas über den Verbleib des Ehemannes zu erfahren, werden zu einem wichtigen Thema des Tagebuchs.
Wie Charlotte G. wissen viele Frauen in den letzten Kriegsmonaten nichts über den Verbleib ihrer Angehörigen und Freunde, ob sie in Gefangenschaft geraten, vermißt oder gestorben sind. Der Abbruch oder die Einschränkung der Korrespondenz veranlaßt manche zu vermehrter Selbstreflexion. Der Historiker Wolf-Dieter Mohrmann berichtet von dem Tagebuch der Mutter eines Leutnants, das diese im Sommer 1944 genau zu dem Zeitpunkt beginnt, als ihr Sohn in Gefangenschaft gerät und nur noch begrenzt korrespondieren kann. Ihre Aufzeichnungen enden 1948 am Tag der Rückkehr ihres Sohnes aus der Kriegsgefangenschaft (Mohrmann 1989, 34).
Auch das Tagebuch der Marie von N., das zu einem großen Teil aus Abschriften der Briefe ihrer Enkel besteht, die an den unterschiedlichen Fronten rekrutiert sind, macht den engen Zusammenhang zwischen Feldpostkommunikation und Tagebuch deutlich. Ihr Brieftagebuch, das im folgenden Kapitel ausführlich behandelt wird, dient ihr in den Monaten des Kriegsendes, als sie keine Feldpostbriefe mehr erhält, vor allem zur Selbstreflexion. Andere Autorinnen beginnen ihre Aufzeichnungen, als der Briefverkehr im April 1945 endgültig zusammenbricht. Bei diesen Diarien handelt es sich im Grunde um verhinderte Briefe. »Da ich Dir nun nicht mehr schreiben kann, so will ich wenigstens auf Zetteln so eine Art Tagebuch führen. Nun ist es wohl soweit, die Belagerung der Stadt beginnt in weiterem Umkreis«, lautet der erste Eintrag im Tagebuch der Berlinerin Etti S. am 20. April 1945. Auch für die 13jährige Anni K. ist ihr Tagebuch, das sie im April 1945 in der Evakuierung in Altenburg beginnt, ein Ersatz für Briefe an die Mutter in Berlin, zu der in der letzten Phase des Krieges der postalische Kontakt abgebrochen ist. »Es ist wie es das Schicksal will. Du bist gerade einen Tag fort, kommen die amerikanischen Soldaten. Manchmal könnte ich losheulen wie ein kleines Kind. Ach, wäre ich nur bei Dir. Ich bin jetzt immer in Angst«, schreibt sie am selben Tag wie Etti S. in das Heft, in dem sie in den kommenden Wochen die wichtigsten Erlebnisse festhält. Zwei Tage nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht am 8. Mai 1945 notiert die Jugendliche:

11.5.45
Mutti, Mutti, wer hätte das gedacht, daß alles so kommt. Jetzt ist der Krieg aus und wer weiß wie lange keine Aussicht zur Heimfahrt. Ob Du noch lebst? Ich frage es mich am Tage hundertmal in steigender Angst. Bist Du auch nicht halb verhungert und verdurstet? Haben die Russen Dir nichts getan? Steht die Wohnung noch? Lebt Onkel Herzer. Es ist furchtbar.

Annis Tagebuchbriefe enden, als Anfang Juli 1945 der Kontakt zur Mutter wiederhergestellt wird und sie kurze Zeit später nach Berlin zurückkehren kann.
Deutlich benennt auch Lina Haag, deren Aufzeichnungen 1947 veröffentlicht wurden, die erzwungene Isolation als ein Motiv des Schreibens. Die Verfasserin, Ehefrau eines während der gesamten NS-Zeit inhaftierten KPD-Funktionärs, beginnt im Mai 1944 im Tagebuch eine autobiographische Rückbesinnung auf ihr Leben im Nationalsozialismus: »Ich muß mir das ganze Elend der vergangenen Jahre von der Seele reden. Vielleicht ist es dann leichter zu ertragen. Vielleicht bin ich dir dadurch näher. Vielleicht ist dann auch das Warten nicht so schwer. Ich warte schon zu lange« (1981, 13).
Die Einsamkeit, der Kommunikationsabbruch und die zunehmende Ungewißheit über Verbleib und Los von Angehörigen und Freunden steigern die diaristische Aktivität. In narrativer Form soll das zusammengefügt werden, was der Krieg getrennt hat.

»Du siehst hier geht es alles seinen gewohnten Gang weiter, trotzdem Ihr da draußen so einen umwälzenden und gewaltigen Krieg führt«, schreibt Frau B. noch 1941 ihrem Sohn an die Ostfront. Erst mit dem verstärkten Luftkrieg gegen deutsche Großstädte ab Mitte 1942 beginnt in der >Heimat< jene dichte Durchdringung von Alltag und Krieg, der sich auch die Daheimgebliebenen nicht entziehen können. Der Krieg dominiert nicht nur den Alltag, er gewinnt auch zunehmend Raum in den Frauendiarien.
Ich habe schon zu Beginn dieses Kapitels erwähnt, daß ein Großteil der Diarien meiner Sammlung von jungen Frauen und Mädchen verfaßt wurde. In den 40er Jahren greifen - nicht anders als in >normalen< Zeiten - vorrangig jugendliche Verfasserinnen zum Tagebuch. Auch in den Jahren des Zweiten Weltkrieges war es unter jungen Mädchen Mode, ein Tagebuch zu führen.
In den Tagebüchern von jungen Frauen aus der Kaiserzeit und der Weimarer Republik spielte der Themenbereich »Politik und Zeitgeschehen« eine marginale oder gar keine Rolle (Soff 1989, 163ff.). Anders verhält sich dies in den Frauen- und Mädchentagebüchern der Jahre 1943-1945. Bei den jüngeren Autorinnen nehmen die Auseinandersetzungen, die primär die eigene Person betreffen, zwar einen großen Stellenwert ein. Auch Themenbereiche wie Elternhaus, Freundschaften und Schule sind bedeutsam, aber die Beschreibungen des Zeitgeschehens beanspruchen ebenfalls großen Raum.
Wenn auch Nationalsozialismus und Krieg nicht voneinander abzulösen sind, gewinnt der Krieg als Gegenstand und Motiv des Schreibens doch an Eigengewicht. Explizite Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus nehmen einen weitaus geringeren Stellenwert ein als die unterschiedlichen Formen der diaristischen Bearbeitungen von Kriegserfahrungen. Das Ineinandergreifen von Ich-Entwurf und gesellschaftlichen Forderungen unter den Bedingungen von Nationalsozialismus und Krieg, den Zusammenhang von gesellschaftlicher Krise und schreibender Introversion werde ich bei der Interpretation des Mädchentagebuchs von Lieselotte G. herausarbeiten.
Aufschlußreich für den Zusammenhang von autobiographischer Schreibaktivität und Krieg sind die Notizen, die die 17jährige Berlinerin Lilli G. während des ersten Halbjahres 1945 in einem Notizheft festhielt:

  • 25.2.    Mutti und Margit sind krank. Kino mit Inge: Opfergang. Mitten raus wegen Alarm.
  • 28.2.    Alarm. Kino: Opfergang - Alarm! - Opfergang. Paul mit Mädel gesehen. Wird aus Berlin wegkommen.
    Kuchen gebacken.
  • 3.3.    Mein Geburtstag. Alarm!
  • 4.3.    Geburtstag gefeiert. (...) Herrlich! Nachts 2 Uhr Alarm!
  • 5.3.    Fliegeralarm! Zwischenstück der Tasche angefangen.
  • 7.3.    Alarm. Weisheitszahn macht Beschwerden.
  • 8.3.    Alarm! In Zahnklinik gewesen. Erste Tasche fertig. Post von Horst R.
  • 9.3.    Fliegeralarm!
  • 10.3.    Alarm! Schwerer Angriff! Wieder in Zahnklinik.
  • 11.3.    Alarm! Schwerer Angriff (...)
  • 12.3.    Alarm! Gewaschen, geplättet gerollt u.s.w.
  • 13.3.    Alarm!
  • 14.3.    Alarm! Matratzen geklopft!
  • 15.3.    Alarm! Mit Günter ins Zimmer eingezogen.
  • 16.3.    Alarm! Teppiche geklopft.
  • 17.3.    Alarm! Ausgebombt! Gerettet!

»Alarm!«, das ist auch während des gesamten folgenden Monats die häufigste Eintragung der Berlinerin. »Alarm!« scheint generell die verbreitetste Kalendernotiz zu sein, die die Bewohnerinnen größerer Städte während der Jahre 1942-1945 machen. Die Hausfrau Johanna L. führt in einem karierten Schulheft von 1940 bis 1945 ein vollständiges Register der Luftangriffe auf Berlin und notiert Datum, Dauer und Besonderheiten der Alarme. Auch im Ashelm Wochen-Vormerk Kalender 1945 und in Mein Tagebuchkalender 1940 werden Luftangriffe und Alarme registriert. Jeder Alarm stellt den Tagesablauf nachhaltig in Frage. Lilli G. wird fast jede Nacht im Schlaf gestört, muß mehrfach das Kino verlassen, ihre Geburtstagsfeier verschieben, verliert kurz vor Kriegsende ihre Wohnung und ihre persönliche Habe und schätzt sich noch glücklich, daß sie wenigstens am Leben blieb - »gerettet!« wurde.
Die Bombenangriffe bekommen in den letzten Kriegsmonaten eine derartige Regelmäßigkeit, daß man Anfang April in Ullis Notizbuch einen neuen, allerdings seltenen Eintrag findet: »Kein Alarm!« notiert sie genau viermal in diesem Monat.
Welchen Eindruck das Ende der Bombenangriffe auf die Menschen machte, zeigt die Eintragungsfolge von Johanna L., die ihr Notizheft, das bislang ausschließlich dem Luftangriffsregister diente, 3 Monate über das Kriegsende hinausführt. Von Mitte Mai bis Ende Juni notiert sie, neben Bemerkungen wie »Juni 1945, Sonntag, den 3.: nachts geschossen« und »Juni 1945, Donnerstag, den 7.: Russen im Haus«, stereotyp bei 34 Eintragungen »alles ruhig!«.
In den großen Städten wurde während der letzten beiden Kriegsjahre durch die häufigen Bombenangriffe und später durch die direkte militärische Eroberung der Alltag im Ausnahmezustand zur Regel. Die bedrohlichen Situationen, zwischen denen gegen Ende des Krieges immer kürzere Zeitspannen einer geregelten und ruhigen Normalität lagen, schlugen sich in den autobiographischen Texten nieder, und zwar keinesfalls nur in Luftangriffsregistern. Die Gefahren und Erlebnisse der Bombennächte wurden vielmehr zu einem Leitthema von Tagebüchern der >Heimat< ab 1943. Die Verfasserinnen schrieben über die Gefahren, denen sie ausgesetzt waren. Sie berichteten aber ebenso ausführlich von ihren Bemühungen, den schwierigen Bedingungen zum Trotz ein Stück alltäglicher Normalität aufrechtzuhalten. Erzählungen über Feiern im Krieg sind hierbei ein bevorzugter Anlaß des Schreibens. Ein Weihnachtsfest im Schatten des Krieges beschreibt Lieselotte G. in ihrem Tagebuch:

24. [12.43] Heut ist heilige Nacht! Um 1/4 4 kam Alarm. (...) Eine halbe Stunde sassen wir im Dunkeln unter entsetzlichem Geknalle, dicht zusammengedrängt u. warteten auf das Letzte. (...) Und dann, dann kam Entwarnung. Wir rauf, voller Dank im Herzen für das Leben. (...) Oben war die ganze Wohnung voller Dreck. (...) Alle Fenster in der Wohnung in Scherben, (...) die Verdunkelungen kaputt, die Erde bedeckt von Scherben u. Mörtel, die Betten schwarz, Einmachtöpfe kaputt, Gurken u. Kürbis ausgelaufen. Die Kugeln des Adventskranz waren kaputt, die Uhren standen auf 5 nach 4, Antenne kaputt u.s.w. Na, mir war es wie im Traume. Sogleich begannen wir aufzuräumen. (...) Obwohl es noch dunkel u. Verdunklung war, waren alle Fenster in der Umgebung hell erleuchtet (Gas, Licht u. Wasser hatten wir noch), weil überall die Verdunklungen und Fenster kaputt waren. Es war ein Bild wie im Frieden!!
Und heut war heiliger Abend!!

Nachdem die Verfasserin mehrere Seiten lang berichtet hat, unter welchen Mühen sie und ihre Mutter die Wohnung notdürftig wieder in Stand gesetzt haben, endet der Tagebucheintrag mit der Beschreibung des Festes:

Dann kam Vati, wir machten Bescherung. Der Weihnachtsbaum war fertig, die Krippe aufgestellt, und es wurde doch so wie es früher war. Das liebe, alte deutsche Weihnachtsfest!! (...) dann aßen wir noch Ente, die wir inzwischen gebraten hatten, mit Lichtern auf dem Tisch. Am Weihnachtsbaum waren Kerzen (davon 4 selbstgemacht).

Die Diskrepanz zwischen freudiger Erwartung und Realität wird zu einem Aufhänger des Schreibens. Die doppelten Ausrufungszeichen - »Und heut war heiliger Abend!!« - signalisieren Enttäuschung oder Empörung darüber, daß ausgerechnet zu Weihnachten, dem Fest des Friedens, der Krieg so nachhaltig den familiären Alltag prägt. Um ein Fest den Erwartungen gemäß zu gestalten, bedurfte es vor allem von seiten der Frauen außergewöhnlicher Anstrengungen. Versorgungsengpässe und die ständige Gefahr, daß die Feierlichkeiten durch Alarme unterbrochen werden könnten, stellten den normalen Ablauf nachhaltig in Frage. Marie von N. hat diesen Aspekt in ihren Tagebuchaufzeichnugen prägnant auf den Punkt gebracht: »Solch eine Geburtstagsfeier im 6. Kriegsjahr ist wohl nichts Alltägliches, sondern was Besonderes, u. wieviele Wunder mußten geschehen, damit sie zustande kam.«
Feste durchbrechen die alltägliche Routine. Das Immergleiche, das einen Großteil von Normalität ausmacht, wird nur selten zum Gegenstand der Diaristik. Ein Auslöser der Tagebucherzählungen kann sein, daß die Einbrüche des Krieges den gewohnten oder erwünschten Ablauf eines Festes in Frage stellen. Ein unerwartet »friedensmäßiger« Verlauf wird aber ebenso als Besonderheit wahrgenommen und ist der Berichterstattung wert. Das Ungewohnte und nicht das Gewöhnliche, die Ausnahmen und nicht die Normalität werden Gegenstand von Erzählungen im Tagebuch. Dieser Umstand läßt sich auch an einem weiteren Detail von Lieselottes Beschreibung veranschaulichen: Sie erwähnt die Lichter der Stadt, die für sie zu einem bedeutungsvollen Bild werden, das an Frieden erinnert, aber auch auf die Zerstörung hinweist.
Elektrisches Licht und fließendes Wasser aus dem Hahn sind aber in Großstädten des 20. Jahrhunderts im Frieden eine solche Selbstverständlichkeit, daß unter normalen Bedingungen allenfalls ein Stromausfall, keinesfalls jedoch das Vorhandensein der Stadtbeleuchtung in Tagebüchern vermerkt würde. Anders verhält es sich jedoch in den ersten Friedenstagen; hier wird das Ende der Verdunklung sehr häufig erwähnt. So schreibt Renate C:

Montag, 14.5.45: »Verdunglung« [sie!] zuende! (...) Als wir nun ziemlich hungrig am Abendbrottisch saßen, sagte Vati in Gedanken: »Ja, ja das ist heute ein denkwürdiger Tag.« »Warum denn«, frug ich schnell. »Von heute ab«, sagte Vati, »von heute ab brauchen wir nicht mehr zu verdunkeln.« Ich glaubte es erst kaum, aber es ist wahr. Man merkt doch, daß es Frieden ist. (B. 442)

Die vielen Geschichten in Tagebüchern, die von Bombenangriffen, vom Leben und Feiern im Krieg erzählen, sind somit Zeugnis und Resultat des Alltags im Ausnahmezustand. Erst die ständige Bedrohung und Infragestellung der Normalität und die außerordentlichen Bemühungen, den Alltag aufrechtzuerhalten, machen das Besondere aus, das den Stoff für Erzählbares und Erinnerbares abgibt.
Offenbar hilft das Tagebuchschreiben, die Angst, die mit der permanenten Lebensbedrohung einhergeht, zu mindern. Ein Teil der Beunruhigung und Nervosität wird wohl schon durch Schreibaktivität gebunden. Der schreibende Selbstbezug kann dazu dienen, einen imaginären Innenraum herzustellen. Die Tagebuchautorinnen ziehen sich von der Außenwelt zurück, nehmen sich Zeit für sich, stellen eine konzentrierte, abgeschlossene Situation her. In der Vereinzelung entsteht ein >Drinnen<, das sich vom >Draußen< abgrenzen läßt. Sehr anschaulich hat der Journalist Erich Kuby den Prozeß der Befriedung im Schreibritual in seinem Kriegstagebuch festgehalten. An der Front stellt der Tagebuchautor einen sakralen Raum der Ruhe her:

Ich brenne drei Kerzen auf meinem großen Schreibtisch. Der am Geburtstag volle Mond scheint in meine weiße klösterliche Zelle. (...) Wie schade, daß da draußen Krieg ist, außerhalb des Lichtkreises meiner Kerzen. (Kuby 1975, 122)

Im Schreibakt kann man etwas Wirklichkeitsbeherrschung oder zumindest einen gewissen Überblick zurückgewinnen. Die Ereignisse lassen sich zu einem Kontinuum anordnen, das die Vergangenheit faßbarer und die Zukunft absehbarer erscheinen läßt. Eine erzählerische Verarbeitung des Geschehens kann mit dazu beitragen, die auf die Menschen einstürzenden Ereignisse zu ordnen und zu konservieren. Erfahrungen, denen man ohnmächtig ausgesetzt ist, können schreibend als eine Ordnung rationalisiert werden, »mit der man sich nicht nur abfinden kann, sondern der man in gewisser Weise schon nicht mehr unterworfen ist, wenn man sie erkennend ausspricht« (Heinrich 1981, 62f.).

Die Bedrohlichkeiten des Krieges vergrößern das Bedürfnis nach Ich-Stärkung, sei es durch die Suche nach Rückhalt im Kollektiv oder nach Schutz im Glauben. Bei einigen Diarien gewinnt die therapeutische Funktion des Schreibens eine vorrangige Bedeutung. Der christlichen Religion, die einen schier unerschöpflichen Vorrat an kollektiven Leidens- und Tröstungsformeln hat, kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Glaubensbekundungen sind in den Frauentagebüchern dieser Jahre keine Seltenheit. Häufig werden auch längere Zitate aus der Bibel oder Passagen aus religiösen Liedern abgeschrieben. Bei den Interpretationen der Tagebücher von Lieselotte G. und Marie von N. werde ich ausführlich darstellen, aus welchen Gründen die Religion eine so zentrale Bedeutung bekommen konnte.
Die »Heilung durch Zitate«[20] scheint mir eine wesentliche Funktion autobiographischen Schreibens zu sein. Die Verallgemeinerung persönlicher Ängste und Leiden hilft psychische Bedrängnis zu lindern, schafft Trost und Beruhigung. Im Kopieren einer Liedstrophe findet ein Prozeß der Aneignung statt, die eigenen Ängste werden als allgemein-menschliches Phänomen erkannt und gedeutet. Gefahren und Entbehrungen machen die Frage, warum die Not ausgerechnet die eigene Person trifft, dringlich und schaffen ein verstärktes Bedürfnis nach Sinnstiftung. Im Rückgriff auf religiöse Lieder und Sinnsprüche können die Tagebuchautorinnen ihren Ängsten und Leiden nicht nur einen angemessenen Ausdruck geben, beim Abschreiben eines Gedichtes oder eines Sinnspruches versichern sie sich auch, daß sie mit ihren Schmerzen und Ängsten nicht allein sind und daß andere mit und vor ihnen Ähnliches erlitten.
Das Hinnehmen der Kriegsrealität bedarf dabei nicht des Rekurses auf die göttliche Instanz. Literarische Vorbilder, Gedichte oder Spruchweisheiten können eine vergleichbare Funktion haben. So lautet eine Eintragung im Tagebuch von Lieselotte G.: »Schiller sagt: Nicht an die Güter hänge dein Herz, die das Leben vergänglich zieren, wer besitzt, der lerne verlieren, wer im Glück ist, der lerne den Schmerz. Und: das Leben ist der Güter höchstes nicht« (3. Januar 1944). Eine junge Lübeckerin trägt 1942 in ihr Tagebuch ein: »Nimm Schlacht und Sieg, /nimm Schmerz und Pflicht/nimm Leben,
Tod! / Nimm Rausch und Stille. / Nenn es nicht Gott und Glauben nicht./Kröne Dich selbst, Mensch,/nenn es - Wille« (B. 249).
»Die Angst ist schon gemindert, wenn derjenige, der das Schicksal in einer Figur benennt, sich dadurch, daß er sich sprechend, denkend mit ihr vereinigt, zum Komplizen dieses Schicksals macht«, schreibt der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich (1981, 65). Formen zu finden, um die eigenen Ängste auszudrücken - in eigenen Worten oder mit den Worten anderer -, verhilft dazu, den Ängsten und der Trauer auch Grenzen setzen zu können.

Da die Mehrzahl der Aufzeichnungen von Frauen und Mädchen erst im Jahr 1943 beginnt, wird vornehmlich die immer kritischere Kriegslage zum Gegenstand ihrer Tagebücher.
»In letzter Zeit ist viel mit dem Krieg los. Es geht immer schiefer«, notiert die 14jährige Edelgard B. am 25. August 1944 in ihrem Tagebuch (B.  219). »Jetzt hat Dr. Goebbels einen Aufruf ergehen lassen: >Totaler Krieg<. Wir, unsre Schule, wird wohl auch noch eingesetzt werden für irgendwelche Arbeiten. Das wäre auch richtig, denn wir müssen ja siegen!!! Besser jetzt alles hergeben, als in Sibirien landen« (B. 220). »Ja, der Krieg wird immer ernster«, schrieb Irmela K. zum Auftakt ihrer Aufzeichnungen im August 1944.
Die Sparkassenangestellte Charlotte G., von deren Tagebuch schon die Rede war, beginnt ihre Aufzeichnungen Anfang 1943. »Freud und Leid aus schwerer Zeit - Aus dem Zeitgeschehen« hat sie auf den Umschlag des Kontobuches geschrieben, in dem sie in den folgenden Jahren neben Berichten aus ihrem Alltag auch eine laufende Chronologie wichtiger politischer Ereignisse festhält. Schon der Titel ihres Tagebuchs macht deutlich, daß sich Charlotte G. als Chronistin des Krieges versteht. Ihr Tagebuch führt den engen Zusammenhang zwischen der Totalisierung des Krieges und autobiographischer Schreibtätigkeit überaus plastisch vor Augen. Die Proklamation des »totalen Krieges« und der Appell zum Kriegseinsatz der Frauen sind Gegenstand ihrer ersten Eintragung:

Der >totale Krieg< erfordert strenge Maßnahmen. Alles, was nicht unbedingt kriegsnotwendig ist, muß unterbleiben. Viele Geschäfte werden geschlossen. Papier, Kohle, Strom u. alles muß gespart werden. Dr. Goebbels hat in seiner großen Rede alle Frauen aufgerufen sich zum Kriegseinsatz zu stellen. (B. 461)

»Die Front ist stark >verkürzt<«, schreibt sie einige Sätze später im euphemistischen Ton deutscher Kriegspropaganda, die an Stelle von Rückzug und Niederlage gerne von »Frontverkürzung« oder »Frontbegradigung« sprach. Der Krieg, der sich bisher in weiter Ferne abspielte, von dem die Frauen zu Hause aus Erzählungen, Briefen, Wochenschauen und Wehrmachtsberichten erfuhren, rückt im Verlauf der Jahre 1943 und 1944 näher, die Niederlage zeichnet sich immer deutlicher ab. Angst vor der Zukunft und das Gefühl zunehmender persönlicher Bedrohung schafft sich im Schreiben ein Ventil. Auch die Vorstellung, Einsatz und >Opfer< bringen zu müssen, möglicherweise sogar selber >Opfer< in einer Auseinandersetzung von welthistorischem Maßstab zu werden, vermittelt Sinn für die eigene Geschichtlichkeit und motiviert zum autobiographischen Bericht.
Immer wieder findet man im Tagebuch von Charlotte G. Passagen, in denen die Autorin Zeitgeschehen in einer Form rapportiert, die an Wehrmachtsberichte erinnert. Das schreibende Ich tritt in den Hintergrund. Wenn nicht im subjektlosen Bericht Fakten und Ereignisse gesammelt werden, so greift die Verfasserin auf das kollektive >Wir< zurück, das sich in der Regel auf die eigene Nation bezieht. Typisch ist hierfür der Rückblick, den sie ihren Tagebucheintragungen des Jahres 1944 vorausschickt:

Am 21. Mai: Rückblick
Wir stehen im 5. Kriegsjahr und warten täglich auf eine baldige Entscheidung. Im Osten sind wir weit zurückgegangen, bis an die Grenze des Generalgouvernement (ehem. Polen).
Auch in Rumänien sind die Bolschewisten eingedrungen. Der Kuban-Brückenkopf, die Ukraine, die Halbinsel Krim, alles geräumt. In Italien sind z.Zt. schwere Kämpfe mit überlegenen engl.-amerikanischen Truppen im Gange. (...) Die meisten deutschen Großstädte sind schonungslos bombardiert worden. Auch Hannover sieht grauenvoll aus. Der Luftkrieg nimmt immer stärkere Formen an. Wir haben uns auch schon Gasmasken gekauft. (B. 462f.)

Charakteristisch ist das Changierende des Textes. Bezieht sich Charlotte G. zu Anfang noch auf das >Wir< der >deutschen Volksgemeinschaft<, so rekurriert sie am Ende des zitierten Auszuges auf das familiäre >Wir<. In der Rolle der Kriegschronistin identifiziert sich die Verfasserin zuweilen vollkommen mit dem nationalen Kollektiv, bis hin zu Sätzen, die in einem Frauentagebuch absurd anmuten: »3.9.44 (...) Wir warten auf neue Waffen, womit wir den Feind zurückschlagen können« (B. 466).
Die enge Verknüpfung von nationaler und persönlicher Identität, die Identifikation mit einem heroisierten Deutschtum und einen hohen Grad an Übereinstimmung mit nationalsozialistischen Kriegszielen findet man in vielen Frauen- und Mädchentagebüchern der Kriegsjahre. Die Fronterfahrungen von Männern werden hierbei häufig zu einem orientierenden Maßstab für das weibliche Verhalten. Bezeichnend ist die Eintragung von Lieselotte G., die sich selber ermahnt, bei den nächtlichen Bombenangriffen Haltung und Stärke zu zeigen: »Ich muß des deutschen Soldaten würdig sein. Der hat auch den Tod vor Augen« (4. Januar 1944).
Aus den Tagebuchaufzeichnungen der sogenannten »Heimatfront« der Jahre 1943 bis 1945 ist der Prozeß zunehmender Integration der Frauen in den »totalen Krieg« immer wieder herauszulesen. Sie bieten ein reichhaltiges Material, mit Hilfe dessen die sozialpsychologischen Auswirkungen der Städtebombardierung untersucht werden können. So hoffen viele Verfasserinnen zum Beispiel, daß die mit großem propagandistischen Aufwand als »Vergeltungswaffen« gepriesenen neuen Waffensysteme die Wende im Kriegsgeschehen bringen. »Am 15. Juni 1944 hat Deutschland mit der Vergeltung begonnen. Eine neue Waffe - >VI< mit Namen, ein führerloses Flugzeug sozusagen, das den Engländern sicher viel Sorgen bereitet. (...) Wir warten schon ungeduldig auf die 2. Vergeltungswaffe«, notiert Charlotte G. im Juni 1944 (B. 464). Einen Zeitungsausschnitt mit einem Bild der VI hat sie in ihr Tagebuch eingeklebt. Irmela K. schreibt im August desselben Jahres in ihr Diarium:

4.8.44 (...) unsere deutsche Vergeltung hat begonnen und London liegt mit Südengland ständig im Feuer. Man kann gar kein Mitleid haben, liegen unsere Städte zum Teil ja auch in Trümmern da. Mein Heim wurde schon voriges Jahr im Mai zerstört.

In ihren autobiographischen Aufzeichnungen charakterisierte die Journalistin Margaret Boveri die Stimmung nach einem schweren Bombenangriff zu Beginn des Jahres 1945:

6. Februar 1945 (...) Bisher hab ich es für einen Zeitungsstuß gehalten, daß nach einem so schweren Angriff die Bevölkerung um so hartnäckiger weiter macht. Aber es stimmt. Nicht Haß, nicht eigentlich Erbitterung, aber das Gefühl: ich lebe noch, und jetzt lebe ich erst recht. (1985, 37)

Häufig findet man Passagen, in denen die Verfasserinnen Angst und Zweifel vor einer militärischen Niederlage mit großem sprachlichen Aufwand zu besänftigen oder abzuwehren versuchen. Bei der Interpretation des Tagebuchs von Lieselotte G. werde ich im einzelnen zeigen, welche Mühe sie zuweilen darauf verwandte, den eigenen Wunsch nach Frieden zu unterdrücken und eine kriegsunterstützende, »tapfere« Haltung einzunehmen. Vor allem die Möglichkeit der Eroberung Deutschlands durch die Rote Armee blieb im Bereich dessen, was die Tagebuchautorinnen sich nicht vorstellen konnten und nicht wahrhaben wollten. Die Schülerin Edelgard B. schreibt am 4. September 1944 in ihr Tagebuch:

Auf der einen Seite steht der Sieg, der aber immer zweifelhafter wird, und auf der anderen Seite der Bolschewismus. Aber dann lieber alles, aber auch alles opfern für den Sieg, als Bolschewismus. Wenn der einträf, dann darf man gar nicht weiterdenken. Wozu gehe ich dann noch in die Schule, wenn ich doch nach Sibirien komme? Wozu? Wozu? (...) Also Kopf hoch! Unserem Willen und unserem Führer vertrauen!!! (B. 220)

Am 22. Januar 1945 z.B. trägt Lieselotte in ihr Tagebuch ein: »Die Russen sind in Deutschland eingebrochen, (...) es kann u. kann doch nicht wahr sein! Heiliges Deutschland musste denn das, musste denn das sein!«
»Die Deutschen«, so zitierte Hans Dieter Schäfer aus den Deutschlandberichten der sozialdemokratischen Partei, »stehen zum Nationalsozialismus und gehen mit ihm in den Krieg, nicht etwa, weil sie die tragenden Parolen zu den ihren gemacht haben, sondern weil sie darum bangen, hinter ihm (...) im großen Nichts zu versinken« (1985, 206). Die diaristischen Aufzeichnungen der letzten Kriegsjahre führen diese Unfähigkeit, sich eine Zukunft jenseits des nationalsozialistischen Denkhorizontes vorstellen zu können, eindrucksvoll vor Augen.

Im Frühjahr 1945 eroberten die Westalliierten den Westen und die Rote Armee den Osten Deutschlands. Große Teile der Bevölkerung aus den östlichen Gebieten des »Großdeutschen Reiches« waren in diesen Monaten auf der Flucht vor den Truppen der sowjetischen Armee. Ab März 1945 rüstete man in Berlin verstärkt auf die »große Verteidigungsschlacht«. »Mit allen Mitteln der Täuschung«, »der List und Hinterlist«, so der »grundsätzliche Befehl zur Verteidigung der Reichshauptstadt« vom 9. März 1945, sollte der Häuserkampf »auf, über und unter der Erde« geführt werden, »jeder Häuserblock, jedes Haus, jede Hecke, jedes Stockwerk und jeder Granattrichter« sollte bis zum äußersten verteidigt werden (zit. n. Gosztony 1985,144f.). Während andere Städte, wie z.B. Hamburg, zur offenen Stadt erklärt und kampflos übergeben wurden, kam es im April 1945 zu einem erbitterten Kampf um die Reichshauptstadt, der noch unzähligen Menschen das Leben kostete. Am 30. April beging Adolf Hitler Selbstmord. Am 1. Mai 1945 gab der Wehrmachtbericht bekannt: »Der Führer ist heute nachmittag auf seinem Befehlsstand in der Reichkanzlei, bis zum letzten Augenblick gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen«. Am 2. Mai, sechs Tage vor dem allgemeinen Waffenstillstand am 8. Mai 1945, kapitulierten die deutschen Truppen in Berlin. Die Spitzen der Gesellschaft, Parteifunktionäre, führende Industrielle, leitende Beamte des nationalsozialistischen Deutschland verloren Amt und Ansehen, manche begingen Selbstmord, andere flohen oder tauchten unter, einige wurden später interniert.

Es ist diese Phase des Zusammenbruchs, in der die meisten der autobiographischen Berichte von Frauen verfaßt wurden. Viele dieser Aufzeichnungen beschreiben die Ereignisse um die Eroberung Berlins. In einem Teil der Aufzeichnungen des Jahres 1945 spielt das Zeitgeschehen eine weitaus größere Rolle als die eigene Person. Die Tagebuchautorinnen begeben sich in die Rolle der Berichterstatterinnen, betreiben weniger Selbst- als Weltinterpretation. Manche Tagebücher des Jahres 1945 beschränken sich auf einen abgegrenzten ereignisreichen Lebensabschnitt. Irmela D., die 1945 auf der Flucht durch die sowjetische Front überholt wurde, arbeitete einige Zeit als »Putzfrau« wechselnder sowjetischer Kommandanten am Rande der Überlebensprostitution und verfaßte ihr Tagebuch aus der Russenzeit (vgl. 451-477). Fluchttagebücher wie der Treckbericht der Freifrau von M. berichten von erzwungenen Reisen. Geschildert wird Fremdes, Beeindruckendes und Schreckliches, Begebenheiten, die man mit eigenen Augen gesehen hat. Häufig findet man detailreich ausgearbeitete, zuweilen verdichtete Ereignis- und Situationsschilderungen. Viele der Geschichten sind von Aufbau und Erzählstrategie mit durchstrukturierten Reportagetexten vergleichbar. Anders als die Tagebücher, in denen die eigene Person im Mittelpunkt steht, wurden diese autobiographischen Aufzeichnungen oft in dem Bewußtsein geschrieben, daß die persönlichen Erlebnisse für Außenstehende, wenn nicht gar für die Allgemeinheit von Interesse sein könnten. Und so versuchten einige Verfasserinnen, ihre Texte später zu veröffentlichen.[21]
Mit dem Kriegsende bestimmen neue Regeln das Leben. Der radikale gesellschaftliche Einschnitt hat für die Mehrheit der Deutschen lebenspraktische und biographische Konsequenzen. Diejenigen, die eine Woche zuvor noch die Macht hatten, sind geflohen oder verhaftet. Was im Dritten Reich als gesellschaftskonform galt, Aufstiegschancen und Einfluß sicherte, wie z.B. die Mitgliedschaft in der NSDAP, wird mit der Niederlage zum kompromittierenden Teil der Lebensgeschichte. Die Verfolgten von gestern gehören nun zu den wenigen, denen die alliierten Sieger ohne Mißtrauen begegnen. BismEnde April war es gefährlich, als »Defätist« zu gelten. Anfang Mai scheint es angebrachter, eine kriegsfeindliche oder gar antifaschistische Gesinnung vorweisen zu können. Man verbrennt Parteibücher und Hitlerbilder, vergräbt Ehrenzeichen. Frauen schneidern Wehrmachts-, HJ- und BDM-Uniformen oder Hakenkreuzfahnen um und berichten davon in ihren Tagebüchern. Jeder Tag bringt neue Erfahrungen darüber, wie es sich mit den militärischen Eroberern leben läßt. Anfangs ist es nicht leicht, die neuen Bestimmungen zu erfahren und einschätzen zu können. Täglich steht man vor veränderten Situationen, alles muß neu durchdacht werden, man braucht neue Strategien, um durchzukommen. Plastisch schildert Lieselotte G. die Umorientierung der Menschen ihrer Umgebung in den Tagen der Niederlage:

12.4.45 (...) Überhaupt muss man sich wundern, wie offen und unverfroren die Leute hier alle ihre Meinung sagen und die ist größtenteils gegen die Nazis. Keiner hat mehr Angst vorm Reden, trotz der Knute der Gestapo. Es wagt nämlich keiner mehr den anderen anzuzeigen, weil sie denken dafür später von den Amerikanern oder Russen aufgehängt zu werden. Viele Leute hören auch Konzert.[22] Ich verstehe nur nicht, warum mein deutsches Volk sich nicht schon längst gegen die Knute der Regierung gewehrt hat. Aus lauter Angst vor der SS ? Sollte mein deutsches Volk aus lauter Feiglingen bestehen? Ich glaube es schon fast. Vielleicht ist es auch der Bombenterror, der mein Volk so stur macht; denn diese Unterwürfigkeit widersteht doch dem Wesen des Deutschen.

»Wenn wir letzte Woche gewußt hätten, was uns erwartet! Es war die aufregendste Woche meines Lebens«, so beginnt die Jugendliche ihren elfseitigen Tagebucheintrag, in dem sie am 29. April 1945, als in anderen Teilen der Stadt noch gekämpft wird, über die erste Woche der sowjetischen Okkupation in Berlin-Friedrichshagen berichtet:

29.4.45 Vorigen Freitag war auf dem Marktplatz abends 7 h eine Ansprache unseres Bürgermeisters Schwarz, eines früheren Kommunisten, der die Hitlerzeit über in Moskau war. Das erste, was er sagte war, daß wir nun Kommunisten sind. Das geht so von einem Tag zum anderen. Erst sind alle Nazis und auf einmal Kommunisten. Aus der braunen Haut in die rote. Es ist doll. In der K.P.D. ist ein großer Andrang, alle wollen sich einschreiben lassen. Das ist aber schwer, wenn man vorher nicht drin war. Beim Anstehen ist es interessant, die Gespräche der einfachen Leute zu hören. Da wird aber auf Hitler geschimpft. Einige schimpfen aber auch schon auf den Bolschewismus.

»(...) jetzt rast die Zeit«, schreibt Sabine K., auf deren Tagebuch ich später ausführlich eingehen werde, in ihrem Erlebnisbericht über die Eroberung Berlins. Enttäuscht notiert sie kurz vor dem Ende ihrer Aufzeichnungen: Es sei bestimmt »schändlich«, aber sie finde ihr Leben »zur Zeit schrecklich uninteressant (...). Gewiß, Dinge von weltgeschichtlicher Bedeutung passieren, aber auf mein kleines Leben hat das, vorläufig jedenfalls, absolut keinen reizvollen Einfluß« (13. Mai 1945). Für Sabine K. ist das Kriegsende und die erstaunlich schnell eintretende Normalisierung des Alltags mit ambivalenten Gefühlen verknüpft. Sie ist froh, daß die Kämpfe um ihre Heimatstadt zu Ende sind, und hat dennoch das Gefühl eines Verlustes. Ihr autobiographischer Bericht konzentriert sich folgerichtig auf die ersten Tage im Mai, an denen die großen Ereignisse das kleine Leben tangieren.

  • Wie ein Gerüst der Themen, die in den Tagebüchern und Erinnerungsberichten ausführlich behandelt werden, lesen sich die Notizen, die Lilli G. in diesen Tagen in ihrem Kalender festhält:
  • 22.4. Schlafen jetzt im Keller. Russen sind bis Berlin.
  • 25.4. Kein Wasser! Kein Gas! Kein Licht!
  • 26.4. Artilleriebeschuß!
  • 27.4. Feind bis Kaiserplatz.
  • 28.4. Unser Haus hat den 4. Artillerietreffer!
  • 29.4. Unser Haus hat etwa 20 Treffer. Das Kochen ist sehr erschwert wegen der dauernden Lebensgefahr, wenn man den Keller verläßt.
  • 30.4.  War bei Bombeneinschlag mit Frau B. oben an der Treppe zum Keller. Die Russen sind da. Nachts Vergewaltigungen. Ich nicht, Mutti ja. Manche 5-20 mal.
  • 1.5. Russen gehen ein und aus. Alle Uhren sind weg. Die Pferde liegen auf dem Hof auf unseren Betten. Die Keller sind aufgebrochen. (...)
  • 2.5. Erste Nacht Ruhe. Sind von der Hölle in den Himmel gekommen. Haben geweint als wir den blühenden Flieder auf dem Hof entdeckt haben. Alle Radios müssen abgegeben werden.
  • 6.5. Unser Haus hat 21 Treffer. Den ganzen Tag geräumt und gepackt. Nachts Sturm. Bin vor Angst, daß die Russen kommen unters Bett gekrochen. Aber das Haus hat nur durch den Beschuß so geklappert.
  • 7.5. Straße freigeschippt. Nummern für Brot geholt, aufgeräumt, saubergemacht. 8.5. Straße geschippt. Nach Brot angestanden. Nachricht, daß Papa lebt.
  • 9.5 Waffenstillstand. Für Margit gibt es Milch.
  • 10.5. Aufgeräumt.

In den Aufzeichnungen, die Frauen und Mädchen in den Monaten April und Mai 1945 in Berlin verfaßten, ist die tiefe Verunsicherung spürbar, die der in die Stadt getragene Krieg und der gesellschaftliche Zusammenbruch mit sich brachte. In den letzten Kriegs- und den ersten Friedenstagen weiß niemand, was der nächste Tag bringt, woher man etwas Eßbares wird bekommen können. Wasser- und Stromversorgung sind zusammengebrochen, behelfsmäßige Gräber, Trümmer und Müll dominieren das Stadtbild. Man stellt sich auf eine lange Zeit der Not ein und kann sich eine Zukunft noch gar nicht recht vorstellen. Ein Großteil der Berliner Zivilbevölkerung verbringt die Tage, während die Stadt umkämpft wird, zum Schutz vor Artilleriebeschuß und aus Angst vor den Soldaten der Roten Armee in den Luftschutzkellern. Gerüchte und wilde Spekulationen beherrschen die Gespräche und werden in den Tagebüchern kolportiert.
Etti S. weiß einige Tage vor der Berliner Kapitulation nicht, ob sie der vorsätzlich lancierten Falschmeldung, es sei zu einem Friedensschluß zwischen Deutschland und den Westalliierten unter Ausschluß der Sowjetunion gekommen, Glauben schenken soll:

24.4. [45] (...) Eben ruft V. mit einer sensationellen Meldung an. Eine Bekannte erzählte, ihrem Mann, der als Volkssturmmann eingesetzt ist, ist heute offiziell im Kasernenhof mitgeteilt worden, es sei Waffenstillstand mit USA und England, Ribbentrop sei in San Franzisko, Molotow, der nur eine Stunde auf der Konferenz war, seien die Pässe zugestellt worden! Ich fasse es absolut nicht, man kann es gar nicht glauben. Hitlers Aufenthalt in Berlin hinge damit zusammen. Wir waren alle doch sehr ungläubig. Wenn es stimmt, ist ja für Euch alle der Krieg zu Ende, nur wir armen Berliner müssten vermutlich den Kampf gegen den Bolschewismus hier ausbaden. Wir wollen es ja gerne tun, wieviel Elend und Kriegsnot würde der übrigen Welt erspart. Leider geht ohne Strom das Radio nicht.
25.4. Ich hatte gestern doch recht mit meiner Ungläubigkeit, das Ganze war natürlich ein aufgelegter Schwindel!

Vergeblich versucht die Schülerin Edelgard B., sich ein Bild der aktuellen Lage zu machen:

Dienstag, den 1.5.45 (...) Hier erzählt man sich, der Führer sei gefallen, andere, er sei mit Göring und Goebbels verschwunden, andere, er habe sich das Leben genommen. Was stimmt nun von alledem! Montag, den 7. Mai 1945: Es stimmt also doch nicht, daß der Krieg aus ist. Mal wieder Gerede der Leute. (...) Freitag, den 11. Mai 1945: Jetzt stimmt es aber: Der Krieg ist aus!! Seit einigen Tagen, ein bestimmtes Datum weiß man noch nicht. (B. 235)

Stefanie H. schreibt noch am 11. Juni 1945:

Der Krieg ist offiziell seit dem 8. Mai beendet, aber um vieles klüger sind wir eigentlich bisher nicht geworden. Neulich hörte ich im Radio, daß sich Adolf Hitler 3 Tage vor dem Endsieg (der anderen Seite aber!) mit einem Fräulein Eva Braun, mit der er seit 13 Jahren sehr intim befreundet war, verheiratet haben soll. Ich glaube das nicht. Wer weiß, was das wieder vorstellen soll, Propaganda oder sonst was. Ich habe beim 3. Reich nicht alles geglaubt und denke, diese Methode beizubehalten.

Insbesondere um das Verhalten der Roten Armee kreisen die angstvollen Spekulationen; man befürchtet Massendeportationen und Erschießungen. Im Zentrum der Gespräche steht jedoch die Furcht vor Vergewaltigungen durch die Siegersoldaten. Die Nationalsozialisten schürten diese Angst gezielt, um die Berliner Bevölkerung auf den längst aussichtslos gewordenen militärischen Verteidigungskampf einzuschwören. So kann man in einem der letzten nationalsozialistischen Pamphlete vor Kriegsende, im Panzerbär - Kampfblattfür die Verteidigung Großberlins, in einem Leitartikel vom 22. April 1945 lesen: »Wir fühlen die Augen unserer Frauen und Kinder in ernstem Vertrauen auf uns gerichtet. Vor sie treten wir als Beschützer, vor ihnen errichten wir den Wall, der der roten Flut aus dem Osten Einhalt gebieten soll« (zit. n. Schmidt-Harzbach 1992, 20). Fünf Tage später entwirft das gleiche Journal ein Szenario der bevorstehenden Eroberung: »Am Abend durchsuchen die innerasiatischen Wüstlinge die Wohnungen nach jungen deutschen Frauen und Mädchen, schänden sie unter brutalster Gewaltanwendung« (ebd.).
Daß diese Propaganda, die durch Erzählungen von Flüchtlingen aus den Ostgebieten teilweise bestätigt wurde, griff, läßt sich an einem Alptraum illustrieren, den die 19jährige Sabine K. im Tagebuch festhält. Die Verfasserin bezieht sich hier auf die Nacht vom 25. April 1945, am darauffolgenden Tag kommt es zur Eroberung ihres Stadtteils Berlin-Steglitz. Deutlich wird an dieser Traumsequenz die panische Angst vor den Siegersoldaten, aber auch, daß diese überformt ist durch rassistisches Ressentiment:

2. Mai [1945] (...) In der Nacht zum Donnerstag schlief ich sehr schlecht, ich träumte gerade, ein Russe käme zu uns in den Keller und
bäte um Wasser. Weil niemand den Mut hatte sonst, stand ich auf, ich mußte irgendwie in einen Gang, da fiel plötzlich gelbliches Licht auf seine geradezu chinesische Physiognomie, mit den ekelhaftesten Schmatzlauten schlug er meinen Mantel auf und betastete mich. Da wachte ich davon auf, daß draußen vor unserem Haus ein Fahrzeug hielt. Nun war mir außerdem schrecklich kalt, ich fing fürchterlich an zu zittern. Mutti war auch wach und ich stotterte leise: »Du, ich glaube, sie sind da.« (...) Ich war einfach nicht fähig eine Hand zu rühren. (...) das muß direkt eine Art Nervenfieber gewesen sein.

Nach der Phase völliger Ungewißheit und großer nervlicher Anspannung wird die erste konkrete Begegnung mit den Soldaten der Roten Armee, die in vielen Tagebüchern ausführlich beschrieben wird, in der Regel mit Erleichterung kommentiert. So schreibt Stefanie H. von ihren Erlebnissen am 23. April in Berlin-Heiligensee:

Ich stand gerade bei S. an, es gab in der Schnelligkeit Kaffee-Ersatz, Konserven, Reis u. Erbsen, da sah ich den ersten Iwan in der Nähe (...). Ich war sehr angenehm enttäuscht, denn der Mann sah keineswegs mongolisch aus, ganz normal und grüsste mit »Mojen«.

Ähnlich wie bei Sabine K. ist es das Schreckbild des »innerasiatischen Wüstlings«, das die Folie der in diesem Fall allerdings humorvollen Beschreibung bildet. Schneller als erwartet löste sich die ungeheure, wochenlange Anspannung. Im Verhältnis zu dem, was die nationalsozialistische Propaganda prophezeite, erwiesen sich die Ereignisse der militärischen Eroberung als weniger bedrohlich, als die Mehrheit erwartet hatte. Die Plünderungen und Vergewaltigungen, die sich an die militärische Eroberung anschlössen, führten jedoch zu einem erneuten Stimmungseinbruch. Die Ausschreitungen der sowjetischen Soldaten in den letzten Apriltagen werden in den Tagebüchern ausführlich und mit ausgesprochener Verbitterung kommentiert.
Der Krieg war für die Frauen mit der Eroberung der Stadt nicht zu Ende. Er trat ihnen mit seiner Gewalttätigkeit zu nahe. Die Siegersoldaten bedrohten ihr Leben, ihren Körper, ihre Intimsphäre, ihr Schamgefühl. Aus den Aufzeichnungen der Frauen kann man das Ausmaß der Verstörung, das die Massenvergewaltigungen hervorriefen, deutlich herauslesen. In ihnen werden die Nachfolgeereignisse des Krieges teilweise als die bedrohlichste Zeit beschrieben. In seinem Buch Die Russen in Berlin 1945 schätzt der Journalist Erich Kuby, es seien »einige zehntausend« Frauen vergewaltigt worden. »Etwa 80% der Vergewaltigungen im Gebiet von Groß-Berlin haben sich zwischen dem 24. April und dem 3. Mai 1945 ereignet« (1965, 312f.). Die Mehrheit der Frauen und vor allem die jungen Mädchen mußten sich in den ersten Tagen nach der Eroberung versteckt halten und lebten in ständiger Angst vor den Übergriffen der Soldaten. Viele berichten von ihrer Verzweiflung bis hin zu Selbstmordgedanken. Margarete K., die den Einmarsch der sowjetischen Truppen in Danzig erlebte, wurde wiederholt vergewaltigt und begann ihr Tagebuch nach einem mißglückten Suizidversuch. Die Verletzung und die Erinnerung daran sitzt selbst dann tief, wenn die Frauen nicht persönlich betroffen sind. So liest man bei Ingrid H.: »Man darf nicht raus, man erschrickt wenn es klopft (...) Am Abend dauernd Hilferufe aus dem Neubaublock, wo drei Russen verschwunden sind. Die armen Mädchen!!! Ach, was ist das schrecklich! Die stete Angst vor Plünderung und Vergewaltigung.«
Diese Gewalt der Siegersoldaten gegen die Frauen der Verlierer war in ihren Auswirkungen vor allem deshalb fatal, weil sie eine Kontinuität des während des Nationalsozialismus eingeübten rassistischen Vorurteils gegen die russischen »Untermenschen« und die »mongolischen Horden« begünstigte. Hier bestätigten sich aber nicht einfach nur vorgefaßte Erwartungen. Ich werde in den folgenden Kapiteln auf die Erzählungen über die Vergewaltigungen bei Lieselotte G. und Sabine K. noch einmal zurückkommen und herausarbeiten, in welcher Form die Frauen die einschneidende Ohnmachtserfahrung mit der Verarbeitung der militärischen Niederlage verknüpften.

Mit dem Ende des Krieges steht die Krisenerfahrung im Mittelpunkt des Schreibens. Viele der Aufzeichnungen lesen sich wie eine nicht abreißende Klage: »Und heute die furchtbare Nachricht, daß unser Führer am 1. Mai gefallen ist. Wir können es alle nicht begreifen. Mir ist's wie ein schwerer Traum«, schreibt Anni K. am 2. Mai 1945. »Heute, 8. Mai!!!!!!! Mir ist alles so furchtbar!!!!!!!! (...) Meine Gedanken sind nur bei all unseren braven Soldaten draußen, die all die Jahre vergebens so tapfer gewesen sind! (...) Nachdenken darf man gar nicht sehr, man könnte den Verstand verlieren!!« liest man bei Dorette K.
Die Verfasserinnen beklagen nicht primär ihre persönlichen Nöte. Es ist vor allem die militärische Niederlage, die als Tragik und große Ungerechtigkeit dargestellt wird. Von einem Gefühl der Befreiung oder der Freude darüber, daß der Krieg endlich zu Ende ist, ist in den Texten nur selten etwas zu spüren. Der Grundton der Aufzeichnungen ist oft regelrecht depressiv. Die Niederlage Deutschlands wird als tiefe Kränkung erlebt, die auch das individuelle Selbstwertgefühl nachhaltig in Frage stellt. Die militärische Niederlage wird nicht nur als Demütigung und Ungerechtigkeit, sondern auch als einschneidender gesellschaftlicher wie persönlicher Sinn- und Glaubensverlust wahrgenommen.

Wenn das Zeitgeschehen in den Tagebüchern und Erinnerungsberichten der Jahre 1943-1945 auch eine große Rolle spielt, so gibt es doch Themen, die vollkommen ausgespart bleiben. Der Alltag im nationalsozialistischen Deutschland war geprägt durch die ständige Präsenz von Ausgrenzung und Repression gegen Andersdenkende oder diejenigen, die man nicht zur >deutschen Volksgemeinschaft< zählte. Der Historiker Alf Lüdtke spricht von der Gleichzeitigkeit von Privilegierung und >Ausmerze<, die für alle in den Jahren des Nationalsozialismus erlebbar und eine stets gegenwärtige Erfahrung im Alltag gewesen sei (1987, 24). Diese Seite des nationalsozialistischen Alltags wird in den Tagebüchern und Briefen aus Deutschland, die mir zur Verfügung stehen, fast nie zum Gegenstand von Verurteilung. Sie wird weder gerechtfertigt noch begrüßt. Politische Verfolgung, die Existenz von Konzentrationslagern, das Elend der Zwangsarbeiterinnen, die zunehmende mörderische Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung bis hin zur Deportation - Ereignisse, die sich nicht im Geheimen, sondern vor den Augen der Öffentlichkeit abspielten - werden in diesen Aufzeichnungen nur ausnahmsweise, in der Regel aber gar nicht oder nur am Rande erwähnt. Diese Leerstellen des Schreibens gehören für mich zu den erschreckendsten Befunden. Daß das Schweigen über die Verbrechen nicht auf einen Mangel an Wissen zurückzuführen ist, belegen die Tagebuchaufzeichnungen, die nach dem Ende des Krieges geschrieben wurden. Denn auch in den Nachkriegsmonaten, als der Genozid an den europäischen Juden von den Alliierten durch Presse und Filme bekannt gemacht wurde, wird dieses Thema nur in seltenen Ausnahmen in den Tagebüchern erwähnt. Eine dezidierte Oppositionshaltung dem Nationalsozialismus gegenüber scheint die Voraussetzung dafür zu sein, daß die Verbrechen zum Thema im Tagebuch werden (vgl. hierzu Die Kalendernotizen der Malerin Hannah Höch).
Für die Tagebücher, die unter den extremen Bedingungen von Repression und Bedrohung von jüdischen Menschen in Konzentrationslagern verfaßt wurden, hat Renata Laqueur (1992) Zeitzeugenschaft und Selbstbehauptung als wesentliche Schreibmotive herausgearbeitet. Während sich bei diesen Selbstzeugnissen der Verfolgten die Bedeutung des Schreibens als Überlebenshilfe und zur Bewahrung eines Restes inneren Widerstandes eindeutig ausmachen lassen, möchte ich das Widerstandspotential der Diarien, die Frauen, die zur deutschen Mehrheit gehörten, in der Endphase des Krieges verfaßten, in Frage stellen. Auch wenn die Verfasserinnen in den Tagebüchern häufig schreibend Schutz vor einer bedrohlichen Gegenwart suchten, sind die Aufzeichnungen dieser Jahre kein Refugium, in dem sich ein privates Ich von der Außenwelt abgrenzt. Ablesen läßt sich vielmehr die Durchdringung von Öffentlichem und Privatem sowie die Einbindung von Frauen in den Alltag des >totalen Krieges<. Die Suche nach subjektivem Sinn und eigener Lebensperspektive schließt - neben partiellen Distanzierungen - unterschiedliche Formen von Arrangements mit Nationalsozialismus und Krieg mit ein. Und auch die Versuche, mit dem Ende des Nationalsozialismus Distanz zu gewinnen, lassen selten eine reflektierende Durcharbeitung erkennen, sondern in der Regel jene »Abwendung der inneren Anteilnahme«, die Margarete und Alexander Mitscherlich als verbreitete Form der Verdrängung der deutschen Mehrheit in der Nachkriegszeit analysierten.