Literatur des Kerkers ?
Die Diaristik im Nationalsozialismus
Wie in anderen Bereichen der alltäglichen Lebenswelt läßt sich auch für die Tagebuchkultur der Versuch nationalsozialistischer Einflußnahme, der Formierung und Politisierung von oben nachweisen. Seit den 30er Jahren wurden zahllose völkisch-nationale Tagebücher aus dem Ersten Weltkrieg publiziert, die dann in den 40er Jahren durch eine Fülle von Kriegstagebüchern abgelöst wurden, die den Zweiten Weltkrieg feierten. Das Tagebuchschreiben wurde von nationalsozialistischer Seite nicht nur nachdrücklich unterstützt, sondern auch seit Beginn des Krieges verstärkt propagandistisch eingesetzt. Die Frontberichte der Propagandaabteilungen sind häufig in Tagebuchform verfaßt, umgekehrt wurden die Soldaten zu Beginn des Krieges dazu animiert, Tagebücher zu führen. So erscheint z.B. im Gauverlag der NSDAP 1941 ein vorgeprägtes Kriegstagebuch, das laut Werbung »Raum für Photos, eine gedruckte Kriegschronik (...), ein Kalendarium für eigene Eintragungen, 60 freie Seiten bestes Papier und Vordrucke für Heimatanschriften von Kameraden« enthielt (zit. n. Schäfer 1979, 312). Der Appell, mit den persönlichen autobiographischen Erinnerungen zu einer heroisierenden Geschichtsschreibung des Zweiten Weltkrieges beizutragen, ging durchaus nicht nur an die Frontsoldaten. Von 1940-1944 bat z.B. das Stadtarchiv Berlin die Bevölkerung um die Einsendung von Tagebuchaufzeichnungen, »in denen zum Ausdruck kommt, wie sich der Berliner mit dem Kriege auseinandersetzt« (zit. n. Schäfer 1985, 107).
Schreiben im Krieg hat in Deutschland Tradition. Wie schon die vorhergehenden Kriege hat auch der Zweite Weltkrieg einen wichtigen Anteil an der Ausbreitung der populären Schreibkultur in Form des Feldpostbriefes. In der Presse und in Anthologien werden Feldpostbriefe aus allen Bevölkerungsgruppen veröffentlicht, und auch »von volkskundlicher Seite wird beredt für das Sammeln solcher Briefe als lebendige Quelle der Geschichte von unten geworben« (Warneken 1985, 13). Da die Feldpostkorrespondenz häufig die einzig mögliche Form war, den unfreiwilligen, oft jahrelangen Trennungen der Frontsoldaten von Familie und Freund(inn)en zum Trotz, den Kontakt nicht völlig abreißen zu lassen, verwundert es nicht, daß in dieser Situation auch diejenigen anfingen zu schreiben, die unter normalen Bedingungen selten Texte verfaßten. Die verstärkte Einsamkeit, Folge der massenhaften kriegsbedingten Trennungen, forciert zwar primär die Briefkorrespondenz, schlägt aber auch mit verstärkter Tagebuchtätigkeit zu Buche. Vor allem am Kriegsende, als der Postverkehr zusammenbricht, läßt die beim Briefeschreiben erworbene Kompetenz manche zu Tagebuchautorinnen werden (vgl. Chronistinnen des Krieges).
Im Krieg sind nahezu alle Menschen »unentrinnbar in die Krise des Staates verflochten«, schreibt der Volkskundler Peter Knoch. Während der Alltag außerhalb des Krieges in der Sphäre des Privaten mit Behäbigkeit dahinfließe, sei im Krieg »der enge Zusammenhang zwischen den staatlich-strukturellen Veränderungen und den lebenswelt-alltäglichen Daseinsformen der Menschen« charakteristisch. »(...) der Luftkrieg im Zweiten Weltkrieg oder ein Ereignis wie das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 schlagen unmittelbar auf die Ebene des Kriegsalltags der Menschen durch und sind deshalb in den populären Quellen greifbar« (1989, 244). Die Journalistin Ursula von Kardorff, selber Tagebuchautorin, konstatierte Ende 1942 in der Deutschen Allgemeinen Zeitung, seit einigen Jahren lasse sich beobachten, daß das »Tagebuchführen im allgemeinen« wieder zunehme, und machte das Bewußtsein, eine »historische Epoche« zu erleben, hierfür verantwortlich.
Tatsächlich spielen Politik und Zeitgeschehen in den autobiographischen Texten der Jahre 1939-1945 eine zentrale Rolle. Im Krieg tendieren autobiographische Aufzeichnungen zum Zeitzeugnis. Dies gilt für Frauentagebücher wie für die Diarien männlicher Verfasser, wenn auch, wie ich im folgenden Kapitel ausführen werde, die differierenden Erfahrungen von >Heimat< und >Front< spezifische Auswirkungen haben. Heroisierende Kriegsdarstellungen - wie sie von offizieller Seite gewünscht waren - sind in der privaten Diaristik nicht die Regel, doch es ist das Bewußtsein der Zeitzeugenschaft, das Männer und Frauen zu ChronistInnen des Krieges werden läßt.
Es ist als erstes ein Zeugenheft (...), das Zeugnis eines 1939 mobilisierten Bürgers über den Krieg, den man ihn führen läßt. Und auch ich schreibe alles und jedes in mein Heft, aber mit dem Gefühl, daß der historische Wert meines Zeugnisses mich dazu berechtigt. Verstehen wir uns richtig: ich bin kein Großer in dieser Welt, und ich verkehre nicht mit den Großen in dieser Welt, mein Tagebuch wird also nicht den gleichen Wert haben wie möglicherweise das von Giraudoux oder Chamson. (...) Ich befinde mich in einem Artilleriestab zwanzig Kilometer von der Front entfernt, umgeben von Klein- und Mittelstandsbürgern. Aber gerade deshalb ist mein Tagebuch ein Zeugnis, das für Millionen Menschen gilt. Ein gewöhnliches und eben darum allgemeines Zeugnis. (Sartre 1987, 98)
Ich zitiere die Passage aus dem Tagebuch des französischen Philosophen und Literaten Jean Paul Sartre zum Kriegsbeginn 1939, weil er prononciert einen Zusammenhang zwischen autobiographischem Schreiben und Krieg herstellt, der für einen professionellen Autor nicht weniger Verbindlichkeit hat als für LaienschreiberInnen. Ironisch spricht Sartre von einer List, gerade die Gewöhnlichkeit seiner Lage mache ihn kühn, da so selbst seine Irrtümer einen historischen Wert hätten: »Der Vorteil dieser List (...) besteht darin, daß sie mir den Sinn für meine Geschichtlichkeit gibt - den ich im Grunde nie gehabt habe« (ebd. 98f.).
Die Homogenisierung individueller Lebenswege durch den großen >Gleichmacher< Krieg hat für den Kriegsgegner Sartre auch ein erhebendes Moment: das eigene Erleben in den Kontext der Geschichte stellen zu können. Wem es gelingt, seine Existenz historisch zu begreifen, dessen lebensgeschichtliche Erfahrungen sind sinnhaft in die allgemeine Geschichte eingebunden und im Hegelschen Sinne (gut) aufgehoben. Diese Einbindung gibt nicht nur die Raster vor, die die eigene Geschichte erzählbar machen. Das persönliche Erleben bekommt einen verallgemeinerbaren Mitteilungswert, der die Legitimation zum Schreiben schafft.
»Als wäre seine ganze Person übergangslos von einem Milieu in ein anderes versetzt worden. (...) Nichts mehr, weder innen noch außen, ließ sich so wahrnehmen wie vorher«, zitiert Sartre aus Jules Romains Prelude á Verdun (ebd. 9). Lebensgeschichtliche Zäsuren, der abrupte Wechsel von Ort, Umfeld und Alltag, die folgenreich sind für Wahrnehmung, Vergangenheitsbewertungen und Zukunftsprognosen gehen einher mit einem verstärkten Erklärungs- und Reflexionsbedarf. Für Ereignisse wie Kriegsbeginn oder -ende, Rekrutierung, Evakuierung, Ausbombung oder Flucht gilt: Es sind die Zäsuren und Brüche und weniger die Kontinuitäten, die beredt sind und schriftliche Spuren hinterlassen. Im Krieg bricht die >große Politik< übermächtiger als in sonstigen Zeiten ins individuelle Leben ein, zuweilen so stark, daß der Alltag von ihr vollkommen dominiert wird. In der Rede vom >Kriegsausbruch< sind die Elemente von Faszination und Schock noch zu spüren. Das Gefühl, ZuschauerIn oder gar AkteurIn weltbewegender und weltverändernder Ereignisse zu sein, wird nicht nur als bedrohlich, sondern auch als verheißungsvoll erlebt. Das Einzelleben gewinnt durch die verstärkte kollektive Einbindung im Krieg allen Zwängen und Gefahren zum Trotz an Belang. Es ist jene Aufwertung der einzelnen, an die die herrschende Ideologie in Kriegsphasen appelliert. Im Pathos deutschnationaler Gesinnung wurden die Belastungen und Bedrohlichkeiten stets als Bewährungsprobe und Herausforderung formuliert, denen sich alle, die man zur nationalen Gemeinschaft zählte, zu stellen hatten. Auf Gedeih und Verderb wird der einzelne dem Kollektiv, in der Regel der eigenen Nation verpflichtet. Die Krankenschwester Erika F. schreibt am 3. September 1939 an ihre Eltern:
Gerade an dem Tag, an dem Ihr sonst in Urlaub fahren wolltet, war nun Kriegsbeginn. Die Reichstagsrede war doch ein Erlebnis eigener Art. Überhaupt ist es für uns Junge ein eigenartiges Gefühl, Krieg zu haben. (...) Es ist wohl so bestimmt, daß jede Generation einen Krieg durchmachen muß, um dadurch geläutert und reifer zu werden. (...) Ich fand in der Reichstagsrede besonders schön auch den Appell an die deutsche Frau. Gerade wir müssen jetzt alles ertragen können, komme, was da wolle! (Zit. n. Dollinger 1987, 23f.)
Am selben Tag schreibt die 15jährige Roswitha F. in ihr Tagebuch:
Oh, diese ekelhafte Stimmung überall. Man kommt sich wie eine Verrückte vor, wenn man lacht und nimmt wiederum keine Sache ernst, weil man sie neben dem großen Weltgeschehen nebensächlich findet. Ruhe und inneren Frieden hole man sich bitte auf Bezugsschein. Politik ist bekotzte Scheiße!! (ebd., 24)
So konträr die Wertungen der beiden Schreiberinnen sind, gibt es doch eine Übereinstimmung: Schon mit der Erklärung des Krieges bekommt der private Alltag andere Bezüge - einen veränderten Sinn. Das prägnante Sprachspiel vom inneren Frieden auf Bezugsschein bestätigt Romains Beobachtung der neugepolten inneren und äußeren Wahrnehmung. Was die eine als Belastung empfindet, erlebt die andere als Bereicherung: Der Krieg überlädt das persönliche Leben mit gesteigerter Bedeutung. Mehr noch als zuvor forderten die Nationalsozialisten in ihrer Propaganda mit Kriegsbeginn den »deutschen Volksgenossen«, wobei von Frauen und Männern jeweils unterschiedliche Einsätze verlangt wurden. Im Krieg werden Menschen gezwungen, Geschichte zu machen oder zumindest ZeugInnen historischer Veränderungen zu werden. So erklärt sich, warum sich viele dazu berufen fühlen, Zeugnis abzulegen und ihre Erlebnisse schriftlich festzuhalten. Die größere Erlebnisdichte solcher Lebenseinbrüche und Ausbruchsmöglichkeiten schlägt sich in einer verstärkten autobiographischen Schreibtätigkeit nieder.
Es gibt zwar keine Untersuchung über die Verbreitung des Tagebuchschreibens in den Jahren des Nationalsozialismus. Die Resonanz auf Sammelaufrufe spricht jedoch dafür, daß der Tagebuchbrauch insbesondere während der Jahre des Zweiten Weltkrieges überaus populär war. Der Regisseur Heinrich Breloer, auf dessen Sammeledition von Tagebüchern ich mich immer wieder beziehe, wertete in einer mehrteiligen Fernsehserie eine große Anzahl von Tagebüchern aus dem 20. Jahrhundert aus und berichtet, daß der Schwerpunkt der Tagebücher deutlich in den 30er und 40er Jahren gelegen habe (1984, 6).
Nicht nur bei Laien, sondern auch bei LiteratInnen erfreute sich das Tagebuch großer Beliebtheit. Renommierte Schriftsteller, wie Ernst Jünger oder Horst Lange, griffen auf diese Form des Schreibens zurück und sahen im fragmentarischen Charakter Möglichkeiten einer experimentellen Literatur. Gläubigen Christen wie z.B. Jochen Klepper diente das Tagebuch als Ausdruck religiöser Innerlichkeit. Die Zeitzeugenschaft stand dagegen im Mittelpunkt solcher Diarien, wie sie Ursula von Kardorff und Margret Boveri in der letzten Kriegsphase führten.
Tagebücher prominenter AutorInnen aus dem Zweiten Weltkrieg und der unmittelbaren Nachkriegszeit sind seit dem Kriegsende in
Deutschland zuhauf veröffentlicht worden.[12] Diese Nachkriegspublikationen berücksichtige ich jedoch nur am Rande. Sie lassen sich nur bedingt als verläßliche Quellen verwenden, da sie in der Regel für die Veröffentlichung überarbeitet wurden. Für Tagebücher über die Jahre des Nationalsozialismus können solche Überarbeitungen in besonderer Weise problematisch sein, da die Publikationen von Personen des öffentlichen Lebens, die während des Nationalsozialismus in Deutschland blieben, zuweilen nach Kriegsende politisch-moralische Entlastungsfunktionen hatten. Manche der vorgeblich zeitgenössischen Tagesreflexionen sind leicht erkennbar durch nachträgliches Rechtfertigungsbedürfnis strukturiert, wie das folgende Beispiel deutlich macht. 1992 erschien eine Neuauflage der Berliner Aufzeichnungen 1943-1945 der Journalistin Ursula von Kardorff, die - so der Herausgeber Peter Hartl im Vorwort - »als verläßliches und authentisches Zeugnis der Atmosphäre und des Lebensgefühls der NS-Zeit gelten« könnten (29). Die Verfasserin hatte nicht verhehlt, daß sie den Text 1947 nach Tagebuchaufzeichnungen verfaßt hatte, betonte aber, nichts nachträglich verändert zu haben: »Es ist nichts nachfrisiert, nicht nachgeschönt« (33). Teile aus den Originaltagebüchern werden in der Neuausgabe nun zugänglich gemacht. Deutlich wird hierbei, daß Ursula von Kardorff, die ihr Tagebuch mehrere Monate unterbrach, Teile des Textes aus der Erinnerung rekonstruierte, hier also lediglich eine Tagebuchfiktion vorliegt. Vor allem aber gibt es durchaus einschneidende Differenzen zwischen den Originalaufzeichnungen und der überarbeiteten Fassung. So änderte Ursula von Kardorff ihre Terminologie: aus »Führer« wurde »Hitler«, »schweißtriefende Plutokraten« nannte sie »verängstigte Reiche«, »Russenweiber« wurden zu »Ostarbeiterinnen«. Auch ein Begriff wie »Terrorangriff« taucht in der Überarbeitung nicht mehr auf. Einschätzungen, die Kardorff aus der Retrospektive wohl zu national erschienen wie: »Dieses Volk ist schon sehr zu bewundern, es wird ganz einfach nicht untergehen« (78), streicht sie genau wie allzu kritische Äußerungen den alliierten Siegermächten gegenüber. So fehlt, um nur ein Beispiel zu nennen, eine Eintragung, in der die Autorin am 22. Mai 1945, zwei Wochen nach Kriegsende, die Hoffnung ausdrückt, es werde zu einem neuen Krieg zwischen den Westmächten und der Sowjetunion kommen: »Ich würde sofort mitmachen, als was auch immer, denn diese rote Pest mitten in Deutschland ist zu gefährlich« (328).
Das Beispiel der Berliner Aufzeichnungen macht den besonderen Wert der unveröffentlichten beziehungsweise unbearbeiteten Tagebücher deutlich: Hier werden auch die Aspekte der eigenen Geschichte fixiert, die den Verfasserinnen aus der Retrospektive oft problematisch erscheinen. Die zeitgenössischen Wahrnehmungs- und Darstellungsgrenzen, das, was man nicht besser wußte oder besser nicht wissen wollte, und der Grad an Partizipation an herrschenden Werten bis hin zur Übernahme nationalsozialistischer Terminologie läßt sich in den Texten von damals analysieren.
»Tagebuchschreiben entlastet zunächst vom Druck der ungesagten Worte«, schreibt Breloer, der in der Möglichkeit unzensierter Meinungsäußerung eine der wesentlichen Antriebskräfte des Schreibens während der Jahre des Nationalsozialismus sieht (1984, 6). Ähnlich argumentiert Hartl im Vorwort der Berliner Aufzeichnungen:
In einer Zeit, in der die öffentliche Meinung monopolisiert und das veröffentlichte Wort zensiert war, blieben die privaten Aufzeichnungen ein Refugium. Hier konnte man sich vom Druck der ungesagten Worte befreien, dem vorgestanzten Propagandabild selbsterlebte Erfahrung entgegensetzen. (1992, 7)
Die Zensur im Nationalsozialismus betraf während des Krieges nicht nur das öffentliche Wort, sondern auch die private Korrespondenz zwischen >Heimat< und >Front<. Feldpostbriefe unterlagen der offenen Zensur und einer gesonderten Gesetzgebung.[13] Jede(r) BriefschreiberIn mußte damit rechnen, daß ein Brief bei den Stichproben der Feldpostprüfungsstellen abgefangen werden konnte.
Nicht nur die Angst vor der Zensur, auch die Rücksichtnahme den BriefpartnerInnen gegenüber beeinflußte den Inhalt von Feldpostbriefen, ein Faktor, der bei Tagebuchaufzeichnungen entfällt. Ein eindrückliches Beispiel dafür, daß im Tagebuch Dinge thematisiert werden, die in Feldpostbriefen in der Regel nicht auftauchen, sind die Aufzeichnungen des Lehrers Robert R., von dem aus dem gleichen Zeitraum von der Ostfront 1941 Tagebuchaufzeichnungen und Briefe erhalten sind. In seinem Kriegstagebuch beschreibt er mit einer rückhaltlosen Offenheit die enorme Härte, die Grausamkeiten der militärischen Auseinandersetzungen an der Ostfront, auch die von der deutschen Wehrmacht verübten Kriegsverbrechen, die grundlose Erschießung sowjetischer Kriegsgefangener und Greueltaten gegen die Zivilbevölkerung. Im Tagebuch, so Robert R. in einem Brief vom August 1941 an seine Frau, wolle er die Wahrheit festhalten. »Die Wahrheit, die ich vor Dir gar nicht enthüllen dürfte, weil sie Dich erwürgen würde« (245). Tagebücher sind somit im Verhältnis zu veröffentlichten Texten und zur Feldpostkorrespondenz Quellen, die am wenigsten durch die Rücksichtnahme auf die Zensur geprägt wurden. Die Tagebücher Verfolgter, wie die Aufzeichnungen aus den Konzentrationslagern (Laqueur, 1992) oder der holländischen Jüdin Anne Frank (1949), durch die immer auch Zeugnis über die NS-Verbrechen für die Nachwelt abgelegt werden sollte, belegen eindrucksvoll, daß das Schreiben im Geheimen und unter Ausschluß der Öffentlichkeit unter den Bedingungen eines repressiven Systems die Möglichkeit gab, unterdrückte und abweichende Meinungen zu formulieren.
Man muß allerdings auch berücksichtigen, daß manche Autorinnen aus Angst, ihre Aufzeichnungen könnten entdeckt und gegen sie verwandt werden, Selbstzensur übten. Ursula von Kardorff begründete z.B. die Überarbeitung ihrer Aufzeichnungen nach Kriegsende damit, daß sie im Tagebuch 1943-1945 Politisches nur verschlüsselt habe notieren können (1992, 33). Sie führt den Fall eines Luftwaffenhauptmanns an, der zum Tode verurteilt wurde, »weil er in seinem Tagebuch, das nach einem Luftangriff in die falschen Hände kam, gestanden habe, er glaube nicht mehr an den Sieg« (ebd. 117).
Politisch exponierte oder verfolgte TagebuchverfasserInnen mögen hier bestimmte Vorsichtsmaßnahmen getroffen haben. Der Bäckergeselle Ernst F., von dessen Tagebuch schon die Rede war, stand der KPD nahe und war 1933 kurzfristig inhaftiert. Er betonte 1990 in einem Gespräch, daß er seine Versuche, sich der Front zu entziehen, im Tagebuch nicht habe schildern können. Ich gehe jedoch davon aus, daß besondere Umstände vorliegen mußten, die die VerfasserInnen dazu bewogen, Selbstzensur zu üben, und daß keineswegs alle im Hinblick auf eine mögliche Entdeckung ihrer Aufzeichnungen schrieben. Anders als in den Feldpostbriefen dieser Jahre fand ich in den Tagebüchern, die mir zur Verfügung stehen, keine Anzeichen, die auf Selbstzensur hätten schließen lassen. Es gab keine chiffrierten, verschlüsselten Textstellen. Die wenigen AutorInnen, die eine deutlich kritische Position gegenüber Nationalsozialismus und Krieg einnahmen, formulierten diese oft sogar drastisch. »Mich leckt am Arsch mit eurer Schlachterei«, kommentiert der Schneider Hugo B. den Aufruf zum >Volkssturm< im April 1945 und verfaßt im Tagebuch wiederholt im doppelten Wortsinn ungehaltene Reden gegen das herrschende System und für Frieden und Völkerverständigung (319-376).
Als »Nazibrut« und »Judenmörder« bezeichnet Lieselotte G. die Nationalsozialisten im Tagebuch, allerdings erst, als das Kriegsende schon unmittelbar bevorsteht.
Wenn Tagebücher auch die Möglichkeit boten, abweichende Haltungen zu formulieren, läßt sich daraus noch keineswegs folgern, dies sei die zentrale Funktion der Diaristik in dieser Zeit. Wie problematisch es ist, das Tagebuch im Nationalsozialismus zu einer Form des Widerstandes zu erklären, zeigte sich bereits in den Auseinandersetzungen der ersten Nachkriegsjahre. Anläßlich der Veröffentlichung von Ernst Jüngers Kriegstagebuch Strahlungen kam es 1949 zu einer Debatte über die Funktion des Tagebuchschreibens im Nationalsozialismus. Jünger, der während der Jahre 1933-1945 ein populärer Autor war, versuchte sich mit dieser Veröffentlichung zum Inneren Emigranten zu stilisieren (Peitsch 1990, 233-246). Das Tagebuchschreiben, so Jünger, sei »im totalitären Staat das einzig mögliche Gespräch« (1949,17). Zur »letzte[n] Waffe, die dem seine Freiheit verteidigenden Individuum« bleibe, erklärt der Tagebuchautor Gerhard Nebel das Diarium. Nebels Formulierung, das Tagebuch im Nationalsozialismus sei zur »Literatur des Kerkers« geworden (1948, 5), wurde zu einer Formel, auf die sich die Sekundärliteratur bis heute bezieht. Rüdiger Görner greift in seiner Untersuchung Das Tagebuch (1986) darauf zurück und stuft die Tagebücher der Jahre 1933-1945 als »Dokumente inneren Widerstands« ein. In den Tagebüchern aus dem Zweiten Weltkrieg zeige sich, »wie Menschen versuchen, den ständig drohenden, eben >totalitären< Übergriff depravierter Politik auf das Privatleben zu verhindern« (23). In eine ähnliche Richtung argumentiert Heinrich Breloer im Vorwort seiner Anthologie: »Wer seine verborgenen Gedanken aufschreibt, der ist für die große Anpassung ungeeignet« (1984, 6).
Zu Recht wandte der Germanist Hans Dieter Schäfer gegen eine einseitige Festschreibung des Diariums als Widerstandsform ein, eine solche Sichtweise blende die staatliche Förderung und die Fülle von Veröffentlichungen aus. Daher sei das Tagebuch keineswegs als »Literatur des Kerkers«, sondern als »populäre Gattungsform des Nationalsozialismus« einzustufen (1979, 312). So gilt es zu berücksichtigen, daß zwar viele Tagebücher in der Situation der Verfolgung und in Auseinandersetzung damit entstanden sind, aber dennoch keineswegs nur viele der Verfolgten, sondern ebenso die Verfolger zuweilen Tagebuch schrieben.
Ich möchte die wichtigsten Befunde noch einmal resümieren.
Tagebücher haben als Quelle zur Erforschung des Alltags und der Wertorientierungen im Nationalsozialismus einen besonderen Wert. Sie sind im Vergleich zur reglementierten öffentlichen Rede und kontrollierten privaten Korrespondenz Quellen, die der Kontrolle des totalitären Staates erst einmal entzogen und somit am wenigsten von der Zensur entstellt sind. Aus der Tatsache, daß Tagebücher Raum für abweichende Meinungen boten, kann jedoch nicht generell auf ein oppositionelles Potential rückgeschlossen werden. Anders als bei der Autobiographie sind bei den erzählerischen Rekonstruktionen aus der kurzen zeitlichen Distanz die Brüche und Widersprüchlichkeiten der Erfahrungsaneignung noch sichtbarer. Die biographischen Zeugnisse, die an der Nahtstelle zwischen dem Ende des >Tausendjährigen Reiches< und dem Beginn der Nachkriegszeit verfaßt wurden, sind in besonderer Weise aufschlußreich für die Veränderungen kollektiver Deutungsmuster und die Grenzen und Möglichkeiten individueller Erinnerungsarbeit. Vor allem solche Diarien, die nicht nachträglich überarbeitet wurden, berichten von Handlungen und Einstellungen, die mit der Niederschlagung des Nationalsozialismus vielen Deutschen im nachhinein problematisch wurden und an die sich viele in der lebensgeschichtlichen Retrospektive nicht erinnern wollen und können.
In der folgenden Darstellung des Quellenmaterials möchte ich nachweisen, daß Tagebücher, die Frauen und Mädchen im nationalsozialistischen Deutschland während des Krieges verfaßten, nicht per se als antipatriarchale »Widerstandform« betrachtet werden können, wie Doris Niemeyer für Frauentagebücher allgemein annahm. Sie wurden selten zur antitotalitären »Waffe des seine Freiheit verteidigenden Individuums« (Jünger 1949, 17). Sie dienten Frauen in den Kriegsjahren keineswegs primär dazu, »Übergriffe depravierter Politik auf das Privatleben« zurückzuweisen, wie Görner unterstellt (1986, 23). Zweifellos findet man in den Frauentagebüchern dieser Jahre die Zurückweisung staatlicher Zumutungen, aber ebenso häufig - zumindest partielle - Übereinstimmung mit gesellschaftspolitischen Zielsetzungen. Dient das Tagebuch einer Verfasserin dazu, dem Krieg einen Raum inneren Friedens abzutrotzen, so gibt es einer anderen die Möglichkeit, Krieg und persönliches Erleben zu einem dichten Miteinander zu verweben. Nutzt manche das Tagebuch dazu, unzensiert Kritik, Ärger und Wut zu formulieren, so reproduzieren andere jene vorgegebene Propagandasprache der reglementierten öffentlichen Rede. Persönliche Interessen, Ängste und Wünsche treten bei den Konzeptionalisierungen der eigenen Person mit herrschenden Vorgaben in bezug auf die weibliche Rolle und andere gesellschaftliche Erwartungen und Zwänge in ein spannungsgeladenes Verhältnis.