Das Tagebuch hat markante Eigentümlichkeiten im Vergleich zu literarischen Gattungen im traditionellen Sinn. Die Arbeitsteilung zwischen Schreibenden und Lesenden, Produzierenden und Rezipierenden existiert nicht. Das Tagebuch setzt ebensowenig ein Publikum wie eine(n) Schriftstellerin voraus: Jede(r) kann es schreiben, niemand muß es lesen. Eine ungefähre Kenntnis, was unter einem Tagebuch zu verstehen ist, reicht neben der Schreibkompetenz aus, um ein Tagebuch zu verfassen, wenn auch literarische und psychologische Bildung die diaristische Produktion fördert.
Ich verwende den Begriff des »Laienschreibens« wie den Begriff der »populären Diaristik«, obwohl sich Laientagebücher und solche von Literatinnen häufig nicht trennscharf voneinander unterscheiden lassen. Wozu etwa soll man die Tagebücher von Journalistinnen oder Politikerinnen zählen, die für den Eigengebrauch verfaßt und später - dann allerdings meist in überarbeiteten Versionen - veröffentlicht werden, weil sie aus historischen oder politischen Gründen interessieren? Dennoch ist die Differenzierung wichtig, da jenseits kanonisierter Tagebücher, jenseits des literarischen Marktes und von der Öffentlichkeit kaum beachtet, eine breite Schreibkultur existiert. Diese Schreibkultur ist zwar durch literarische Vorgaben geprägt, sie geht jedoch nicht in ihnen auf. Sie blüht vielmehr, unabhängig von Publikationsabsicht oder -möglichkeit, hauptsächlich im Verborgenen.
Laientagebücher sind keine literarischen Texte im engen Sinn. Die Mehrzahl der Verfasserinnen schreibt nicht aus Profession und nicht für die Veröffentlichung; ihre Ängste oder Hoffnungen halten sie für sich selbst, manchmal für unerreichbare, ihnen nahestehende Personen fest. Sie verfassen Texte für den Eigengebrauch. Das Schreiben ist ein Mittel, sich mit bedrohlichen, undurchschaubaren oder einfach aufregenden Situationen auseinanderzusetzen. Die Verfasserinnen schreiben über Begebenheiten des eigenen Lebens, Geschichten vom Tag, Ereignisse, die in der Regel eng mit ihrer aktuellen Situation zusammenhängen. Den Begriff des Laienschreibens verwende ich somit im folgenden immer dann, wenn ich mich auf diese breite Schreibkultur beziehe.
In ihrer Funktion, im Prozeß des Schreibens Bedeutungen herzustellen und Erlebnisse in Sinnzusammenhänge zu verwandeln, besteht zwischen den Texten von Literaten und Laien kein Unterschied. Mögen sprachliche und formale Qualität auch auseinanderklaffen, gemeinsam ist ihnen, daß sie Bilder, Symbole und Alltagsmythen zur Sinnstiftung verwenden. Anstatt die Laientexte, denen häufig ein angestrengtes Pathos eigen ist, als Trivialisierung literarischer Vorgaben zu entlarven, kommt es mir darauf an, die Funktionalität der sprachlichen Gestaltungsarbeit und der Literarisierungen des persönlichen Erlebens zu untersuchen.
Der Grad der Verbreitung des kulturellen Brauchs läßt sich im nachhinein nur schwer rekonstruieren. Da für das Tagebuchschreiben literarische und psychologische Bildung zwar nicht Voraussetzung, aber überaus förderlich sind, ist anzunehmen, daß es zu einer langsamen Popularisierung seit dem 18. Jahrhundert kam und das Tagebuch sich vor allem im Bildungsbürgertum großer Beliebtheit erfreute. Es gibt nur wenige stichprobenhafte Untersuchungen zur Verbreitung des Tagebuchschreibens; alle betreffen das 20. Jahrhundert. Je nach Untersuchungsgruppe und Fragestellung schwankt der prozentuale Anteil derjenigen, die angeben, ein Tagebuch zu führen oder geführt zu haben, erheblich. Aus den statistischen Befunden lassen sich jedoch Tendenzen ablesen. Erst einmal ist das Tagebuchschreiben verbreiteter als gemeinhin angenommen. In manchen Untersuchungen geben über 40% der Befragten an, schon einmal ein Tagebuch geschrieben zu haben. Mit zunehmendem Bildungsgrad steigt die Beliebtheit des Tagebuchs, es kann jedoch keineswegs davon ausgegangen werden, daß nur Verfasserinnen mit höherer Schulbildung eines führen. In der Jugendphase wird im Vergleich zu anderen Altersstufen überproportional häufig geschrieben. In den Untersuchungen liegt der Anteil der schreibenden Mädchen und Frauen, soweit dieser ermittelt wird, stets erheblich über dem der männlichen Verfasser.[9] Grundsätzliche Fragen, aus welchen Gründen und seit wann mehr Frauen als Männer beginnen, Tagebücher zu führen, und welche Ursachen es haben könnte, daß zumindest im 20. Jahrhundert das Tagebuch primär zur Ausdrucksform jugendlicher Verfasserinnen wird, wurden bislang nicht gestellt. Wahrscheinlich wurde eine anfangs, d.h. im 18. Jahrhundert, in gebildeten Kreisen praktizierte Mode im Laufe der Popularisierung zunehmend Jugendlichen anempfohlen. Der hohe Anteil jugendlicher Verfasserinnen, der für das 20. Jahrhundert nachweisbar ist, könnte somit ein später einsetzendes Charakteristikum der Tagebuchkultur sein. Hierfür spricht der Hinweis des Germanisten Peter Boerner, der die Bedeutung der Gymnasien für die Popularisierung jugendlichen Tagebuchschreibens zum Ende des 19. Jahrhunderts betont:
Der stärkste Anstoß zur Ausbreitung des Tagebuchschreibens ergab sich jedoch daraus, daß seit der Jahrhundertwende in die Lehrbücher für die Oberklasse der Gymnasien zahlreiche Auszüge aus älteren Journaux intimes aufgenommen wurden und beflissene Lehrer sich immer wieder bereitfanden, diese Texte als Muster des delphischen Erkenne-dich-selbst zu preisen. (1969,52)
Die Frage, wann und aus welchen Gründen es zum Überhang an weiblichen Diaristinnen kam, läßt sich nur schwer beantworten.Obwohl hierüber bislang keinerlei Untersuchungen vorliegen, ist anzunehmen, daß durch den mit dem pietistischen Bekenntnistagebuch einhergehenden Sujetwechsel nun auch Frauen des Bürgertums verstärkt zu Tagebuchautorinnen wurden. Sie waren bereits durch die Schule der Briefkultur geübt im Umgang mit der Sprache der Empfindungen.
»Es schnurrt mein Tagebuch am Bratenwender / Nichts schreibt sich schneller voll als ein Kalender«. Dieser von Goethe überlieferte Spottvers rückte das Tagebuch schon damals in die Nähe des weiblichen Alltags. Und auch die literarischen Heldinnen des 18. Jahrhunderts führen zuweilen Tagebuch, wie das Frl. v. Sternheim im gleichnamigen Moderoman von Sophie de La Roche oder Ottilie in Goethes Wahlverwandtschaften. Obwohl es sich hierbei um literarische Kunstgriffe der Autorinnen handelt, läßt dieser Umstand Rückschlüsse auf die Konventionalität weiblichen Tagebuchschreibens zu. Es gibt jedoch im 18. wie im 19. Jahrhundert weit weniger veröffentlichte Frauentagebücher im deutschsprachigen Raum, und keines, dem eine annähernd vergleichbare literarische Bedeutung zugesprochen wird wie etwa den Aufzeichnungen Friedrich Hebbels. Die Frage, warum Frauen im 18. Jahrhundert zwar als Verfasserinnen von Briefen, nicht aber als Tagebuchautorinnen literarisches Ansehen erwerben konnten, wäre in diesem Zusammenhang zu untersuchen. Einer der Gründe hierfür wird sein, daß die Veröffentlichung eines Tagebuchs stets einer Legitimation bedarf, die über den privaten Kontext hinausweist und sich letztlich aus dem Anspruch anthropologischer Repräsentativität ableitet. Der repräsentative Identitätsentwurf ist aber auf das männliche Geschlecht zugeschnitten und setzt den Ausschluß von Frauen aus der Öffentlichkeit voraus. Tagebücher von Frauen blieben wohl aus diesem Grund häufig im Bereich weiblicher Heimlichkeiten. Daß es bis heute in der Regel die Tagebücher männlicher Verfasser sind, die die Weihe literarischer Kanonisierung erhalten, führt Gustav Rene Hockes Anthologie Europäische Tagebücher aus vier Jahrhunderten (1991) deutlich vor Augen, in der - wie bereits erwähnt - über 100 Textauszügen männlicher Verfasser nur 7 Aufzeichnungen von Frauen gegenüberstehen.
Die öffentlich anerkannten Selbstthematisierungen mehrheitlich männlicher Literaten liefern seit dem 18. Jahrhundert die Vorschriften, anhand derer die lesekundigen Bürgerinnen beginnen, die verschlungenen Pfade ihrer neuentdeckten Psyche zu verfolgen. Die gedruckte Biographik produziert, wie der Germanist Michael Schneider es formuliert, die Leitfiguren einer literarisch verfaßten Gesellschaft:
Theologen, Wissenschaftler, Schriftsteller, Politiker beleben das literarische Schattenreich sozial imitierbarer Charaktere. Die alte Imitatio Christi, mythisches Modell eines Menschenlebens, das sich der Schrift par excellence verschreibt, weicht einer Modellierung durch die Imitatio Libri, der Homogenisierung des Meinens und Fühlens anhand der Buchcharaktere. (1986, 19)
m identifikatorischen Lesen oder der Selbstthematisierung im Tagebuch sucht jede(r) nach den Spuren der eigenen Person, um Antwort auf die Frage zu finden, was für ein Mensch sie oder er sei. Die Diaristik ist somit eine Form der Bindung, die zur Produktion und Homogenisierung psychologischer Innerlichkeiten beiträgt.
Fiktionale Tagebücher können hierbei ebenso zum Muster des privaten Schreibens werden wie autobiographische Texte. Gustav Rene Hocke geht davon aus, daß die Brief- und Tagebuchaufzeichnungen des Protagonisten in Goethes Kultroman Die Leiden des jungen Werther die »sentimentale Ich-Analyse« der Diaristen nachhaltig prägte (1991, 121). Und auch Siegfried Bernfeld glaubt, daß das Thema Liebe erst mit der »Werther-Zeit« zum Dauerthema diaristischer Aufzeichnungen wurde (1931, 121). Es ist anzunehmen, daß die Briefe und Tagebuchaufzeichnungen Sophie de La Roches Romans Das Fräulein von Sternheim für die weibliche Leserschaft nicht weniger bedeutsam waren.
In geradezu exemplarischer Klarheit und durchaus wortgewaltig formulierte im 18. Jahrhundert der Handwerker und Autodidakt Ulrich Bräker, der über eine breite literarische Bildung verfügte, die Vorbildfunktion der Literaten für seine Tagebuchaufzeichnungen. Er notiert am 12. März 1779 im Diarium in einer Art Stoßgebet an die neuen Schriftsteller:
Ihr Himmelssöhne, ich bin unmündig, sucht auch Worte für mich, wann euch immer Cerub Edens Türen öffnet und ihr betrunken jene Gefilde besingt (...). Ich fühle, was ihr fühlt, aber ich kann mich nicht ausdrücken - welch ein Glück für mich wildgewachsene Staude - solch grossen edlen Seelen hinden nach[zu]schleichen. (Zit. n. Pestalozzi 1982, 170)
Der Wunsch, den eigenen Schreibstil an die literarischen Vorgaben anzupassen, wird hier explizit formuliert. Die Bemühung, den literarischen Vorbildern nachzueifern, erscheint dem Handwerker als ein möglicher Weg zur Mündigkeit und zur Erkenntnis der eigenen Gefühle. Die Formulierung »sucht auch Worte für mich« führt eindrücklich vor Augen, daß ein Interpretationsansatz, der in Laientagebüchern glaubt, eine >eigene<, >authentische< Sprache von einer >fremden< unterscheiden zu können, am Anliegen der Schreibenden vorbeigeht. Es ist gerade die >geliehene< Sprache - hier die der neuen Schriftsteller -, die den Ausdruck der >eigenen< Gefühle garantieren soll. Die Mimesis, das >Nachschleichen< ist der Weg einer identifikatorischen Selbsterkenntnis: Ich bin ich, wenn ich werde, wie >Ihr< seid, »fühle, was ihr fühlt«.
Es ist somit leicht erklärbar, warum eine bewußte - wenn auch unterschiedlich gekonnte - sprachliche Gestaltung ein Kennzeichen der Laiendiaristik ist. Die Mühe, die viele Tagebuchverfasserinnen auf die sprachliche Darstellung verwenden, ist ein Zeichen einer identifikatorischen Anpassung. Hierbei müssen keineswegs immer nur literarische Größen Pate stehen. Ein Stil, der an die Sonntagspredigt des Pfarrers erinnert, mag Gläubigen angemessen erscheinen, um sich als religiöse Menschen darzustellen. Heranwachsende können sich im Modejargon der Gleichaltrigen schreibend von >den Alten< und ihren Normen distanzieren. Strebt man dem Ideal eines Agnostikers oder eines Rationalisten nach, mag betonte sprachliche Nüchternheit als der passende >eigene< Ausdruck erscheinen.
Häufig formulieren Tagebuchautorinnen ihre Unzufriedenheit darüber, daß sie der selbstgestellten Schreibnorm nicht gerecht werden. So klagt etwa die Schülerin Lieselotte G., sie könne nicht einmal »die Gedanken ihres Herzens« richtig fassen (23. August 1942). »Ich bin ja kein Dichter«, schreibt Erika S. (B., 64), die versucht, ihre Gefühle nach einer langersehnten Wiederbegegnung zu schildern.
Aus einem ambitionierten Stil kann somit nicht rückgeschlossen werden, Tagebuchautorinnen seien im Grunde alle »beifallshungrige, knospende Autorenquappen«, wie Arno Schmidt voll beißenden Spotts formuliert (1982, 113). Das Bemühen um einen gehobenen sprachlichen Ausdruck resultiert in der Regel aus einem Identifikationsbedürfnis und aus dem Versuch, Erfahrungen, die für die Verfasserinnen bedeutsam sind, in angemessener Form aufzuheben. In diesem Kontext wird erklärbar, warum die Mehrzahl der Laientagebücher auch für Außenstehende verständlich ist. Siegfried Bernfeld hat darauf hingewiesen, daß der Vorsatz zur Kontinuität und der Wunsch, ein geschlossenes Werk zu schaffen, zu den Normvorstellungen der Diaristik gehören. Allein der Entschluß zur Tagebuchführung kann identifikatorische Momente mit dem Leben literarisch Schaffender oder gesellschaftlich bedeutender Persönlichkeiten enthalten (1931, 79f.). Zuweilen beziehen sich die Diaristlnnen jedoch auch explizit auf einzelne literarische Vorbilder. So schreibt zum Beispiel die Jungverheiratete Ehefrau Ingeborg T. nach einer Lektüreempfehlung ihrer Schwiegermutter 1940 in ihr Tagebuch:
Nachmittags begann ich mit der Lektüre des Buches Mme Curie. (...) Ich muß zugeben, auch ich bin von Mme Curie angetan. Aber einen bitteren Nachgeschmack kann ich nicht verhehlen: wie sehr war seine Mutter für diese Frau eingenommen und wie winzig klein und unbedeutend erschien ihr daneben die Frau ihres vergötterten, über alles geliebten Sohnes. Solch eine großartige Frau hätte sie ihrem Sohn gewünscht. Fürwahr ich komme mir neben dieser großartigen Frau tatsächlich wie ein Nichts vor (...). (15.4.1940)
Lieselotte G. z.B., die sich in der letzten Kriegsphase mit der Frage beschäftigt, ob sie trotz ihrer Zweifel an der Möglichkeit des militärischen Sieges Deutschlands opferbereit bleiben muß, glaubt in Schillers Maria Stuart ein Vorbild zu finden (3. November 1944). Eine andere Tagebuchautorin, Sabine K., notiert einige Tage nach Kriegsende:
Ich lese jetzt ein Buch, das mir wie gerufen für die jetzige Zeit kommt: Gone with the wind. Ich glaube diese Scarlett müßte man sich als Idealbild über das Bett hängen und ihr, wenn auch nicht in allen Zügen, nacheifern (...), und manchmal glaube ich, ich hätte etwas von Scarlett O'Hara. Hoffentlich bleibe ich in diesem Glauben.
Laientagebücher, in denen die Beschreibungen der Gefühle oft eher dem Groschenroman als dem eigenen Herzen nachgeformt scheinen, reizen zu vernichtenden Entlarvungen. Statt die Verfasserinnen jedoch als literarische Dilettantinnen bloßzustellen, ist es ergiebiger, die Funktionen des produktiven Dilettantismus zu analysieren, der unbefangen literarische Formen für die Zwecke des eigenen Lebens adaptiert (Müller 1982, 65).
Michael Schneider umschreibt die Wende zum Bekenntnishaften in der Literatur des 18. Jahrhunderts mit der zeitgenössischen Metapher der »heißen Herzensschrift« und analysiert als Kennzeichen der Autobiographie des 20. Jahrhunderts das >Erkalten< der literarischen Selbstkommentierung (Schneider 1986). Für die Schriftsteller und Philosophentagebücher des 20. Jahrhunderts mag Schneiders Befund zutreffen, wenn er auch für diese nicht unumstritten ist,[10] in bezug auf die Tagebücher schreibender Laien läßt er sich jedoch gewiß nicht verallgemeinern.
Für die modernen Diarien mit literarischem Renommee ist Ernüchterung statt emphatischem Bekenntnis, die mit Sprachskepsis und den Zweifeln an der Möglichkeit von Welt- und Selbsterkenntnis zusammenhängt, nicht weniger obligat als die Infragestellung einer sich frei entwickelnden Subjektivität des Helden in den Romanen der ästhetischen Moderne. Für die Masse der Laientagebücher treffen diese Kennzeichen jedoch nicht zu. Hier wird weiter bekannt und gebeichtet, das >Innerste< offenbart - mit heißem Herzen. So wenig wie ein naiver Maler wie Henry Rousseau im Zeitalter moderner Malerei an der Abbildbarkeit der Welt zweifelte, vielmehr ein von ästhetischen Programmen unberührter Ausdrucks- und Aussagewille seine Bilder prägt, so unbehelligt bleiben viele literarische Laien von kunst- und sprachtheoretischen Zweifeln, ringen weiter um Selbsterkenntnis und >authentisches< Schreiben und bedienen sich dabei der unterschiedlichsten literarischen Stile.
Im Studium der eigenen Befindlichkeit setzen die Schreibenden sich mit Widersprüchen und Mängeln ihrer aktuellen Situation auseinander, suchen Erklärungen für das, was sich ihrem unmittelbaren Verständnis entzieht, klagen ein, was ihnen an diesseitigen Glücksversprechungen vorenthalten wird und prüfen den Anteil an Eigenbeteiligung oder Selbstverschuldung. Selbsteinschätzung ist notwendig, um den eigenen Lebensweg absehbarer, beeinflußbarer zu machen oder sich zumindest rechtfertigen zu können.
Jean Paul Sartre hat in seinen Überlegungen zu Andre Gides Tagebuch darauf hingewiesen, daß Tagebuchschreiben eine Form der Lebenspraxis sein kann und mit selbstgestellten Vorsätzen und Programmen verknüpft wird. Auch einfache Feststellungen im Tagebuch haben häufig den Charakter von Gelübden, Gebeten, Geboten, Hymnen, Klagen oder Rügen (1987, 130f.). Vieles diene - so Sartre - primär dazu, sich selber zu mahnen: »Es ist der protestantische Spruch, der über dem Bett hängt und Rügen erteilt« (ebd. 129). Das Anliegen der Schreibenden bestehe nicht darin, sich und die Welt zu erkennen, sondern (sich) zu reformieren.[11]
Nicht anders als in den Tagebüchern Prominenter ist das Tagebuchschreiben bei Laien häufig Teil eines umfassenden Programms, das dazu dienen soll, die Persönlichkeit zu entwickeln. So schreibt z.B. die Berliner Schülerin Lieselotte G. im November 1943 in ihr Tagebuch:
13.11.43 Ich bin gar nicht zufrieden mit mir. Ich bin überspannt. Nun will ich versuchen, den Weg zum Natürlichen wiederzufinden, will all das blöde Zeug, das zu hoch ist für mich, ablegen, will mit beiden Füssen auf der Erde stehen, will ein natürlicher Mensch werden. (...) ich will ein guter Mensch werden, will versuchen, dass nie mehr die Kleinigkeiten des Alltags mir meinen Frohsinn nehmen.
Zum Jahreswechsel 1942/43 bekundet der bildungsbeflissene Bäckergeselle Ernst F. an der Ostfront in seinem Tagebuch, allen Einschränkungen des Krieges zum Trotz an seiner Persönlichkeitsentwicklung arbeiten zu wollen:
Das 34ste Jahr habe ich vollendet und wie wird sich alles weiter entwickeln, was hat das Schicksal noch mit mir vor. Wohl kann ich nicht regelnd eingreifen und noch weiß ich nicht werde ich diesen Krieg heil überstehen, wohl liegen diese Dinge noch ungeklärt vor mir und trotzdem drängt sich in mir alles danach mich zu vervollkommenen. Doch wo dabei anfangen, das weiß ich noch nicht.
Die Frage: »Was für ein Mensch bin ich?« ist in der Regel gekoppelt mit den Fragen: »Wie komme ich in dieser Welt vor?« und: »Was erwartet mich?« Diese Fragen werden immer dann besonders akut, wenn äußere Bedingungen prekär werden und in Widerspruch zu den persönlichen Interessen geraten. Häufig sind es Krisenerlebnisse, die in Tagebüchern festgehalten werden. Siegfried Bernfeld wies darauf hin, daß Enttäuschungen, Selbstwertherabsetzungen und unterschiedliche Formen narzißtischer Kränkungen Menschen veranlassen, zum Tagebuch zu greifen. Jede Krise forciert das Bedürfnis nach Konturierung der Person und somit nach Selbstdarstellung (1931, 39).
Schon Goethe schrieb in einem Brief vom 4. Oktober 1782 an den Tagebuchautor Lavater:
Das, was der Mensch an sich bemerkt und fühlt, scheint mir der geringste Theil seines Daseyns. Es fällt ihm mehr auf, was ihm fehlt, als was er besizt, er bemerkt mehr, was ihn ängstiget, als was ihn ergözt und seine Seele erweitert; denn in allen angenehmen und guten Zuständen verliert die Seele das Bewußtseyn ihrer Selbst, wie der Körper auch, und wird nur durch unangenehme Empfindungen wieder an sich erinnert; und so wird meistentheils der über sich selbst (...) schreibt, das enge schmerzliche aufzeichnen, dadurch denn eine Person, wenn ich so sagen darf, zusammenschrumpft. (Zit. n. Baumann 1981, 61)
Mangel, Bedürftigkeit und blockierte Kommunikation sieht auch der Schriftsteller Adolf Muschg, der nach den Grenzen zwischen Literatur und Therapie fragt, als eine wesentliche Antriebskraft des Schreibens:
Schreiben ist ein zurückgezogenes Geschäft. Der es betreibt ist, bevor er wohlmöglich als Sprachmeister gelten kann, ein Meister im Verschweigen gewesen. Was zu sagen gewesen wäre - zu wünschen, zu fragen, richtigzustellen -, blieb im zuständigen Moment ungesagt. (...) Da ist eine Wunde geblieben, die durch Schreiben geheilt werden will - und der Wunsch, ein Vater feiner Formulierungen - möchte den Versuch nicht für untauglich halten. (...) Schreibend setzt sich der Bedürftige ins Recht - ins Recht des Gefühls, das ihm zur rechten Zeit nicht geworden ist. Jetzt kann er alles sagen - jetzt = danach. (1981, 60)
Gustav René Hocke meint, die spannungsreichsten Tagebücher Europas seien diejenigen, in denen »eine individuelle Krise ebenso zum diaristischen Antrieb werde wie eine krisenhafte Umwelt« (1991, 21). Gesellschaftliche Krisen, politische Desorientierung und Repression forcieren seit dem 18. Jahrhundert das Tagebuchschreiben, ebenso aber auch krisenhaft erlebte Phasen persönlicher Neu- und Umorientierung. Persönlich bedrängende Erlebnisse, z.B. die Konfrontation mit Tod und Krankheit werden oft zum Auslöser, ein Tagebuch zu beginnen oder darauf zurückzugreifen. Tagebuchautorinnen, Laien wie Literaten, betonen nachdrücklich die entlastende, befreiende und angstbindende Wirkung des Schreibens. So schreibt z.B. der Schriftsteller Elias Canetti, man müsse als erlebnisintensiver Mensch explodieren, wenn man sich nicht am Tagebuch beruhige (1982, 49).
»Psychosoziales Krisenmanagement« wird in den psychologischen Untersuchungen als eine der wesentlichen Funktionen des Tagebuchschreibens benannt (Haubl 1984, 295). Der Literaturwissenschaftler Peter Boerner erklärte das Tagebuch gar zum »Genre der Krise« (1969, 63). In Phasen äußerer und innerer Bedrängnis wächst also das Bedürfnis nach Ich-Konturierung, dann wird verstärkt Tagebuch geschrieben. Die Arbeit am Ich-Ideal und am Selbstbild kann als eine der zentralen Funktionen der Diaristik sowohl von Laien als auch prominenter Autorinnen ausgemacht werden.
Trennungen, Einsamkeit, das Bedürfnis nach einem oder einer Vertrauten, nach einem imaginären Gegenüber wird von Tagebuchverfasserinnen immer wieder als ein Motiv des Schreibens angegeben. Zuweilen wird dem Tagebuch selber die Rolle des Freundes zugeschrieben, und man findet auch die bei Briefen übliche Anrede: »Mein liebes Tagebuch«, schreibt etwa Erika S. (B., 156). »Wer bist Du unbekannter Freund«, fragt eine junge Lübeckerin in ihren Aufzeichnungen (ebd. 249). Da Tagebuch und Brief, die beide der autobiographischen Selbstthematisierung dienen, in ihrer Form verwandt sind, können die Übergänge zuweilen fließend sein. So findet man in Tagebüchern oft unabgeschickte Briefe. Manchmal werden Tagebücher begonnen, weil die eigentlichen Adressatinnen nicht zu erreichen sind.
Tagebücher dienen aber nicht ausschließlich der Krisenbewältigung oder der Kompensation blockierter Kommunikation. Notiert werden kann vielmehr alles, was die Schreibenden der Erinnerung für wert befinden. Raum ist für die unterschiedlichsten Formen von Erinnerungsvermerken. »Rede von Adolf Hitler. Abends Strümpfe gestopft«, notiert Lilli G. am 30. Januar 1945 in ihrem Kalender. Es ist charakteristisch für Tagebücher und Notizkalender, daß sie gleichzeitig Ort autobiographischer Selbstthematisierung wie auch Ort alltäglicher Registratur sein können. Bekenntnis, Erlebnisschilderung oder Erinnerungsvermerk können dabei völlig unvermittelt nebeneinander stehen. Auch thematisch muß ein Eintrag mit dem vorhergehenden nicht das geringste zu tun haben.
Als pragmatische Gebrauchsform bietet das Tagebuch Raum, Alltäglichkeiten festzuhalten, bis hin zu Eintragungen wie: »Heute nichts besonderes«. Notiert werden kann alles, was im weitesten Sinn die eigene Person betrifft. Eine Spezifik der Tagebuchkultur ist es, daß das Aufschreiben mindestens einen so großen Stellenwert hat wie das Aufgeschriebene. Der Vorsatz und die Praxis der Tagebuchführung und nicht die einzelne Eintragung markieren die Grenze zwischen Innen- und Außenwelt. Zuweilen scheint es, als ergebe sich der Sinn vieler Eintragungen aus der beruhigenden Tätigkeit des Schreibaktes. Maurice Blanchot sieht in dieser Eigenart einen besonderen Schreibantrieb: »Im Unbedeutenden liegt der eigentliche Reiz des Tagebuchs«. Da der Tag für das Geschriebene bürge, sei das Diarium »eine bequeme Art, dem Schweigen zu entkommen, aber zugleich dem übermäßigen Anspruch des Schreibens zu entrinnen. Jeder Tag hat uns etwas zu sagen« (1962, 244). Hier wird jedoch nur eine Seite des Tagebuchs herausgegriffen, denn das Diarium bietet neben Alltäglichem doch gerade auch Raum für alles, was den Tagebuchautorinnen von höchster Wichtigkeit erscheint. Große und kleine Ereignisse werden durch den Vermerk im Tagebuch zu einem Teil des Mosaiks der eigenen Geschichte. Bei der Interpretation ist man also immer wieder mit den unterschiedlichsten Facetten alltäglichen Erlebens konfrontiert.
Führen Mangelsituationen zu verstärkter diaristischer Aktivität, so sind es darüber hinaus häufig Ereignisse, die den Kontext bisheriger Erfahrungen durchbrechen, die zu vermehrter Selbstreflexion zwingen und damit zum Auslöser des Schreibens werden. Befremdende Erlebnisse können bisherige Deutungsmuster und Selbsteinschätzungen in Frage stellen, und es bedarf eines erhöhten Interpretationsaufwandes, um sie in den Kontext der eigenen Erfahrungen zu integrieren. Je nach Wissensstand, mehr oder weniger informiert über die gängigen philosophischen, psychologischen oder politischen Menschenbilder, weisen die Schreibenden sich und den anderen einen Ort in der Gesellschaft zu oder versuchen, Handlungsorientierungen zu entwickeln.
Nicht anders als die Autobiographie dient das Tagebuch der Einarbeitung individueller Erlebnisse in den Bestand persönlicher Erfahrungen. Im Gegensatz zur mündlichen oder schriftlichen lebensgeschichtlichen Retrospektive findet man im Tagebuch nicht den autobiographischen Gesamtentwurf, sondern Erinnerungsrekonstruktionen aus der kurzen zeitlichen Distanz, die von den jeweils aktuellen Selbstkonzepten und Deutungsmustern der Schreibenden
geprägt sind. Erinnerungen, auch aus der kurzen Distanz, sind narrative Rekonstruktionen. Schon die Verbalisierung einer noch so subjektiven Erfahrung setzt diese mit
einem Gesamt von Begriffen in Beziehung, das noch viele außer uns besitzen, mit Personen, Orten, Daten, Wörtern, Sprachformen, auch mit Überlegungen und Ideen, d.h. mit dem ganzen materiellen und geistigen Leben der Gruppen, zu denen wir gehören und gehört haben. (Halbwachs 1966, 71)
In den meisten Tagebüchern werden die Eintragungen selbst dann, wenn sie nicht unmittelbar von den Ereignissen des Tages handeln, mit der Tagesdatierung versehen. So ergibt sich eine chronologische Abfolge von Eintragungen. Dem Tagesdatum kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Es stellt das Bindeglied zwischen dem Geschehen und dem Leben der Schreiberinnen dar, die so die äußeren Ereignisse in den privaten Kalender ihres Lebens einbeziehen.
In seinen Überlegungen zu den sozialen Bedingungen des Gedächtnisses weist Maurice Halbwachs daraufhin, daß man sich nur unter der Voraussetzung erinnern kann, daß man den Platz der interessierenden Erinnerung in dem Bezugsrahmen des kollektiven Gedächtnisses findet (1966, 368). Umgekehrt könnte man sagen, daß bei jeder narrativen Rekonstruktion Ereignisse mit Hilfe unterschiedlicher Bezugsrahmen plaziert werden.
Erinnerungen, so das Bild von Maurice Halbwachs, sind nicht vergleichbar mit intakten Wirbeln fossiler Tiere, sondern werden bei jeder Rekonstruktion transformiert, »sind bewegliche Reflexe eines sozialen Raums, einer sozialen Zeit, eines sozialen Milieus« (1966, 147). Eine frische Erinnerung ist nicht die authentischere, auch wenn sie sich von späteren Erinnerungen qualitativ unterscheidet. Die größere Aktualität, die Tagebücher in der Regel von autobiographischen Gesamtrückblicken unterscheidet, ist aus anderen Gründen in spezifischer Weise für die Interpretation aufschlußreich. In der zeitlichen Abfolge der Eintragungen können sich Brüche und Wandlungen der Bezugsrahmen des kollektiven Gedächtnisses zeigen. Die Spuren der kontinuierlichen Erinnerungsarbeit sind frischer. Die Materialität des Erlebten steht stärker im Vordergrund, die (vor-)schnellen und noch nicht erprobten Deutungen des eben erst Erlebten weisen häufiger Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten auf. Tagebücher, in denen in der Regel Erinnerungen aus der kurzen Distanz, häufig die Erlebnisse vom Tag oder Vortag, festgehalten werden, haben insofern im Vergleich zu mündlichen und schriftlichen lebensgeschichtlichen Rückblicken einen eigenen Quellenwert. Während häufig reproduzierte Erinnerungen in der Autobiographie dominieren, findet man im Tagebuch eher die >Rohabzüge<. Hier gibt es noch Bruchstücke und Marginalien, die sich bei späteren Vergegenwärtigungen verlieren, weil sie sich als bedeutungslos erwiesen oder sich nicht in die Muster späterer Erinnerungsmosaike einpaßten.
Der Wunsch, Erinnerungen zu sammeln und die eigenen Erlebnisse festzuhalten, ist neben dem Ringen um Identität und der Frage nach den Grenzen und Möglichkeiten des Selbst ein wesentlicher Motor diaristischer Aktivität. Bernfeld hat auf die verwandte Funktion von Tagebüchern und nichtschriftlichen Andenkensammlungen hingewiesen. Beiden gemeinsam ist der Sammlungsvorsatz, beide repräsentieren ein Stück entäußerte eigene Geschichte, beide können den Status von Reliquien bekommen (1931,17-29). Die ausgeschmückte Erinnerungseintragung hat im Tagebuch ebenso ihren Raum wie die problemorientierte Selbstreflexion. Eine einseitige Festschreibung des Tagebuchs zum »Genre der Krise« (Boerner 1969, 63) greift insofern zu kurz, als die Schreibenden, sofern sie Reliquien sammeln, bevorzugt die schönen, zumindest die bedeutsamen Ereignisse ihres Lebens schriftlich fixieren.
Tagebüchern liegen unterschiedliche Konzepte zugrunde, die wiederum mit den Vorbildern und Normvorstellungen der jeweiligen Verfasserinnen zusammenhängen. Diese Konzepte prägen die Auswahl und Form der Berichterstattung. Ein direkter Schluß vom Inhalt des Tagebuchs auf das, was den Alltag der Tagebuchautorinnen ausmacht, beziehungsweise auf das, was für sie bedeutsam ist, ist insofern nicht möglich. Zur Interpretation eines Tagebuchs bedarf es vielmehr einer Bestimmung des Tagebuchkonzeptes. Schon aus diesem Grund sind ausführliche Gesamtinterpretationen der geeignete Weg, um die unterschiedlichen Funktionen des Schreibens bestimmen zu können.
Wie unterschiedlich zwei Menschen Tagebuch schreiben können, die aus einer ähnlichen sozialen Schicht kommen und in einer vergleichbaren Situation schreiben, möchte ich am Beispiel der Aufzeichnungen von Ernst F. und Karl D. veranschaulichen (87-110 u. 112-122). Beide Verfasser lebten in Berlin, in Neukölln der eine, in Kreuzberg der andere. Sie sind dem proletarischen Milieu zuzurechnen, beide wurden 1941 einberufen und schrieben als 30jährige an der Ostfront Tagebuch.
Der linksorientierte Kriegsgegner und Bäckergeselle Ernst F. hat seinem Tagebuch ein Motto vorangestellt:
>Sie haben mich oft gedränget
von meiner Jugend auf
aber sie haben mich nicht übermocht.<
Zur Erinnerung an den deutschen Bauernkrieg 1525
Auch Karl D. schickt seinen Aufzeichnungen ein Vorwort voraus:
Mit dem Kriegsbeginn am 22.6.41 gegen Rußland gebe ich nachweislich dokumentarisch lt. Wehrpaß bewiesene Feldzüge und Schlachten mit täglichen Daten, Wochen und Monaten sowie Orte und Städte nebst gefahrene Kilometern (...) bekannt.
Schon die Motti machen deutlich, daß die Diarien beiden Verfassern zur Konturierung der eigenen Person dienen. Ernst F. möchte durch Selbstreflexion Abstand zwischen sich und der Kriegsrealität herstellen. Wenn er über den Krieg schreibt, so dient ihm das Thema als Aufhänger zu pessimistischen weltanschaulichen Reflexionen oder wird zum Anlaß der Klage darüber, daß er mehr noch als in Friedenszeiten in seinen Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten beschränkt wird. Dem Busfahrer dient die Sammlung der Kriegserlebnisse zur Selbstprofilierung, im Ton eines Feldherrn gibt er Schlachten und Erfolge bekannt. Er schreibt ein Logbuch der ersten Monate des Überfalls auf die Sowjetunion; Gefechtsberichte, Verlust- und Erfolgsbilanzen, Kilometer- und Ortsangaben des schnellen Vormarsches sind primärer Inhalt seiner Berichterstattung. Beide Verfasser sammeln biographische Erinnerungen, der eine jedoch bewahrt Bildungserlebnisse, Selbst- und Weltreflexionen im Tagebuch auf, der andere Ereignisse, deren Zeuge er war.
Mit diesen Beispielen möchte ich eine für meine Untersuchung wichtige Unterscheidung einführen. Ich gehe davon aus, daß allen Überschneidungen und Mischformen zum Trotz sich grundsätzlich zwei Typen von Tagebüchern unterscheiden lassen: Zum einen die Tagebücher, die primär der Arbeit am Ich dienen und bei denen die Selbstreflexion und die eigenen Gefühle im Mittelpunkt der Schreibaktivität stehen. Daneben aber werden immer auch Tagebücher geschrieben, in denen die Welt und die Ereignisse des äußeren Geschehens Hauptgegenstand der Berichterstattung sind. Diese Tagebücher tendieren zum Ereignisbericht beziehungsweise zum Zeitzeugnis.
Im folgenden Kapitel, in dem es um die besonderen Bedingungen der Diaristik im Zweiten Weltkrieg geht, werde ich ausführlicher auf die Besonderheiten des Zeitzeugenberichts zurückkommen und zeigen, daß Frauen vor allem während der letzten Phase des Krieges verstärkt in die Rolle der Chronistinnen geraten und die Zeitzeugenschaft zum wesentlichen Motor des autobiographischen Schreibens wird.