Was das Christentum schmerzt ist, daß das
alte religiöse Mutter-Göttin-Motiv und das
neue vom Allmächtigen Gott grundsätzlich
unvereinbar sind.
Robert Graves
Die Entdeckung Mariens
»Und so geschah tatsächlich«, schreibt Rousseau, »was die Heiden befürchtet hatten.« In ihrer neuen Macht und mit dem Segen der kaiserlichen Regierung »änderten die bescheidenen Christen ihre Sprache, und ihr angebliches Königreich der anderen Welt wurde zur wütendsten Gewaltherrschaft in dieser.«[1] Bei der unerbittlichen Durchsetzung des christlichen Glaubens waren Spione überall bereit, Menschen aus allen Schichten zu beschuldigen. Lippenbekenntnisse für die Kirche wurden die einzige Sicherheit. Europa wurde eine Welt von Heuchlern, die offen der neuen Kirche ihre Ehre bezeigten, wobei sie im Verborgenen die alten Gottheiten anbeteten.
Während sie der neuen Religion, die Ethik mit Moral in einer Weise verwechselte, wie es bisher nur eine kleine, unbekannte jüdische Sekte in Palästina getan hatte, Achtung vortäuschte, ging die wirkliche Religion in den Untergrund. Die schwarze Messe und der Sabbat waren viel verbreiteter als die Kirche einzugestehen wagte; doch Hexenversammlungen bildeten nur einen kleinen Teil des geheimen Protestes gegen die Autorität der Kirche.[2] Wie übermäßig streng erzogene Kinder, die es nicht wagen, den Vater von Angesicht zu Angesicht herauszufordern, so bildeten die Völker Europas geheime Gesellschaften in allen Schichten, um bildlich und auch wörtlich dem Christentum lange Nasen zu machen.
Die Kirche schien zum blutigen Untergang inmitten der blutenden Körper ihrer Opfer verdammt, als das Volk Maria entdeckte. Und nur nachdem diese gegen die strengen Erlasse der Kirche aus der Vergessenheit, in die sie Konstantin verwiesen hatte, gehoben und mit der Großen Göttin gleichgesetzt worden war, wurde das Christentum schließlich vom Volk geduldet. Der Hl. Patrick, war der Entdecker des Geheimnisses, wie man willige Konvertiten gewinnen konnte.
Obwohl in Rom zum Priester ausgebildet, war der Hl. Patrick doch ursprünglich ein keltischer Christ aus Britannien, und mit seiner Person vermittelte er der katholischen Priesterschaft ein Verständnis für den Wunsch der keltischen Völker nach ihrer eigenen Göttin. Es wird erzählt, daß er, als er in seinen neuen römischen Amtsgewändern an der irischen Küste landete, die Bewohner der Insel bei einer kultischen Zeremonie vor einem Bild Brigantes, der Mutter der Götter, versammelt fand. Patrick, mit dem schnellen Verstand und der noch schnelleren Zunge, überzeugte sie bald, daß die Mutter der Götter in Wirklichkeit Maria, die Mutter Gottes, war. Die immer liebenswürdigen Iren stimmten höflich zu, die Göttin Maria zu nennen und setzten ihre Zeremonie gleich darauf fort. Irland ist bis auf den heutigen Tag, wie alle Nachkommen der keltischen Völker im ganzen katholischen Europa, eher ein auf Maria als auf Jesus ausgerichtetes Land.
In Irland »war das Christentum von beredten und einfühlsamen Missionaren und nicht, wie sonst überall, mit dem Schwert eingeführt worden; und die Schule der Druiden nahm Jesus und seine Mutter eher als Vervollständigung denn als Entehrung ihrer alten Theologie an. Man erwartete, daß die irischen Bischöfe, die anfangs von den Königen und nicht vom Papst ernannt wurden, sich zurückhielten, was sie auch taten. Sie tauften die Göttin zur Hl. Brigitte um, der Schutzpatronin der Dichter, deren ewiges Feuer noch zur Zeit Heinrichs VIII. in Kinsale brannte«[3]
Der größte Widersacher Christi war im ganzen Römischen Reich, wie E.O. James schreibt, die Große Göttin, »die Göttin vieler Namen und doch immer die eine«. Patricks Entdeckung, daß die Heiden Christus annähmen, wenn sie auch Maria bekämen, änderte nun die offizielle Haltung der Kirche ihr gegenüber. Konstantin hatte die Zerstörung aller Göttinnentempel im ganzen Reich befohlen und die Marienverehrung streng verboten, »da er fürchtete, daß ihre Verehrung die ihres Sohnes in den Schatten stellen würde«.[4] Doch trotz der Autorität der Kirche wurde der letzte erhaltene Göttinnentempel erst im Jahre 560 zerstört.[5]
»Kann das Ewige weiblich sein?«
Wie können wir uns den Sieg des Christentums über das herrliche griechische Pantheon erklären? fragt Jane Harrison. Sie stellt fest, daß die Antwort in einem aufregenden Wesensmerkmal der klassischen homerischen Götter und Göttinnen besteht: »Sie sind zu schön, zu künstlich, als daß sie auf natürliche Weise eines Volkes Verlangen nach Unsterblichkeit hätten entspringen können (...)• Die olympischen Götter erschienen mir wie ein Strauß abgeschnittener Blumen, deren Blüte kurz ist, weil sie von den Wurzeln abgetrennt wurden (...)• Um diese zu finden, müssen wir tief in die unteren Schichten der Gedankenwelt eindringen, in jene chtonische Kulte, deren Lebensgrundlage sie bildeten und aus denen ihre ganze herrliche Blüte entsprang.«
Um diese Wurzeln zu finden, vertiefte sich Jane Harrison in die griechische Religion und schrieb ihr großes Werk, Themis, in dem sie die Olympier bis zu ihrer alten Quelle in der ursprünglichen und althergebrachten Verehrung der Göttin Themis, Gerechtigkeit, der frühesten Erscheinung der Großen Göttin zurückverfolgte. »Die Große Göttin,« stellte sie fest, »hat überall Vorrang vor den männlichen Göttern.« Als ihre Annahmen später von der Archäologie bestätigt wurden, war Jane Harrison begeistert: »Zu meiner großen Freude konnte ich feststellen, daß meine »Ketzereien« von der neuen Wissenschaftlergeneration beinahe als Postulate anerkannt wurden (...) historisch abgesichertes Material, das auf genauen Tatsachen beruhte (...).«[6]
Zu Harrisons Zeit, vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert, steckte die Archäologie noch in den Kinderschuhen, und dennoch hatte sie bereits viele geliebte männliche Ansichten und Vorurteile über die Frühgeschichte umgeworfen: vor allem das Vorurteil, daß die menschliche Gesellschaft stets vom Manne beherrscht, und daß die Gottheit, welchen Namen sie auch immer hatte, stets männlich gewesen sei.
In den 60 Jahren, die vergangen sind, seit Harrison ihre begeisterten Worte geschrieben hat, sind unsere Vorstellungen von Geschichte, Geschlecht und Religion durch Beweis und Zeugnis der Archäologie so gründlich angezweifelt worden, daß all unsere Geschichtsbücher, all unsere theologischen Theorien und all unsere Ideen von den geschlechtlichen Unterschieden und Begrenzungen veralteten. Doch die Lehrbücher haben mit der neuen Erkenntnis nicht Schritt gehalten, ebensowenig die Theologen, die Soziologen und die Politiker.
Robert Graves, der über die Ähnlichkeiten der griechischen, keltischen und jüdischen Religionen schreibt, kommt zu Harrisons Ergebnis von der weit verbreiteten Vorherrschaft der Göttin, wenn auch auf einem anderen Weg. »Die Verbindung besteht darin«, schreibt er, »daß alle drei Völker vom selben alten ägäischen Volk zivilisiert wurden, das sie unterwarfen und absorbierten.« [7] Diese verschollenen Menschen, das alte Volk, waren Göttinnen Verehrer, die das weibliche Prinzip als vorrangig und dem männlichen überlegen betrachteten. Diese letzte Vorstellung konnten die neuen Menschen nicht ertragen, und während sie die Weiblichkeit herabsetzten, stürzten sie gleichzeitig die weibliche Gottheit und ersetzten sie durch eine männlich bestimmte Hierarchie von Göttern und Göttinnen. Der Grund für die Künstlichkeit und Wurzellosigkeit der olympischen Götter und auch des jüdischen und christlichen Gottes besteht darin, daß sie erdacht wurden, von Patriarchen absichtlich erfunden, um die alte Große Göttin zu verdrängen. Demnach ist im Christentum die einzige Wirklichkeit Maria, das weibliche Prinzip, die wiedergeborene alte Göttin.
Weil sie nicht echt waren, unterlagen die klassischen Götter dem Christentum. Aber nicht, sagt Graves, dem männlichen, nicht Jehova oder Jesus, sondern Maria.
Das Vorherrschen des Göttinnenkultes in alter Zeit »ist nicht nur eine Angelegenheit für den Altertumsforscher, denn die allgemeine Anziehungskraft des modernen Katholizismus beruht trotz der rein männlichen Priesterschaft und der patriarchalen Dreifaltigkeit eher auf der alten Göttin und der ägäischen religiösen Mutter-Sohn-Überlieferung, auf die der Katholizismus bei der Marienverehrung zurückgegriffen hat, als auf seinen aramäischen und indo-europäischen Gottesmerkmalen.«[8] »Da man behauptete, der Logos sei aus einer menschlichen Mutter Fleisch geworden«, schreibt James, »wurde, als sich in Rom die katholische Kirche aus der jüdischen Sekte entwickelte, der alte Kult von der Göttin und dem jungen Gott in einer neuen Synthese wieder eingeführt.« [9]
Kurz gesagt, letztlich siegte das Christentum, weil es eine Rückkehr zur ursprünglichen Göttinnenverehrung darstellte, die zwar vorübergehend durch die olympischen Götter verdrängt, aus dem Verstand und dem Herzen des Volkes jedoch nie ganz getilgt worden war.
Montesquieu berichtet, indem er die Briefe von Cyril zitiert, daß das Volk von Ephesus, als es der Bischof davon unterrichtete, »daß es die Jungfrau Maria als die Mutter Gottes verehren durfte, ganz außer sich vor Freude war. Die Menschen küßten die Hände der Priester und umarmten deren Knie, und die ganze Stadt hallte von Zustimmungen wider«.[10]
»Kann das Ewige weiblich sein?« fragt Gide und erwartet keine Antwort.[11] Doch es ist, wie vorher schon gesagt, interessant, daß bei Visionen stets die Jungfrau Maria erscheint, nie Gott, nie der Hl. Geist und sehr selten Jesus. Die großen christlichen Mystiker, gleich, ob sie Männer oder Frauen waren, behaupten, irgendwann die leibhaftige Maria gesehen zu haben. Und es vergeht kaum eine Woche, in der nicht einem einfachen Bauern oder einem Padre irgendwo auf der Welt »unsere Heilige Frau« erscheint.
Wer sich mit psychologischen Untersuchungen befaßt, möchte vielleicht gerne wissen, ob Menschen bei Visionen tatsächlich etwas sehen, den astralen oder ätherischen Körper einer wirklichen Frau. Aber welcher Frau? König Numa sah sie in der Grotte von Nemi und nannte sie Egeria. Bernadette sah sie in der Grotte von Lourdes und nannte sie Maria. Wer kann sagen, daß sie nicht die Verkörperung einer wirklichen »Heiligen Frau« ist, der Großen Göttin selbst, »die sehr verschieden bezeichnete Weiße Göttin, die letzte Spur der matriarchalen Zivilisation oder, wer weiß, die Vorbotin von deren Wiederkehr«.[12]
Maria im Mittelalter
So fand sich die Kirche, die in ihrem fanatischen Patriarchalismus versucht hatte, den Göttinnenkult auszutilgen, durch das allgemeine Verlangen und um selbst zu überleben, gezwungen, Maria anzuerkennen. Man konnte nicht in das Extrem verfallen, sie in die Dreieinigkeit einzuschließen, wohin sie an sich nach alter religiöser Überlieferung gehörte, aber man wies ihr schließlich widerstrebend neunzehnhundert Jahre später einen Platz bei ihrem Sohn im Himmel zu und versah sie, wie ihn, mit einer sündenlosen und übermenschlichen Reinheit.
»Die Kirche weigerte sich jahrhundertelang, die sündenlose Geburt Marias zu verkünden, eine Makellosigkeit, die sie, Maria, auf eine Stufe mit Jesus gestellt hätte, dem einzigen Menschen, der ohne Sünde geboren wurde. Die großen Scholastiker waren dagegen und die belesenen Mönche wehrten sich mit allen Mitteln. Doch die große Zahl der Gläubigen war so sehr dafür, daß die Kirche am Ende gezwungen war nachzugeben.«[13]
Von Anfang an widersetzten sich die Heiden dem ausschließlich männlichen Charakter der neuen Religion. Von Rom bis Griechenland, von Ägypten bis Anatolien und besonders in Europa versuchte man, das Joch des Christentums abzuschütteln, um »die alte Ordnung (...) wiederherzustellen, doch ohne Erfolg: Das Christentum herrschte über alles«.[14]
In Rom fiel das letzte Bildnis der Göttin, die goldene Statue der Göttin Virtus (Tugend) im Jahre 410. Und mit ihr, schreibt Zosimus verbittert, »verschwand endgültig, was noch in Rom an Mutigem und Wertvollem vorhanden war«.[15] Aus dieser Bemerkung ergibt sich die einst von Dante erhobene Frage, ob Konstantin mehr Unheil angerichtet als Gutes geschaffen habe, als er die Kirche errichtete, und. außerdem die ähnliche, von vielen Gelehrten und Denkenden einschließlich Gibbon, gestellte Frage, ob nicht das Christentum für den Untergang des Römischen Reiches und das daraus entstehende Chaos des gesellschaftlichen und geistigen Rückschrittes verantwortlich sei. »Indem die Kirche Vorzüglichkeit auslöschte«, schreibt Otto Seeck, »wandte sie dem Fortschritt freiwillig den Rücken zu, und stürzte die Westliche Welt in das lange Leid und die Unterdrückung des Dunklen Zeitalters.«[16]
Doch in der Dunkelheit glomm ein schwaches Licht, das langsam zu einer Flamme wurde, die die Herzen der Menschen wärmte und ihre Hoffnungen neu belebte. Das Licht war Maria. Männer und Frauen sammelten sich in Scharen um sie, und bald wetteiferte ihr Kult mit dem Jesu. Mit dem elften Jahrhundert hatte sie Jesus als Erlöser der Menschheit bereits verdunkelt. »Die heilige Jungfrau,« schreibt Briffault, »die Albertus Magnus die Große Göttin nennt, hätte in der Verehrung des Volkes die männliche Dreifaltigkeit beinahe verdrängt. Gott-Vater war unnahbar und schrecklich. Christus hatte das strenge Amt eines Richters. Nur die Königin des Himmels konnte uneingeschränkt Barmherzigkeit walten lassen. Sie wirkte mehr Wunder als alle göttlichen und heiligen männlichen Wesen im Himmel zusammen. Sie hatte tatsächlich ihre ursprüngliche Stellung als Große Göttin, als göttliches Urbild der zauberischen Weiblichkeit ganz und gar zurückgewonnen.«[17]
Henry Adams, der vor 70 Jahren durch Europa reiste, machte eine Entdeckung, die ihn, den patristischen amerikanischen Mann des 19. Jahrhunderts, überraschte: Die prächtigen Kathedralen des mittelalterlichen Europa, jene »steinernen Triumphlieder«, waren nicht zum Ruhme Gottes erbaut worden, wie es die Kirche beabsichtigt hatte, sondern als Ausdruck der Marienverehrung. »Er liebte ihre Würde, ihre Einheit, ihre Ausmaße, ihre Linien, ihre Schatten, ihre Lichter, ihre schmückenden Bildwerke; und er war sich der Kraft bewußt, die das alles geschaffen hatte: die Jungfrau, die Frau, durch deren Geist die stattlichen Zeugnisse gebaut worden waren, durch die Sie Ausdruck erhielt (...). Alle Kraft der Welt hätte nicht so wie die Jungfrau Chartres erbauen können (...). Symbol oder Kraft, die Jungfrau hat als größte Macht gewirkt, die das Abendland jemals fühlte und das Tun der Menschen stärker auf sich gelenkt, als es jede andere natürliche oder übernatürliche Macht jemals vermochte.«[18]
Adams hat scheinbar nicht erkannt, daß diese mystische Macht der Jungfrau Maria, der Frau, der Göttin, so alt war wie die Zeit, daß es eben diese Kraft war, die in den ersten Äonen die Welt zusammengehalten und die Menschheit auf ihren langen und häufig unterbrochenen Weg zur Menschlichkeit geführt hatte. Doch der Mensch des Mittelalters, in dessen Erinnerung die Große Göttin immer noch lebendig war, wußte das. Und als er die Schwibbogen der großen Kathedralen aus Stein meißelte oder sie aufrichtete, erinnerte er sich an sie und ehrte sie, wie es seine Vorfahren im Altertum getan hatten, mit seiner größten Anstrengung und seinen erhabensten Gedanken.
Die schönsten und ehrfurchtsvollen Bildwerke stellen Maria dar. Die vollkommensten Gemälde sind ihr gewidmet. Und die zartesten und herrlichsten Glasmalereien zeigen die Mutter und das Kind.[19] Trotz des Papstes und der weltlichen Macht des örtlichen Geistlichen verehrte der Mensch des Mittelalters immer noch die Mutter der Götter.
Maria und die britischen Kelten
Das Neue Testament weiß über Maria nach der Kreuzigung nichts mehr zu berichten. Der Legende zum Neuen Testament nach jedoch soll Maria von Petrus und einigen anderen Aposteln in einem Höhlengrab in Jehoshaphat begraben worden sein. Acht Tage nach der Beerdigung wurde ihr Grab geöffnet. Man fand es leer vor. Worauf Thomas, der gerade auf einer Wolke aus Indien zurückgekehrt war, erklärte, daß er der Auferstehung Marias vom Gipfel des Ararat aus beigewohnt hatte, wo seine fliegende Wolke ihn auf seiner Route von Indien kurz abgesetzt hatte. Jesus selbst, sagte Thomas, sei vom Himmel herabgestiegen und habe seine Mutter nach oben geleitet. Auf dieses Zeugnis hin vergab man Thomas seine Zweifel an diversen früheren übernatürlichen Erscheinungen, und die Apostel fielen auf die Knie nieder und beteten ihn an. Danach kamen zwölf Wolken herab und nahmen die vereinigten zwölf auf, um sie zu ihren jeweiligen Ämtern zurückzubringen.[20] Es gibt aber noch eine andere Legende über Marias letzte Jahre, die erdgebundenere Naturen eingängiger erscheint. Und nach dieser Legende, die in Südfrankreich und England noch lebendig ist, starb Maria in Marseille. Dieser Version zufolge entschlossen sich nach der Steinigung des Hl. Stephan im Jahre 35 v. Chr. mehrere seiner Freunde und Verwandten, die um ihr eigenes Leben fürchteten, aus Jerusalem zu fliehen und soviel Abstand wie möglich zwischen sich und den Sanhedrin zu bringen. Deshalb kaufte Joseph von Arimathia ein Schiff, und hierin segelte eine kleine Gruppe christlicher Juden nach Europa. An Bord befanden sich Joseph von Arimathia, seine Nichte Maria, die Jesus' Mutter war, ihr Cousin Lazarus, ihre Cousinen Martha und Maria und ein kleines Waisenmädchen namens Thekla. Sie segelten die Nordküste Afrikas entlang bis zum Tyrrhenischen Meer und landeten im Jahre 36 in Marseille. »Marseille,« schreibt Lionel Smithett Lewis, »redet immer noch über diese Flüchtlinge, die vor zweitausend Jahren dort ankamen.« [21] Marseille war ein großer Hafen und zur Zeit Roms das Tor zu Europa, und von da aus führten gute römische Straßen in alle Teile des Reiches. Die bestehende Handelsroute von den Mittelmeerländern zu den Britischen Inseln, führte von Marseille durch Armorica und durch den Kanal nach Südengland. Joseph von Arimathia kannte diese Route sehr genau, und er hatte Marseille als seinen Zufluchtsort ausgesucht, weil er dort gut bekannt und hochgeachtet war.
Denn Joseph von Arimathia war ein Metallhändler, ein Zinnmagnat, der Zinn- und Kupferminen in Cornwall und in Somerset im Süden Englands besaß. Er pflegte diesen Minen häufig Besuche abzustatten und hatte viele Freunde unter den britischen Kelten. Einer davon war der keltische König Arviragus.
Kurz nach der Ankunft der Jerusalemer Flüchtlinge in Marseille besuchte sie dort der Apostel Philip auf einer Missionsreise. Er stellte jedoch bald fest, daß die Marseiller zu erfahren und zu sehr dem römischen Einfluß ausgesetzt waren, als daß sie in das christliche Lager überwechseln würden. Philip entschloß sich, weiterzuziehen und mit Joseph von Arimathia nach Britannien zu gehen. Und in der Begleitung Marias und vielleicht Theklas, Marthas und der anderen Maria machten sich die beiden Männer im Frühling desselben Jahres nach Somerset auf.[22]
Nachdem Philip festgestellt hatte, daß die Kelten Britanniens neuen Ideen gegenüber aufgeschlossen waren, ließ Philip Joseph und einige der Frauen dort zurück, damit sie in Glastonbury eine Kirche gründeten, was sie - Gildas zufolge - noch im selben Jahre, 37, taten, während Philip Maria nach Marseille zurück begleitete. Dort starb sie später und wurde auch dort beerdigt.
Das ist die Marseiller Legende. In Somerset und Cornwall geht die Legende bis zu Jesus' Kindheit zurück. In der herrlichen Geschichte hatte der junge Jesus seinen Großonkel, den reichen Händler Joseph von Arimathia, auf wenigstens einer Geschäftsreise nach Britannien begleitet und hatte die Herzen der Kelten durch seinen aufgeschlossenen und wissensdurstigen Verstand so sehr für sich eingenommen, daß er ihnen in guter Erinnerung geblieben war. Als dreißig Jahre später seine Mutter mit Joseph sie besuchte und sie von dem traurigen Schicksal des vielversprechenden Knaben erfuhren, war es ihnen ein Anliegen, zu seinem Gedenken eine Kirche aus Flechtwerk in Glastonbury zu bauen. So gelangte das Christentum beinahe sechshundert Jahre vor Augustinus ins keltische Britannien.
»Wahrscheinlich ist etwas Wahres an der seltsamen Überlieferung, die nicht nur unter den Hügelbewohnern Somersets sondern auch in Gloucestershire immer noch Gültigkeit hat, daß der Hl. Joseph von Arimathia erstmals als Metallhändler nach Britannien kam und auf den Scillyinseln und in Cornwall nach Zinn suchte und im Bergland Somersets nach Blei und Kupfer und anderen Metallen und daß Jesus selber ihn als Junge begleitete. Auch in Irland existiert eine Überlieferung, nach der Jesus als Junge nach Glastonbury kam.«[23]
Der keltische König Arviragus, ein direkter Vorfahre der Königin Helena und also auch Kaiser Konstantins, war ein alter Freund Josephs, und er setzte dieser Freundschaft ein Denkmal, indem er der Kirche von Glastonbury das Land stiftete, auf dem sie erbaut wurde.[24]
Es besteht wenig Zweifel daran, daß Joseph im alten Britannien sehr gut bekannt war. Daß er mehr als nur Erinnerungen und Überlieferungen hinterließ, wird durch die Tatsache unter Beweis gestellt, daß der keltische König Arthur im sechsten Jahrhundert behauptete, an achter Stelle in der direkten Nachkommenschaft Josephs von Arimathia zu stehen.[25]
Von großer Bedeutung ist auch die Tatsache, daß die keltischen Ritter, angefangen mit König Arthur, ausnahmslos das Abbild der Jungfrau auf ihren Schilden trugen. Und bei der Schlacht von Castle Guinnion trug, Nennius zufolge, Arthur »ein Bildnis der Hl. Maria, der ewigen Jungfrau« auf seinen Schultern in die Schlacht.[26]
Aber war dies wirklich ein Bildnis Marias »der ewigen Jungfrau«? Oder war es vielleicht ein Abbild des Ewigen, der ewigen Göttin der alten Kelten?