Öffentliche Geheimnisse

Eine Anatomie der Sterblichkeit

Euch wird nicht vergeben werden. Keinem von euch. Niemals. —
Dies sagte ein jüdisches Kind zu einem Nazi-Soldaten, als es auf einen Lastwagen mit dem Bestimmungsort Auschwitz geladen wurde
(aus der Mitschrift des Auschwitz-Prozesses).

Es ist — da es der andere in uns ist, der alt ist — ganz normal, daß wir durch andere Menschen zur Erkenntnis unseres Alters gelangen.
Gerne gestehen wir es nicht ein.
Simone de Beauvoir

In der großen Nacht wird mein Herz hinausgehen,
Die Dunkelheit tritt mir klappernd entgegen, In der großen Nacht wird mein Herz hinausgehen.
Der Sterbegesang der Eulenfrau,
Die Nation der Papagos von Nordamerika

Letzten Endes haben wir nur eine Sache gemeinsam — eine unvermeidliche, unausweichliche und absolut gewisse Sache: den Tod. Außerdem teilen wir miteinander die unbestreitbare Wirklichkeit des Alterns, des Alters — das aber nur, wenn wir das Glück haben, sozusagen, erst im Alter zu sterben. Doch der Tod ist, früher oder später, unsere einzige grundsätzliche Bindung.
Diese Bindung sollte unsere Leben vereinfachen, klar machen, vereinen. Es macht die Frage so wundervoll eindeutig: was werden wir tun, einzeln und zusammen, zwischen genau diesem Augenblick (in dem ihr diese Zeilen lest) und dem Tod? Auf welche Weise werden wir den wundervollen Zufall ausnutzen, am Leben und auf spezifische Art miteinander verbunden zu sein (denn ihr lest ja tatsächlich gerade diese Seite), auf demselben Planeten, in ungefähr dem gleichen Zeitpunkt in der Geschichte, beschäftigt mit ungefähr den gleichen Belangen? Bei all den Möglichkeiten, einander in Zeit und Raum zu verlieren, all den möglichen verpaßten Zusammenkünften, all den möglichen beinahe-aber-nicht-ganz-Begegnungen — sind wir, auf magische, wunderbare Weise, in Kontakt miteinander gekommen. Und sollte es so sein, daß ich schon gestorben bin, wenn diese Worte in euer Hirn dringen — wie der Lichtschein einer längst erloschenen Sonne, der viele Lichtjahre lang als Welle gereist ist, und erst jetzt als Wort-Photon auf eure Retina trifft —, wenn es so sein sollte, ist dies dann nicht noch ehrfurchtgebietender, daß ich für euch in der Zeit lebendig werde, wenn ihr noch am Leben seid? Ihr erweckt mich, nehmt mich aus meiner Vergangenheit in eure Gegenwart auf. Und so ist es doch, ich schreibe in eure Gegenwart hinein, aus meiner Vergangenheit heraus — was die Vergangenheit zur Zukunft macht — oder zur ewigen Gegenwart.
Was das anbelangt, um einen Gedanken von Susan Sontag weiterzuführen, ist die Vorstellung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als gleiche Teile eines imaginären Maßstabs irreführend. Tatsächlich ist unsere Wirklichkeit zu 98 oder 99% Vergangenheit; die Vergangenheit ist das einzige, das wir wirklich kennen. Dann gibt es da einen winzigen Splitter — vielleicht 1 oder 2 % — und das ist die tatsächliche Gegenwart, das Jetzt, das aber sofort wieder zur Vergangenheit wird. Die Zukunft ist eine große Leere; man braucht erstaunlich viel Zuversicht sich vorstellen zu können, daß es sie überhaupt gibt, geschweige denn, daß es sie in der Art gibt, in der wir sie vielleicht gerne definieren und gestalten möchten. Überhaupt irgend etwas zu planen, von einem Zahnarzttermin zu einer Bewußtseinsrevolution ist — existentiell gesprochen - ein bemerkenswerter Akt des Glaubens.
Im politischen Zusammenhang ist Planen auch ein Akt der Macht. Das alte Sprichwort: »Die Reichen planen für Generationen; die Armen planen für Samstagabend« trifft nicht nur für Armut und Reichtum zu, sondern auch für weiße und farbige Menschen, für die herrschende Institution der Heterosexualität und die Unterschicht der Homosexuellen, für die physisch »Normalen« und die physisch Behinderten, für Erwachsene und Kinder, für Menschen im mittleren Alter und alte Menschen und ganz gewiß auch für Männer und Frauen.
Langzeitplanung setzt einen vergleichsweise geringen unmittelbaren Druck voraus, eine gewisse Muße und den Luxus des Vertrauens, daß die unmittelbare (oder sogar weitere) Umwelt im Rahmen der gegebenen Möglichkeiten einigermaßen kontrollierbar sei. Die Frau, deren Leben durch Hausarbeit und Kinderbetreuung in kleine Segmente zerhackt ist (das Zeug aus der Reinigung muß bis um vier abgeholt sein, die Kinder sollten um Viertel nach drei aus der Schule abgeholt werden, der Braten braucht zwei Stunden im Ofen, das Bodenwachs muß bis sechs trocken sein, usw.) ist viel zu sehr mit Organisieren, Tun und Machen beschäftigt, um einen Plan zu entwerfen. Der Sozialhilfeempfänger, dessen Tage durch die Länge der Schlangen bemessen werden, in die er sich einreihen muß (beim Amt für Sozialhilfe, vor dem Schalter für die Lebensmittelmarken, in der billigsten öffentlichen Klinik) — steht unter viel zu großem Druck, ist zu hoffnungslos, zu erschöpft, um zu planen. Eine schwarze Frau oder ein schwarzer Mann, die sich viel früher als eigentlich nötig mit dem Bus, der U-Bahn oder zu Fuß auf den Heimweg machen müssen (weil nur selten ein Taxi für sie/ihn anhalten wird, um sie dann in eine Nachbarschaft zu fahren, die erst in die Ghettoexistenz gezwungen und dann deswegen gefürchtet wird) — diese schwarze Frau oder dieser schwarze Mann werden eindeutig des Vertrauens beraubt, es läge in ihrer Macht, auch nur den Heimweg zu planen. Und dies sind nur einige Beispiele von vielen dafür, wie »Planung«, die Vorstellung von einer »Zukunft« und schließlich von der Zeit selbst eine völlig andere Realität — politische, körperliche, emotionale, intellektuelle Realität — für Menschen haben kann, die verhältnismäßig machtlos sind.* (* Berit As, die norwegische Psychologin und feministische Denkerin, hat darüber geschrieben, wie anders Frauen mit der Zeit umgehen als Männer, aufgrund unserer Lebensweise und der sozialen Gegebenheiten. Sie weist auf das Phänomen des Wartens hin, oder das, was wir als Scheintod oder verzögertes Selbst bezeichnen würden. »Die Wichtigkeit, zuerst eine andere Person bedienen zu müssen, trägt zu einer Haltung bei, die den meisten Frauen gemeinsam ist: ,Wenn ich das Geschirr gespült habe, dann kann ich ...' oder ,Ich hoffe, daß ich teilnehmen kann, wenn es meiner Schwiegermutter besser geht', oder ,Wenn die Kinder groß sind, kann ich vielleicht, wenn nichts dazwischen kommt und die Familie mich nicht braucht, in die Schule zurückgehen.'« Sie hat auch untersucht, wie Mädchen schon früh dahingehend beeinflußt werden, ihre Zukunft nicht zu planen. Wenn sie gefragt werden: ,Was willst du denn wirklich werden?' fällt jungen Männern immer schnell etwas ein, aber die meisten jungen Frauen antworten: ,In Anbetracht dessen, daß ich vielleicht heiraten werde, sollte ich vielleicht ...' oder .Wenn ich Kinder haben sollte, würde ich wohl besser ...' Und dieser Balanceakt, obwohl er unerträglich ist, ist nicht einmal unrealistisch, angesichts der Dinge, mit denen sich Frauen auseinandersetzen müssen. So steht in einer Studie, die in den siebziger Jahren am Institut für Sozialforschung in Ann Arbor, Michigan, durchgeführt wurde: »Die Ergebnisse bestätigen, daß alle verheirateten Frauen, die Nur-Hausfrauen und auch die, die eine doppelte Verantwortung tragen, im Durchschnitt eine um zehn Stunden längere Arbeitswoche haben als die verheirateten Männer. Frauen finden es schwierig zu organisieren, weil es ihnen an Zeit ermangelt.« (Hervorhebung R. M.) Aus «On Female Culture« in Acta Sociologica Nr. 1-3, Sonderausgabe über Frauenstudien (Kopenhagen 1975)).
.. .Solche unterschiedlichen Realitäten beeinflussen alles, Gedanken und Sprache eingeschlossen. Es ist derselbe Unterschied, der es den finanziell Gesicherten gestattet, von »Finanzen« zu sprechen, während die von-der-Hand-in-den-Mund-Leute schlicht vom »Geld« reden — oder sogar, noch basisbezogener, vom »Kleingeld«. Es ist die Variation in der Zeitspanne, die als Reaktion auf den Satz »Ich komme gleich« empfunden wird, je nachdem ob dieser Satz von eurer Mutter ausgesprochen wird, vom Beamten im Arbeitsamt, vom Narkosearzt, wenn er die Gesichtsmaske trägt, vom Buchprüfer des Finanzamts, von eurem halbwüchsigen Sohn, der gerade ein Telefongespräch beendet, vom Funktionär einer Aktiengesellschaft, vom diensthabenden Bezirkspolizisten der Abteilung für Vergewaltigungsfälle, von der Krankenschwester mit dem schmerzstillenden Medikament, von eurem Chef, eurem Vertrauensprofessor, eurer Enkelin im Gang des Altenheims, dem Bankangestellten, der für die Kredite zuständig ist, usw. ad infinitum. Das ist die Machtstrategie, wie sie in der US-Armee und in vielen Gefängnissen angewendet wird: weckt die Soldaten oder Gefangenen bei Morgengrauen, treibt sie beim Anziehen an und laßt sie dann in Reih und Glied stehen und der Anweisungen harren, entsprechend dem Armeeklischee »Beeilt euch und wartet«.
In der Welt der subatomaren Teilchen existiert der Raum nicht — und auch nicht die Zeit. Aber in der Welt der vom Menschen gemachten Werte existieren Raum und Zeit nicht nur, sie sind auch verkäufliche Waren.
Will man Bodenschätze, die eigentlich frei, allgegenwärtig und natürlich vorhanden sind, als Ware »abpacken«, so wird es selbstverständlich notwendig, diese Bodenschätze zurückzuhalten. Wenn man sie schon nicht buchstäblich einzäunen oder in einem Safe verschließen kann, dann kann man zumindest einige ihrer Aspekte verleugnen und andere dafür in den Vordergrund stellen, um sie auf diese Weise (oder angeblich) umzuformen und neu zu definieren, welche ihrer Charaktereigenschaften wünscht und welche abzulehnen sind. Genau das hat unsere Gesellschaft mit der Zeitspanne des menschlichen Lebens gemacht. Kinder werden als machtlos betrachtet — und so der Macht beraubt. Sogenannte Erwachsene (im Alter von 21 bis 65 Jahren) werden als Richtige Menschen betrachtet, menschliche Wesen, Bevollmächtigte. Ältere Menschen dagegen werden wiederum als machtlos definiert. Zu einem großen Teil basiert dieses Phänomen auf sexuellem Fundamentalismus« . Wenn die menschliche sexuelle Aktivität als etwas definiert wird, das nur mächtige Menschen tun, und wenn die Reproduktion als fester Bestandteil der Sexualität gilt, und wenn es gewissen Personen nicht gestattet ist, diese Aktivität ohne die Verbindung zur Reproduktion auszuüben, dann muß daraus folgen, daß solche Personen nicht wirklich menschlich sein können. Wir haben schon gesehen, wie MANN diesen Trick bei den Frauen angewendet hat. Aber-, präpubertäre Kinder, die ja nicht neotenisch sind (das heißt, sie werden nicht im Larvenstadium geschlechtsreif), können sich auch nicht vermehren. Deshalb müssen sie nicht-sexuelle Wesen sein, also nicht-menschliche Wesen, die einer Machtausübung nicht würdig sind. Und von einem bestimmten Alter an können sich auch Erwachsene nicht länger reproduzieren. Und darum müssen auch sie nicht-sexuelle Wesen sein und deshalb nicht-menschliche Wesen, ebenfalls der Potenz (in allen Wortbedeutungen) nicht würdig. Dabei ist es ganz gleich, daß diese Behauptungen die Wahrheit Lüge strafen. Jeder weiß, daß es anders ist, doch den Behauptungen wird das Gewicht von Fakten verliehen, denn die, die sie vertreten, haben die Macht, sie durchzusetzen. Bei genügend Zeit- und Propagandaaufwand werden sogar die Machtlosen denken, ein Verhalten, das diesen Behauptungen widerspricht, wäre ein Zeichen von Abnormität.
Zum Beispiel wird es als morbid empfunden, tief, ernsthaft und oft über den eigenen Tod nachzudenken, solange er nicht oder nicht unmittelbar bevorsteht. Und wer will schon morbid sein? Was aber nicht zum Ausdruck gebracht und mit anderen besprochen werden kann, zieht sich in den Untergrund zurück, sogar im Ich selbst; das, was unaussprechbar ist, wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch bald undenkbar. Und so kam es, daß wir alle zu den öffentlichen Geheimnissen der Jugend, der »Reife«, des Alterns und am meisten des Todes beigetragen haben. Die politischen Masken der Sterblichkeit — die überall da angeboten und gekauft werden, wo MANN regiert und FRAU zustimmend nickt, sie sind es, die wir getragen haben — und so lange haben wir sie getragen, daß wir tatsächlich glauben, uns selber zu sehen, wenn wir vor dem Zweiwegspiegel stehen.

»ES IST MARGARET, UM DIE DU TRAUERST«
Die erste Maske ist die der Kindheit. Ihre Gesichtszüge sind Niedlichkeit, Unschuld, Verspieltheit, Abhängigkeit (Hilflosigkeit), eine Begabung für verrückte Einfälle und Phantasie, und anscheinend ein Mangel an Fähigkeit, die tragische Seite des Universums wahrzunehmen (das heißt, chronisches Glücksgefühl). Diese identifizierenden Kennzeichen von Kindheit sind für ein wirkliches Kind so relevant wie es die identifizierenden Stereotype der Weichheit, Fraulichlceit, Hilflosigkeit und Gefühlsbetontheit für eine wirkliche Frau sind. Erwachsene projizieren solche Merkmale auf Kinder aus dem politischen Grund, daß sie dadurch Kinder in ihrer ohnmächtigen Position halten. In der Tat sind die »organischen« Bindungen zwischen Frauen und Kindern durch das absichtliche Verwischen zweier Gruppen in eine (machtlose) Klasse geradezu zementiert worden: Frauen und Kinder. So wie es Jane Harrison für die Kultur der Griechen beschrieb, in der ein Jüngling zum Mann wurde, indem er aufhörte, eine Frau zu sein. Nicht-Mann zu sein ist demnach die eigentliche Verbindung zwischen Frauen und Kindern, und sie erfordert den Status der Machtlosigkeit.
Eine solche Machtlosigkeit während der Kindheit — dieser vielgerühmte Zustand der sogenannten Ungebundenheit — bedeutet eine ganz besonders bittere Ironie für die Kinder, die um ihres Überlebens willen wie jede andere diskriminierte Gruppe, früh lernen müssen, was von ihnen erwartet wird. Und diese Erwartung ist so sehr mit erwachsenem Denken durchtränkt, daß sogar politisch bewußte Erwachsene mit radikalem Lebensstil, eingeschlossen vielen Feministinnen, gar nicht auf den Gedanken kommen, diesen Erwartungshorizont in Frage zu stellen.
Ich werde nie das Gespräch mit einer feministischen Aktivistin vergessen, die zugleich Mutter eines achtjährigen Mädchens war. Diese Frau, eine Anwältin, die viele Stunden lang Prozesse für nichtdiskriminierende Arbeitsverträge durchgefochten hatte, klagte darüber, daß ihre Tochter sich ausschließlich mit Barbie-Puppen und den dazugehörigen Mode- und Kosmetikassecoirs abgäbe. Anscheinend hatte der Großvater diese Artikel sexistischer Geschäftemacherei als Geschenk ins Haus gebracht. Warum hatte die Mutter das geduldet? Sie wollte seine Gefühle nicht verletzen. Und was war mit den Gefühlen des Kindes? Ein leerer Blick. Hätte sie es denn gestattet, daß Kriegsspielzeug oder Tante Jemima Puppen* (* Ursprünglich Figur auf einem Warenetikett für Ahornsyrup; entspricht dem rassistischen Stereotyp der »Negermammi« (A.d.Ü.). ins Haus kämen? Natürlich nicht, war die prompte Antwort. Warum hat sie dann die Barbie-Puppe zugelassen, die sie selbst als erzpropagandistisches Werkzeug für die Erziehung zur »Fraulichkeit« ansah? Sie suchte nach einer Antwort und sagte schließlich: »Aber ich will mein Kind doch nicht programmieren, es mit feministischer Propaganda überschütten.« Gleichzeitig weiß diese Frau sehr wohl, daß jedes Kind schon fast jede Minute des Tages mit sexistischer Propaganda programmiert wird — vom Fernsehen, von der Werbung, von Lehrern und Mitschülern und Schulbüchern. Was ist da gegen ein bißchen Gegengewicht einzuwenden, eine andere Art zu denken, eine Option, um dieser Propaganda entgegenzuwirken, die so allgegenwärtig ist, daß sie kaum noch wahrgenommen wird? «He, das ist ja dann doch so was wie ein nichtdiskriminierender Arbeitsvertrag!« rief sie plötzlich aus, und eine weitere feministische Erleuchtung hatte stattgefunden.
Und ja, es ist schwierig. Die Risiken und Anstrengungen, die man um seiner Überzeugungen willen als Erwachsener auf sich nimmt, beruhen auf eigener freier Entscheidung. Von daher erscheint es »manipulativ«, sie dem eigenen Kind oder den Kindern »aufzubürden«. Doch wenn nicht wir für das Recht unserer (und im Grunde aller) Kinder kämpfen, die Welt ohne die Scheuklappen der männerbeherrschenden Ideologien zu sehen, die ihnen »aufgebürdet« und von MANN und FRAU aufgedrückt werden — wer soll es dann tun?
Als Eltern, die versuchen, dem Kind neue und menschlichere Werte zu vermitteln, lernen wir vielleicht sogar noch mehr dabei als das Kind selbst. Blake zum Beispiel (er ist jetzt zwölf) hat Kenneth und mich gelehrt, welch leidenschaftlichen und angeborenen Sinn für Gerechtigkeit Kinder haben, welch wirklichen Mut, wie sie nicht »zu weit« gehen, sondern noch weiter. Stimmt, da waren viele lange, komplizierte und wunderschöne Gespräche nötig, und häufige Gänge zum Schuldirektor, um Blakes diverse politische Standpunkte in der Schule zu unterstützen,  und viel unbeholfene (und manchmal peinliche) Ehrlichkeit von unserer Seite. Aber dann die Freude — wenn Blake verkündet, er habe beschlossen, sich nicht ein zweites Mal zur Klassensprecherwahl aufstellen zu lassen, sondern er wolle statt dessen die Werbekampagne für die erste weibliche Kandidatin organisieren; oder wenn er die patriarchalen Feiertage in Frage stellt: »Das Erntedankfest ist ein rassistischer Feiertag; was gab es damals für die Indianer zu feiern?« und »Wie können die es wagen, bösartige Papierhexen mit grünen Gesichtern an Halloween* (* »Spukabend« — der 31. Oktober; ein Fest, das auf die keltische Tradition des Samhain zurückgeht (A. d. Ü.). aufzuhängen, nachdem Millionen von Frauen als Hexen verbrannt worden sind?« und »Ich begehe Washingtons Geburtstag nicht mehr; statt dessen feiere ich den Geburtstag von Susan B. Anthony.«
Ja, manchmal gibt es Tränen, und nicht nur die von Blake, auch Kenneths und meine. Wenn euer Kind von seinen Altersgenossen wegen seiner politischen Einstellung ausgelacht wird, und weil er mit Puppen spielt und nicht nur Baseball (und verlangt, daß auch Mädchen im Team sein sollen), weil er Musik und Gedichte mag, oder weil er aufopfernd Wahlpropaganda für Bella Abzug macht — wenn er über Beleidigungen weint, die ihm zugefügt wurden, über Verletzungen und Mißachtungen, dann könnt ihr ihn nur trösten, ihn unterstützen, ihn an seine Freunde erinnern, die seine Ansichten respektieren und teilen. Ihr könnt ihn daran erinnern, daß man nicht immer für alles gleichzeitig eintreten kann, und daß er sich so sicher sein soll wie nur irgend möglich, daß seine Prinzipien wirklich seine eigenen sind und er sie nicht nur vertritt, um euch zu gefallen. Letzteres könnt ihr dadurch klarmachen, daß ihr ihn einfach sehr oft eurer Liebe vergewissert, ohne irgendwelche Auflagen damit zu verbinden. Es macht gar nichts, wenn er sieht, daß ihr weint oder deprimiert seid, wenn Erwachsene euch dasselbe antun. Denn eigentlich gehört für mich zu einer feministischen Erziehung, daß die Eltern ihre schlichte fehlbare Menschlichkeit deutlich machen: unsere Schwächen, dummen Irrtümer, Inkonsequenzen, unsere Füße aus Ton; dazu gehören auch unsere richtigen Namen, statt Rollennamen wie Mami und Pappi. Das alles hat zur Folge, daß die Eltern zu Personen befreit werden — und daß dem Kind mehr Respekt und Macht als menschliches Wesen zuteil wird.
Ich gestehe, daß ich sehr stolz auf den Menschen Blake bin, als eigenständiges Individuum, und auch auf die beglückende und schwierige Arbeit, die Kenneth und ich einzeln und zusammen über all die Jahre hin geleistet haben, um ihn zu unterstützen und zu ermutigen. Zumindest sind unsere Fehler neuer und andersgeartet als die üblichen. Ich kenne auch eine Reihe feministischer Eltern, die sich dieselbe Mühe mit ihren weiblichen Kindern machen — leider aber nur sehr wenige, die aufrichtig den Status Quo bei ihren männlichen Kindern in Frage stellen. Sie scheinen zu glauben, eine Erziehung starker und selbstbewußter Mädchen ohne die parallele Erziehung von Jungen zu einem Verständnis von Zärtlichkeit, Humor und nährender Zuwendung sei genug, um die zukünftigen Beziehungen zu ändern. Natürlich verbirgt sich dahinter die Angst, die Söhne zu »Weichlingen« (sprich: Homosexuellen) zu machen. Auf solche Homo-phobie könnte man mit der einfachen Frage antworten: »Was wäre denn daran so schlimm?« — trotz all der neuen Untersuchungen, die solch einem Zusammenhang widersprechen.[1] Es stimmt, daß sich alle unsere kulturellen Voraussetzungen mehr im Hinblick auf die Geschlechtsrollen der Frauen als auf die der Männer verändern: mehr Frauen in der Geschäftswelt, ja, aber noch keine vergleichbare Anzahl Männer in den Kindergärten. Doch ich glaube, daß noch ein anderes Element im Spiel ist: eine gewisse Trägheit in bezug darauf, »unsere Kinder vor dem Patriarchat zu retten«, wie eine Frau es ausdrückte; und damit wiederum verschleiern wir unsere eigenen Methoden der Machtausübung. Indem wir unsere Kinder »sicherstellen« vor der »Propaganda«, die wir so gut kennen, ermächtigen wir uns selbst Tag für Tag: dieses neue Bewußtsein, dieser schmerzhafte Prozeß, der es doch wert ist. Dazu kommt, daß viele von uns es niemals nötig fanden, diesen Zusammenhang durchzudenken; die Unwissenheit-macht-selig Gleichgültigkeit derjenigen, die relative Macht über jene ausüben, die gar keine haben.
Laßt uns als Beispiel die Auseinandersetzung um das Kinderwahlrecht nehmen. Ja, das Recht eines Kindes zu wählen.[2] Dieses Recht wird den Kindern aus verschiedenen Gründen verweigert, und alle sind sie Scheinargumente:

  1. Die Niedlichkeits-Begründung: »Kein Kind (das heißt kein Bürger unter achtzehn, in einigen Staaten der USA auch einundzwanzig) ist reif genug zu wählen.« Wer auch immer dieses Argument erfunden hat, scheint Reife nach körperlicher Größe oder Reproduktionsfähigkeit zu bemessen, denn nirgendwo auf der Welt existiert für den derzeitigen Wahlbürger irgendein anderer Maßstab (wie z. B. einigermaßen umfassende Bildung, finanzielle Unabhängigkeit, emotionale Stabilität, intellektuelle und politische Klarsicht, ein Wissen um die Funktionen des Parlaments und des demokratischen Systems, usw.).
  2. Die Abhängigkeits-Begründung: »Kein Kind ist selbständig genug, um eine eigenständige Wahl zu treffen; ein Kind wird nur als Werkzeug seiner Eltern handeln können und so wählen, wie sie ihm/ihr zu wählen befehlen.« Dieses Argument sollte die Alarmanlage im Bewußtsein jeder Frau zum Klingeln bringen, denn eine Zwillingsbegründung (der Einfluß des Ehemannes) wurde fünfzig Jahre früher als Entschuldigung dafür angeführt, daß den Frauen das Stimmrecht verweigert wurde. Es ist das Beispiel eines sich selbst erfüllenden Konzepts von Besitz: Nehmt zunächst einem Menschen seine Autonomie und macht ihn zu einem Besitzstück, dann verweigert diesem Menschen Rechte, mit der Begründung, daß ein Besitzstück unfähig ist, diese Rechte auszuüben. Die Reaktion der betroffenen Kinder könnte eine ganz ähnliche sein wie damals die der Frauen: »Wer kann denn in der privaten Sphäre der Wahlkabine kontrollieren, wie wir wählen? Es ist doch möglich, daß wir uns vorher informieren. Ehemänner (oder die Eltern) können uns gewiß beeinflussen, doch ihr wäret erstaunt, wenn ihr wüßtet, wie schnell wir diesen Einfluß mit unseren eigenen Gedanken und Wünschen ausgleichen können, wenn wir erst einmal die Möglichkeit dazu haben. Außerdem ist eure Begründung a priori. Ein menschliches Recht ist ein grundsätzliches und ist nicht einschränkbar durch Referenzen, die den Zugang zu diesem Recht gestatten sollen.
  3. Die Unschulds-Begründung: »Kein Kind ist über die tagespolitischen Fragen so gut informiert, daß es vernünftige Wahlentscheidungen treffen könnte (es sei denn, natürlich, die Eltern lieferten die Informationen — aber dann üben sie ja Einfluß aus, und das ist nicht akzeptabel).« Die Logik dieses Arguments erinnert in ihrem lähmenden Schwachsinn so sehr an den verrückten Hutmacher aus Alice im Wunderland, daß man es der Haselmaus im selben Buch gleichtun und sich in die Teekanne zum Schlafen zurückziehen möchte. Erstens ist der erwachsene Durchschnittswähler über »tagespolitische Themen« etwa so gut informiert wie ein Igel über die Luftströmungen in der höheren Atmosphäre. Tatsächlich tun diejenigen an den Schaltstellen der politischen und ökonomischen Macht alles, um den Durchschnittswähler in eben diesem schlecht informierten Zustand zu belassen, trotz aller Gegenbemühungen der Presse. Folglich ist ein unzureichender Zugang zu den Fakten vielleicht nicht die Schuld des Wählers. Auf jeden Fall aber ist es ein Fehler, die eigene erzwungene Unwissenheit nicht wahrzunehmen, sondern statt dessen auf die schmeichelhaften Sprüche der Mächtigen, die uns unwissend halten, hereinzufallen — und dann die eigene Unwissenheit auf andere zu projizieren. Und zweitens kann ein Kind sich Informationen zu den Problemen auf die gleiche Art beschaffen wie auch die Erwachsenen — durch Zeitungs- und Zeitschriftenlektüre, durch Informationssendungen und politische Fragestunden im Fernsehen.
  4.  Die Verspieltheits-Begründung: »Kinder wären doch gar nicht an Zeitungen und Zeitgeschehen und all diesem Zeug interessiert. Sie würden sich langweilen. Warum soll man sie denn damit belasten? Sie wollen doch spielen und Spaß haben.« (Lassen wir mal beiseite, daß die Mehrheit der erwachsenen Wähler die laufenden politischen Ereignisse langweilig findet; 1980 ist fast die Hälfte der amerikanischen Wahlberechtigten nicht zur Wahl gegangen, aus Desillusionierung und Langeweile.) Die Wahrheit ist, daß Kinder sehr ernsthaft spielen, sie meinen es ernst damit. Es ist ihre Art, etwas zu lernen. Die Erwachsenen in unserer Kultur haben den tragischen Irrtum begangen, Spiel und Ernsthaftigkeit zu trennen. Spiel ist nicht leichtfertig oder dumm; es ist eine lebenserhaltende Aktivität. Wenn Erwachsene spielen, werden sie als »Künstler« bezeichnet und mit Kindern verwechselt (oder mit »verweiblichten« Wesen): niedlich, aber nicht ernst zu nehmen. Kinder sind durchaus in der Lage, sich vom Zeitgeschehen faszinieren zu lassen und zu begreifen, wie tief sie davon betroffen sind, nicht nur für den Augenblick, sondern für die Zukunft, die sie erben werden. Und wenn die politische Rhetorik, die Sprache der Gesetzgebung und der diplomatische Jargon für ein Kind unverständlich sein sollten, nun, dafür gibt es doch eine sehr einfache Lösung. Um den neuen Wählerkreis mit den Fakten vertraut zu machen, müßte dieser geheimniskrämerische Code doch nur vereinfacht und klarer gemacht werden! {Stellt euch nur einmal vor, wie betroffen die Mächtigen darüber wären — und stellt euch auch vor, wie der erwachsene Durchschnittswähler davon profitieren würde, der ja auch, wie wir alle wissen, die beabsichtigte politische Vernebelung bei aller Verständnisbereitschaft nicht zu durchdringen vermag.) Welch ein Segen wäre das doch für uns alle! Der Kaiser wäre, in anderen Worten, gezwungen, sich anständig zu bekleiden. Was die »Belastung« der Kinder mit Rechten anbelangt, wie klingt das doch nach dem guten alten Paternalismus: »die Bürde des weißen Mannes« — und auch die Stereotype der glücklichen, sorgenfreien Sklaven auf der Plantage, und der süßen, dümmlichen, kindlichen Frauen, und der edlen Wilden ...
  5. Die Teile-und-herrsche-Begründung: »Aber wo macht ihr die Trennungslinie? Sollte jeder über fünfzehn das Wahlrecht haben? Über zwölf? Acht? Sechs? Werdet ihr denn etwa die Krabbelkinder diskriminieren wollen (ha ha), indem ihr sie ausschließt? Wenn ihr erst einmal damit anfangt, seid ihr verloren! Seht ihr denn nicht, wie unmöglich das alles ist?« Das erinnert ans 19. Jahrhundert, als einige das Wahlrecht zwar für Schwarze, aber nicht für Frauen, und andere zwar für weiße, aber nicht für schwarze Frauen akzeptierten. Gewiß könnte ein so simpler Maßstab wie Grundkenntnisse im Lesen als Richtlinie gelten, um das Wahlalter, zumindest am Anfang, auf sieben Jahre festzulegen. Dann, wenn die Idee einmal Fuß gefaßt hat, könnten die Kinder selbst, zusammen mit den übrigen Wahlberechtigten, die Praktikabilität einer Festlegung des Wahlalters für noch jüngere Bürger diskutieren. Die Voraussetzung der Lese- und Schreibkenntnisse kann natürlich mißbraucht werden. Obwohl es sich dabei um einen objektiven Sachverhalt handelt, ist es eine gerechte »Beglaubigung« nur dann, wenn alle gleichermaßen Zugang dazu haben, wenn Prüfungen frei von kulturellen Werten und Voraussetzungen sind, und wenn sie mehrsprachig sind.
  6. Die Lächerlichkeits-Begründung: »Nun ja, wie auch immer, aber das ist doch lachhaft. Jetzt hör mal, aber jetzt echt\ Wahlrecht für Kinder! Hör mal, das ist doch schlichtweg komisch!« Auch dieses Argument ist den Frauen wohlbekannt: die Lächerlichkeit. Wenn die Pseudo-Logik versagt, dann kommt der Rückgriff auf Spott, Hohn, Verachtung. »Witze« über Rasse, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit, Humor auf Kosten der körperlich Behinderten, das alles sind Produkte dieser Taktik. Wenn unterdrückte Völker in Reaktion auf Witze, die ihre eigene Menschenwürde herabsetzen, nicht mehr liebenswürdig kichern, dann wirft man ihnen vor, sie hätten keinen »Sinn für Humor«. (Offensichtlich hält sich keiner der Mächtigen damit auf, darüber nachzudenken, welch herrlich scharfen Humor die Unterdrückten haben, wenn sie unter sich sind und ihnen niemand zuhört — aber diese Witze gehen dann auf Kosten der Unterdrücker. Wie die Dichterin Alice Meynell einmal feststellte: »Der Sinn für Humor hat andere Dinge zu tun, als sich im Akt des Lachens auffällig zu machen.«) Um das Wahlrecht für Kinder als köstlichen Spaß zu sehen, muß man genau so ignorant und arrogant sein wie diejenigen, die damals den Vorschlag NichtLandbesitzern oder »Negern« (männlichen) oder Frauen das Wahlrecht zu gewähren, als köstlichen Spaß empfanden. Das ist der Humor von moralisch und politisch Bankrotten — und derjenigen, die Angst haben.

Das Beispiel Kinderwahlrecht ist in sich selbst wichtig, aber es ist auch symptomatisch dafür, wie Kinder wirklich dastehen, in einer Kultur, die behauptet, Kinder »über alles zu lieben«. Disneyland, Comics in den Samstagszeitungen und Eiskrem sind, genau wie das vielgerühmte Türaufhalten bei uns, für eine Frau bedeutungslose Galanterien, die einer machtlosen Klasse von Menschen als Ersatz für die wirkliche Anerkennung ihrer Menschlichkeit angeboten werden.
Die Wahrheit über die tatsächliche Achtung von Kindern ist häßlich: ganze Wohnbezirke (und sogar ganze Gemeinden) verweigern Familien mit Kindern das Wohnrecht; Kinder müssen in der reichsten Supermachtsnation der Erde immer noch körperliche Arbeit verrichten — als wandernde Farmarbeiter, als Kleinpächter und in einigen Bergarbeitergemeinden; Kinder haben als Unterklasse innerhalb von »Randgruppen« wie beispielsweise rassischen Minderheiten eine höhere Sterblichkeitsrate, sind nicht annähernd ausreichend mit Nahrung, Kleidung und Erziehung versorgt, die steigenden Zahlen über den sexuellen Mißbrauch von Kindern sind erschreckend. Interessanterweise scheinen die Fundamentalisten (sexuelle, politische und religiöse), die solche Leidenschaft an den Tag legen, wenn sie Föten oder ihre eigene enge Definition der Familie verteidigen, kein Interesse mehr an den Kindern und ihrem Schicksal zu haben, wenn erst einmal der Geburtsvorgang abgeschlossen ist. (Sie sind ja nicht einmal daran interessiert, ob die Föten gesund sind, denn das würde die Sorge um Gesundheit, Ernährung und saubere Luft für noch die ärmste schwangere Frau einschließen; nein — nur auf den Fötus als solchen konzentriert sich ihr Interesse.) Die konservative Rechte hat ihre »Liebe zu Kindern«, auf eigenartige Weise gezeigt: sie hat die Legalität der körperlichen Strafe in der Schule und daheim unterstützt; sie hat Studien über Kin-desmißbrauch und Zufluchtshäuser als »Unterwanderung der amerikanischen Familie« verurteilt; sie hat Lobbytätigkeiten entfaltet, um den Kindern an öffentlichen Schulen die freie Schulspeisung zu entziehen, und sie hat die Kinder ihrer religiösen Selbstbestimmung beraubt (indem sie das Gebet im Klassenraum fordert). Auf die würde ich gar zu gerne eine kindliche Wählerschaft loslassen.
Der sexuelle Mißbrauch von Kindern ist vielleicht das dramatischste Beispiel dafür, wie junge menschliche Wesen wirklich betrachtet und behandelt werden. Da Florence Rush bereits ein überwältigendes Material an Statistik, Geschichte und Analyse zu diesem Thema in ihrem bemerkenswerten Buch Das bestgehütete Geheimnis[3] zusammengestellt hat, gehe ich hier nicht näher auf Details ein. Es ist ein Problem von epidemischen Ausmaßen.
Die bei weitem größte Zahl der Fälle von Kindesbelästigung und Kindesmißhandlung wird von erwachsenen heterosexuellen Männern an weiblichen Kindern begangen (was den Euphemismus »Inzest« entlarvt und den Sachverhalt mit dem genaueren Begriff »Vergewaltigung« benennt). Aber daneben gibt es auch den Mißbrauch von männlichen Menschen durch andere männliche Menschen, was in der Presse sehr oft viel sensationeller dargestellt wird, weil es eine gute Methode ist, männliche Homosexuelle noch mehr als bisher als unmenschlich auszugrenzen. Die Ironie dabei ist, daß der häufigste sexuelle Mißbrauch von männlichen Kindern durch Männer — wie die meisten Vergewaltigungen von Männern durch Männer im Gefängnis — ebenfalls von heterosexuellen Männern verübt wird, die »Schwule nicht ausstehen können«. Die doppelte Ironie, — besonders entmutigend für Frauen, »lesbische wie heterosexuelle«, und für Feministinnen im besonderen —, besteht darin, daß viele Sprecher der schwulen Befreiungsbewegung sich mit ihren heterosexuellen Brüdern zusammengetan haben und diese Praktik als »Knabenliebe« verteidigen. Mit diesem Argument verteidigen sie angeblich das Recht eines Kindes auf sexuelle Betätigung.
Natürlich haben Kinder ein Recht auf ihre eigene Sexualität — und, ja, natürlich gibt es diese Sexualität. Aber Kinder haben das Recht, diese Sexualität nach freier Wahl auszuüben, untereinander, mit den Altersgenossen. Wenn eine viel ältere, größere oder körperlich stärkere Person daran beteiligt ist, dann handelt es sich weniger um eine Frage des Sex als vielmehr der Macht. Wenn einer, der mächtiger ist, behauptet, einer, der ohnmächtiger ist, habe den Sex »herausgefordert« oder sich verführerisch verhalten — klingt das dann nicht ganz vedächtig nach den von Belästigern oder Vergewaltigern vorgebrachten Entschuldigungen? Geht es hier nicht wieder einmal um: Das Opfer ist schuld? Wenn ein Kind sich nach Zärtlichkeit, Schmusen und Zuwendung sehnt, wer darf es wagen, das als »Verführungskunst« zu interpretieren?
Natürlich unterdrückt diese Gesellschaft die enorme und echte sexuelle Vitalität der Kinder (das geht bis zur Unterbindung der Masturbation), aber diese Sexualität kann sich nur dann ohne Schaden und ohne Machtspiele entfalten, wenn sie mit einem anderen (bereitwilligen) Kind stattfindet — ob sie nun homosexuell, heterosexuell oder polymorph zum Ausdruck kommt. Das soll nicht heißen, daß die Partner für eine nicht-zwanghafte Beziehung auf jeden Fall gleichaltrig sein müssen, aber wo immer sich ein größerer Altersunterschied »institutionalisiert«, besonders zwischen prä- und postpubertären Menschen, kann das Machtausübung bedeuten. Und wir sollten inzwischen wissen, was für eine tief zerstörerische Wirkung es hat, wenn in einer sexuellen Beziehung ein Machtgefälle besteht.
Es ist aufschlußreich, daß das Thema »Sex mit Kindern« kaum Diskussionsthema unter Frauen ist — egal welche sexuelle Präferenz sie haben. Das kann meiner Ansicht nach daran liegen, daß Frauen sich mehr um Kinder kümmern als Männer. Frauen werden dazu erzogen, mit dem Körper eines Kindes nährenden Umgang zu pflegen, ein Umgang, der (wie das Stillen) sehr sinnlich sein kann, doch dann in einer ganz anderen Qualität als die Erotik, wie sie in der »Knabenliebe« oder der Leidenschaft zu »Nymphen« zum Ausdruck kommt. Es ist wahrscheinlich, daß es über die größere Beteiligung der Männer sowohl an den Mühen als auch an den Freuden der Kinderpflege zu einer Reduktion der männlichen sexuellen Mystifikation in bezug auf Kinder kommt.
Ein Kind zu haben bedeutet eine drastische Änderung im Leben der meisten Frauen, eröffnet bis dahin unvorstellbare neue Perspektiven des Ich, neue Bereiche von Verantwortung, Entzücken, Erschöpfung, Angst, Ambivalenz und der körperlichen Veränderung.  Man könnte sagen, daß in diesem Sinne »Das Kind die Mutter der Frau« ist. Die sprichwörtliche Zeile bei Wordsworth heißt jedoch »Das Kind ist Vater für den Mann« — in gewisser Hinsicht eine etwas voreilige Prophezeiung, die sich erst dann erfüllen wird, wenn sich die Männer genau so betroffen und engagiert um das Aufziehen der Kinder bemühen, wie Frauen es seit jeher getan haben.
Letztendlich zahlt es sich für alle Erwachsenen ganz schön aus, daß sie den Kindern die Humanität verweigern. Ein Faktor ist, wie wir gesehen haben, reine kompensatorische Macht: »Egal wie relativ machtlos ich auch bin, ich kann immer noch dich herumkommandieren, weil du kleiner bist.« Das kann man als Tyrannei übersetzen. Ein anderer Faktor ist das schmeichelhafte Gefühl, unersetzlich zu sein (das dem Gefühl der Allmächtigkeit, oder wiederum der Macht nahe verwandt ist): »Diese kleine Kreatur braucht mich, um zu überleben, ohne mich wäre sie verloren.« Das kann man als Protektionismus übersetzen.* (* Eine alte und scheinheilige Taktik der Diskriminierung, zum Beispiel durch »beschützende« Arbeitsgesetzgebung (nur für Frauen), die den Frauen den Aufstieg in die mittleren Managementpositionen verbaute.) Ein weiterer Faktor ist die persönliche Unsterblichkeit: »Dieses Kind ist ein Teil von mir, in ihm werde ich weiterleben.« Das kann als Besitzdenken übersetzt werden. Dann der Faktor des Trostes: »Wenigstens meine (sie!) Kinder lieben mich.« Dies kann übersetzt werden in die Annahme, daß die Liebe zu den Eltern eine selbstverständliche und fällige Schuld ist und nicht etwas, das man verdienen muß, wie jede andere Art von Liebe auch. Ein weiterer Faktor ist der der bittersüßen Rache: »Ich bin als Kind geknechtet und zerbrochen worden. Jetzt bin ich dran.« Das läßt sich bequem unter dem Mäntelchen des Spruches verstecken, daß Erwachsene »wissen, was gut für« Kinder ist — genau wie Männer wissen, was gut für Frauen ist, Weiße, was gut für Schwarze ist, und Industrienationen, was gut ist für die Dritte Welt, und so weiter.
Das sind reale und auf traurige Weise befriedigende Kompensationen — und letzten Endes werden sich die Erwachsenen ihrer erst dann nicht mehr bedienen können, wenn das erwachsene Bewußtsein sich weitet und erkennt, was eigentlich klar sein sollte: daß jede/r von uns ein Kind gewesen ist und im Innern immer noch ist; das Kind, das unterdrückt wird. Sich zu erinnern wagen, wie sich das angefühlt hat: wieviel mehr man wirklich wußte als die Erwachsenen glaubten, daß man wußte; wie sehr man Intimsphäre und Respekt zu schätzen wußte; wie lebenswichtig die eigene Neugier war und wie intensiv das Begehren; wie tief man die Dinge empfinden konnte, wie groß die Fähigkeit war, Freude und Wut und Leid zu spüren, wie wirklich es sich anfühlte, man selbst zu sein. Diese Erinnerungen, vergraben, aber immer noch so lebhaft wie sinnliche Erinnerungen, würden, könnte man sie zugeben, es den Erwachsenen unmöglich machen, die Menschlichkeit der Kinder zu versachlichen, zu trivialisieren oder zu verwerfen.
Als Erwachsene sind wir schließlich lediglich erwachsene weibliche Kinder und erwachsene männliche Kinder. Vielleicht können wir nicht in allen Einzelheiten erfassen wie es ist, Angehörige/r eines anderen Geschlechts, einer anderen Rasse oder Kultur zu sein, doch die Kindheit ist ein Ort, an dem wir alle schon einmal gewesen sind. Die eigenen Ursprünge zu verleugnen oder zu versuchen, das zu kompensieren oder zu rächen, was einem angetan worden ist — das heißt nicht nur, den Teufelskreis fortzuführen und andere menschliche Wesen zu erniedrigen, das heißt auch, uns selbst zu verleugnen und zu erniedrigen.
Irgendwann müssen wir endlich denen verzeihen, die uns in diese Welt gerufen haben. Dann können wir vielleicht anfangen so zu handeln, daß uns nicht von denen verziehen werden muß, die nach uns kommen.

GRAUE PANTHER UND ROTE RIESEN
Könnten wir lernen zuzugeben, daß in jedem von uns das Kind, das wir einmal waren, herausschreit: »Ich bin immer noch hier drin«, dann hätten wir auch die Freiheit, uns am anderen Ende des Lebenskontinuums zu umarmen: Vielleicht könnten wir die tiefe Wahrheit der Achtzigjährigen verstehen, die versucht, uns mitzuteilen: »Ich bin immer noch ich hier drinnen!« Stattdessen geben wir uns damit zufrieden, die Lüge des Alterns zu erlernen, geben uns damit zufrieden, die Maske des »älteren Menschen« anzulegen.
Diese Maske schließt, wie die der Kindheit, Züge ein, die widersprüchliche Reaktionen hervorrufen — scheinbare Verehrung, in Wirklichkeit Ablehnung. »Senioren« ist der euphemistische Ausdruck für ein Volk, das einen Zustand bewohnt, den unsere Kultur zu ignorieren oder zu leugnen versucht. Und wenn das versagt, dann reagiert sie bestenfalls mit irritierender Herablassung und schlimmstenfalls mit offener Verachtung.
Wieder bringt die konservative Rechte auf krasseste Art diese Haltung: hier abstrakter Respekt, da konkreter Haß zum Ausdruck. Anläßlich der 1981 im Weißen Haus stattfindenden Konferenz über Probleme des Alterns leierte der einundsiebzigjährige Präsident Ronald Reagan sein Sohnes-Geblöke der Wertschätzung für »unsere Senioren« herunter — und drängte doch die ganze Zeit schon die Vewaltung, Mittel und Wege zu finden, um die Rentenreform, die medizinische Versorgung und die Lebensmittelmarken für die Alten, ja selbst die Sozialversicherung abzuschaffen. (Delegierte der Konferenz erhoben sich unter Buh-Rufen des Protestes — gegen die Art, in der das Reagan-Budget mit seinen Einschränkungen die Lebensgrundlage der Menschen mit unverändertem Einkommen vernichtet, gegen die »gezinkte« Tagesordnung und gegen den manipulierten Teilnehmerkreis der Konferenz selbst.)
Traurig aber wahr, daß die Linke, obschon ihre Forderungen nach Maßnahmen zur Konzeption und Ausführung einer anständigen Gesetzgebung und ihre konkreten Programme für die Alten sehr viel besser sind, sich in ihrer Haltung kaum unterscheidet. Die Antikriegs-, Bürgerrechts- und Studentenbewegungen der sechziger und frühen siebziger Jahre liebten den Slogan »Trau keinem über dreißig«. Sogar die Frauenbewegung — die weiter ging als irgendeine andere progressive Bewegung, um die politischen Probleme und die Stärken älterer Menschen sowohl in der Theorie als auch in der Praxis zu integrieren — bringt immer noch viel zu häufig eine »mütterliche« Gönnerhaftigkeit zum Ausdruck. Ich habe selbst sich jugendlich gebende Radikalfeministinnen gehört, die ihre Grauen-Panther-Schwestern als »süß« bezeichneten. Eine neue und angeblich liebevolle Form für das Stereotyp von der »kleinen alten Dame in Tennisschuhen«, die wirklich eher Herabsetzung als Anerkennung bedeutet.
Die Diskriminierung und Verspottung des Alters und zugleich die Angst davor wirkt sich für Frauen noch intensiver und vernichtender aus. Wie üblich. Hier wie überall gibt es einen doppelten Maßstab: Es ist ein feministisches Klischee, daß ein alternder Mann »distinguiert« sein kann, während eine alternde Frau »auf dem absteigenden Ast« sitzt. Und leider steht die westliche Kultur mit dieser Haltung nicht allein da. Tatsächlich sind in den meisten Industrieländern die ökonomischen und sozialen Probleme des Alterns die Probleme von Frauen, weil es mehr alte Frauen als alte Männer gibt.
In Japan zum Beispiel beträgt die durchschnittliche Lebenserwartung einer Frau fünf Jahre mehr als die eines Mannes; zudem will es die Tradition, daß die Frau einen wesentlich älteren Mann heiratet, so daß sie noch viel länger verwitwet ist. Eine »mannlose« Frau jeden Alters ist in Japan immer noch so gut wie unsichtbar — eine ältere »mannlose« Frau umso mehr. Die materielle Existenz einer Ehefrau hängt von der Altersrente ihres Mannes ab, doch wenn er stirbt, wird die »Überlebensrente« um die Hälfte gekürzt. (Dies ist nicht der Fall, wenn die Frau stirbt.) Die Möglichkeit einer zweiten Eheschließung ist so gut wie ausgeschlossen; ein berühmtes japanisches Sprichwort sagt: »Je jünger eine Ehefrau umso besser, wie bei einer Tatami (Fußmatte).« Da sie alleingelassen ist, in Armut, ohne irgendeine andere Ausbildung als die zur Hausarbeit und zur Dienerin ihres Mannes, hat die gegenwärtige Generation der alten Japanerinnen die höchste Selbstmordrate aller älteren weiblichen Menschen in der ganzen Welt. Die stereotype westliche Vorstellung, daß die asiatischen Kulturen die Alten ehren, trifft nur auf die -männliche ältere Generation zu.* (* Diese Einblicke verdanke ich Keiko Higuchi, Akiko Tomii und Mallica Vajrathon, der Sprecherin auf der Sitzung während der UNITAR-Konferenz über Kreative Frauen in sich wandelnden Kulturen in Oslo, 1980 — wo dies zur Sprache kam.)
Es gibt natürlich auch andere Kulturen, die eine deutlich andere Haltung zum Tod zeigen. Die meisten indianischen Völker, wie auch die meisten eingeborenen Völker Asiens und Afrikas haben die Alten (einschließlich der alten Frauen) als Quelle der Stammesweisheit und Erfahrung angesehen, manchmal auch als heilige Wesen. Sogar in einigen patriarchalen Kulturen war der Respekt vor dem Alter so stark, daß er die Mißachtung der Frau überwand: ein weibliches menschliches Wesen, das im gebärfähigen Alter gekauft, verkauft, zum Besitzstück werden, geschlagen und auf andere Art depersonalisiert werden konnte, wurde, wenn es die Menopause hinter sich hatte, mit großem Respekt behandelt. (Bedauerlicherweise bedeutete das meistens, daß sie nicht länger als »Frau« galt, sondern als ein Wesen, das einem dritten, geschlechtslosen Geschlecht angehörte. Offensichtlich kannst du nicht beides sein, weiblich und menschlich.)
Auch im westlichen Kulturbereich gilt die Frau nach der Menopause als weniger »weiblich« (wieder einmal sexueller Fundamentalismus), wird aber nicht im Ausgleich dafür respektiert. Weil in unserer Gesellschaft das Produzieren und die Produkte (und die Reproduktion) höhere Wertschätzung genießen als Verständnis oder Weisheit, gilt eine ältere Frau als unnütz, als unproduktiv, nicht nur als drittes Geschlecht, sondern auch als fünftes Rad. Und tatsächlich wird von ihr erwartet, daß sie sich dieser Einstellung gegenüber kooperativ verhält; eine Rebellion dagegen hieße, sich der Lächerlichkeit preisgeben. Dies tägliche Bombardement durch Propaganda mit Strafandrohung für den Fall einer möglichen Rebellion zeigt sich besonders tragisch und deutlich in dem weit verbreiteten Gefühl der Schmach und der Trauer und in dem körperlichen Elend, die immer noch mit der Menopause verbunden sind (und in der vertuschenden Heimlichteuerei in bezug auf die vergleichbaren körperlichen Veränderungen beim alternden Mann). Während des letzten Jahrzehnts haben die Feministinnen viel getan, um das Bewußtsein und das Gewissen gegen diesen verletzenden Mythos und die medizinisch/psychologischen Vergehen an Frauen während oder nach der Menopause wachzurufen. Das informative und aufrüttelnde Buch von Rosetta Reitz, Wechseljahre. Ermutigung zu einem neuen Verständnis[4] ist ein wichtiger Beitrag zu diesem Gebiet.
Im Vergleich dazu wurde das Stereotyp (für Männer und auch für Frauen, aber besonders für die letzteren), daß sexuelles Begehren mit dem Alter verschwindet, erst in letzter Zeit in Frage gestellt. Das Buch von Bernard D. Starr und Marcella Bakur Weiner Liebe und Sexualität in reiferen Jahren[5] berichtet über eine Untersuchung auf nationaler Ebene, deren Ergebnisse zeigen, daß Sex im Alter, besonders für Frauen, besser wird — mit längeren und intensiveren Orgasmen und einer neuen Bereitschaft, verschiedene sexuellen Praktiken einzubeziehen: Masturbation, homosexuelle Liebe, Phantasien, Bereitschaft zu Experimenten, und oral-genitaler Kontakt. Vorher hatten die Forscher aus dem weniger häufigen Sexualkontakt zwischen alten Menschen den falschen Schluß gezogen, dies sei auf eine Minderung des Sexualtriebs zurückzuführen — und dabei solche konkreten Hintergründe wie schlechte Gesundheit, Mangel an Kontaktmöglichkeiten, Scheidung, Tod des Partners usw. übersehen. Es war vielen Forschern nicht in den Sinn gekommen, die Alten zu fragen, was sie gerne machen würden — und was sie tatsächlich machten. Den Bemühungen der damaligen Forscher stand das sexual-fundamentalistische Vorurteil im Weg, daß sexuelle Aktivität — »wie es sich gehört« — auf die Jahre zwischen zwanzig und fünfzig beschränkt sei — die Jahre der »akzeptablen« sexuellen Reproduktion. (In ähnlicher Weise versucht unsere Gesellschaft immer noch die Konsequenzen der jugendlichen Sexualität — und Reproduktion — zu übersehen, während sie doch gleichzeitig mit korporativer Abgebrühtheit Sex an halbwüchsige Konsumenten verkauft.)
Trotzdem ist vieles in Bewegung geraten. In den siebziger Jahren begann der Trend, später zu heiraten und später Kinder zu bekommen (was nicht zuletzt auf das Verlangen der Frauen zurückgeht, sich in einem Beruf zu etablieren, bevor sie Mütter werden). Dies ist ein positives Zeichen, das sicher in unserer Kultur auch dort seine Auswirkungen haben wird, wo es um die gesellschaftliche Stellung älterer Menschen geht. (Die Frau von fünfundvierzig Jahren, die zu Beginn des Jahrhunderts für alt befunden wurde, weil sie Großmutter war, kann heutzutage sehr wohl eine junge Mutter mit einem erstgeborenen dreijährigen Kind sein. So etwas erschüttert die starren Denkmuster.)
Es ist nicht verwunderlich, daß die erste Anfechtung der sexual-fundamentalistischen Sitten von den neuen Entwicklungen in der Sexualität und Reproduktion ausgeht. Aber es entbehrt nicht der Ironie, daß (wieder einmal) gerade das Kinderkriegen zum Mittel wird, um die Alters- und Geschlechtsstereotype zu durchbrechen, und weniger die anderen nicht geschlechtsbezogenen menschlichen Fähigkeiten wie lebhafter Intellekt, Gefühlstiefe, Lebenserfahrung, Engagement und Leistung im Beruf. Das würde natürlich eine veränderte gesellschaftliche Einstellung zur »Arbeit« voraussetzen. Es ginge weniger darum, sich die Arbeitskraft von Menschen zunutze zu machen, als sich vielmehr darauf zu konzentrieren, die Menschen zu solcher Arbeit zu ermutigen und sie darin zu schulen, die die Arbeiterin und den Arbeiter nicht um des Profits eines anderen willen von ihrem/seinem Produkt entfremdet (in der abgenutzten aber korrekten marxistischen Terminologie).
Das Bedürfnis nach sinnvoller Arbeit — womit ich etwas meine, das frei gewählt ist, das man gerne tut, etwas, zu dem man einen leidenschaftlichen Bezug hat — steht im Zentrum des Altersprozesses. Gerontologen haben darauf hingewiesen, wie sehr der erzwungene Ruhestand den Tod eines Menschen beschleunigen kann: arbeitende Menschen, die sich ihr ganzes Leben lang beschäftigt und nützlich gefühlt haben, werden nun weggeworfen, und ihnen wird nicht gestattet, die Erfahrungen eines Lebens an anderer Stelle anzuwenden. Unser Erziehungssystem bereitet Bürger aller Altersstufen nicht auf ein »Leben des Geistes« vor — und wenn sie endlich genügend Zeit zum Lesen, zum Konzertbesuch und zur Beschäftigung mit den Reichtümern der Kultur hätten, sitzen sie statt dessen vor dem Fernseher, der ihnen hauptsächlich geisttötenden Einheitsbrei anbietet. Das relativ neue Konzept einer zweiten Karriere am Lebensabend findet einen gewissen Anklang, aber daß Individuen, die das tatsächlich gewagt haben, die Aufmerksamkeit der Medien erregen, zeigt wohl, daß sie als Ausnahmen die Regel bestätigen. Und die journalistischen Lebensprofile solcher Pioniere haben einen Beigeschmack von »Schrulligkeit« und »Tapferkeit«.
Da in unserer Kultur eine leidenschaftliche Hinwendung auf allen Gebieten — tiefe Gefühle, Liebe zum eigenen Beruf, die lebenslange Hingabe an eine Berufung oder die Verteidigung einer Überzeugung — als ein wenig seltsam angesehen wird, ist es kaum verwunderlich, daß eine solche Haltung bei unseren älteren Mitbürgern als ganz besonders verrückt gilt. In ihrer letzten und größten Rede »The Solitude of Self« (Die Einsamkeit des Selbst) sagt Elizabeth Cady Stanton mit der ihr eigenen Leidenschaft und Ausdrucksfähigkeit zu diesem Thema:

  • »Im Alter, wenn die Freuden der Jugend vergangen sind, die Kinder erwachsen sind ... wenn die tätigen Hände müde werden ... dann müssen sich Männer und Frauen auf ihren eigenen Erfindungsreichtum besinnen. Wenn sie sich nicht mit Büchern anfreunden können, wenn sie kein Interesse an den wichtigen Themen der Gegenwart haben, kein Interesse daran, die Auswirkungen der Reformen zu beobachten, die ihnen vielleicht einstmals am Herzen lagen, werden sie bald in Vergreisung übergehen. Je vollständiger die geistigen Fähigkeiten entwickelt und bewahrt werden, desto länger wird die Zeitspanne der Lebenskraft und des aktiven Interesses an allem um uns herum andauern.«

Das erinnert mich an die Bildhauerin Adelaide Johnson, die 1955 im Alter von 108 Jahren starb. Johnson war eine aktive Frauenrechtlerin und wurde »Die Künstlerin der Neuen Frau« genannt. Von ihr stammt die berühmte Skulptur, die in der Rundhalle des Kapitols der Vereinigten Staaten steht: ein einzelner Marmorblock, aus dem sich die Büsten von Susan B. Anthony,   Elizabeth  Cady Stanton und Lucretia Mott erheben.

Johnson hat auch andere führende Feministinnen ihrer Tage gestaltet, unter anderem Isabelle Beecher Hooker, Helen Densmore und Ellen Hardin Walworth. Am berühmtesten wurden jedoch ihre verschiedenen Marmorportraits von Anthony (von denen sich eine im Metropolitan Museum in New York befindet); eine von ihnen war die Vorlage für die Anthony-Briefmarke. Johnson machte ihr ganzes Leben zum Kunstwerk, umgab alles, was sie tat, mit ihrer Intensität. Sie studierte in Italien, danach unterhielt sie ein eigenes Studio — zuerst in Illinois und später, bis an ihr Lebensende, in Washington D. C. Sie hatte sich zum Ziel gesetzt, für alle führenden Feministinnen »ein Marmorpantheon zu errichten«, damit das, was sie als »dieser große Gedanke von der Freiheit der Frauen« bezeichnete, den sterblichen Körper überleben und die Vorstellungskraft der Welt durch die Kunst beflügeln sollte. Als sie den Engländer Alexander Jenkins heiratete, nahm er ihren Namen an — und sie, die immer schon ihre eigene auffallende aber praktische Kleidung entworfen hatte, entwarf auch ihre Hochzeitsgewänder: beide trugen lange Hosen; der Bräutigam ganz in Weiß, die Braut in Schwarz. Doch im Jahre 1939 zerschmetterte Adelaide Johnson (sie war 92) das Stereotyp vom drollig-wunderlichen Alter mit ihrer dramatischsten Geste.
Damals drohte ihr die Vertreibung aus ihrem Haus gegenüber dem Obersten Gerichtshof, nachdem die Hypothek vorzeitig für verfallen erklärt und das Haus ohne ihre Zustimmung zur Auktion freigegeben worden war. Geld, das ihr, wie sie behauptete, der Staat als Bezahlung für ihre Skulpturen schuldete, war nie gezahlt worden. Die »Drehstuhl-Kunstexperten«, wie Johnson sie nannte, in den Kunstgalerien in Washington, einschließlich des Mellon, wollten ihre Werke nicht kaufen mit der Begründung, daß sich niemand für ihr Thema interessierte. »Darüber hinaus«, sagte sie, »erzählten die mir, sie würden kein Werk eines Künstlers kaufen, der nicht schon vierzig Jahre tot ist.« Sie war verarmt und im Begriffe, heimatlos zu werden.
Also alarmierte sie die Presse[7] und begann, ihre Marmorplastiken zu zerschlagen. Während die Reporter verdutzt daneben standen, legte die 1,52 Meter große Frau ihren Hammer an Büsten von Anthony und Stanton an (und von Lincoln und Logan). Dabei soll sie gesagt haben: »Ich werde alles zerstören — das ganze Werk, das Rockefeller's Geld nicht kaufen kann — mein Werk, das Leben des Tons, das Fegefeuer des Gipses und das Paradies des Marmors. Die Geschichte dieser Skulpturen ist wie die Geschichte der Frauenbewegung. Ich habe das Provisorium satt. Ich bin der Ungewißheit müde.«
Es wirkte. Innerhalb einer Stunde tauchten diverse nervöse Kongreßabgeordnete auf und versuchten, Johnson zu beruhigen, boten ihr persönliche Schecks an von fünfzig Dollar hier und hundert Dollar da, erinnerten sie daran, daß draußen die Sonne schiene und versprachen, daß Hilfe unterwegs sei«. Einen dieser Herren fauchte sie an: »Ich weiß, daß draußen die Sonne scheint. Ich habe ja Augen im Kopf. Lassen Sie mich in Ruhe mit Ihrer Gönnerhaftigkeit. Was wissen Sie denn überhaupt? Sie sind nicht alt, Sie sind keine Frau, und Sie sind kein Künstler.«
Aber Hilfe kam doch, allerdings nicht vom Kongreß. Einzelne Personen — vor allem Frauen — sandten spontan Geld von überall her im ganzen Land, wo die Geschichte von Johnson durch die Presse gegangen war. Ihr Haus wurde finanziell abgesichert. Galerien fanden ihre Werke mit einem Mal »verkaufsträchtig«. Für die restlichen Jahre ihres Lebens wurde sie gefeiert und geehrt — im Weißen Haus, bei der Eröffnung von Museen, bei Sonderausstellungen ihrer Werke. All das fand sie »höchst amüsant«.
Es ist offensichtlich — sogar eine Platitüde — daß unsere Werte alle verquer sind. Alter als solches hat noch keinen Eigenwert. Schließlich kann jeder alt werden; und tatsächlich können es die Schildkröten besser als irgendwer sonst. Es geht um das einzigartige Selbst, das Individuum im Körper innen drin, das »alt« wird. Doch wenn menschliche Wesen in Kategorien eingeteilt werden wie MANN oder FRAU oder Kinder oder Rassen oder Klassen oder Nationalitäten oder Die Alten, dann muß man sich nicht auf die holistische Beziehung zwischen jedem dieser einzigartigen Individuen einlassen.
Die Alten, dann muß man sich nicht auf holistische Beziehung zwischen jedem dieser einzigartigen Individuen einlassen.
Der physiologische Prozeß des Alterns selbst ist immer noch ein Geheimnis, und die wissenschaftlichen Theorien dazu sind sehr unterschiedlich: Eine führt den Altersprozeß auf Veränderungen des Zellgewebes im genetischen Getriebe zurück (die DNS und ihr angeschlossener Apparat der Proteinerzeugung) — das »Getriebe« könnte verschleißen und die Fähigkeit zur Eigenreparatur verlieren, oder der Vorrat an (»Ersatz«-)Genen könnte erschöpft sein. Oder es gibt vielleicht tatsächlich ein Gen des »Alterns«, das in die DNS hineinprogrammiert ist und zu einem bestimmten Zeitpunkt der Entwicklung in Gang gesetzt wird. Es gibt außerdem die Theorie der »freien Radikalen«. Sie behauptet, daß »freie Radikale« (unstabile Atome, die Teil des Prozesses sind, in dem eine Zelle Nahrung in Energie verwandelt) in ein revolutionäres Stadium eintreten und als »hoch reaktive Chemikalien« agieren, »die mit allem um sich herum Verbindungen eingehen«, wie es der Gerontologe Alex Comfort ausdrückt. Diese Atome können, wenn sie nicht durch Enzyme ausgeglichen werden, die Zellstruktur verletzen (ihr kennt ja diese verrückten freien Radikalen!); aber mit der Zeit sinken die Enzymspiegel, und das Gleichgewicht geht verloren. Noch andere Theorien führen den Altersprozeß auf eine Autoimmunität zurück: Nachdem der Thymus jahrelang Immunstoffe gegen fremde »Bedrohungen« produziert hat, schrumpft er, und der Körper wird letztendlich gegen sich selbst immun und produziert auf diese Weise Alter. (Dies hört sich wie eine biologische Warnung vor einer Wir-gegen-die-anderen-Einstellung dem Leben gegenüber an.) Wieder andere Theorien suchen nach einem Altersoder Todes«hormon«, das zu einem vorbestimmten Zeitpunkt im Gehirn von der Hypophyse freigesetzt wird.
Doch währenddessen schreit innen drin das menschliche Wesen auf: »Ich bin alt und sitze hier und denke, was wäre, wenn ich noch eine Chance hätte? Ich weiß, daß ich sie nutzen würde«, wie Louise Hiett von den Cheyenne River Sioux es so bewegend gesagt hat.[9] Nach außen hin trägt die Gesellschaft die Maske sorgfältig und unter Zwang auf das lebende Fleisch auf, Schicht um Schicht. Und was wäre, wenn jede/r von uns auf ihre/seine Art anfinge, sie abzustreifen? Was wäre, wenn die Wahnvorstellungen über das Alter genau so durchlöchert würden wie die vom Jungsein?
Was wäre zum Beispiel, wenn jede von uns das »Unsägliche« ausspräche, und wir unser Alter genau so locker angäben wie unsere Namen und Adressen? Gloria Steinem, die schon seit einiger Zeit ihr Alter preisgibt, trifft auf ungläubiges Staunen, wenn die Leute erfahren, daß sie achtundvierzig ist. »Aber Sie sehen großartig aus«, rufen die Leute aus, »Sie sehen überhaupt nicht wie achtundvierzig aus!« Und Gloria antwortet dann: »Aber genau so sieht achtundvierzig aus. Wir sind schon so lange gezwungen worden, uns um unser Alter herumzulügen, daß wir uns nicht einmal mehr daran erinnern, wie ein bestimmtes Alter eigentlich aussieht.«
Und was das betrifft, wie wäre es, wenn wir uns bewußt weigerten, uns »jung zu verhalten«? — Genug der krebserzeugenden Haarfärbereien und der Folterungen des Fleisches, um »vorzeigbar« zu erscheinen. Was wäre, wenn wir uns bewußt dafür entschieden, uns älter, uns mit einem Bewußtsein für das Zeitliche zu verhalten, einem Sinn für drängende Energie, Konzentration auf die wichtigeren Dinge, auf den Lebensgenuß, der möglicherweise mit dem Alter kommt? Was wäre, wenn wir nicht passiv warteten, bis uns eine hervorragende Altersweisheit zuteil wird, sondern sie jetzt sofort in uns selbst suchten und forderten? Und danach lebten?
Ich fing an, das auszuprobieren, nachdem ich die damals zweiundsiebzig Jahre alte Katherine Hepburn kennengelernt hatte. Katherine Hepburn ist immer noch ein Wesen, das es fertigbringt — wie ein Elektron — an allen Punkten ihres Wirkungskreises zugleich zu sein. Nun, was wäre, wenn ich lebte, als sei ich zweiundsiebzig? Zu meinem Erstaunen fand ich heraus, daß es funktionierte: ich fühlte meine Wirbelsäule gerade werden, meinen Schritt sich beschleunigen, meine Stimme ein höfliches aber bestimmtes Nein sagen zu drei Dingen, die anstanden, die ich aber nicht wirklich tun wollte. Die Gegenwart meiner geliebten Familie und meiner lieben Freunde erschien mir gleichermaßen kostbar »als Leihgabe« und mußte genossen werden. Den Wind in meinen Schritten empfand ich als scharf und frisch; eine gewöhnliche Tasse Tee war eine Köstlichkeit. Die Fähigkeit und die Besessenheit zur kreativen Arbeit waren ein wundervolles Geschenk. Ich brauchte niemals Zustimmung für irgend etwas.
Und wahr ist außerdem, daß ich, seit ich vierzig geworden bin, dem, Was Andere Denken, gleichgültiger gegenüberstehe. Noch vor nur fünf Jahren hätte ich nicht gewagt, einige Passagen dieses Buches zu Papier zu bringen, aus Angst »zu verletzen«: Heterosexuelle oder Homosexuelle, Radikale oder Liberale oder das Mittelstandsamerika, Männer — oder Frauen. Ich habe den Verdacht, daß schon immer eine freie exzentrische, grillenhafte, wunderbar weise, rauhe alte Frau in mir eingesperrt war, die versucht herauszukommen. Sie muß es schon einmal probiert haben, als ich sechs war — und ihr wurde die Tür vor der Nase zugeknallt. Ich weiß, daß sie es wieder versuchte, als ich etwa siebzehn war — und wieder knallte die Tür zu. Ich denke, daß ich sie seitdem durch ein verborgenes Leck »ausrinne«, und so heiße ich denn jeden neuen Pigmentflecken, jedes graue Haar willkommen, worin mir die Entelechie angezeigt wird, durch die ich ihr Kommen spüre, und mache mich bereit für ihre Befreiung. Jeden Tag probiere ich sie mehr und mehr aus. Und sie reagiert darauf, indem sie mich mich physisch gesünder fühlen läßt, besser, stärker, sinnlicher, glücklicher mit mir selbst, mein Leben besser in der Hand und intelligenter, als ich mich jemals zuvor gefühlt habe. Sie überrascht mich laufend — mit ihrem politischen Durchblick, mit ihrer Beherrschung literarischer Techniken, mit ihrer Selbstsicherheit (nichts davon scheint schon wirklich mir zu gehören, aber ich tue was ich kann, um hineinzuwachsen).
Vor einigen Jahren sprach ich im westlichen Massachusetts vor einer Versammlung zur Unterstützung von Studentinnen, die ein Gebäude besetzt hatten; es ging um bösartigen Sexismus in der Studentenzeitung der Universität. Nach der Versammlung konnte ich nicht widerstehen und suchte die Frauen in dem Gebäude auf — ich krabbelte durch die Barrikade, gab das vereinbarte Klopfzeichen und Losungswort und traf endlich auf das vertraute, freundschaftliche Chaos des Sit-ins selbst: kaum Platz, überall die Krümel von Kartoffelchips, Telefone, die unaufhörlich läuteten, das Klappern zweier Schreibmaschinen, die Seite um Seite Stellungnahmen des Kollektivs herausstampften, Positionspapiere, Presseerklärungen, Flugblätter — und die herrlichen klassischen Beschwerden eines feministischen Sit-ins: »Jetzt habe ich so lange meine Haare nicht mehr waschen können, daß es bald ausfallen wird!« »Hat irgendwer ein Tampon?« und »Ich warne euch, wenn wir festgenommen werden, und die Bullen foltern mich, indem sie mir chinesisches Essen unter die Nase halten, dann nenne ich Namen und sage Alles!« Wir setzten uns zusammen und machten einen kurzen Brainstorm zu den taktischen Problemen — und erst, als mir die leise Ahnung kam, daß ich hier als die visitierende feministische Graue Eminenz angesehen wurde, realisierte ich mit einem Schock, daß die meisten Frauen im Raum — im Alter zwischen siebzehn und achtzehn Jahren — meine Töchter hätten sein können. Aber das Lustige daran war, daß mich das entzückte. Zuerst einmal waren sie ja in gewisser Hinsicht wirklich meine Töchter, und auch meine Schwestern. Und zweitens übernahmen sie die Fackel, noch bevor irgendeine Frau aus meiner Generation sie fallengelassen hätte. Drittens war ich, obwohl unsere Jeans und Stiefel identisch waren (ich bin nicht so blöd, daß ich bei einer Demonstration Schuhe mit Absätzen trage), doch älter — und hatte ihnen deshalb etwas zu bieten, einige schwer-erkämpfte strategische Methoden, die sie trotz all ihres Idealismus und ihrer jugendlichen Energie noch nicht kennen konnten. Nie habe ich mich so alt und so jung gefühlt, so überflüssig und so benötigt wie an jenem Nachmittag in dem wundervollen, vermieften Raum. Ich gab ihnen ihre eigene Vergangenheit (und ihre Zukunft). Sie gaben mir meine eigene Zukunft (und meine Vergangenheit). Aus so einer Zusammenarbeit entsteht eine lebendige, dynamische Gegenwart.
Es war ein Anlaß, mich auf eine Phantasie zu besinnen, die ich mit einigen engen Freundinnen schon lange teile: das Feministische Altersheim. Weil viele Feministinnen nicht mit Männern zusammenleben und weil auch diejenigen, die es tun, das statistische Risiko tragen, ihre Männer zu überleben, und weil es in jedem Fall besser ist, sich die Familie unabhängig auszusuchen, statt sich in Abhängigkeit an die Familie wenden zu müssen, träumen wir von dieser Alternative.
Jede Stadt hätte, sagen wir mal, ein oder zwei »Zweige« des Heims — einen direkt im Zentrum und einen auf dem Land, so daß die hoffnungslos verstädterten Aktivistinnen wie auch die unnachgiebig naturliebenden Seelen ihre eigene Nische finden, und sich natürlich mal da mal dort aufhalten könnten. Über der Tür zu jedem Gebäude stünden die eingravierten Worte von Elizabeth Cady Stanton: »Ich soll im Alter nicht konservativ werden«. In dem Gebäude hat jede ihre eigenen Räumlichkeiten (dieses »Zimmer für sich allein«, ihr wißt ja schon), dann gibt es die gemeinsame Küche, Bücherei und die gemeinsamen Wohnräume. Jede persönliche Suite ist ausgestattet mit einer Schreibmaschine, einem internationalen WATS-Line Telefon, weiß-der-himmel vielleicht mit Fernschreiber und Computer — denn es sind ja schließlich Aktivistinnen. Eine Busflotte steht bereit, um uns alle jederzeit zu Demonstrationen zu karren. Nach dem Rotationsprinzip geben wir abwechselnd »Ovulare« — statt Seminare — für jüngere Feministinnen, die bei uns ihr Praktikum als Hilfsadjutantin machen. Medizinerinnen (natürlich) sind jederzeit im Bereitschaftsdienst, falls eine sich mal komisch fühlen sollte. Wir haben unsere eigene Setzmaschine und Druckerei, unser eigenes Radio- und Fernsehstudio nebst Sender, unseren eigenen Generator, unser eigenes kommunales Orchester, unsere eigene Kammermusikgruppe, Jazz- und Mariachiband, unseren eigenen artesischen Brunnen, unseren eigenen Marijuanagarten, unsere eigene Sporthalle (für Konditions- und Karatetraining). Mit dem Einverständnis der Gemeinschaft oder des Kollektivs wird Liebhabern oder Gatten und Kindern (jedweden Geschlechts und Alters) der Aufenthalt gestattet. Mahlzeiten aus braunem Reis mit Gemüse, chinesisches Essen, Knischen und Blintzen*, (* Fettgebackenes und gefüllte Pfannkuchen (A.d.Ü.)) Hühnchen und Schweinerippchen, mexikanische Tacos, Pizza, Sachertorte und Pina Coladas werden regelmäßig auf den Tisch gebracht. Die Medizinerinnen haben (1) Verständnis dafür oder (2) nichts dazu zu sagen. Abwechslung, Engagement und Ausgelassenheit geben den Ton an. Eine Freundin hat vorgeschlagen, daß das Traumheim einmal in der Woche eine Gruppe von »Tanzknaben« beschäftigen soll, komplett mit Glöckchenreifen um die Füße, aber der Rest von uns hat ein Veto dagegen eingelegt, weil wir das als sexuelle Verdinglichung betrachten. Die Möglichkeiten sind zahllos, und es ist ein angenehmer Zeitvertreib, einfach drauflos zu phantasieren, welche Änderungen wir in unserer »alternativen Institution« noch anbringen könnten. Jetzt brauchen wir — wie üblich — nur noch eine Lösung für das finanzielle Problem.
Aber allen Ernstes, menschliche und befreiende Institutionen wie die oben beschriebene sind wirklich notwendig — und selbstverständlich nicht nur für ältere Feministinnen. In einigen Fällen mag körperliche Schwäche oder Krankheit ein bestimmender Faktor des Alterns sein — doch Isolation, Vereinsamung, Mangel an Aktivität, das Gefühl, nutzlos und fehl am Platze zu sein, und die Erniedrigung durch Abhängigkeit müssen nicht sein. Und auch die Armut, die heute so viele ältere Menschen vernichtet, wäre in einer fürsorglichen Gemeinschaft nicht unvermeidlich.
Die Astrophysik hat das Leben eines Sterns vom Blauen Riesen (dem jungen Stern) über den Gelben Riesen (dem mittelalten Stern) bis hin zum Roten Riesen aufgezeichnet. Der alternde Rote Riese gibt das wärmste Licht ab, wenn er sich darauf vorbereitet, sich zu dem machtvoll kompakten Weißen Zwerg zu verdichten, oder zum Neutronenstern, oder möglicherweise zum Phänomen des Schwarzen Loches, am Ende seines sichtbaren Sternenlebens. Die Schwarzen Löcher selbst geben eine gewaltige Energie ab, jenseits von allem, was sie in einem früheren Stadium verstrahlt haben. Wir wissen noch nicht, wie das funktioniert. Doch einige Theorien besagen, diese Energieabgabe sei möglicherweise darauf zurückzuführen, daß das Schwarze Loch tief in sich selbst ganze und für uns nicht wahrnehmbare Universen aufgenommen hat und bewahrt.
Und ebenso verhält es sich mit dem menschlichen Alter. Daß alte Menschen in unserer Gesellschaft in Armut, Krankheit und Schande leben und sterben, ist vielleicht die überraschendste und sinnloseste Unterdrückung von allen — denn diese Unterdrückung wird von einer Gruppe aufrecht erhalten, die eines Tages in genau diesen 7.ustand des Unterdrücktseins kommen wird, den sie aufrechterhält. Zu ignorieren, was wir unwiderruflich werden müssen, ist genau so gefährlich wie das zu ignorieren, was wir einmal waren, denn beide Zustände koexistieren in uns immer noch beziehungsweise schon. Erwachsen werden und alt werden sind ganz einfach zwei Seiten der Janusmaske, die dasselbe Ich trägt.
Der Tag, an dem dieses Ich dazu befreit wird, sich selbst zum Ausdruck zu bringen, ist der Tag, an dem nicht nur die jungen blauen Sterne frei werden, ihre Klarheit auf unser Leben zu ergießen, sondern auch den Roten Riesen wird dann zugestanden werden, unsere Welt mit ihrer unvergleichlichen Energie und ihrem Licht zu erfüllen.

EIN EIMER VOLL MOND
Damit unsere Kultur weiterhin ihrem gräßlichen Tun von Kaufen, Verkaufen und Handeln mit solchen Gütern wie Raum, Zeit, Jugend und Alter frönen kann, muß eine moderne Politik des Todes konstruiert werden, so allumfassend wie die Ägyptens zur Zeit der Pharaonen. Aber das ist nicht weiter schwierig — denn der Tod selbst ist zu einer wohlfeilen Ware gemacht worden: Die gegenseitige Aufrechnung von Gefallenenquoten, die Rüstungsindustrien, die Denktank-Konzepte von der »Akzepta-bilität« atomarer Overkill-Kapazitäten und das Kriegsspielzeug. Allein im zwanzigsten Jahrhundert hat es 110 Millionen von Menschen ausgelöste Tode gegeben, dabei 62 Millionen durch diverse Formen der Entbehrung (Todeslager, Sklavenarbeit, Zwangsmärsche usw.), 46 Millionen durch Waffen und Bomben, und 2 Millionen durch Chemikalien.[10] Wir leben in einer Zeit, die die Politik des Todes praktiziert.
Ein wohlbekanntes christliches Gebet sagt uns »Mitten im Leben sind wir vom Tode umfangen.« Und genau das ist damit gemeint. Es wurde in der Tat zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Aber trotzdem hat diese vom Tod besessene Kultur — an der wir inzwischen alle auf diesem schrumpfenden Planeten teilhaben, egal wie verschieden unsere jeweiligen Kulturen auch sein mögen — eine Todesangst vor der Sache, die mit dem Tod doch nur logisch verknüpft ist: vor dem Sterben. Diesem Problem heißt es aus dem Wege zu gehen, darüber Witze zu reißen und dann schnell das Thema zu wechseln, es zu vermeiden, so gut es nur geht.
Gewiß, im Laufe der Jahrhunderte hat MANN sich dekorative Rituale, Begräbnisse, Totenwachen, Beerdigungsspiele und -Zeremonien ausgedacht, um mit dem Gedanken an den Tod fertig zu werden. Und im Laufe derselben Jahrhunderte war es Tradition, daß FRAU sich um die Sterbenden kümmerte, die Toten wusch, die Körper zur Beerdigung, Kremation oder Aufbahrung herrichtete — und trauerte. (Trauern ist eine der vorrangigsten Aufgaben von FRAU.[11]) Die Rechtfertigungen, die für das »Expertentum« von FRAU auf diesem Gebiet angeführt werden, erstrecken sich von ihrer angeborenen Fähigkeit des Mitleids und der Zärtlichkeit bis hin zu ihrer numinosen Macht des mystischen Kontakts mit dem Übersinnlichen, das heißt dem Isis-Mythos. Die Wahrheit ist wohl eher, daß Frauen in allen Bereichen die Rolle des Pflegens von Körperfunktionen zugeschustert worden ist, bei der Geburt und beim Aufziehen der Kinder, beim Nähren (Kinder und Erwachsene), bei der Säuberung des Körpers, dem Entfernen der Rückstände anderer, bei der Krankenpflege — weil MANN FRAU als Kreatur des Fleisches und nicht des Geistes konstruiert hatte, da sie Fleisch aus ihrem eigenen Körper schaffen konnte. Zeitweise ging MANN so weit, sie als seelenlos zu bezeichnen. Doch während das Reich des Körpers ihr zur Pflege anheimgegeben war, stand es ihr doch nicht zu, ihren eigenen Körper zu definieren, zu kontrollieren oder auch nur zu bewohnen (diese Rechte waren den Wesen mit Geist und Seele vorbehalten: den Männern). Unter dieser Wahrheit wiederum verbirgt sich eine weitere, noch grundlegendere: die Frauen kamen dazu, sich um die Kranken, die Sterbenden und die Toten zu kümmern, weil niemand sonst den Job haben wollte.
Inzwischen weigern sich Frauen auf der ganzen Welt mehr denn je, Arbeiten zu verrichten, die sonst keiner tun will. Ob wohl deswegen so viele Gesellschaften, die der USA eingeschlossen, begonnen haben, ihre Haltung gegenüber den Sterbenden zu ändern?
Ich denke an das Zen-Koan über Jyono, die Frau, die unter dem Meister Bukko viele Jahrzehnte lang eifrig Zen studierte. Sie verrichtete alle niederen Arbeiten mit großer Demut und war bestrebt, in den gewöhnlichen Dingen das Geheimnis der Ewigkeit zu ergründen. Doch ganz gleich, wie lange und ergeben sie sich ihnen widmete, sie gelangte nicht zur Erleuchtung. Jahr um Jahr meditierte sie, während sie schuftete, doch ihr schien keine Erleuchtung über den Sinn der Existenz zuteil zu werden. Dann, eines Nachts, als der Vollmond träge am dunklen Himmel hing, war Jyono auf dem Weg vom Brunnen zurück zu ihrem Lehrer, und sie taumelte unter der Last des bis zum Rand gefüllten Eimers, den sie an einer Bambusstange trug. Sie stolperte. Plötzlich brach der Bambus, und der Boden fiel aus dem Eimer. Jyono sagte: »Das Wasser ist aus dem Eimer geflossen, der Mond ist aus dem Wasser geflossen.« In diesem Augenblick erlangte sie Erleuchtung und sie war frei.
Das Koan erzählt nicht, wie es weiterging, wie Bukko ganz ohne Zweifel unter anderem Aspekt dieselbe Erleuchtung erlangte, jetzt, wo er sein Wasser selber holen mußte. Aber wir können, in der besten Tradition des Zen und des Feminismus, uns die Geschichte selbst zu Ende spinnen. Und in ähnlicher Weise ist die wachsende Betroffenheit der Gesellschaft über die Bedingungen des Sterbens ein Zeichen des Fortschritts — gleich ob nun dieses neue Interesse und Mitgefühl darauf zurückzuführen ist, daß wir Frauen uns mehr unserem eigenen Leben und unseren eigenen Lebensbedingungen zuwenden, oder ob es andere Gründe hat. Diese Betroffenheit hat in einer Fülle von Forschungsprojekten Ausdruck gefunden, in Studien, Büchern, wissenschaftlichen und journalistischen Tagebüchern, Hospizen für die unheilbar Kranken*, (*Es war eine Frau — Rose Hawthorne, die Tochter von Sarah Peabody und Nathaniel Hawthorne — die als Mutter Alphonsa 1901 in den USA das erste Hospiz für unheilbar Kranke gründete.) Bewegungen für das Recht auf den eigenen Tod, Experimente mit psychedelischen Drogen, um den Schmerz und die Depression des Sterbens zu erleichtern, und Gerichtsverhandlungen darüber, ob ein Patient das Recht auf den Tod hat, ohne eine kurzfristige Verlängerung des Lebens mit künstlichen Mitteln erleiden zu müssen. Eine britische Organisation für »das menschliche Recht auf einen Tod in Würde« gibt ein Handbuch für Betroffene heraus, mit Details zu verschiedenen Methoden, die verhältnismäßig schmerzlos und sicher und auch für Invaliden möglich sind.* (* Der Selbstmord wird in England seit 1961 nicht mehr unter Strafe gestellt; in den USA ist er immer noch illegal — sicherlich einer der amüsanteren Paragraphen in unseren Gesetzbüchern. Das englische Handbuch, verfaßt von Juristen und Medizinern wird von der Organisation «Exit« herausgegeben. Es wird aber nur Personen zugänglich gemacht, die vorher drei Monate lang Mitglieder der Organisation waren, um von einem impulsiven Gebrauch der im Buch angeführten Methoden abzuschrecken. Vergl. The New York Times, 7.3.1980.) Die meisten Gruppen für den »rationalen Selbstmord« verurteilen jedoch den Selbstmord, wenn der Wunsch danach auf einem nicht-medizinischen Grund basiert, wie Vereinsamung oder Depression; sie konzentrieren sich hauptsächlich darauf, das Recht eines unheilbar kranken Patienten auf Freitod zu fordern, das Recht, nicht als Versuchskaninchen für neue wissenschaftliche Techniken benutzt zu werden, die den Körper unter großen Schmerzen oder Verlust des Bewußtseins seines Bewohners am Leben halten. Damit scheinen sie für eine vernünftige und menschenwürdige Alternative zu plädieren, die auf der Hand liegt.
Dennoch frage ich mich, wie die Ethik dieser Frage in bezug auf »Selbstmörder« wie Simone Weil, der französischen politischen Philosophin, aussieht, die bis zum Verhungern fastete aus Protest gegen das Leiden, dem die französischen Armen während der Nazi-Besetzung ausgesetzt waren. Oder Bobby Sands und die anderen Hungerstreikenden in Nordirland. Oder die »Selbstmordkommandos« einiger politischer Terroristen. Oder Edith Stein, die zum katholischen Glauben konvertierte Jüdin, die als Schwester Benedicta lebte, bis sie befürchtete, durch ihre Konversion von den anderen Juden, die vom Nazi-Regime verfolgt wurden, getrennt zu werden — sich daraufhin als Jüdin bezeichnete und umgebracht wurde. Oder, was das betrifft, die Weigerung des Sokrates, ins Exil zu gehen. In der Tat sind die ethischen Fragen um den »nicht-medizinischen« Selbstmörder, der trotzdem akut an der Krankheit des Lebens in einer Welt leidet, die die Politik des Todes praktiziert, nicht ganz so einfach wie uns die Gruppen für das Recht zum Sterben glauben machen wollen.
Unsere Reaktionen auf Selbstmord sind durch kulturelle Propaganda bedingt und verformt. Wir tendieren zum Beispiel dazu, die Selbstmorde von Hitler, Eva Braun und einigen anderen loyalen Getreuen des Nazi-Oberkommandos im Berliner Bunker als Akt der Feigheit und des Fanatismus zu werten. Zugleich wird von uns erwartet, daß wir den Massenselbstmord der Juden in Masada (die lieber sterben wollten als sich den Römern auszuliefern) als einen heroischen Akt betrachten. Dann wieder wird davon ausgegangen, daß wir den Massenselbstmord/Mord der Anhänger von Jim Jones 1978 in Guayana (Jones hatte ihnen gesagt, die US-Armee sei — wie die Römer — auf dem Wege, sie zu vernichten) als Ausdruck einer unwissenden Raserei und religiöser Hysterie empfinden. Ist das so, weil es zur Norm gehört, Nazis als Untermenschen zu betrachten, die darum ganz gewiß nicht so sind wie wir), Juden als heroisch in der Opferrolle, und nicht-weiße Menschen (Jones' Tempelanhänger waren zum großen Teil schwarze Amerikaner) als naiv, manipulierbar und maßlos? Eins ist sicher: die Frauen und die Kinder (im Bunker, in Masada und in Guayana) wurden nicht gefragt, als die Führer — die alles Männer waren und durch das Tal des Schattens von MANN wanderten — sich für einen dramatischen Abgang entschieden. Den Frauen blieb nichts anderes als das beste aus einer schlechten Sache zu machen und vorzugeben, in freier Entscheidung ihren Männern zur Seite zu stehen; den Kindern wurde nicht einmal dieser Vorwand angeboten. Natürlich fiel es den Frauen, auf Anordnung der Männer, zu, die Kinder umzubringen. Und die Frauen gingen durch das Tal des Schattens von FRAU und — taten es.
So wie Juden, Sklaven, Philosophen und andere Opfer-«Typen« wurden Frauen immer bewundert, wenn sie »heroischen« (oder romantischen) Selbstmord begingen. Die römisch-katholische Hagiographie ist voll von weiblichen Heiligen, die ihrem Tod wesentlich bereitwilliger entgegengingen als die männlichen Märtyrer. Für Dichter ist Selbstmord fast zum Berufsrisiko geworden — und ganz besonders für Dichterinnen: Charlotte Mew, Sylvia Plath, Anne Sexton. Und tatsächlich hat die derzeitige Verehrung für Sylvia Plath, Viriginia Woolf und zu einem gewissen Grad auch für Anne Sexton — sogar in der Frauenbewegung — manchmal den verdächtigen Beigeschmack des bekannten Syndroms der Selbstmordverherrlichung. Viele Menschen, die hingebungsvoll die hervorragenden Werke dieser Frauen lesen, hätten es niemals getan, wenn die Schreiberinnen nicht spektakulär und endgültig von der Bühne abgetreten wären. Und dies gibt Anlaß, darüber nachzudenken, was wohl die wahren Lesemotive sind; werden Feministinnen ebenfalls in die Gewohnheiten von MANN verfallen, die bequemen Toten heilig zu sprechen, und die Lebenden dafür zu ignorieren?
Für mich persönlich ist der Freitod weder sündig noch faszinierend. Sollte ich einmal unheilbar krank und voller Schmerzen sein, möchte ich das Recht in Anspruch nehmen, mein Leben dann und auf die Weise zu beenden, wann und wie ich es will, und ich unterstütze vernünftige Menschen, die daran arbeiten, das Bewußtsein für dieses Recht zu wecken. Doch bis dahin bin ich viel mehr daran interessiert, für eine gute Sache zu leben statt zu sterben. Trotzdem bin ich, so glaube ich, realistisch genug, die Unvermeidbarkeit des Todes in mein Leben einzubeziehen, denn ich trage eine Organspenderkarte bei mir — das bedeutet, daß Organe von mir, die verwertbar sind (für Verpflanzung oder Forschung), auch zur Verwertung kommen werden. Dabei bin ich mir der Tatsache bewußt, daß die Institutionen von MANN den Empfängern horrende Summen für diese Dienstleistungen abverlangen und ganz ohne Zweifel wie Ghule von meiner Spende profitieren werden. Doch im Augenblick kann ich nichts weiter dagegen tun als mich für eine kostenlose medizinische Versorgung und menschliche Behandlung der Patienten einzusetzen und in der Zwischenzeit sicherzustellen, daß meine Organe nicht nutzlos verrotten, wenn eine/r durch meine Augen sehen und durch meine transplantierte Niere leben könnte.
Wäre das Sterben nicht so sehr ein unaussprechlicher, sondern vielmehr ein integrierter Bestandteil unseres Denkens und Handelns, würden wir es weniger mystifizieren, würden wir die Sterbenden weniger ächten und dem Tod an und für sich weniger arrogant gegenüberstehen. Die Kontrolle über das eigene Sterben zu haben, scheint mir sehr wichtig. So macht es mir zum Beispiel seit einiger Zeit großen Spaß, mein eigenes Begräbnis zu planen — oder eher mein »Gedenknis« (es wird keinen Körper geben, denn das, was nicht verwertet wird, wird eingeäschert werden). Es ist zu einem ständigen Scherz in unserer sehr unmorbiden Familie geworden, dieses Problem.- wie soll unser jeweiliger Gedächtnisdienst gestaltet werden? Die Liste der Musikstücke, die ich für den meinen gespielt haben möchte, ist inzwischen so lang, daß ich den Gedanken an eine Gedächtnisfeier aufgegeben habe und zur Zeit meine Pläne zu einem Musikfestival erweitere, das ein Wochenende lang dauern soll. Im Augenblick enthält die sich ständig erweiternde Liste: die b-Moll-Messe von Bach und sein ,Jesu, meine Freude« (stoßt euch nicht an »Jesu«; die Musik ist himmlisch), Clara Wieck Schumanns Erstes Klavierkonzert (Opus 7), die Sopranarien aus Orffs Carmina Burana, Nina Simones Interpretation von »I Wish I Knew how it Would Feel to be Free«, Pachelbels Canon, die Quartette von Bartök, die Erste Symphonie von Sibelius und Prokoffiefs Zweites Violinkonzert, Judy Collin's Version von »Winter Sky«, Schönbergs Verklärte Nacht, Dvoräks Symphonie Aus der Neuen Welt, der letzte Akt von Poulencs Dialoge der Karmeliterinnen, Alfred Dellers Interpretation von »The Three Ravens«, Mozarts Missa Solemnis, Joan Towers Trees, Ralph Vaughan Williams' Serenade to Music und Fantasia on «Greensleaves«, Mary Lou Williams' Mass, Antonio Solers Fan-dango für Spinett, Rachmaninofs Trio Elegiague Nr. 2, Opus 9, John Lennons »Imagine«, Erik Saties Gymnopedies, das Trio aus dem letzten Akt von Der Rosenkavalier von Strauß, Brian Easdales Filmmusik zu Die Roten Schuhe, David Fanshawes African Sanctus, Lousadzak von Alan Hovhaness, das Te Deum von Brückner und Samuel Barbers Knoxville: Summer of 1915. Dann gibt es natürlich zu essen und zu trinken, es wird getanzt, ferner gibt es Dichterlesungen und politische Reden (keine Lobpreisungen, sondern anregende aber nicht-rhetorische Ermahnungen zur allgemeinen Sammlung).
Nun gut. Das Problem liegt auf der Hand. Doch der springende Punkt ist: falls niemandem daran liegen sollte, dieses Mammut-Musikfestival meines persönlichen egoistischen Geschmacks zu organisieren, wird mir das nicht allzu viel ausmachen, denn ich werde nicht dabeisein, um es zu hören. Im Gegenteil, es geht doch darum, was in dir geschieht, wenn du dir die Feier zur Erinnerung deines Lebens idealerweise ausmalst. Du entdeckst ganz überraschende Dinge über das, woran du wirklich Gefallen findest, was du wertschätzt und was du glaubst. Es bietet die Möglichkeit, die Reichhaltigkeit unseres Lebens zu entdecken, wie eng und entbehrungsreich dieses Leben auch zuweilen erscheinen mag. Dann wird — o Wonne — die Gnadenfrist, am Leben zu sein und diese Dinge zu schätzen, umso wertvoller. Wenn die Themen des Sterbens und des Todes wirklich ernsthaft, unsentimental und furchtlos durchdacht und öfter und offener diskutiert würden, könnten wir alle etwas über unsere Einstellung nicht nur zu unserem Tod, sondern auch zu unserem Leben lernen. Die große russische Dichterin Anna Achmatova drückt dieses ,»Vorwärts-Blicken-um-Klarer-nach-Rückwärts-Schauen-zu-Können« in einem erlesenen Gedicht aus, [12]das sie 1945 in Leningrad geschrieben hat:

... Mich hat, wie einen Fluß,
Die eherne Epoche abgeleitet ...
Wie viele Freunde hab' ich nie getroffen,
Wie viele Silhouetten alter Städte
Hätten zu Tränen mich erschüttern können;...
Und wieviel Verse hab' ich nicht geschrieben,
Und ihr geheimer Chor schweift um mich her
Und wird vielleicht mich eines Tages noch
Ersticken ...
Anfänge sind mir wohl bekannt und Enden,
Das Leben nach dem Ende und noch etwas,
Woran ich mich jetzt lieber nicht erinnre.
Und eine Frau hat den Platz eingenommen,
Den einzigen, der mir, nur mir gebührte,
Und trägt jetzt meinen legitimsten Namen.
Mir ließ sie jenen Namen, unter dem
Die Welt mich kennt, aus dem ich dann vielleicht
Gemacht hab', was man daraus machen konnte;
Und nicht in mein Grab werd' ich, ach! mich legen.
Doch wenn ich irgendwoher schauen würde
Auf dies mein Leben, das ich heute lebe,
Dann wüßt' ich endlich, was das heißt: zu neiden.

Als ich zum ersten Mal zu einigen Freundinnen über meinen Wunsch sprach, gemeinsam über »eine feministische Art zu sterben« nachzudenken, hatte ich den deutlichen Eindruck, daß ich zu weit ging und bald im Ruf der Wunderlichkeit stehen würde, die die in mir gefangene alte Frau von Tag zu Tag deutlicher und aufs Niederträchtigste durch mein Verhalten sickern läßt. Die Geschichte scheint tatsächlich zu stottern: Als Elizabeth Cady Stanton Susan B. Anthony zum ersten Mal ihre meisterhafte Rede »The Solitude of Self« zeigte, gefiel sie Anthony nicht und sie riet ihr ab, sie in der Öffentlichkeit vorzutragen. Doch Stanton erwiderte (und sie hatte recht damit), es sei das Beste, was sie jemals geschrieben habe, und tat es doch. Für Stanton stand das Problem der eigenen Integrität angesichts der Sterblichkeit im Zentrum des feministischen Denkens. Ihre ganze Rede bewegt sich um dieses Konzept:

  • »Der wichtigste Grund, um der Frau ... die vollständige Emanzipation zu geben von allen Formen der Knechtschaft, der Gewohnheit, der Abhängigkeit, dem Aberglauben, von all den lähmenden Einflüssen der Angst — ist die Einsamkeit und die persönliche Verantwortung für ihr eigenes individuelles Leben ... Wie auch immer die Theorien von der Abhängigkeit der Frau vom Mann aussehen mögen, in den entscheidenden Augenblicken ihres Lebens kann er ihre Bürde nicht tragen. Sie geht allein zu den Toren des Todes, um jedem Menschen, der in die Welt geboren wird, das Leben zu geben; niemand kann an ihren Ängsten teilhaben, niemand kann ihre Schmerzen verhindern-, und wenn ihre Sorge schwerer ist, als sie es zu ertragen vermag, dann geht sie allein weiter, jenseits der Tore, in das gewaltige Unbekannte ... Der Todesengel bereitet ihr keinen bequemen Weg ... In dieser ernsten Einsamkeit des Selbst lebt jede Seele für immer allein ... eine Einsamkeit, die jede einzelne von uns immer getragen hat ... die unzugänglicher ist als die eiseskalten Berge, tiefer als das Mitternachtsmeer ... Unser inneres Sein, das wir unser Selbst nennen, hat noch kein Auge noch die Berührung von Mensch oder Engel jemals durchbohrt. Es ist verborgener als die Höhlen des Gnoms; das Allerheiligste des Orakels; die verborgene Kammer des eleusischen Mysteriums, denn sie zu betreten ist nur der Allwissenheit gestattet.
    Ein solches ist das individuelle Leben. Wer, so frage ich euch, kann es wagen, die Rechte, Pflichten, die Verantwortungen für eine andere Menschenseele auf sich zu nehmen?«[13]

Ich scherze also nicht, wenn ich mich nach einer »feministischen Art zu Sterben« frage. Ich glaube, daß es beim Feminismus nicht nur um die Rechte und die Freiheit von mehr als der Hälfte der Menschheit geht und um die »Humanisierung« der anderen Hälfte der Spezies, sondern um mehr: es geht um das entscheidende Werkzeug des Bewußtseins, mit dem Frauen und Männer sich, einander und alles empfindungsfähige Leben verstehen ; es geht um den Schritt hinein in die leidenschaftliche Intelligenz und das feiernde Leben, das die nächste Evolutionsstufe der Menschheit sein wird. Wenn dies wahr ist, dann können wir es uns nicht leisten, nicht jedes Gebiet neu zu überdenken. Unterteilungen nach Kultur, Rasse, Alter, sexueller Wahl, Erziehung, Reichtum, körperlichem Erscheinungsbild und Fähigkeiten — all das geht uns etwas an — und Geburt und Tod und die Qualität der Existenz selbst.
Keines dieser Themen — vor allem nicht die Probleme des Alterns und des Sterbens — können mit der oberflächlichen Einstellung angegangen werden, daß sie »gelöst« werden könnten. Es gibt ein paar Widersprüche, die sich einer Auflösung verweigern. Egal, was für eine menschliche Gesellschaft wir auch aufbauen, Stantons »Einsamkeit des Selbst« wird weiterhin eine Realität bleiben — zumindest existentiell, sogar dann, wenn sie nicht kulturell erzwungen oder vergrößert wird. Eine fröhlich unbeschwerte Haltung gegenüber dem Alter ist sentimental und scheinheilig; trotz allem, was es zu bieten hat, bringt das Alter doch (wie jede andere Facette des Lebens auch) seine eigene Tragik mit sich: der Körper wird unfähig, das zu verrichten, was ihm einst leichtgefallen ist, der Verlust und die Trauer um die Zeitgenossen, die bittere Versuchung, das zu bedauern, was niemals stattfand oder stattfinden wird. Plastische Chirurgie und lächelndes Verleugnen schwächen diese Schläge nicht ab; sie erniedrigen lediglich noch die Person, die vom Schicksal getroffen wurde. Und natürlich flößt Sterben Angst ein. Es ist ganz gewiß die einsamste Handlung, die jede/r von uns jemals vollzieht. Solche Euphemismen wie »dahingehen« oder »einschlafen« übertünchen das nur, was genau so widerwärtig ist wie die kosmetischen Bemühungen des Bestattungsinstituts an der Leiche.
Aber ist deshalb nicht die Forderung für jeden von uns umso zwingender, daß wir unseres Alters nicht beraubt werden dürfen und auch nicht unseres eigenen Todes—durch Trivialisierung, kulturelle Grausamkeit, Einmischung oder Verleugnung? Genau wie und sogar mehr als jeder andere Augenblick unseres Lebens muß unser Altern und unser Tod uns gehören — um uns ihm zu stellen und ihn genau so tief und mit soviel Integrität, Neugier und Weisheit zu erleben, wie die vorausgegangenen Jahre uns das gelehrt haben.
Dies zu tun würde großen Mut erfordern — und harte Arbeit. Aber wenigstens wären wir dann nicht mehr durch von anderen Individuen oder von der Gesellschaft geschaffenen wohlfeilen Hindernissen beeinträchtigt.
»Eine feministische Art zu sterben« stelle ich mir schlicht, umgeben von Mitgefühl und unter so erleichternden Bedingungen wie nur möglich vor. Sicherlich sollte niemand an unnatürlichen Ursachen sterben (Armut, Krieg, Mord) oder ohne Fürsorge oder allein (es sei denn sie oder er möchte allein sein) oder in unnötigen Schmerzen. Sicherlich hat jede/r das Recht, in Würde und in Frieden zu sterben. Sicherlich hat jede/r das Recht, sich darauf vorzubereiten, durch welche frei gewählten Mittel auch immer. Sicherlich hat jede/r das Recht, nicht von Pomp umgeben  zu  sein, oder von düsteren, langweiligen, predigerhaften Leuten oder von Paragraphenreiterei oder Eigentumsverteilungen oder von unpersönlichen medizinischen Diensthabenden. Sicherlich gibt es viele andere Elemente für einen »guten Tod«, die jede/r von uns vorschlagen könnte, wenn wir es wagten, kreativer über dieses Thema zu reden.
Vier Sterbeepisoden fallen mir ein, wenn ich darüber nachdenke — nicht als Vorbilder, sondern weil jede Qualitäten eines individuellen Selbst enthält, das sich unnachahmlich und intensiv seiner selbst bewußt ist. (Zwei davon sind Männer und zwei Frauen; beide Männer sind jung gestorben, beide Frauen im reifen Alter. Irgendwie scheinen diese Details irrelevant zu sein.)
Ich denke an Mozart, der im unglaublich jungen Alter von sechsunddreißig Jahren starb, umgeben von einigen Musikerfreunden, die zu ihm gekommen waren, um Teile aus seinem unvollendeten Requiem zu singen — und wie er mit ihnen zusammen sang, bis er, die Augen voller Tränen, leise sagte, »Singt nicht weiter«. Dann begann er, die fröhliche Melodie des Vogelfängers aus der Zauberflöte zu summen, und dämmerte dann sachte in ein Koma hinüber, in dem er starb.
Ich denke an Franz Kafka in seinem Sanatoriumszimmer, im qualvollen letzten Stadium der Tuberkulose, die ihn ironischerweise aus dem beengenden Zugriff der Eltern, des Berufs und der anderen Einschränkungen seines Lebens entlassen hatte, eine »Freiheit« (wie er es nannte), die ihm in ihrer radikalen Freisetzung so teuer war, daß er den ersten Schatten auf seiner Lunge als »erstes Zeichen der Gesundheit« bezeichnete; Kafka, dessen Schmerzen noch nicht stärker waren, als er erträglich fand, der endlich den Durchbruch zu einer Frau geschafft hatte, die er liebte und die ihn liebte; Kafka, der nicht mehr in der Lage war zu sprechen und deshalb bis zuletzt »Gesprächszettel« kritzelte — Fragmente, die in Wirklichkeit unsterbliche Aphorismen sind — über den Flieder, der in der Vase stirbt, über einen Vogel, der in den Raum flog.
Und ich denke an Elizabeth Tudor, dieses gelehrte, tapfere, politische Genie, die nach langer Krankheit den Tod nahen fühlte und sich deshalb vier Tage lang auf Bodenkissen aufrecht hinsetzte und in ihre eigene Vergangenheit und die Zukunft ihres geliebten England starrte; als einer ihrer Minister ihr zuflüsterte: »Madame, Ihr müßt zu Bett gehen«, erwiderte sie: »Kleiner Mann, kleiner Mann. Man sagt nicht ,muß' zu Prinzen.«
Und ich denke an Elizabeth Cady Stanton, für die es kein unpolitisches Thema gab und für die jedes politische Thema zu ihrem Anliegen wurde-, zwei Stunden vor ihrem Tod, so berichtet ihre Tochter, bestand sie darauf aufzustehen. Sie erhob sich vom Bett und stützte sich gegen einen Tisch, stand dann sieben oder acht Minuten lang, als hielte sie im Geiste eine Rede mit der beredtsten Stimme, die Frauen jemals zur Verfügung stand, um für sie zu sprechen. Dann ließ sie sich in einem Lehnstuhl nieder, schlief ein, und starb.[14]
Solche letzten Augenblicke verdienen sich Menschen, die zu sterben wissen, weil sie zu leben wissen.

DAS ELEKTROMAGNETISCHE FELD DER FREUDE
Und danach?
Wenn MANN und FRAU nur die Hälfte der erfinderischen Energie, die sie dafür eingesetzt haben, sich die möglichen Ausformungen eines Lebens nach dem Tode vorzustellen, darauf verwandt hätten, sich die möglichen kreativen Ausformungen des Lebens vorzustellen, dann befänden sich Männer und Frauen heute nicht in einer so verzweifelten Klemme.* (* Madalyn Murray O.Hair, Amerikas unerschrockene und bekannteste Atheistin, hat verkündet, daß es fünf »Wahnsinnsideen« gibt, die verboten werden sollten: Gewalt zwischen Individuen und Nationen, Sklaverei, Rassismus, Sexismus und die Vorstellung eines »Gottes, der im Leben nach dem Tod Strafen und Belohnungen verteilt, so daß ihr euch aus dem Alltagsleben zurückzieht oder dem Gebrauch des menschlichen Verstandes abschwört.« Vgl. das Interview in Omni, Dezember 1981.)
Schon seit der Vorgeschichte scheint das menschliche Gehirn von dem Gedanken besessen gewesen zu sein, Was Danach Geschieht. Die meisten der frühesten Gegenstände sind Gräbern entnommen worden — Beigaben aus dem Leben, von einfachen Kochtöpfen bis zu Kronen aus gehämmertem Gold, vom Blumenkranz in einem Neandertalergrab bis zur juwelengeschmückten Totenmaske von Tut-ench-Amun. Alte Völker, die die Göttin anbeteten, begruben die Leiche zusammengekauert in fötaler Haltung — zur Rückkehr in den Erd-Uterus. Bei den Ndembu in Sambia bedeutet der Tod eine Änderung im sozialen Status. Bei den Hopi im amerikanischen Südwesten wächst die tote Person zu einer Wolke neuen Seins, einer Kachina. Bei den Azteken gingen die Toten in drei getrennte Paradiese ein: Mictlan, wohin die meisten Toten kamen, Tlalocan, wohin solche kamen, die an Krankheiten, durch Ertrinken oder Blitzschlag gestorben waren, und das dritte, beste Paradies — für die Frauen, die im
Kindbett gestorben waren, die Krieger, die tapfer im Kampf umgekommen waren, und die Opfer religiöser Zeremonien. Im zentralen Java muß die hinterbliebene Familie eine vorsichtige Gleichgültigkeit an den Tag legen, einen zur Gelassenheit gedämpften Kummer — damit der Geist nicht von seiner Flucht in die Freiheit zurückgehalten wird. Die Ik in Ostafrika pflanzen Samen auf das Grab, damit die tote Seele leben und der Gemeinschaft so bald wie möglich durch Feldfrüchte dienen kann. Die Atjehnese (eine matrifokale ethnische Gruppe in Indonesien) glauben an ein Paradies, in dem die Frauen mit ihren Kindern und Müttern wiedervereint werden; Ehemänner und Väter haben keinen Zutritt. Der Sohar, der esoterische hebräische Kommentar zur Torah, nennt drei Grade der Seele: Nefesch (vitale Seele), Ruach (Geist), und Neschama (höhere Seele); nach dem Tod bleibt Nefescb beim Körper, Ruach rückt auf zum irdischen Garten Eden, und Neschama erhebt sich zu ihrem Platz im Lichte der Ewigkeit. Das tibetanische Totenbuch zeichnet den Weg der Seele auf, vom Ursprünglichen Licht des Ersten Bardo (eine Zwischenstufe zwischen Tod und Wiedergeburt) durch neunundvierzig Tage einer Bardo-Existenz voll von Prüfungen und Initiationsritualen. Der mystische Sufidichter Jalal al-din Rumi riet: »Stirb jetzt, und tritt hervor aus dieser Wolke der Unwissenheit.« Es gibt ausführliche Rituale bei den Sioux, Hindus, Konfuzianern und Christen, um die Seele in die Ewigkeit freizusetzen.[15]
Heute sprechen religiöse Fundamentalisten (und einige feministische Fundamentalistinnen) wörtlich von Reinkarnation. Und inzwischen hat Elisabeth Kübler-Ross, die Autorin des hervorragenden Buches Interview mit Sterbenden[16] versucht, ihre Leser zu den ungewisseren Sphären des astralen Lebens nach dem Tode hinzuführen. The Journal of Thanatology hat eine große Leserschaft, und ein angesehener Buchladen in meiner Nähe verfügt über eine Spezialabteilung mit etwa fünfzig Titeln zum Thema Tod und »Leben nach dem Tod«. Ein kürzlich erschienenes Buch, Erinnerungen an den Tod[17] behauptet, die erste wissenschaftliche Studie (des Herzspezialisten Michael Sabom) über »Sterbeerlebnisse« zu sein. Viele dieser Schriften sprechen von »zurückgekehrten« Menschen, die ähnliche Geschichten erzählen — körperloses freies Schweben, Gefühle der Wärme und der Ruhe, Eingetauchtsein in ein klares weißes Licht. Was mich betrifft, so balanciere ich zwischen eingestandener Neugier und gesunder Skepsis: Ich weiß erst, daß ein Leben nach dem Tode Wirklichkeit ist, wenn ich auf einer astralen Ebene sitze und darüber schreibe — so wie ich am besten weiß, daß das Leben wirklich ist, wenn ich darüber schreibe.
Aber es gibt eine Metapher für das Geheimnis des Lebens und des Todes, die mir mit meiner »weiblichen« praktischen Ader bewegender erscheint, weil sie mehr auf dem Boden bleibt. Wieder ist sie ein Geschenk der Neuen Physik, und sie schließt solche Konzepte ein wie das elektromagnetische Feld, die Negentropie und die Fülle der Leere. Aber sie ist herrlich, lächerlich einfach — in gewisser Hinsicht sogar offensichtlich.
Der »Quanten-Elektrodynamik« liegt eine Theorie zugrunde, die die Quanten- und die Relativitätstheorie einschließt; es ist, in den Worten des Physikers Fritjof Capra, ein »quantenrelativistisches« Modell der modernen Physik. An früherer Stelle habe ich mich auf die Erkenntnis bezogen, daß Photonen zugleich Teilchen und Lichtwellen sein können — so wie in der Bewegung eine Wölbung an einem Band entlang wandert, wenn ihr ein Ende des Bandes an einen Schubladengriff bindet, das andere Ende in die Hand nehmt und das Band dann auf und ab schwingt (die »Wölbung« wandert das Band entlang und ist zugleich Wölbung und Band). Um dies weiter fortzuführen:
»Da Photonen auch elektromagnetische Wellen und da diese Wellen vibrierende Felder sind, müssen die Photonen Manifestationen elektromagnetischer Felder sein. Daher kommt der Begriff »Quantenfeld«, d. h. ein Feld, das die Form von Quanten oder Teilchen annehmen kann. Dies ist tatsächlich ein völlig neuer Begriff ... Teilchen sind lediglich eine örtliche Verdichtung des Feldes ...«[18]
Oder, wie Einstein sagte: »Wir können daher die Materie als den Bereich des Raumes betrachten, in dem das Feld extrem dicht ist ... in dieser neuen Physik ist kein Platz für beides, Feld und Materie, denn das Feld ist die einzige Realität.«[19] (Hervorhebung R. M.)
Fünfundsiebzig Jahre nachdem Einstein seine Spezielle Theorie der Relativität aufgestellt hat, taumeln die Physiker immer noch unter den Auswirkungen, unter der wissenschaftlichen Offenbarung, daß es nicht um Masse und Energie geht (denn Masse ist Energie; es gibt nichts anderes als Energie). Es geht nicht einmal um ein Feld voller Teilchen, die mit einer »Tendenz zu existieren« vibrieren. Das Feld, die Teilchen, die Schwingungen, die Tendenzen und die Energie sind alles dasselbe.
Einige der neuen Physiker wie Capra und David Böhm können nicht umhin, »Wissenschaft« dieser Art mit »Philosophie« zu vergleichen (die beiden Disziplinen entfalteten sich schließlich aus derselben gedanklichen Wurzel, bis MANN sie in verschiedene Sektionen aufteilte) — besonders mit östlichen mystischen Traditionen wie der des Taoismus. Das Tao selbst (der »Pfad«, der »Weg« oder das »Feld«) wird als leer gesehen, als formlos, als sowohl zeitlich als auch ewig, doch fähig, alle Formen immer wieder neu zu erzeugen; Lao-tse beschrieb das Tao einmal als hohles Gefäß, das, weil es ewig leer ist, für alle Zeiten das Potential in sich birgt, alle Dinge zu enthalten und zum Ausdruck zu bringen. Vergleichbar sprechen die Upanischaden, einer der großen mystischen Texte des Hinduismus, von der »Leere, die identisch ist mit dem Alles, mit Freude«.
Darüber hinaus wird in der Quantenfeldtheorie das Feld nicht nur als Basis für — (und zusammengesetzt aus) alle(n) Teilchen gesehen, sondern auch als Basis für alle wechselseitigen Interaktionen der Teilchen. Das Feld existiert allzeit und überall, es ist das einzige, was überhaupt existiert, einschließlich aller »Materie«. Das Erscheinungsbild, die Existenz und das Verschwinden von Teilchen sind lediglich sich ändernde Bewegungsmuster, ein Tanz des Feldes. Oder, wie der chinesische Philosoph Chan Zai sagte: »Wenn man versteht, wie voll die Große Leere ist, dann versteht man, daß es so etwas wie das Nichts gar nicht gibt.«
Entropie ist, wie wir wissen, der Prozeß der Auflösung, das Ausbrennen und Zergehen, die Tendenz zur Unordnung. Negentropie ist deshalb, wie zu erwarten, das Gegenteil davon. Es ist die Tendenz zur Form, zur Information, Kommunikation, zum Ausdruck, zur Ordnung. »Der leere Raum« ist, wie wir jetzt erkennen, überhaupt nicht leer, sondern reich an unendlicher Energie; innerhalb dieses Feldes, dieser »Ursuppe« des Lebens, können »Sprünge« von Negentropie stattfinden (unberechenbar? aus Launenhaftigkeit? durch die Liebe des Formlosen zur Form? Oder einfach um des Tanzes willen?). Diese Sprünge von Negentropie (oder Information) reichern Form um sich herum an und organisieren sie sozusagen zu Teilchen. Aber das Teilchen ist dennoch zugleich im Feld und Bestandteil desselben, in einer Form, die völlig aus Formlosigkeit zusammengesetzt ist. Da Entropie die Verschwendung von Materie bedeuten kann, und da Negentropie das Gegenteil davon ist, und da wir jetzt wissen, daß Materie nur eine Illusion ist, die lediglich von der schlauen alten Energie produziert wird, dann sind die philosophischen Implikationen dieser sehr fundierten wissenschaftlichen Offenbarung auf eine unglaublich erheiternde Weise offensichtlich, auf einer Ebene, die sowohl tiefer als auch einfacher ist als all das Gerede von Geistern und medialen Kontakten: Nichts ist, letztendlich, verschwendet.
Wir brauchen keine Flügel und Sandalen aus Goldlamé und Harfen. Wir brauchen keine starren religiösen Systeme, die karmisches Schicksal in eine Realität übersetzen, in der Millionen »Unberührbare« in verhungerten, mit Pusteln übersäten Körpern sterben, während eine Brahmanenkaste, die sich ihren Reichtum und Status angeblich in früheren verdienstvollen Leben erworben hat, angewidert zuschaut. Wir brauchen die Mysterien des Universums nicht länger abzuwerten, mit Seancen, Ouija-Tafeln* (* Alphabettafeln, die durch Hin- und Hergerücktwerden spiritistische Botschaften buchstabieren.) oder Horoskopen, die auf Positionen beruhen, die die Sterne schon seit Tausenden von Jahren nicht mehr eingenommen haben (denn die Sterne bewegen sich, wenn auch das menschliche Denken manchmal stagniert). Und ganz gewiß brauchen wir nicht die Proklamationen einer Politik des Todes durch Päpste, Pfarrer, Rabbis, Mullahs und Gurus. Seht doch nur — wir brauchen überhaupt keine dieser jämmerlichen Golems von MANN und FRAU, nie wieder, niemals mehr.
Wir sind die Teilchen, die Wellen, die Wölbungen auf dem Band, die Sprünge negentropischer Information, die sich um sich sammelt, aus reiner Freude daran, durch Interferenzwellen, die auch ein Teil des Feldes sind, mit anderen negentropischen hemiolischen Photonen der Licht-Dunkelheit-Masse-Illusions-Energie zu kommunizieren. Wir sind holistische Bewegung. Wir sind Teil der Holographie. Wir sind der Tanz des Feldes. Wir sind das Feld selbst.
Alles was wir brauchen, ist ein Bewußtsein davon — den Mut, mit dem Hirn zu fühlen und mit dem Körper zu denken, wie jede Zelle summt und singt von Molekülen, die in ihren Atomen tanzen, die ihre Nuclei umkreisen wie der Strahlenkranz um eine Kerzenflamme, die ihrerseits ihre vibrierenden Neutronen-, Elektronen-, Photonenblütenblätter zum Entfalten bringen, die wie Negentrope herumwirbeln, wie Wölbungen beben, wie Wellen fließen, durch das Feld und in das Feld hinein und als Teile des Feldes ... Was wir brauchen, ist die kühne Bereitschaft, den Kosmos lachend in uns aufzunehmen, wie bei einer Osmose — eine Kosmose.
Es war schon immer ein öffentliches Geheimnis.