Die Perle der Empfindung

Eine Anatomie der Ehe

Mag ich auch suchen nach den Heilmitteln für die schlimmen Ungerechtigkeiten, das endlose Elend und die unheilbaren Leidenschaften, die die Vereinigung der Geschlechter belasten, ich kann keine Heilung sehen außer der Kraft, den Ehebund zu zerbrechen und neu zu gestalten.
George Sand

Arnold Bennet sagte, der Schrecken der Ehe liege in ihrer »Alltäglichkeit«. Alle Konturen der Beziehung reiben sich daran ab. Aber in Wahrheit ist es eher so: das Leben — sagen wir vier Tage von fünf — wird automatisch; aber am fünften Tag bildet sich eine Perle der Empfindung (zwischen Ehemann und Ehefrau) heraus, die umso voller und sensibler ist, weil ihr die automatischen, gewohnten, unbewußten Tage auf beiden Seiten vorausgegangen sind. Das will heißen, das Jahr wird durch Augenblicke äußerster Intensität markiert ... Wie kann eine Beziehung über irgendeinen Zeitraum hinaus Bestand haben, wenn nicht unter solchen Bedingungen?
Virginia Woolf

Spontane sexuelle Leidenschaft könnte mit der Erfahrung verglichen werden, plötzlich auf ein bemerkenswertes Gemälde zu stoßen: intensive und vibrierende Farben, eine fast greifbare Textur, ein scheinbarer Verzicht auf formale Aspekte in der sorgfältig konzipierten Komposition. Die magentaroten, die chromgrünen, die meerblauen Tönungen, so lebhaft, so sinnlich sind die Pinselstriche übereinander geschichtet, so wild und doch selbstsicher ist die Technik, daß man beinahe vergißt, daß das Gemälde nur zweidimensional ist.
Im Gegensatz dazu könnte man die Ehe als Hologramm bezeichnen.
Ein Hologramm (was im Griechischen »die ganze Botschaft« bedeutet) ist eine dreidimensionale Wiedergabe der Realität und auch eine Vorrichtung zur Speicherung von Information. Um ein Hologramm zu konstruieren, benötigt man kohärentes Licht und mindestens zwei interagierende Komponenten. Kohärentes Licht ist solches Licht, das sich von der Quelle aus in gleichmäßigen, flachen »Fronten« vorwärtsbewegt und auf diese Weise den Lichtstrahl schmal hält; nicht kohärentes Licht hat hingegen die Tendenz, sich auszudehnen und sich schnell zu zerstreuen. Eine gute Quelle für kohärentes Licht ist der Laser, der nicht nur einen brennpunktartig engen kohärenten Strahl produziert, sondern auch »monochromatisches« Licht erzeugt, ein Licht mit einer einzigen Frequenz. Ein Hologramm entsteht dadurch, daß der Laser-Strahl mit Hilfe eines halbdurchlässigen Spiegels (Strahlenleiters) in zwei Komponenten gespalten wird. Ein Strahl wird auf eine hoch lichtempfindliche photographische Platte gerichtet, der andere auf das Objekt gelenkt und von ihm reflektiert, so daß er dessen gesamte Oberflächenstruktur in der Lichtwelle transportiert. Dieser reflektierte Strahl wird von der photographischen Platte aufgenommen und gespeichert. Die Interaktion der beiden Strahlen verursacht ein Interferenzmuster — im wörtlichen Sinne einen Austausch von Kommunikation — in Lichtwellen.* (*Das Interferenzmuster ist dem hell-dunkel-Muster eines traditionellen Photonegativs vergleichbar. Die Informationsübertragung erfolgt ähnlich wie bei Schallwellen in Sonargeräten und wie die des genetischen Codes, der Informationen in unseren Chromosomen lagert, austauscht und weiterleitet. Da, wenn irgendein Teil des Hologramms beleuchtet wird, das vollständige Bild von dem beleuchteten Teil aus neu erschaffen wird, scheint das Hologramm die wunderbarste Form der Wissensspeicherung zu sein, die bis jetzt verstanden wird. Die sich daraus ergebenden philosophischen Implikationen sind ebenfalls wunderbar: das Hologramm beweist, daß der Teil so vollständig ist wie das Ganze, daß er, in der Tat, dieses Ganze ist. Zum Beispiel enthält eine einzige genetische Zelle die vollständige nötige Information, um eine zusätzliche Kopie des Körpers herzustellen (Pflanze, Tier oder Mensch), dem sie entnommen wurde.) Das Ergebnis ist eine visuelle Erscheinung, die faktisch nicht von der Realität zu unterscheiden ist. Die/der erstaunte Betrachter/in wird zum Hologramm eines Apfels greifen, um ein Stück herauszubeißen, nur um feststellen zu müssen, daß ihre/seine Hand geradewegs durch die Erscheinung hindurchgreift. (Wir könnten noch einen Schritt weitergehen und fragen, »Aber was ist wirkliche >Wirklichkeit< wirklich?« Denn schließlich wissen wir, daß auch ein »wirklicher« Apfel, wenn er genügend vergrößert wird, aus subatomaren Teilchen zusammengesetzt ist, durch die die letztendlich ähnlichen subatomaren Teilchen einer Hand hindurchgreifen können; beide Teilcheneinheiten bewegen sich unaufhörlich mit solch rasender Geschwindigkeit, daß sie genauso gut als Wellen wie als Teilchen bezeichnet werden können. Und nur durch ihre jeweils gegebene Umgebung und Zeit innerhalb des begrenzten dreidimensionalen Bewußtseins, das wir bewohnen, werden sie daran gehindert, einander zu durchdringen, was sie jedoch in Form von elektromagnetischer Wellen tatsächlich tun.[1]
Um auf die Metapher des Kunstwerks zurückzukommen — und einige moderne Künstler experimentieren mit dem Hologramm als Kunstform — unser Ehehologramm ist vielleicht unendlich subtiler als das Gemälde, vor dem wir stehengeblieben sind. Denn schließlich ist für viele (vielleicht sogar die meisten) Menschen die Ehe langweiliger als ein Liebesverhältnis — ehrbarer vielleicht, aber viel weniger aufregend und dramatisch. Also laßt uns erst einmal sagen, daß unser Hologramm nahezu unsichtbare Farben hat, die sich kaum wahrnehmbar mischen und ineinander verschwimmen: Rauchige Tönungen von graubraun gehen über in rosa, milchiges pastellgold, durchscheinendes, bleiches aquamarin. Wenn wir kein Auge für exquisite Untertreibungen haben wie etwa in den späten Gemälden von Turner, werden wir an diesem Kunstwerk vorübergehen, ohne zu bemerken, daß es überhaupt farbig ist. Wenn wir dennoch davor stehenbleiben, dann nur, weil die Erscheinung der Wirklichkeit so ähnlich ist: vollständig, dreidimensional, abgerundet und auf unverfrorene Weise da. Wir können tatsächlich um sie herum gehen, uns darüber lehnen, uns darunter hocken, und aus jeder Perspektive sehen wir immer neue Aspekte des Werks. Vielleicht hängt es frei im Raum, verhält sich jedoch mit der Kühnheit und dem Mut von absoluter Festigkeit. Es ist ein Gegenstand des Staunens.

»LESER/IN, ICH HABE IHN GEHEIRATET«
Bedenkt, daß die Frau, die dies schreibt, seit fast zwanzig Jahren verheiratet ist — mit dem ersten Mann, mit dem sie jemals ins Bett gegangen ist. Bedenkt, daß diese Frau von diversen Sexisten als »Männerhasserin« bezeichnet, und ihr von einigen Separatistinnen eine »Schwäche für Männer« nachgesagt wurde. Bedenkt, daß sie Feministin ist. Bedenkt, daß diese Ehe zugleich privat und öffentlich geführt wurde, in Gedichten und Prosa von beiden Partnern, ein Werk von fast peinlicher Wahrhaftigkeit, das versucht, die bloße »Beichte« zu vermeiden, indem es der Feuerprobe des künstlerischen Könnens ausgesetzt wurde. Bedenkt, daß diese Ehe mehrmals vor dem Zusammenbruch stand — und in dem Augenblick, wo dies geschrieben wird, mehr denn je. Bedenkt dies alles.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 1
Sie sind jung und reißen immer noch Wände ein. Strähnen voll Mörtelstaub, beim Haarewaschen übersehen, haben ihr Haar vor der Zeit gebleicht. Den ganzen Tag lang bis in den späten Abend hinein haben sie gehämmert und gemeißelt, gebürstet und gekehrt und weggeräumt, dann bemalt und gebeizt, Staub gesaugt und poliert. Dann haben sie gebadet und sich umgezogen. Jetzt sitzen sie im einzigen »fertigen« Raum vor dem offenen Feuer, in dem die abgebrochenen Latten der verschwundenen Wand knistern, während die anderen Räume immer noch ausschauen wie das zerbombte Berlin. Stücke von Putz liegen wie Miniaturruinen aufgehäuft auf den Planen. Draußen wirbelt sich ein Schneesturm gegen die Fenster. Doch drinnen sitzen sie vor dem Feuer, schlürfen roten Wein aus den einzigen langstieligen Gläsern, die sie besitzen. Auf dem kürzlich erworbenen niedrigen Marmortisch vor dem Kamin eine Schale aus reinem Kristall — sie gehörte ihrer Großmutter — Prismen vom Flammenlicht funkeln an den geschwungenen Facetten auf, und an ihres Kelches Rand stellt sie zwölf rote Rosen zur Schau, die — extravagante Geste — anstelle von Winterhandschuhen gekauft wurden. In der Luft vermischt sich der Duft der Rosen mit den Chopin-Etüden, die vom Plattenteller her erklingen. Der Mann und die Frau sitzen in einem Schweigen der Kommunikation, die keiner überflüssigen Worte bedarf, dort, auf der stillen Insel im Zentrum des Sturms, der Arbeit, der gefallenen Mauern. Vielleicht sind ihre Haare weiß vom Putz oder Schnee oder Alter, doch der Ausdruck in ihren Gesichtern gleicht vollerblühten Rosen, sie lauschen einer den Gedanken des anderen wie Musik, und ihre beiden bewegungslosen Körper könnten aus Kristall sein, so durchscheinend ist einer für den anderen und so von Lichtfacetten durchstrahlt.

Diese Ehe existiert zu einem historischen Zeitpunkt, nicht in einem Vakuum. Die Geschichte ist lang, reich, noch immer erst zum Teil wieder ausgegraben. Allein die westliche Tradition: Es war Eleanor von Aquitanien im zwölften Jahrhundert, die ein Liebesgericht einsetzte, um die Bedeutung der Liebe und der Ehe neu zu bestimmen. Und es waren die Puritaner (Opfer einer solch schlechten Presse), die für die damals radikalen Vorstellungen wie Liebesheirat und Recht auf Scheidung kämpften, für das Recht von Mann und Frau auf ein Privatleben jenseits des Lebens der patriarchalen Familiendynastie oder des Dorfes oder sogar des Bauernhofs, und für die Idee von der Gleichwertigkeit der weiblichen Seele. Der Disput für und wider die Ehe tobt seit Generationen, wenn auch in der Hauptsache zwischen MANN und MANN: die Athener dafür, die Spartaner dagegen-, die römisch-katholische Kirche dafür und die katharischen »Häretiker« dagegen, Goethe und Engels dafür, Lenin und Mao (beide verheiratet) dagegen -, der frühe Tolstoi dafür, der späte Tolstoi dagegen; Kirkegaard — der ewige Dialektiker — dagegen (auf der ästhetischen Ebene), dafür (auf der ethischen Ebene), und dann wieder total dagegen (auf der religiösen Ebene). Und ohne Zweifel wagten die feministischen Theoretikerinnen in der Bewegung des neunzehnten Jahrhunderts die Institution der Ehe in Frage zu stellen —jedenfalls die radikalen: unter ihnen waren Gage und Gilman und natürlich das politisch-philosophische Genie Elizabeth Cady Stanton, die 1853 in einem Brief an Susan B. Anthony schrieb: »Für mich dreht sich diese ganze Frage der Frauenrechte um das Problem der Ehebeziehung und früher oder später wird es zum Gegenstand der Diskussion werden.«[2] Angesichts der entsetzten Reaktionen (sogar von anderen Frauenrechtlerinnen) darauf, daß diese Radikalfeministinnen die Frage überhaupt aufgeworfen hatten, wurde das Problem dann diskret ignoriert und verlor sich allmählich im Kampf um das bloße Stimmrecht. Es sollte sich herausstellen, daß die Ehe eher später als früher zum »Gegenstand der Diskussion« wurde. Diese spezielle Ehe existiert in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Auch während dieser Jahrzehnte stellten die frühen radikalen Denkerinnen der gegenwärtigen feministischen Welle die Institution der Ehe in Frage. Die frühe Gruppe der siebziger Jahre, die sich als Die Feministinnen bezeichneten, schrieben provokative Stellungnahmen, in denen sie die Rechtslage analysierten, die ein Heiratsvertrag tatsächlich enthält.[3] (Darin war ihnen Isadora Duncan vorangegangen. »Jede intelligente Frau, die den Ehevertrag liest und ihn dann eingeht, verdient alle Konsequenzen«, schrieb sie 1927. Dieses Zitat geht vielleicht ein wenig streng mit dem Opfer um, ist aber ein Beispiel dafür, wie feministische Bewegungen Wahrheiten immer wieder neu entdecken müssen, die in unserer zugeschütteten Geschichte schon einmal etabliert waren.)

Verschlüsselte Botschaft Nr. 2
Sie erfindet ein Symbol für die Frauenbewegung. Sie kann nicht zeichnen, aber sie kann es beschreiben: das universale Zeichen für das Weibliche — ein Kreis mit einem Kreuz am tiefsten Punkt darunter — wobei der Stamm des Kreuzes ein Unterarm ist, der zur geballten Faust in der Mitte des Kreises wird. Er, obwohl er ein Dichter ist, kann wunderschön zeichnen und malen. Er zeichnet die Druckvorlage nach ihren Anweisungen. Das Symbol erscheint auf dem Einband ihres ersten Buches zum Feminismus (Sisterhood is Powerful, A.d.Ü.). Es wird von Frauen aus dem ganzen Land übernommen — auf Buttons, T-Shirts, auf Aufklebern, auf Flugblättern und auf anderen Buchumschlägen und Plakaten. Es erscheint auf dem Titelblatt einer japanischen feministischen Zeitschrift, es verziert ein Frauenmagazin in Indien, es schmückt eine feministische Untergrundflugschrift in Südafrika, es weht auf dem Banner eines Frauenmarsches in Brüssel. Niemand erinnert sich mehr daran, von welcher Frau die Druckvorlage eigentlich stammt. Das ist in Ordnung. Niemand weiß, daß es ein Mann war, der das Symbol zuerst visuell dargestellt hat. Das ist auch in Ordnung — nur daß diese Tatsache, die einige Feministinnen zu einem vorsichtigeren Umgang mit dem Symbol veranlassen könnte, bekannt sein sollte. (Er hat niemals von seinem Anteil daran gesprochen, aus Angst, sie in eine peinliche Lage zu bringen.) Doch daß eine Frau und ein Mann zusammen (dazu ausgerechnet ein Ehepaar) es vermochten, dieses Geschenk ihren Mitstreiterinnen als Instrument anzubieten — ist das nicht eigentlich ein Zeichen der Hoffnung? Aber wird es als Zeichen der Hoffnung wahrgenommen werden?

Noch einmal von vorn — und genau so schockierend — stellten wir die Institution der Ehe in den späten sechziger und frühen siebziger Jahren in Frage. Wir stellten sie in Frage, wohlgemerkt, wir haben sie nicht denunziert oder automatisch angegriffen. Es war im Grunde die erste und gewagteste Frage, die wir stellten. Die Frage ging dann zugrunde an ideologischer Verkürzung (»Alle diese Feministinnen wollen ja nur die Liebe zwischen Frauen und Männern kaputt machen«), an der Verzerrung durch die Fundamentalisten (»Feministinnen wollen ja im Grunde nur ein sexuelles Ausleben wie die Männer, von Bett zu Bett hüpfen, von einem Partner zum nächsten«), an fundamentalistischer Vernebelung (»die feministische und die sexuelle Revolution sind ein und dasselbe«), an fundamentalistischen Analysen von der Art des teile-und-herrsche (»Schuld sind nur die feministischen Lesben, die wollen alle Frauen für sich selbst«) und an den sogenannten praktischen Prioritäten oder »Fundamentalproblemen« (»Angesichts der Kämpfe für das Recht auf reproduktive Freiheit, Arbeitsmöglichkeiten, die Beendigung der Diskriminierung im Erziehungswesen, des Equal Rights Amendment und der grundlegenden Fragen des Überlebens, wie kannst du da über eine Institution wie die Ehe theoretisieren? Das ist taktischer Luxus; außerdem entfremdet es uns Mittelamerika«).
Jetzt, in den achtziger Jahren, erleben wir eine neue Hinwendung zur Ehe — oder wenigstens hin zu dauerhaften Bindungen.
Trotz des Untertitels zu diesem Kapitel spreche ich hier eigentlich mehr über dauerhafte Bindungen im allgemeinen als über die Ehe im besonderen. Ich bin mir der Gefahren bewußt, wenn ich für »dauerhafte Bindung« (committed relationship) das Kürzel »Ehe« benutze. Die erste Bezeichnung ist aber nicht nur länger und schwerfälliger, sie ist auch durch den Mißbrauch von seiten der Populärpsychologie und der Wachstumspotential-Bewegungen zu etwas entwertet worden, das sich wie eine Sprüchesammlung aus einem Jules-Feiffer-Cartoon anhört. Das schlichte Wort commitment kann zu dem beängstigenden Mißverständnis Anlaß geben, jemand solle in eine geschlossene Anstalt eingewiesen werden* (*»Commitment« hat im Englischen die doppelte Bedeutung von »Bindung, Engagement« und »Einweisung« (A.d.Ü.).) (ein Vorgang, von dem gewiß viele Leute betroffen sind, gerade wegen »dauerhafter Bindungen« im allgemeinen und der »Ehe« im besonderen). Das Wort »Ehe« wird nicht allen Sinndeutungen gerecht, die ich in diesem Kapitel damit verbinde, doch kann es sich den meisten davon zumindest annähern: Es ist kurz, es schließt eine intime, dauerhafte Beziehung zwischen zwei Partnern ein. (Im Gegensatz zu pater-familias, das ursprünglich »Sklavenhalter« bedeutete, hat das Wort marriage [das heißt »Ehe«, A.d.Ü.] eine beruhigendere Ethymologie: Das Third New International Dictionary von Webster führt es zurück auf marry [»heiraten«, A.d.Ü.] — »das eine [vermutete] prähistorische Wurzel« besitzt, die »Frau« bedeutet.) Ich spreche hier nicht von der Institution der Ehe, mit all ihren sexualfundamentalistischen und unterdrückerischen Aspekten. Vielmehr meine ich die komplexe Holographie, die sich aus dem Zusammenleben zweier Personen (gleich welchen Geschlechts) ergibt. Zwei Personen, die sich als sexuell Liebende in einer mehr oder weniger langfristigen emotionalen Bindung der Partnerschaft befinden und möglicherweise ihre ökonomischen, sozialen, ästhetischen, politischen usw. Mittel miteinander teilen. Natürlich hat jede Beziehung ihre Probleme. Die Unterschiede hängen von Variablen wie Geschlecht (gleichgeschlechtliche oder verschiedengeschlechtliche Partner), von Klasse, Rasse, Alter, Kultur, Erziehung und anderen ab. Doch ich beginne erst jetzt ziemlich geschockt zu begreifen, wie sehr sich die Grundprobleme gleichen. Zwar drängen sich die Schatten von MANN und FRAU in eine heterosexuelle Beziehung aufdringlicher hinein, doch wann immer zwei menschliche Wesen einige Zeit lang zusammengelebt haben, stellen sich gewisse, offenbar unvermeidbare Schwierigkeiten ein. Und die Auseinandersetzung mit ihnen erfolgt stets in fast gleichen Mustern, Versprechungen, Konfrontationen, Ausflüchten, Ableugnungen, Zugeständnissen und ähnlichen »Strategien«.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 3
Einige ihrer besten Gespräche finden statt, wenn einer von ihnen auf der Toilette sitzt. Dies ist ein Beispiel, wo die Liebe der Romanze einmal haushoch überlegen ist.

Ich habe zwei zusätzliche Gründe, das Wort »Ehe« zur Beschreibung »dauerhafter Bindungen« zu gebrauchen: Meiner Meinung nach sollten sich feministische Denkerinnen überlegen, ob sie das Wort nicht dem Gebrauch durch den rechten Flügel entreißen wollen, der es lediglich als Keule benutzt; wir könnten es als eine (neudefinierte und erneuerte) Möglichkeit für uns zurückfordern, um Liebe zwischen Menschen zu formulieren — genauso wie einige homosexuelle Aktivisten das Recht auf legale Eheschließung fordern. Und schließlich beschreibt es präzise die Verbindung, in der ich mit meinem Mann, dem Dichter Kenneth Pitchford, lebe. Wir führen vielleicht keine traditionelle oder moderne oder vollkommene Ehe, und für einige Menschen ist unsere Ehe vielleicht sogar ein wenig bizarr, angesichts all ihrer leidenschaftlichen Auseinandersetzungen — aber eine Ehe ist es trotzdem.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 4
Zwanzig Winter lang hat sie ihre eisigen Füße im Bett an seinem Körper gewärmt.
So um das zwölfte Jahr herum hörte er auf unwillkürlich zurückzuschaudern. Inzwischen hält er nicht einmal mehr, auch nicht ganz kurz, den Atem an.

Ich würde sagen, daß unsere Ehe eine »geprüfte Ehe« ist, und ich stimme mit Carolyn Heilbrun darin überein, daß »eine ungeprüfte Ehe nur wenig besser ist als ein ungeprüftes Leben. Beide sind wie Dantes Hölle: man fährt immer weiter fort, das zu tun, was man gerade tut.«[4]
Ich halte den Trend, den Wunsch nach dauerhaften Bindungen einzugestehen, für eine gute Neuigkeit. Nun müssen sich Feministinnen und Nichtfeministinnen mit der wahren Vielgestaltigkeit menschlicher Bedürfnisse auseinandersetzen. Doch ist es auch eine schlechte Nachricht — nur allzu oft endet ein solcher Trend in einem Rückschlag, da die Neue Rechte in ihrem religionsfundamentalistischen Chauvinismus mehr die Struktur der Ehe und nicht so sehr die Gefühle, die darin zum Ausdruck kommen, als einzig normalen Sachverhalt propagiert. Der Trend kann auch zu einer Flucht oder Verschanzung führen, denn viele der frühen, feuerspeienden Feministinnen haben inzwischen herausgefunden, daß mit der Entwicklung ihres politischen Engagements der Spielraum ihres persönlichen Lebens schrumpfte. Solche, die glaubten, daß man »keinem über dreißig trauen soll«, sind inzwischen in den Mitdreißigern oder älter und schreiben mit einem Mal über ihre Sehnsucht nach einer dauerhaften Bindung (mit Männern oder Frauen, doch zugegebenermaßen hauptsächlich mit Männern), über ihre solipsistischen Gefühle angesichts von Liebschaften oder »Einheitsehen«, über die Panik, wenn sie sich fragen, ob sie noch Kinder wollen, bevor die biologische Uhr abgelaufen ist. Ahnungen von Sterblichkeit wie diese sind in überstürzten »feministischen Eheschließungen« zum Ausdruck gekommen — die dann wieder von konservativen Geistern verzerrend analysiert werden als »Aha, wir haben es doch die ganze Zeit schon gewußt. Die waren ja vorher bloß frustriert, weil sie niemanden zum Heiraten fanden.«
Und was ist inzwischen aus jenen Feministinnen geworden, die wie ich während der ganzen Zeit verheiratet waren? Viele dieser Ehen zerschellten an den Preisen eines linientreuen politischen Fundamentalismus, an lesbischem »Experimentieren«, an Frauen, die von unterdrückten Forderungen zerrissen wurden und Männern, die nicht in der Lage oder willens waren, sie zu erfüllen. Und einige Ehen, von Narbengewebe überzogen, haben überlebt. Oft war der Preis des Überlebens das defensive gefrorene Lächeln von Perfektionisten mit der Kein-Problem-mit-Meiner-Ehe-Haltung, doch sie zahlten dafür den Preis, daß durch den Druck von außen innerhalb der Beziehung wenig Spielraum für Veränderungen blieb.
Und die eigentliche Ironie bestand darin, daß eine Ehe, je besser sie überlebte, umso mehr zum Modellfall wurde — eine ideale traditionelle Ehe, eine ideale Schwulenehe, eine ideale feministische Ehe — und auf diese Weise wurde den Partnern die Möglichkeit genommen, ihre Beziehung realistisch zu sehen. In einer heterosexuellen Ehe zum Beispiel verlor die Frau dadurch die dringend benötigte Unterstützung anderer Frauen bei ihrer Auseinandersetzung mit dem Mann, und der Mann verlor die Unterstützung (und auch die Herausforderung zur Veränderung) der Frauen und Männer, die im selben Boot saßen. Immer wieder wird der Prozeß aus den Augen verloren, und der jeweilige Zustand wird als Ziel, als Endzustand, als Lösung angesehen. »Wie hast du das bloß gemacht?« wurde ich gefragt, als ob ich nicht noch immer in diesem verwirrenden, schwierigen, aber auch erhebenden Prozeß herumtaumelte, es zu versuchen, zu scheitern, aufs Neue zu versuchen.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 5
Ein volles Jahr lang haben sie einander angewütet, haben geweint, geschrieen, Türen geknallt, Unaussprechliches gebrüllt, immer wieder beinahe miteinander gebrochen. Jetzt stehen sie auf freier Ebene, inmitten der Maya-Ruinenfelder von Yucatan, bis auf die Haut durchweicht von einem überraschenden Junigewitter — stehen völlig ruhig, als ob die Sonne schiene und stellen sich einander in einem langen, gemächlichen Kuß neu vor, unter zwei schlaffen Strohhutkrempen, von denen runde Vorhänge warmen Regens triefen und sich vermischen.

»Wieso ist deine Ehe ein Erfolg geworden?« fragen sie — als ob man, um Sophokles zu paraphrasieren, eine Beziehung jemals glücklich nennen könnte, bevor man ihr Ende kennt.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 6
Sie hat ihren einzig erlaubten Telefonanruf aus dem Gefängnis verbraucht, um ihren Anwalt zu alarmieren. Jetzt umgarnt sie einen jungen, frisch verheirateten Bullen, damit er sie noch ein zweites Gespräch führen läßt; sie will daheim anrufen, damit ihr Mann sich nicht so große Sorgen macht. (Sie hatte damit gerechnet, daß das Frauen-Sit-in mit einer Massenverhaftung enden würde. Er sitzt daheim beim Baby.) Ein zweiter Anruf ist nicht gestattet, doch sie bearbeitet den Bullen, benutzt dabei traditionelle »weibliche« Schliche. Das ist politisch nicht »korrekt« und ein Privileg, das eine gleichgeschlechtlich liebende oder unverheiratete heterosexuelle Frau unter diesen Umständen gar nicht erst in Betracht zöge — aber sie besteht unverfroren darauf, daß die Dringlichkeit alle Mittel erlaubt. Schließlich ruft der Bulle für sie an, und verschämt (leise flüsternd) übermittelt er dem Ehemann ihre Botschaft der Liebe. Der Bulle läßt sie schwören, dem Sergeanten nichts zu sagen. So ist jeder zufriedengestellt.

öffnet also die Tür — eine Tür hinter den anderen Türen, die bereits geöffnet wurden, auf Gänge hinaus, die durchschritten worden sind, in den vorausgegangenen Gedichten und Prosastücken über meine Ehe. Öffnet die Tür zu einem geheimen Raum — der in sich wieder geschachtelt ist wie eine chinesische Dose, die immer neue, dichtere Geheimnisse enthält, alle widersprüchlich, verzweifelt, grundlegend, leidenschaftlich, und gleichzeitig einzigartig und alltäglich.
Eine Ehe hat ihre eigene Form der Kommunikation, eine unaussprechliche Sprache, einen Code winziger Signale. Aber die Quantenfeldtheorie hat ja doch gezeigt, daß alle Interaktion, alle Veränderung, alle Kommunikation durch den Austausch unendlich kleiner Teilchen stattfindet.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 7
Das folgende ist nicht erlaubt, wenn sie sich wirklich gestritten haben. Wenn sie sich aber nur traurig fühlen und einander entfremdet, distanziert, auf angenehme Art hoffnungslos angesichts der Situation, dann gibt es ein mögliches Vorgehen — doch darf es nicht so häufig angewendet werden, daß es die Qualität eines Rituals bekommt. Und es darf auch nicht laut benannt werden. Es geht ganz einfach so:
Sie fühlt sich erschöpft (aber nicht allzu sehr) und gibt vor zu schlafen.
Er fühlt sich abgelehnt (aber nicht allzu sehr) und gibt vor, sie zu begehren.
Er schläft mit ihr, während sie schläft. Sie bleibt nicht wach.
Am nächsten Morgen braucht er nicht einmal zu erwähnen, daß es geschehen ist — aber er darf es tun, in heiterem Tonfall.
Natürlich braucht sie sich nicht daran zu erinnern — aber sie darf es — vage oder scherzend.
Beide sind einander bitter dankbar. Am nächsten Tag verhalten sie sich wie gewohnt. Jetzt sind sie Freunde.
Ihre vorgespielte Passivität hat ihn eine Partnerin gekostet, aber ihm Erleichterung verschafft. Er fühlt sich schuldig und dankbar.
Sein Ausnützen ihres vorgetäuschten Schlafs hat sie den Schlaf gekostet, aber ihren Stolz gerettet. Sie fühlt sich schuldig und dankbar.
Dieser exquisite Erfindungsreichtum kann zur Kunst erhoben werden, wenn zwei Menschen befürchten, daß ihre Leidenschaft freudlos geworden ist — und wenn sie noch mehr befürchten, daß sie sich immer noch lieben.

Frage: Was macht eine radikalfeministische Autorin und Aktivistin mit ihrem Mann in einer stürmischen Herbstnacht auf der Brooklyn-Brücke? Bereitet sie sich darauf vor, ihn hinunterzuschubsen? Ist sie dabei, ihrer eigenen verzweifelten Befreiung entgegenzuspringen? Bereiten sie einen gemeinsamen Selbstmord vor, um den scheinbaren politischen Widersprüchen zu entfliehen, die zum Wesen dieser Beziehung gehören?
Nichts von alledem. Ich spaziere Arm in Arm mit dem Schriftsteller, Freund, Vater meines Kindes und oben erwähnten Ehemann. Wir sind fröhlich, zu Tränen gerührt, stolz aufeinander und bis auf die Knochen durchgefroren. Wir sind dabei, nur wir zwei allein, einen weiteren Jahrestag unserer Hochzeit zu feiern, an genau der Stelle, wo wir uns Jahrzehnte zuvor zum ersten Mal küßten, und der Wind wühlte damals genau so in unseren Haaren wie jetzt.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 8
Wenn sie Zwiebeln hackt, küßt er sie hinter dem linken Ohr. Wenn er den Teppich staubsaugt, dann betrachtet sie gerne die Muskeln seines hübschen Hinterteils.

Wir heirateten v. d. B. (vor der Bewußtwerdung), und der Feminismus hat unser Leben verändert, als Schriftsteller, Liebende, Eltern, Lohnempfänger. Wir haben ein Gebiet durchreist, für das es keine Karte gab, wir hielten die Topographie im Vorübergehen fest, wie so viele andere Paare, die ihr Leben mit diesem neuen Bewußtsein zu verwandeln suchten. Inzwischen kennen wir gewisse Eigenschaften des Geländes (obwohl wir immer wieder neue entdecken, je weiter wir gehen) und können uns zu den Siedlern zählen, die zumindest einem Rohentwurf der Karte folgen — aber, »Die Karte ist nicht das Gelände.«[5]
Trotzdem scheint es auf den meisten dieser Reisen erkennbare Wegweiser zu geben, wenngleich manche Paare den einen oder anderen vielleicht völlig übersehen, andere wiederum ihr ganzes Leben zusammen an einer Stelle verbringen, und obwohl gewisse Biegungen und Abzweigungen sich hinsichtlich Reihenfolge und Schwierigkeitsgrad von einer Beziehung zur anderen beträchtlich unterscheiden.
Die kühnen Entdecker: Sie ist begeistert und entzückt von sich selbst, weil sie entdeckt, daß sie die ganze Zeit keineswegs bescheuert gewesen ist; er ist glücklich und entzückt über sich selbst, weil er sie in dieser neuen Erkenntnis unterstützt. Streiten wird konstruktiv sein! Sie werden eine Befreite Ehe führen! Bei Festen sprechen sie angeregt mit Freunden darüber, wie hilfreich diese neue Art von Kommunikation ist, wieviel Schwung sie ihnen beiden gibt, wie vernünftig und einfach sich diese neuen Vorstellungen tatsächlich praktizieren lassen.
Der erste Erdrutsch: Es ist ein Schock für ihn, als er merkt, daß dieses neue Bewußtsein tatsächlich etwas mit Hausarbeit zu tun hat. Für sie ist es ein Schock, als sie merkt, daß er das jetzt erst gemerkt hat.
Das »Ich-bin-für-alles-zu-haben«-Wildwasser: Er schmeißt sich (sportlich) voll hinein und Gibt-Sich-Mühe. Für alle Arbeiten erfindet er neue Methoden, um (1) der Demütigung zu entgehen, von ihr unterwiesen zu werden, (2) dem Ganzen einen Schuß Kreativität zu verleihen und (3) die langweilige Routine zu umgehen. Sie gibt sich dankbar (und empfindet das auch ein bißchen so), gleichzeitig plagen sie Schuldgefühle, wegen des ohnehin wenigen, was er tut. Er findet, sie ist fair und verständnisvoll. Sie ärgert sich über sich selbst, wenn sie sich bei ihm bedankt, weil er nur das tut, was er längst hätte tun sollen; sie ist stolz, »fair« zu sein, fragt sich jedoch insgeheim, ob sie nicht eher ein elender Feigling ist. Auch macht es sie rasend, daß sie nichts mehr finden kann: weder (1) den Dosenöffner, noch (2) die Kehrschaufel, noch (3) irgendwelches Geschirr (das steht alles im Spülbecken und/oder in der Spülmaschine und soll »jetzt dann gleich« gespült werden).
Die Einzelreise: Er hat zunehmend Kommunikationsschwierigkeiten mit anderen Männern. Deren Interessen und Verhaltensweisen sind ihm sehr ferngerückt. Er kommt nun viel besser mit anderen Frauen zurecht. Er entdeckt: Frauen sind interessant! Und Frauen beginnen nun, ihn anerkennend als den Feministischen Prinzen zu betrachten. Er freundet sich mit ihren Freundinnen an und gewinnt seine eigenen Freundinnen — am Arbeitsplatz, in der Schule, draußen. Derweil wird sie unruhig. Und ihre Nervosität wird ihr verdächtig: Wie? Ist sie etwa eifersüchtig? Sie hat doch Vertrauen zu ihm! Hat sie eine schmutzige Phantasie? Oder ist sie nicht auf ihn eifersüchtig, sondern darauf, daß er ihre Freundinnen in Beschlag nimmt? Wie? Wäre sie so kleinlich, so besitzergreifend? Wollte sie nicht, daß er Frauen endlich wie Menschen behandelt? Hat sie sich nicht immer über seine Männerklüngelei geärgert? (Sie selbst kann sich so gut wie gar nicht mehr mit Männern anfreunden, alle Männer erscheinen ihr widerwärtig.) Er, den Rücken gestärkt von der Anerkennung anderer Frauen und seinem Stolz darüber, wie-weit-er-es-doch-gebracht-hat, fängt nun an, sich ihr gegenüber feministischer-als-feministisch zu gebärden: er belehrt sie, daß sie für sich selbst einstehen, sich nicht mehr von ihrem Chef oder ihren Eltern oder Lehrern oder Anmachern auf der Straße tyrannisieren lassen soll, daß sie nun endlich das neueste Buch über feministische Theorie lesen und zu mehr Demonstrationen gehen sollte. (Er läßt sich auch darüber aus, was seine Mutter und ihre Mutter und verschiedene andere Freundinnen und Verwandte für ihre jeweilige Befreiung tun sollten.) Sie beißt die Zähne zusammen: er hat gut reden, er weiß ja nicht, was es kostet, seine Ratschläge zu befolgen. Dennoch: war es nicht ihr Wunsch, daß er mitmacht, daß er die feministischen Bücher liest, daß er genauso an seinem Bewußtsein arbeitet wie sie? Immer wieder gibt es Streit über sein Schwadronieren (wie sie es nennt) und ihr abwehrendes Besitzdenken (wie er es nennt).
Sie treffen Touristen: Sie gewöhnt sich an, unter Freunden (leichthin und scherzhaft) über die Entwicklungen, die sie mit dem »Ich-bin-für-alles-zu-haben«-Wildwasser erlebt haben, zu sprechen. Mit den anderen Frauen lacht sie darüber. (Vielleicht ist auch eine Frau dabei, die die fällige Bemerkung macht: »Also ich würde nie von meinem Mann verlangen, daß ...) Die anderen Männer betrachten ihn als (1) Klassenverräter, (2) Pantoffelhelden, (3) schwul und/oder (4) bewunderns- jedoch kaum nachahmenswert. Wann immer sie gemeinsam in Gesellschaft auftreten, gibt es hinterher Krach.
Der Wir-beide-gegen-die-ganze-Welt-Feldzug: Sie beschließen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Was scheren sie Schmidts und Müllers? Nur sie beide sind füreinander wichtig, sie leben künftige Entwicklungen vor, sie sind Revolutionäre. Die Müllers führen eine unterdrückerische, neurotische, altmodische, erstarrte Ehe: zum Teufel mit ihnen. (Sie hat heimlich ein ungutes Gefühl dabei, denn Lieschen Müller hat ihr ein paar schmerzvolle Dinge anvertraut, die ihr gar nicht so fremd klangen ...)
Der zweite Erdrutsch: Er merkt, daß dieses neue Bewußtsein etwas mit Sex zu tun hat. Sie merkt, daß er dies tatsächlich und wahrhaftig erst jetzt gemerkt hat. Jetzt geht ein Steinschlag nieder: wie oft sie zusammen schlafen-, ob Vorspiel oder nicht, wenn ja, wie lange, wie abwechslungsreich; ihre vorgetäuschten Orgasmen; seine Ängste vor einer vorzeitigen Ejakulation; ihre hinhaltende Passivität (oder Aggressivität); seine hinhaltende Aggressivität (oder Passivität); wann es für einen von ihnen oder für beide langweilig ist; welche Phantasien sie einzeln oder gemeinsam haben; wie sie sich — einzeln oder gemeinsam — nach neuen Erfahrungen sehnen (Positionen, Häufigkeit, Technik); wie sie sich — einzeln oder gemeinsam — wünschen, kein großes Theater zu machen, sondern bei dem zu bleiben, was ihnen vertraut ist, womit sie rechnen können, was funktioniert; ihre Frustration über das, was ihnen vertraut ist, womit sie rechnen können etc.; ihre Wut, daß er ihre Signale nicht wahrnimmt; seine Wut, daß sie von ihm übersinnliche Fähigkeiten erwartet; ihre, seine oder beider Angst frigide oder impotent zu sein; der Verdacht, den sie, er oder beide hegen, daß der/die andere tatsächlich frigide oder impotent ist; ihre Angst, etwas-falsch-zu-machen, ihre Befangenheit, etwas-richtig-zu-machen. Der Zweite Erdrutsch könnte auch Die Lawine heißen.
Der undurchdringliche Dschungel: In dieser Phase lassen sie vor dieser Hölle der Komplexität, die sie niemals voneinander erwartet hätten, den Vorhang herunter. Die Handlung findet sozusagen hinter der Bühne statt. Sind sie Schriftsteller, so werden sie (natürlich) darüber schreiben, aber nichts davon veröffentlichen (das tun sie erst später). Wenn sie in einer Selbsterfahrungsgruppe ist, empfindet sie es selbst dort als schmerzhaft, peinlich oder »illoyal« ihm gegenüber, über diese Phase zu sprechen. Er kann mit keinem seiner männlichen Freunde darüber sprechen (wenn ihm zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch männliche Freunde geblieben sind). Wenn sie, er oder beide eine Therapie machen, dann bekommt der Therapeut was zu hören — und wird (möglicherweise voll Nostalgie) an jene Zeiten zurückdenken, als Neurose noch Neurose war, ohne Beimischung von diesem ganzen politischen Mist.
Die Ebene des praktischen Alltags: Diese Phase spielt sich gewöhnlich ebenfalls hinter der Bühne ab. Oft läuft sie mit der vorhergehenden parallel, was bei den Forschungsreisenden schwere Schwindelfälle hervorruft. Beide merken, daß das neue Bewußtsein etwas mit Geld zu tun hat — wer es verdient, wer wieviel verdient, wer wieviel ausgibt, wofür etc. Dieser Maulwurfshügel an Demütigung (denn es ist ihnen beiden peinlich, über so etwas Nebensächliches wie Geld zu streiten) kann sich zu einem beträchtlichen Berg auswachsen. Gleichzeitig entdecken beide, daß dieses neue Bewußtsein etwas damit zu tun hat, wie sie oder er zum Kinderhaben und/oder zur Kindererziehung stehen. Um die Sache noch zu komplizieren, merken die Kinder das auch, und zwar je nach Alter: (1) bewußt, (2) unbewußt, (3) manipulativ, (4) zelebrierend. Allen Betroffenen dämmert, was dies für ein uferloses Gebiet ist, und daß sie es möglicherweise in diesem Leben kaum voll erkunden können. In diesem Stadium laufen sie Gefahr, den Mut zu verlieren, denn das Ego ist bereits viel zu weit voraus, um zurückstecken zu können. Jede/r Reisende hat Angst, die Vorräte könnten unterwegs ausgehen.
Die Oase der Katharsis: Sie weint. Er weint. Sie weinen zusammen. Viel. Sie weinen, weil keine/r mehr was versteht. Sie weinen, weil endlich sie oder er irgend etwas begreift. Sie weinen weil, was gerade noch begriffen schien, ebenso schnell wieder vergessen ist. Sie beschließen, daß sie sich wirklich gegenseitig lieben, und schließlich: wer hat denn geglaubt, dies würde ein Spaziergang werden? (Sie selbst glaubten das. Siehe den Abschnitt Die kühnen Entdecker.) Sie werden es trotz allem schaffen, das-wäre-doch-gelacht.
Feierliches Biwak: Sie geben sich unendliche Mühe, höflich und rücksichtsvoll miteinander umzugehen: sie kaufen sich kleine Geschenke, machen vielleicht miteinander Urlaub, nur sie zwei (nicht um Verwandte zu besuchen und nicht mit den Kindern und nicht in Verbindung mit einer Geschäftsreise). Sie kauft ein neues Nachthemd, er probiert ein neues Rasierwasser. Daß sie etwas miteinander ausfechten bedeutet doch nicht, daß sie nicht dennoch romantisch oder sexy sein können, oder? Sie werden mit dieser Geschichte schon fertig werden. Wieder weinen sie — diesmal voll Erleichterung und Hoffnung. Jetzt fühlen sie sich in der Lage, offen mit anderen über das zu sprechen, was sie ganz sicher überwunden zu haben glauben. Sie werden um Rat gefragt und erteilen Ratschläge. (An diesem Punkt besteht die Gefahr, in die Phase der Einzelreise zurückzufallen.) Sie werden allgemein mit Respekt betrachtet. Allmählich glauben sie, sie hätten es geschafft.
Die unterirdische Wüste: Nachdem sie sich nun öffentlich über die Einzelheiten der (hinter der Bühne abgelaufenen) Phase des undurchdringlichen Dschungels ausgelassen haben, wird es noch schwieriger anderen gegenüber zuzugeben, daß noch nicht alles gelöst, überwunden, perfekt ist. Manchmal gelingt es ihnen darauf hinzuweisen — doch ihre Zuhörer/innen halten das für bloße Bescheidenheit. Diese Phase ist vielleicht die gefährlichste, denn beide Partner werden zerrieben zwischen einem sich immer mehr verfestigenden öffentlichen Image und einer emotionalen inneren Blutung. Für ihn heißt das:
Er trottet herum wie ein Zombie. Er ist wie vor den Kopf geschlagen vor Verzweiflung. Nichts von dem, was er — auf Kosten seines Stolzes, seiner Würde, seiner Sexualität, möglicherweise seiner Arbeit, seiner Selbstachtung — getan hat, hat geklappt. All die Gänge zum Waschsalon, zum Supermarkt, zum Kindergarten, die vielen Flaschen Rasierwasser, alle Tränen, alle verlorenen Freunde, alle öffentlichen Demütigungen — wofür? Nichts hat sich wirklich verändert. Er wird chronisch depressiv, ihr gegenüber unterwürfig, hat nachgegeben, aufgegeben. Er glaubt immer noch (jetzt vielleicht mehr denn je) an dieses Neue Bewußtsein, dessen Macht, Gerechtigkeit, verändernde Kraft. (Er muß einfach glauben, daß er für irgendeine gerechte Sache gelitten hat.) Seine Selbstverachtung wächst. Er kann nicht zu seinem alten Ich zurückkehren, er scheint es aber auch nicht zu schaffen, ein neues zu entwickeln, mit dem jeder zufrieden sein kann. Er glaubt, sie müsse sich an ihrem Triumph weiden — andererseits würde das so gar nicht zu dem guten geliebten Menschen passen. Hätte er dies alles jedoch für eine böse Person getan, dann wäre er wohl ein masochistischer Irrer. Doch wenn sie wirklich der gute Mensch ist, den er liebt, wie kann er sie verleugnen? Er hat zu nichts mehr Kraft. Er beginnt viel zu schlafen, krank zu werden, drei Zeitungen am Tag zu lesen, in langes Schweigen zu verfallen, passiv alles zu tun, worum sie ihn bittet (doch zuzuwarten, bis sie ihn bittet), Schallplatten über Kopfhörer zu hören. Er geht herum wie ein Schlafwandler. Ihm ist nicht vorzuwerfen, er täte nicht, worauf sie sich geeinigt hätten, doch innerlich hat er mit jenem Roboter, der da herumwerkelt nichts zu tun. Er weiß jetzt so viel, daß ihm sogar seine eigene Wut auf sie, seine Rachegedanken, als möglicher »innerer Widerstand gegen Veränderungen« verdächtig werden. Dennoch ist er wütend und rachsüchtig und hat Schuldgefühle wegen beidem. Und dann ist er wütend, weil er Schuldgefühle hat, was wiederum den Kreis zu den Rachegefühlen schließt. Vor allem jedoch ist er deprimiert. Das Leben ist ganz und gar freudlos. Er kann ihr nicht einmal mehr sagen, warum.
Inzwischen durchlebt sie ihren
Treibsand der Vergeblichkeit. Nichts von dem, was sie — auf Kosten ihres Stolzes, ihrer Würde, ihrer Sexualität, möglicherweise ihrer Arbeit, ihres neuen Bewußtseins — getan hat, hat geklappt. All die heruntergeschluckten Bemerkungen, die nichtgestellten Fragen, die Angebote von neuem Nachthemd bis anderer Frisur, die ganzen Tränen, die ganzen Halbwahrheiten gegenüber ihren Freundinnen, um ihn zu schützen, all die öffentlichen Demütigungen am Anfang und die leeren öffentlichen Triumphe später — wofür das alles? Nichts hat sich wirklich verändert. Allmählich glaubt sie, verrückt zu sein: hat sie zu viel von ihm verlangt, zu schnell, zu radikal? Andere Paare scheinen dies nicht durchzumachen, sie scheinen mit solchen Veränderungen vergleichsweise reibungslos fertig zu werden. (Zufällig sind die anderen Paare gerade in der Phase der furchtlosen Entdecker, der Ich-bin-für-alles-zu-haben-Wildwasser, des Wir-beide-gegen-die-Welt-Feldzugs — doch das sieht sie nicht.) Ihre eigenen Motive werden ihr verdächtig: steckt da vielleicht System dahinter? Ist sie unbewußt eine Art Sadist? Ist sie machtbesessen? Wurde sie von kaltherzigen, lieblosen, politisch zynischen Feministinnen manipuliert? Wer braucht das alles überhaupt? Dennoch kann sie nicht zu ihrem alten Ich zurück, auch wenn sie dies neue Ich nicht zu ihrer beider Zufriedenheit verwirklichen kann. Sie versucht, durch Zeitungen, Kopfhörer, Schweigen zu ihm durchzudringen. Er schaut sie blicklos an und sagt (aus Angst, er könnte sie verletzen, könnte sagen, was er wirklich meint, aus Angst, daß er gar nicht weiß, was er wirklich meint, aus Angst, daß es sonst nichts zu sagen gibt) »nein, es ist nichts«. Sie ist krank vor Mitleid. Sie glaubt, daß sie die Tiefe seines Schmerzes und den Preis, den er gezahlt hat, ermessen kann. Doch dann bemerkt sie winzige Anzeichen dafür, daß er glaubt, sie weide sich an seinem Unglück, und da sie in Wirklichkeit um ihn leidet, macht sie dies noch wahnsinniger — vor Kummer, Mitleid, Wut. Sie schluckt noch mehr Bemerkungen herunter, geht in seiner Nähe wie auf Eiern, wird (deshalb) wütend auf sich selbst und (deshalb wiederum) wütend auf ihn, entwickelt Schuldgefühle, weil sie wegen jener so gräßlich vertrauten Schuldgefühle wütend ist. Sie verfällt in ihr eigenes Schweigen, in ihre eigene Depression, die zunehmend tiefer wird. Das Leben ist ganz und gar freudlos. Sie kann ihm nicht einmal mehr sagen, warum.
Im Kreis gehen: Diese Phase könnte auch Kehrtwendung oder Leergang Leergang heißen. Der Kompaß ging verloren. Ihm reicht's! Ihm reicht's, ein rückgratloser Speichellecker zu sein, ein Fußabtreter, ein Feministischer Prinz, der auf einem weißen Staubwedel einherreitet. Er hat es satt, Dinge wiedergutzumachen, die er all die Jahre, als er sie tat, niemals als falsch empfunden hat. Er wird auch eine Eigenständige Persönlichkeit sein, genau wie sie. Sie wiederum fühlt sich in ihrer beider Beziehung noch keineswegs als Eigenständige Persönlichkeit, deshalb ärgern, ängstigen und verletzen sie diese Sprüche. Sie habe nie Unterwürfigkeit verlangt, sagt sie, sondern nur Partnerschaft. Sie möchte, daß sie beide eigenständige Persönlichkeiten werden. Ihr Interesse liegt nicht darin, Macht zu haben, sondern eine von aller Machtausübung freie Beziehung. Insgeheim fragt sie sich, ob das alles so stimmt, fühlt sich im Unrecht, wird wütend, weil sie schon wieder im Unrecht ist, denkt ernsthaft darüber nach, ob es wirklich möglich ist, daß zwei Menschen ihr ganzes Leben lang zusammenleben. (In dieser Phase erzählen ihr vielleicht ein paar fundamental-feministische Freundinnen, daß alle Männer Schweine sind — was für sie kein Trost ist. Gleichfalls werden gewisse plötzlich aus der Versenkung auftauchende Männerfreunde ihm erzählen, das-hast-du-nun-davon, wenn du dich von einer Frau kastrieren läßt — was für ihn kein Trost ist. Wenn statt dieser Hiobs-Ratgeber echt hilfsbereite und verständnisvoll feministische Freundinnen von ihr und antisexistische Freunde von ihm wirklich zuhören und helfen, möchten sie und er vor Dankbarkeit deren Füße küssen.)
Der Vulkanausbruch: Eine/r von beiden geht fremd. Oder: eine/r von beiden geht fremd und der/die andere zieht nach. Oder: eine/r von beiden bekommt eine Stelle (oder wechselt seine/ihre Stelle). Oder: Sie beschließen eine versuchsweise Trennung. Oder: Sie beschließen, eine Therapie zu probieren, oder Sexualberatung, eine Reise irgendwohin, Marijuana, Alkohol, sie beschließen, ein (oder ein weiteres) Kind zu bekommen, oder einen Nervenzusammenbruch, oder zu einer anderen Religion zu konvertieren. Oder: alles oben genannte in rascher Folge oder gleichzeitig. Oder: sie machen ihr havariertes Schiff wieder flott und segeln in
Das Meer des mitfühlenden Buddhas: Beide werden sich zu autonomeren Einheiten entwickeln — Persönlichkeit, inneres Wachstum, menschliche Entfaltung, Selbstverwirklichung, das in-sich-ruhende-Sein. Sie werden »einander mehr Freiraum geben«. Sie gestehen sich gegenseitig mehr »Freiheit« zu. Dennoch wollen sie zusammenbleiben, wegen (1) der gemeinsamen Vergangenheit, oder (2) des Kindes oder der Kinder, oder (3) des in Stürmen gereiften Zusammengehörigkeitsgefühls, oder (4) des Images (was wiederum eine Wiederholung von dem Wir-beide-gegen-die-ganze-Welt-Feldzug oder des Feierlichen Biwaks sein kann), oder (5) der Angst oder (6) Mitleid oder (7) dem starken Verdacht, daß es anderswo auch nicht besser ist, oder (8) Gewohnheit, oder (9) Erschöpfung oder — nur als äußerste Möglichkeit — wegen (10) der unentrinnbaren, verzweifelten, trotzigen Liebe, die sie blöderweise immer noch füreinander empfinden — was sie wiederum auf:
Die Halbinsel der liebesgeprüften Weisheit bringt. Ihnen wird klar: sie gehören zusammen, sind keine Inseln. Sie will mit niemand anderem leben, sie will ihn, doch mit all dem Humor und der Ausstrahlung, die er hatte (die jedoch mißbraucht wurden), ehe seine Zombie-Phase ihm nicht nur seine negativen, sondern auch seine positiven Züge nahm. Sie will ihn so, wie sie sich vorstellt, daß er sein kann/könnte. Er will mit keiner anderen leben: er will sie, doch mit all der Energie und dem Idealismus, den sie einstmals hatte (die jedoch mißbraucht wurden), ehe sie im Treibsand der Vergeblichkeit nicht nur ihre Fähigkeit zum Martyrium, sondern auch ihr Potential des Mitleids verlor. Er will sie so, wie er sich vorstellt, daß sie sein kann/könnte. Sie bluten beide aus vielen Wunden, sind narbenübersät, müde an Leib und Seele, doch sie wollen es noch einmal versuchen. Weder ihr noch ihm ist die leiseste Vorstellung verblieben, was Freiheit ist — doch sie sehnen sich danach. Sie wissen nicht mehr, was Liebe ist — doch sie empfinden sie. Sie wissen nicht mehr, was Identität ist — doch sie suchen danach. Sie wissen nicht mehr, was Vertrauen ist — doch sie verhalten sich danach.
Wenn sie bis zur Halbinsel der liebesgeprüften Weisheit überleben, können sie es noch schaffen — furchtlos, wahnsinnig, dickköpfig, töricht, gegen die Regeln von MANN und FRAU, des Durchschnitts und der Schwerkraft — in eine neue Dimension zu gelangen. Dieser neue Raum funkelt von Perlen der Empfindung. Es ist eine weitere Windung auf dem Weg, die (auf den ersten Blick oder für andere) wie eine simple Rundung aussieht, doch eher wie eine ganz und gar neue Ebene auf einer Spirale ist, die als Doppelhelix in die Unendlichkeit aufsteigt. Auf dieser Windung des Weges sieht zwar alles ganz vertraut aus, in Wirklichkeit sind die Inhalte jedoch völlig anders, — von dieser Wegbiegung können sie beide herunterschauen und über die qualvollen Kurven, die hinter ihnen liegen, lächeln. Von hier aus können sie weitergehen, lachend und weinend und hoffnungsvoll und beharrlich wie Kinder, die sich staunend an den Händen halten, bis sie eine Phase erreichen, die da heißt:
Die kühnen Entdecker...
Jenseits dieses Punktes kenne ich das Gelände noch nicht; wenn sich jemand von euch auskennt, dann hoffe ich, daß ihr euren Abschnitt der Karte weitergebt.
Aber ich weiß, daß wir für dieses Bewußtsein in unserer Ehe einen teuren Preis bezahlt haben: Kämpfe, Schmerz, dumpfes Schweigen und wütende Ausbrüche, Verrücktheit, Depression. Trotzdem scheint uns der Lohn größer: Herausforderung, Hochstimmung, Lachen, Erregung über unsere Fähigkeit zur Veränderung, Staunen über den Mut zur Intimität, Zärtlichkeit und Sympathie und eine gewisse genießerische ... Behaglichkeit. Hin und wieder stelle ich die These auf, daß die tiefgehenden Wandlungen, die der Feminismus fordert, nur — oder jedenfalls am besten — durch genau solch eine dauerhafte Bindung stattfinden können. Die Verbindlichkeit gibt uns den Hebel, um Veränderung zu bewirken — und die Zeit, in der dies geschafft werden kann.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 9
Isomorphismus ist die »Ähnlichkeit von Organismen verschiedener Herkunft, die auf Konvergenz beruht« (Webster's Third) und »eine informationsbewahrende Transformation« (Gödel, Escher und Bach), bei der jede »Kopie« alles Material des Originals bewahrt. Von jeder Kopie kann die Information des Originals abgerufen werden (wie verschiedene, einzelne, individuelle »Stimmen«, die dasselbe Thema in einem musikalischen Kanon singen). In diesem Sinne sind beide menschlichen Partner Isomorphe — einzelne individuelle Stimmen verschiedener Herkunft, die konvergieren; die Information, das musikalische Thema der Ehe, ist in jedem von ihnen gelagert — und ist von jedem vollständig abrufbar.

Einige Leute haben behauptet, daß eine anständige Feministin nicht verheiratet sein darf. Früher hieß es, daß eine anständige Frau verheiratet sein muß. Ich sage Pfui! zu beiden Stereotypen. In der feministischen Bewegung ging es immer darum, uns allen mehr Möglichkeiten zu geben, und nicht weniger — im Bereich der persönlichen menschlichen Beziehungen wie auch in allen anderen Bereichen.
Für mich schließt Feminismus sogar noch mehr ein: eine wirkliche Revolution (nicht nur eine oberflächliche mit viel Herumknallerei) auf allen Ebenen — ökonomisch, sozial, politisch, sexuell, ökologisch, kulturell und metaphysisch. Folglich sind für mich feministisches Denken und feministische Aktionen durch Liebe charakterisiert. Das Wort Liebe selbst ist in unserer Gesellschaft so trivialisiert worden, daß ich nervös werde, wenn ich es ohne rigorose Definition benutze. Ich meine damit die Kraft, die hartnäckig genug ist, um das Scheitern zu überleben, heftig genug, um Veränderung zu verlangen und zu inspirieren, reinigend genug, um die Bitterkeit aufzulösen, zornig und empört genug, um auf der gewaltigen Aufgabe zu beharren, die vor ihr liegt — und demütig-leidenschaftlich genug, um sich manchmal in der Form zu zeigen, die als »eheliche Liebe« bezeichnet wird. Für den täglichen Gebrauch.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 10
Und in ihrem tiefsten Herzen ist Heterosexualität für eine Feministin das Verlangen, die männliche Hälfte der menschlichen Art nicht vollständig abzuschreiben. Eine solche Erkenntnis ist (a) scheinheilig, (b) visionär, (c) der äußerste Liberalismus, oder (d) berühmte letzte Worte.

Versuche also, etwas darüber zu schreiben. Versuch es ...

SCHLAFZIMMER-SEMAPHOR
Sie lag im Bett, wartete darauf, daß der Burgunder wirken, sie schläfrig, das Vorrecht des Schlafes geltend machen würde, damit die nächste Priorität des nächsten Tages mit all den Botengängen und Uhren und Kalendern und Telegrammen und dem Zorn schließlich triumphieren könnte, und sie in irgendeinen barmherzig entleerten Schlummer oder besser noch irgendeinen wundervollen erotischen Traum fallen könnte, so intim, daß nicht einmal sie selber sich daran erinnern würde. Aber statt dessen konnte sie nicht einschlafen, und so kam es, daß sie in ihr Arbeitszimmer taumelte (betrunken — für ihre Verhältnisse — von drei Glas Wein), um zu versuchen, Nun also Darüber zu Schreiben.
Falsch. Ganz falsch, auf einen neuen eingerückten Absatz loszugehen, das bricht den Fluß, riskant ja das Risiko und Gott ist am Ende das einzige das mich interessiert ich kann’s genauso gut gleich zugeben. Dich wollte ich in diesem Menschenmann finden. Heilige St. Heloise von der weltlichen Liebe, bitte für mich. Dieses dumme Weichtier wie es an die harte dämliche Schreibmaschine hinheult. O mein Gott es tut mir so unendlich leid daß ich mich beleidigt habe.
Heute Morgen. Der erste Frühlingstag, der Neubeginn. Übelkeit beim D’randenken. Erinnere dich. Wörtlich.
Er kommt ins Bett. Sie schaut auf die Uhr. Zehn Uhr früh. Sie sagt schläfrig: »Du warst die ganze Nacht auf.« (Seit Samstag befinden sie sich in einem Zustand schweigender, nichtstreitender Stagnation von feindlicher Herzlichkeit. Heute ist Mittwoch Morgen.)
ER sagt: »Ich habe gerade ein großartiges Gedicht geschrieben.«
SIE: »Wie schön.« Schläfrig lächelnd. Zum Teil echt, zum Teil vorgetäuscht: Sie hat seit Monaten kein Gedicht mehr geschrieben. Telegramme und Ärger. Trotzdem, wie kleinlich kann sie eigentlich noch werden? »Wie schön.« ER: »Ich habe es auf deinen Schreibtisch gelegt, damit du es später lesen kannst.«

Verschlüsselte Botschaft Nr. 11
Sie machen zum ersten Mal getrennt voneinander Urlaub. Nach einer halben Woche rufen sie sich dreimal am Tag an — einschließlich mitten in der Nacht — um sich gegenseitig eben geschriebene Gedichte vorzulesen.

SIE: »Gut.« Schuldgefühl — sie weiß, er will von ihr hören, Ach geh und hol's doch und lies es mir jetzt gleich vor. Sie hat sechs Stunden geschlafen. Er kann den ganzen Tag schlafen, wenn er schlafen geht. Sie muß bald aufstehen. Das geht ihr durch den Kopf.
ER: »Du wirst es scheußlich finden.«
SIE, zu sich selbst: Mein Gott, hat er das doch tatsächlich gesagt. Dies ist der erste Frühlingstag muß ich aufwachen muß ich mir das anhören —
SIE: »Das ist nicht gerade nett, was du da sagst.«
ER: »Es ist ein trauriges Gedicht, und du kannst traurige Gedichte nicht ausstehen.« Gott steh mir bei, das sagt er glatt. Hier zu sitzen und den letzten Schluck Burgunder zu trinken und zu schreiben hilft tatsächlich. Alles was mir am Ende wichtig ist bist Du unsichtbarer Gott und die Leserin von der ich vorgebe daß sie mich nicht hört und die doch schließlich nur Du bist.
Mir wird jetzt klar, wieso Dichter so oft zu Alkoholikern werden. Nun ja.
Das Leben einer Frau ist die ständige Rückkehr zur Realität. Ein ständiges »Nun ja«. Nun ja.
Ich hasse also traurige Gedichte. Ich bin also nicht in der Lage, seine widerlich knabenhaften Fassungen irgendeiner Tragischen Vision zu kapieren, alles ganz allein seine.
Alle meine eigenen »traurigen Gedichte« abgeleugnet. Abgeleugnet abgeleugnet. Welch einen Rhythmus das Wort auf den Tasten hat.
Ich muß aufhören. Aber wenn ich aufhöre, dann mach ich irgendwas Blödes wie in das leere Zimmer hinein heulen und jammern wie irgendeine gewöhnliche lau-feministische Frauenseele in Pein. Verdammt, aber das Schlimmste an der Unterdrückung ist diese Demütigung, eine Demütigung, die nicht einmal die ganze eigene Intelligenz zu überwinden imstande ist (oder ist das nur die letzte Neige des Hochmuts über die eigene Intelligenz — die mit der Demut ringt, was etwas ganz anderes ist als Demütigung?).
Vergiß die politische Rhetorik.
Es geht darum, daß er gesagt hat »Du kannst traurige Gedichte nicht ausstehen.« Und damit ihren Jeffers verleugnete, ihren Homer, Emily Bronte, Dante, Plath, Amy Lowell, sogar sich selbst; die letzten Klaviersonaten von Beethoven, die Quartette von Bartok, daß er sie sich selbst verleugnete. (Wieso versucht sie eigentlich überhaupt, mit seiner Tragischen Vision zu wetteifern?)
Wie können wir zu einer neuen ökonomischen Analyse gelangen, wenn wir nicht einmal verstehen, warum die Männer so schlicht gemein sein können?
Dumme Närrin, vierzig Jahre alte dumme Närrin.
Der gemeine Kerl klopft.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 12
Sie empfangen einen distinguierten älteren Schriftsteller zum Tee. Es war keine Zeit, zuvor das gebrochene Treppengeländer zu reparieren. Beide warnen den Gast, im Tonfall beiläufiger Ernsthaftigkeit, vor dem unzuverlässigen Geländer — daß es ziemlich wackelig ist, weil das Haus über hundert Jahre alt ist und Sie wissen ja, wie das mit diesen alten Häusern ist ... Keiner der beiden traut sich, den anderen anzusehen. Das hundertjährige Geländer war am gleichen Tag um vier Uhr morgens gebrochen, als sie in schwindelnder Höhe rittlings darauf saßen und versuchten, sich zu lieben.

Aber diesmal hat sie die Tür verschlossen. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagt er. Fall tot um sie sagt »Geh weg, ich arbeite« aber nicht was sie wirklich meint wenn sie jemals laut sagen könnte was sie wirklich empfindet dann würde nicht nur »die Welt auseinanderbrechen« wie Muriel Rukeyser schrieb: sie würde wieder zusammenwachsen, würde heilen.
Nun ja.
Dann drehte sie ihren Kopf von ihm weg, auf die andere Seite des Kissens. Ihr sogar die eigenen Tragödien zu versagen, die sie sorgfältig unter den sauber gefalteten Nützlichkeiten ihrer täglichen Leiden versteckt hält, von denen er inzwischen behauptet, daß sie ihr Spaß machen.
Wie kann ich Gott so sehr hassen und zugleich Atheist sein?
Auf meinem Schreibtisch gerade hier vor mir liegt ein Bericht über Genitalverstümmelungen an Frauen mein ganzes Leben lang siehst du habe ich dafür eingesetzt das zu verstehen, den ganzen Horror, den Horror daß ich ihn trotz all dem liebe und daß ich Gott liebe.
Gott sei gepriesen für die Schlösser, dafür daß er Schlösser gemacht hat, die mich drinnen halten können wenigstens dieses eine Mal. Warum benutzt er sie nicht — die echten, meine ich, nicht die, die Leute von seiner Art gegen unsere Seele, unseren Körper und unseren Geist benutzen, sondern die, die er nicht für sein Arbeitszimmer benutzt, um mich davon abzuhalten, darin wie eine Wiedergängerin (meiner selbst) herumzugeistern, um das Gedicht zu finden, das er wieder an sich reißt aus Rache dafür, daß ich mich beklagt habe ...
denn, weißt du, sie dreht ihren Kopf auf dem Kissen herum, und dann sagt sie nach einer Weile (einem Zeitalter), in der sie versucht hat, diesen scharfen lyrischen Jetzt-Schmerz des Erwachens am ersten Frühlingsmorgen zurückzugewinnen, der niemals im Leben wieder so zu haben wäre wie sie ihn gerade verloren hat, erhebt sie sich aus den Kissen und spricht ruhig, wie sie es im Geiste geprobt hat
SIE: »Wie grundlos grausam du doch manchmal sein kannst. Du machst mich wirklich staunen, wie du daherkommst und mir den Säbel durch den Schlaf ziehst mit deiner Gemeinheit.«
ER: »Das tut mir leid, ich habe es nicht so gemeint.« Er weiß, daß er es so gemeint hat, sein Ton verrät es. Er ist niemals so dumm gewesen, wie er sie mit seinem ganzen Genie glauben zu machen versuchte, daß er es sei. Mein Gott, soviel verschwendetes Genie — das ist es, was ich ihm nie vergeben werde.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 13
Als man sie nach der Operation aus dem Narkoseraum zurückbrachte, war sie durch die Anaesthesie immer noch so benommen, daß sie den Blick nicht fixieren konnte. Sie streckte die Hand aus, um die Linien seines Gesichtes nachzuzeichnen, das über sie gebeugt war, so als wüßte sie, daß es da wäre. Es war da, und sie konnte in den Schlaf zurücksinken.

Wann werde ich mir das Recht verdient haben zu schlafen, wann werde ich durchbrechen aus der Kurve dieses ewigen Versuchens verstanden zu werden, von ihm oder von Dir?
Saint Heloise dona nobis pacem miserere nobis sogar seiner. Muscheln und Pflanzen und seine Photographie ich will ein kahles Arbeitszimmer frei davon frei frei. Warum hat das Wort frei nicht den Rhythmus des Wortes Ableugnung. Oder vielmehr Ableugnung Punkt. Es ist der Punkt, der der Ableugnung all ihren Rhythmus gibt.
Dann stand er also auf und polterte nach unten nach seinem scheinheiligen »es tut mir leid« was weiß er von Bedauern er muß nicht mit sich leben ich schon.
Ich bin in ihr lebendig, in diesem Körper. Wie hat Sand es geschafft und Eliot und Austen (am Küchentisch bei Kerzenschein kritzelnd) alle meine Leute ohne Diener ohne Schreibkräfte ohne Sands Landhaus ohne Eliots George Henry Lewis, ohne — kein Selbstmitleid mehr. Überlaß das ihm. Statt dessen Dringlichkeit.
So hört sie also wie er die Türen knallt, zuerst die im oberen Arbeitszimmer, dann die zu seinem eigenen (sie hat das ihre nämlich nicht zugesperrt, noch nicht) und sie weiß, daß er das Gedicht wieder von ihrem Schreibtisch wegnimmt als Strafe dafür daß sie gesagt hat was ihr auf dem Herzen lag nur einen Oberflächenfetzen davon egal wie es einen Millimeter unter dieser Oberfläche aussieht.
Was sogar in Ordnung ist, sie kennt das Muster, die Lügen, Kafkas Leoparden, die vom heiligen Kelch im Tempel trinken, bis es Teil des Rituals wird. Sie haut mit der Faust in die Handfläche und spricht dies laut in ihr Arbeitszimmer hinein und weint damit all dies nur ja festgehalten wird aus Angst daß jemand es niemals lesen wird LÜGE aus Angst daß jemand es lesen wird AUCH LÜGE was dann? Aus Angst daß es keinen Gott gibt auch nicht jenseits der Verleugnung; keine Liebe, keinen Platz für uns.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 14
Sie haben einander ein Vierteljahrhundert lang ihre Gedichtentwürfe gezeigt. Selbst bei Liebesgedichten, die sie füreinander geschrieben hatten, haben sie versucht, unnachgiebig und aufrichtig in ihrer Kritik zu sein. Sogar bei Haßgedichten, die sie füreinander geschrieben haben, haben sie versucht, unnachgiebig und gerecht in ihrem Lob zu sein. Dies ist der Fels, auf dem sie stehen. Dies ist ihr zeitloser Dialog, der sich immer weitersprechen wird, auch wenn die beiden Körper von Ehefrau und Ehemann Asche sein werden. Ein Vierteljahrhundert lang haben sie eigentlich immer nur füreinander geschrieben — und die Welt ihren intimen Gesprächen lauschen lassen.

Nun ja.
Sie weiß daß er weiß daß sie später wie eine Schnecke ohne Stolz in sein Arbeitszimmer kriechen wird (was ist schon der Stolz vor der Liebe?), wenn er fort ist (er achtet sorgsam darauf, daß sie weiß, wann er geht, die Tür unverschlossen, das Ritual), damit sie hineinkriechen und das Gedicht lesen kann, das er so spektakulär zurückgezogen hat. Sind bloß Dichter so verrückt?
Ich bin hier drin und versuche geliebt zu werden. O mein Gott was wäre wenn ich mich um nichts bekümmerte außer um Dich und mich und diese Leserin die Du bist und die mich vielleicht versteht, die einzige Liebende, der ich, außer mir vertraue, der einzige Gott der dieses Gebet hören kann. Wäre ich eine Alkoholikerin, könnte ich öfter so ehrlich schreiben. Ich würde mich dessen würdig fühlen. »Wenn der Geist frei ist, dann ist der Körper empfindlich« — ist das nicht aus Lear} Also gut, vergiß die Leber — der Geist wäre offen, die Seele frei, wenigstens zum Atmen. Sich noch weiter auszustrecken ist schließlich sehr viel verlangt. Gierige kleine Frau.
Nun ja.
Eine Revision ist immer möglich.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 15
Wissen besitzen heißt Macht besitzen. Die Mächtigen sind weniger neugierig als die Machtlosen. Das ist so, weil sie davon ausgehen, die Antworten zu wissen — was sie tun. Aber nicht auf die Fragen, die die Machtlosen stellen.

Heißt das denn »frei werden«? Warum tut es mir so weh? Warum sehe ich ihn immer noch am Klavier stehen, als er erst siebenundzwanzig und ich siebzehn war, ich, die ich noch nie zuvor eine solch leidenschaftliche Integrität in einem Gesicht gesehen hatte, sein Leben, seine Dichtung und sein Gesicht, all das eine Dimension, und die Jahre des Zerbrochen und neu Zusammengesetzt und wieder Zerbrochen Werdens auf dem Rad des feministischen Bewußtseins, gewandelt und widerstrebend und hoffnungsvoll und verängstigt.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 16
Sie spürt, daß er alle Emotion in einem Raum aufbraucht — wie der alte Aberglaube, daß Blumen die Luft in einem Krankenzimmer aufbrauchen — so daß keine mehr für die anderen übrig ist. Um dieser seiner Intensität willen liebte sie ihn zuerst.
Er spürt, daß sie den Augenblick der Zukunft opfert — eine Verzögerung des Lebens, bis der Tod ein solch vorwärtsgerichtetes Denken unweigerlich akademisch macht. Um dieser Aura von Möglichkeiten willen liebte er sie zuerst.
Paß auf, was du dir wünscht, denn, so sagt das Sprichwort, dein Wunsch könnte in Erfüllung gehen.

Ja. Männer und Frauen sprechen zur Zeit zwei verschiedene Sprachen. Doch eine Freundin, eine lesbische Feministin, liest diese Seiten im Manuskript — den »Burgunder-Bitterkeit«-Abschnitt — und sagt dann trocken und weise lächelnd: »Ich hoffe, du hegst nicht die Illusion, daß diese Art von ambivalentem Elend nur heterosexuellen Beziehungen eigen ist.« Sie hat recht, und noch schlimmer: jedes Menschenwesen spricht eine eigene Sprache; kein anderes versteht sie. Im Laufe ihres Zusammenlebens machen sie sich über die unbekannte Sprache der oder des anderen gewisse Vorstellungen. Sie übersetzen der oder dem anderen ihre eigene Sprache, kommunizieren mit Gesten wechselseitigen Leidens, tauschen Teilchen von Zuneigung aus. Wie soll man jene komplizierte Choreographie auf ein Blatt Papier bringen, deren Energie die Zivilisation, wie wir sie kennen und fürchten, am Leben erhalten hat?
Sie läßt beiläufig ein Kopfkissen auf dem Bett zwischen ihnen liegen.

Er kriegt einen steifen Hals.
Sie vergißt, die Glühbirnen auszuwechseln.
Er hinterläßt Wasserflecken auf den gespülten Gläsern.
Sie streitet sich mit dem Kind herum statt mit ihm.
Er geht abends lange spazieren.
Sie kauft ihm eine Platte, die er haben wollte.
Er streitet sich mit dem Kind herum statt mit ihr.
Sie hinterläßt benutzte Taschentücher, unter das Kissen gestopft.
Er trägt ein Hemd, von dem er glaubt, daß sie es verabscheut.
Sie zuckt hoffnungslos mit den Schultern und hofft, daß ihn das Schulterzucken verletzt.
Er findet ein Buch für sie, das sie haben wollte.
Sie bewegt im Bett den Fuß, um seinen Knöchel zu berühren.
Er weiß genau, was dieser leichte Druck des Fußes nicht bedeutet.
Sie hat Nebenhöhlenentzündung.
Er stellt den Plattenspieler lauter.
Er sagt Nein natürlich bin ich nicht böse.
Sie sagt Macht nichts es ist nicht so wichtig.

Wenn sie sich in einem gewissen kohärenten Licht in die Augen schauen, dann versuchen zwei lebendige Geistwesen einander durch diese Kommunikatoren zu erreichen, diese zivilisierten Tänzer, dieses Wechselspiel von Teilchen. Irgend etwas in beiden wird den anderen bis zum Tode lieben, mit oder ohne Zeremonien, mit oder ohne Ritual. Wenn es nicht so wäre, dann wäre der Rest einfach. Und die Welt wäre verloren.

EIN TEILNEHMENDES UNIVERSUM
Das chinesische Wort mang bezeichnet (abgesehen von seinen anderen Bedeutungen, wie bei jedem chinesischen Wort) eine legendäre Vogelart mit einem einzigen Auge und einem einzigen Flügel. Zwei dieser Vögel vereint vermögen deutlich zu sehen und zu fliegen. Dies ist ein unzweifelhaft lyrisches Bild und dem Konzept nicht unähnlich, das von der Figur des Aristophanes in Platos Gastmahl formuliert wird: daß jedes originäre vollständige Selbst in zwei Personen aufgespalten wurde (desselben oder des anderen Geschlechts) — und die lebenslange Suche eines nach dem anderen ist lediglich ein Ausdruck der Sehnsucht, die Ganzheit zurückzuerlangen. Die romantischen Saiten in mir schwingen zu solch einer Idee, so wie eine Violine eine sympathische Resonanz mit einer anderen Violine erzeugt, wenn beide exakt auf dieselbe natürliche Frequenz eingestimmt worden sind.
Doch daneben wird ein existenzieller Akkord in mir angeschlagen, einer, der in Übereinstimmung mit der Aussage von Carolyn Heilbrun schwingt:

»Diejenigen, die verheiratet sind, sollten nicht, nach den Worten des alten Gesetzes, eine Person werden, sondern eine Vielzahl von Personen ... Wenn dein Gefährte nicht in der Lage ist, dich zu überraschen, dann befindet ihr euch tatsächlich in einer Institution ... gute Ehen, in der Literatur wie in der Wirklichkeit, haben mehr mit Freundschaft als mit Romantik zu tun ... Die Ehe unterscheidet sich vom Begehren, denn in der Ehe täte man besser daran, seine oder ihre Konversation interessant zu finden.«

Das heißt nicht, daß die Ehe für Heilbrun ein Umgehen, Verleugnen oder Aufgeben von Sex ist, im Gegenteil: »Eine der traurigsten und kostspieligsten Überzeugungen unserer Kultur ist, daß Freundschaft und Sex in unterschiedlichen Bereichen angesiedelt sind.«* (* Heilbrun, »Hers«, Kolumne, a.a.O., Zweihundertfünfzig Jahre früher schreibt Mary Astell in Some Reflections Upon Marriage: »Der, der nicht Freundschaft zum ersten Beweggrund für seine Wahl macht und ihr vor jeder anderen Überlegung den Vorzug gibt, der verdient keine gute Ehefrau.« (Neuauflage der Ausgabe von 17 30 durch die Source Book Press, New York 1970), S. 18.)

Verschlüsselte Botschaft Nr. 17
Sie kennen einander inzwischen so gut, daß sie nicht mehr die Sätze der oder des anderen beenden müssen: sie können die jeweils ungesprochenen Sätze hören. Er sagt ihr und sie sagt ihm, daß wer immer auch zuerst stirbt, die oder den anderen nicht so ganz und gar allein zurücklassen würde, da es für jede/n von ihnen durchaus möglich sei, allein eine vollständige Unterhaltung zwischen beiden zu führen: »Ich weiß, was sie dazu gesagt haben würde!« »Ich kann seine Antwort hören, als befände er sich im Raum!« (Dies macht das Streiten allerdings schwierig, solange sie beide leben, denn selbst, wenn es eine/r von beiden schafft, eine ganz besonders grundlos gemeine Bemerkung zu unterdrücken, kann die oder der andere doch hören, wie sie schweigend gedacht wird.) Manchmal sprechen sie zueinander in Kürzeln, die andere Menschen nicht verstehen. Jede/r versteht Bände in den Ein-Wort-Bemerkungen der anderen Person.

Diese erstrebte Autonomie, dieses Zusammenkommen von Gleichen, ist wohl kaum von den alten Ehegesetzen unterstützt worden, auf die sich Heilbrun bezieht. Tatsächlich war es so, daß das Gesetz diese eine Person, zu der Ehemann und Ehefrau wurden, als den Ehemann bezeichnete. Und das ist nicht, was das chinesische Bild mang meint. Es ist statt dessen das Bild von einem Halbvogel, der vom anderen vereinnahmt wird und verschwindet — während der andere munter mit dem Flügel schlägt und behauptet, er könne sehen und fliegen.
Doch in jenen Augenblicken, jenen »Perlen der Empfindung«, jenen Tagen und manchmal, oh herrlichen, Wochen, wenn zwei Menschen einer Ehegemeinschaft sich einander tatsächlich annähern, autonom, doch vor einem Hintergrund, der reich ist an gemeinsam erfahrener Vergangenheit — ah, dann sehen die Augen des Vogels wie durch kohärentes Licht, und der Vogel schwingt sich auf in die Höhe.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 18
Es einmal sagen, ohne Unterwürfigkeit oder Angst davor, ohne caveat: Daß ich dich liebe, mein Liebster, mit dem ältesten, tiefsten, weisesten, dem menschlichsten und poetischsten Teil von mir, und es immer tun werde, und da ist keine Chance für irgend etwas anderes, du die Ausdruckskraft eines Kindes das im Westen siedelt, du der Alptraum, du der Niederreißer von Türen, du der Zubereiter von Omelettes während ich die New York Times beim Gedichtschreiben lese, du der jetzt nickt und später versteht, du der du Rechtschreibung kannst, du der es lernt zu lachen, du der du von der Gnade so gestraft bist, daß du sie niemals genießen wirst, du nach dessen jüngstem Teilchen das älteste meiner Teilchen greift, du der mutige Faun der den Tanz des scheuen Fauns als Verkleidung tanzt, du der du zu besessen bist vom Unvermeidlichen als daß du ein Fatalist sein könntest, du der du irgendwo noch immer und für alle Zeiten die Haarnadeln eine nach der anderen aus meinen Haaren ziehst, du der du solche Kraft hast und es niemals gewußt hast während ich mir meiner Kraft bewußt war und sie niemals nutzen konnte, du der du dich an das erinnerst was ich sagte bevor ich vergaß es zu sagen — eine deiner Biosekunden und eine der meinen sind für alle Zeiten zur Helix ineinander verschlungen in der RNS der Ewigkeit. Ist es denn ein Wunder, daß wir all dem nicht jeden einzelnen Tag unseres Lebens gerecht werden können?

Der Rest der Zeit wird mit Ahnungen von Intimität zugebracht, obwohl die unausgesprochene Nebentextsprache sogar in solchen Zeiten eine Partnerschaft ausdrücken kann. Lincoln Kirstein hat in seinem Buch Ballet Alphabet unwissentlich darüber geschrieben: »Tänzer, die aus Gewohnheit oder aufgrund besonderer Vorliebe oft miteinander tanzen, gewinnen mit der Zeit ein Gespür für die körperliche Gegenwart des anderen, die sich in der Sprache des Tanzes dem Publikum gegenüber in einem exquisiten gegenseitigen Gewahrsein oder einer übermenschlichen Höflichkeit füreinander ausdrückt.«
Die Vorstellung einer wirklichen Komplementarität — die überhaupt nichts mit der Vermischung der Persönlichkeiten, geschweige denn mit der Unterordnung eines Elementes unter das andere, zu tun hat — wurde über ein von Niels Bohr eingeführtes Konzept zum wichtigen Bestandteil der modernen Physik. Dr. Fritjof Capra, selber Physiker, schreibt:

  • »Auf der subatomaren Ebene existiert Materie nicht mit Sicherheit an bestimmten Orten, sondern zeigt eher eine »Tendenz zu existieren«, und atomare Vorgänge laufen nicht mit Sicherheit zu definierten Zeiten und auf bestimmte Weise ab, sondern zeigen eher »Tendenzen zu erscheinen« ... Die Quantentheorie hat somit die klassischen Begriffe von festen Körpern zerstört ... subatomare Teilchen (sind)... nur als Zusammenhang zwischen der Vorbereitung eines Experiments (durch den Physiker) und der darauffolgenden Messung zu verstehen ... Der menschliche Beobachter bildet immer das Schlußglied in der Kette von Beobachtungsvorgängen ... Dies heißt, daß die klassische Vorstellung einer objektiven Beschreibung der Natur nicht mehr gilt.«[7]

Ein anderer Physiker, J. A. Wheeler, schlug vor, das Wort Beobachter eines Versuchs durch Teilnehmer zu ersetzen, denn »das Universum ist ein teilnehmendes Universum«[8] (Hervorhebung R. M.)
Es mag so aussehen, als käme ich zu weit vom Wege ab, wenn ich zur Beschreibung oder Analyse der Ehe Metaphern der Neuen Physik benutze. Doch es erscheint mir nötig, denn sowohl Männer als auch Frauen haben die Ehe so lange als statischen, nicht dynamischen Zustand gesehen, als eine durch die patriarchalen Beschränkungen von MANN und — ja, auch von FRAU, definierte, vorgeschriebene Institution. Wir alle müssen zur Erkenntnis erstaunt werden, wie relativ diese Betrachtungsweise ist, in welchem Ausmaß sie quantifiziert worden ist. Demzufolge sind Relativitätstheorie und Quantentheorie hier recht nützlich. Wenn die Frauen und Männer des einundzwanzigsten Jahrhunderts den Ehebund in Sands Worten »zerbrechen und neugestalten« sollen, zu etwas, das in gegenseitigen Verbindungen lebt, zu etwas, das beide nährt und beiden Respekt erweist, etwas, das menschliche Bedürfnisse erfüllt, statt sie zu umgehen, dann meine ich, daß wir alle mit radikal neuen Ideen über dauerhafte Bindungen experimentieren müssen.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 19
Sie fangen Mut voneinander auf wie Funken. Sie sind auf einer Party, die für einen befreundeten Pianisten nach dem Konzert gegeben wird. Wir befinden uns in der Mitte der sechziger Jahre. Monatelang haben Landarbeiter in Kalifornien um die Anerkennung ihrer Gewerkschaft gekämpft; monatelang hat sich im ganzen Land ein Konsumboykott gegen Trauben und Salat verstärkt, der die Produzenten dieser Erzeugnisse zu Verhandlungen mit der Landarbeiter-Gewerkschaft zwingen soll. Die Nach-Konzert-Gala ist eine Werbeaktion im Schauraum des Klavierherstellers, dessen Instrumente ihr Freund, der Konzertpianist, ausschließlich spielt. Überall stehen große Konzertflügel, die Deckel sind aufgestellt, innen glänzen die Saiten. Die geladenen Gäste wandern plaudernd umher, Champagner wird gereicht von den einzigen schwarzen Menschen, die anwesend sind, den uniformierten Kellnern. Am hinteren Ende des Raumes befindet sich ein langer Tisch, voll von Schüsseln mit Kaviar und Platten mit Brie und Weißbroten. Mitten auf dem Tisch steht eine riesige Schale, hochbeladen mit Trauben — grüne, rote, purpurne Trauben, die ihre Mißachtung des Farmarbeiterelends wie ein Füllhorn ausschütten oder geradezu proklamieren. Sie versucht zu plaudern. Er versucht, nett zu sein. Sie tauschen einen Blick. Gemeinsam gehen sie zum Gastgeber und bringen ihr Unbehagen über die Trauben zum Ausdruck. Hat er vielleicht noch nichts über den breit publizierten Boykott gehört? Der Gastgeber gibt sich defensiv und trotzig. Er hat die Trauben mit Absicht auf den Tisch gebracht, er mißbilligt, daß die Arbeiter »dem Geschäft schaden«. Er geht fort und läßt die beiden stehen. Sie starren auf die Trauben. (Zufällig mögen sie beide Trauben.) Sie wechseln einen weiteren Blick. Kein Wort wird gesprochen. Sie gehen rasch zum Tisch und laden sich Haufen von Trauben auf, gehen dann noch rascher zu den Konzertflügeln und schütten die Trauben in die Saiten, gehen von einem Flügel zum nächsten und quetschen die einzelnen Trauben sorgfältig durch die Saiten. Die erstaunten Gäste schauen zu, erstarren ungläubig. Die Kellner murmeln und lachen (sehr leise). Die beiden greifen sich zwei Gläser voll Champagner und trinken auf (1) die Landarbeiter und (2) die schwarzen Kellner. Dann stellen sie die Gläser ab und rauschen davon. In den folgenden Jahren werden sie sich, einzeln und zusammen, fragen, ob diese Tat wirkungsvoll war (grandios? bühnenhaft skandalös? selbstgefällig?) und sie werden echte Zerknirschung darüber zum Ausdruck bringen, daß sie Musikinstrumente beschädigt haben (Klaviere duliebergott). Doch darum geht es nicht. Damals schien es die einzig ehrenhafte Möglichkeit: sie versuchen, den Gastgeber zu überzeugen, sie tauschen einen Blick aus, kein Wort wird gesprochen, sie handeln. Sie fangen Mut voneinander auf wie Funken.

Wenn, wie Feministinnen schon seit geraumer Zeit behaupten, die Beziehung zwischen den Geschlechtern die Hauptursache für all die Qual der menschlichen Spezies ist; wenn diese Teilung und Entfremdung, die älteste Form der Unterdrückung, tatsächlich das Modell für Rassismus, Klassenteilung, Nationalismus, Krieg, Armut und ökologische Katastrophen abgegeben hat, dann muß ganz klar dieses Grundproblem gelöst werden; es ist der Schlüssel zur Erschließung anderer Lösungen. Wenn vergleichsweise eine Frau und ein Mann den Mikrokosmos für den planetarischen Sexismus darstellen, der ihnen von den Bildern von MANN und FRAU aufgezwungen wird, dann ist die Ehe ein Schlüssel im Schlüssel — denn sie ist schlimmstenfalls ein Struktursymbol für das patriarchale System sowie bestenfalls ein Experiment des harmonischen Zusammenlebens (jedenfalls in etwa). Sie ist, politisch gesprochen, ein kleines Universum. Bis jetzt wurde dieses Universum durch die klassischen Konzepte und streng deterministischen Gebote von MANN wahrgenommen. Es ist an der Zeit, sie zu zerstören, und zwar mit Hilfe einer Quantentheorie der Gefühle und einer Relativitätstheorie der Wahrnehmungen, was impliziert, daß dieses kleine Universum als ein teilnehmendes anerkannt werden muß.
Die Musiktheorie kann uns eine weitere Metapher liefern: »In der Musik bilden sechs Noten gleicher Länge eine rhythmische Ambiguität — sind es zwei Gruppen zu 3 oder drei Gruppen zu 2? Diese Ambiguität hat einen Namen: Hemiole.[9] Chopins Walzer, Opus 42, oder Etüde, Opus 25, Nr. 2 sind hervorragende Beispiele von Hemiole. Genau so, in all ihren Komplexitäten ist eine Ehe — wenn man nicht dogmatisch und kleingeistig darauf besteht (wie MANN es getan hat), daß eine rhythmische Doppeldeutigkeit immer nur als eine ihrer möglichen Rhythmen gehört werden kann. Das ist reiner Sexualfundamentalismus, wie wir gesehen haben.
Noch ein weiterer Gesichtswinkel des holographischen Mikrokosmos der Ehe wurde von den Chinesen (wieder einmal) in zwei verschiedenen Bedeutungen eines Wortes eröffnet: woo kann Wolke bedeuten oder ein Nebel der Verwirrung, der entsteht, wenn das weibliche und das männliche Prinzip des Universums einander entfremdet sind und nicht mehr aufeinander reagieren; mit einem anderen Schriftzeichen geschrieben heißt woo auch »ein Zustand zwischen Leere und Nichts«.[10] Es ist ein Zustand — ethisch, emotional, praktisch und geistig — dem sich die meisten Gesellschaftsordnungen auf diesem Planeten schnell nähern oder an dem sie schon angelangt sind.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 20
Ich bin eine Frau, die versucht, das Zentrum eines Strudels zusammenzuhalten, die versucht, ganz zu machen, was fragmentiert ist, die versucht, die Dichte dessen zu verstehen, was sich als völlig simpel ausgibt, und die Einfachheit dessen, das sich als hoffnungslos verwickelt darstellt. Dies ist nicht mit Angst zu erreichen, das weiß ich. Noch wird es durch Mitleid erreicht werden.

Im Herzen des teilnehmenden Universums liegt gegenseitige Abhängigkeit, die jedoch aus gleichermaßen integralen und integrierten Bestandteilen besteht — nicht eine gegenseitige Abhängigkeit, die auf einer uneingestandenen einseitigen Abhängigkeit basiert. George Eliot hat diese uneingestandene Abhängigkeit ironisch in »Die Spanische Zigeunerin« beschrieben:

Frauen kennen die vollkommene Liebe nicht:
Sie lieben Stärke und können der Stärke entsagen;
Der Mann klammert sich fest, weil das Wesen,
das er liebt, schwach ist und ihn braucht.

Auf einer Konferenz, die 1980 von der UNITAR[11] in Oslo veranstaltet wurde, trafen sich an die siebzig Frauen verschiedener Länder, um das Thema »Kreative Frauen in sich wandelnden Gesellschaften« zu diskutieren. Die angesehene japanische feministische Schriftstellerin Keiko Higuchi elektrisierte die Plenarsitzung mit der Schlichtheit ihres Vorschlags: Sie hatte beobachtet, daß die japanischen Männer nicht in der Lage sind, ihre Unterhosen zu finden. Jeden Morgen, so erklärte Higuchi mit ernsthafter Miene, fragt ein japanischer Mann seine Frau: »Wo ist meine Unterhose?« und jeden Morgen findet sie die Hose für ihn — in derselben Schublade oder demselben Fach, wo sie immer liegt. Higuchi stellte die Hypothese auf, wenn alle Frauen an einem vereinbarten Morgen antworten: »Ich weiß es nicht«, dann würde das gesamte Regierungs- und Wirtschaftssystem von Japan zusammenbrechen. Die Männer könnten sich nicht ankleiden, nicht zur Arbeit gehen, nicht funktionieren. Abschließend sagte sie bescheiden, sie wisse natürlich nicht, ob der Sachverhalt in anderen Kulturen genau so sei, noch wünsche sie, unhöfliche kulturelle Unterstellungen zu machen. Aber trotzdem schlage sie vor (ganz diskret natürlich), daß, sollten anderswo ähnliche Zustände herrschen, an einem einzigen Tag eine unblutige Weltrevolution stattfinden könne, wenn die Frauen aller Nationen in Sachen Unterhose schlicht mit dem radikalen, aufwieglerischen Satz »Ich weiß es nicht« antworteten. Nachdem sich die distinguierten internationalen Mitglieder des Plenums von ihrer schwesterlichen Heiterkeit der Anerkennung dieser weisen und humorvollen Empfehlung erholt hatten, und nachdem wir uns die Lachtränen aus den Augen gewischt hatten, hätte die Steigerung des Gemeinschaftsgefühls im Saal mit einem Seismographen gemessen werden können.* (* Eine kürzliche Studie, veröffentlicht vom American Journal of Public Health, hat herausgefunden, daß der Tod des Mannes wenig Einfluß auf die Langlebigkeit der Ehefrau hat, daß jedoch der Tod der Frau die Lebenserwartung des Mannes beträchtlich verringert (es sei denn, er fände eine neue Frau zum Heiraten). Verwitwete Männer zwischen fünfundfünfzig und sechzig zum Beispiel haben eine Sterberate, die 60% höher liegt als die verheirateter Männer derselben Altersspanne. Witwer, die wieder heiraten, haben allerdings eine niedrigere Sterbeziffer als ihre verheirateten Altersgenossen. (Vgl. »A Wife Helps — and Two Wives Help Even More«, Eine Ehefrau hilft — und zwei Ehefrauen helfen sogar noch mehr, A.d.Ü.), Ms., Februar, 1982, S. 13). In ihrem Buch The Future of Marriage (World Publishing Company, 1972) referiert Dr. Jessie Bernard Studien, die zeigen, daß in den USA die Selbstmordrate bei Junggesellen doppelt so groß ist wie bei verheirateten Männern, daß demgegenüber aber verheiratete Frauen größere Schäden in ihrer geistigen Gesundheit zeigen — phobische Reaktionen, depressive Tendenzen und Angst vor Nervenzusammenbruch — als verheiratete Männer oder auch Junggesellinnen. Die Ehe — als Institution — hat also ganz offensichtlich ihren Nährwert für Männer.)

Verschlüsselte Botschaft Nr. 21
Der zentrale Grund für die mangelnde Unabhängigkeit der Frauen ist die (uneingestandene) Abhängigkeit der Männer. Wenn die Männer ihre Abhängigkeit ehrlich zugeben könnten, dann wären die Frauen davon befreit, einen auf sie projizierten Mangel an Unabhängigkeit ausdrücken zu müssen.

Dies wäre ein sich weitendes Universum, ein teilnehmendes Universum, ein Universum, das sich seiner Selbst immer bewußter wird und damit sein volles Bewußtsein erlangt. Dies wäre eine Ehe im Prozeß der Selbstüberprüfung und Selbstentdeckung, eine Schaltkette von Teilchen, die Informationen austauschen, sogar über das Medium der Interferenzmuster, denn jedes Teil wäre zugleich die Summe aller Teile.

TRAUMDUETTE
Es ist keine Unmöglichkeit — diese holographische, hemiolische, periodisch wiederkehrende, relativistische Quantenbeziehung, dieses teilnehmende und selbstüberprüfende Universum. »Ich weiß, daß er mich träumt«, schrieb Rosellen Brown, »ich weiß es, denn ich träume seine Träume.« Die Traum-Ichs von Ehefrau und Ehemann, so wurde herausgefunden, führen ihre eigenen Nebentextdialoge, und die sind recht unabhängig vom wachen kommunikativen Austausch der bewußt Sprechenden. Dr. Ann Faraday, eine Wissenschaftlerin, die sich auf Traumforschung spezialisiert hat, nennt diese Dialoge »Traumduette«: »Dereine hat einen Traum, schlägt ihn ins ,Feld' des Partners und erwartet den Rückschlag ... eine Art nonverbaler Kommunikation zwischen zwei Personen, die unterhalb der Bewußtseinsschwelle vonstatten geht. Diese Begegnung reflektiert Gedanken, Gefühle und gegenseitige Befürchtungen, die auf andere Weise nicht offenbar würden.«[12] Dem »offenbar« würde ich noch »artikulierbar« hinzufügen. Wenn die beiden Duettpartner sich gegenseitig ihre Träume erzählen, so ist dies für Faraday in erster Linie eine »gefahrlose« Methode, unaussprechliche Gefühle auszusprechen (gefahrlos — denn wer kann für seine Träume zur Verantwortung gezogen werden?), und diese Kommunikation kann kumulativ Wahrheiten ans Licht bringen, die, je nach Tiefe und Rigidität, entweder eine Beziehung beenden können, wenn sie eines Endes bedarf, oder eine Beziehung retten, die zu neuer Lebenskraft fähig ist.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 22
IHR TRAUM-ICH: Er ist in seinem Arbeitszimmer und schreibt und ignoriert dabei die Welt, die täglichen Notwendigkeiten, mich, diese verdammten Telegramme und den Ärger. Ich gehe in mein Arbeitszimmer, versuche zu arbeiten, doch das Telefon hat sich geklont wie der Besen im Zauberlehrling und macht immer weiter: mein Arbeitszimmer füllt sich vom Boden bis zur Decke mit Telefonapparaten verschiedener Größe, und alle läuten.
SEIN TRAUM-ICH: Sie hängt am Telefon, wie immer, sieht unseren Wald der Tragik vor ihren Bäumen der vorübergehenden Krisen nicht. Ich muß auf das unablässige Klopfen an der Haustür reagieren, trotz meiner Angst, daß das nichts Gutes bedeutet. Sie reagiert nicht auf mein Flehen, daß wir wenigstens zusammen zur Tür gehen sollen. Also gehe ich allein und sehe zu meinem Entsetzen, daß mich ein riesiges böses Auge durchs Schlüsselloch anstarrt.
IHR WACHES ICH: Hast du wegen der Verabredung ange-fen, die du heute treffen solltest?
SEIN WACHES ICH: Nein, noch nicht. Ich fühle mich heute morgen nicht besonders. Ich habe letzte Nacht nicht gut geschlafen.

Ein Traumduett, einmal ausgesprochen, kann bis zu einem Grad vervollkommnet werden, wo der tatsächliche Traum keine Rolle mehr spielt. Einer der Partner gibt vor, einen Alptraum gehabt zu haben — um einen müden, herablassenden Trost hervorzulocken, vielleicht sogar einen Trost, der sich der doppelten Vorspiegelung bewußt ist. Aber ein Trost ist es doch, wie hohl oder kurzfristig oder trickreich erschlichen auch immer. Die oder der Tröstende ist für die Nützlichkeit des Tricks genauso dankbar wie die oder der Getröstete. Vielleicht sogar noch dankbarer?
Wenn es gelingen sollte, den scheinbar soliden Körper der Ehe durch ein Vergrößerungsglas zu betrachten, dann wird diese feste, fixierte, unnachgiebige Form in der Betrachtung verschwinden — und der Nebentext wird zurückbleiben, das Interferenzmuster, das auf dem elektromagnetischen Feld der Träumer vibriert, die einander überhaupt erst geträumt haben. Bei noch stärkerer Vergrößerung stellt sich heraus, daß die Teilchen wiederherstellbare Ganzheiten sind, jede mit einer eigenen unverletzlichen Integrität — egal, wie sehr sie ineinander aufzugehen, damit einverstanden zu sein oder sich dem zu widersetzen scheinen.
Wie oft habe ich mich zum Beispiel gefragt, warum ich die Traurigkeiten, die Episoden des Zorns, die im Kampf erstarrten Stagnationen zwischen meinem Mann und mir aufschreibe, und zwar viel öfter als die Durchbrüche, die Augenblicke des Entzückens, die Zeiten heimischer Zufriedenheit oder wirklicher Freude? Ist es, so habe ich mich gefragt, weil »die glücklichsten Frauen wie auch die glücklichsten Nationen keine Geschichte haben«? (wieder George Eliot, aber von Tolstoi entliehen). Oder ist es, weil ich lediglich gegen eine Tradition reagiere, nach der Frauen über Liebesbeziehungen nur positiv sprechen, weil die Liebe, wie es heißt »der Frauen ganzes Leben« ist. Oder ist es, weil —

Verschlüsselte Botschaft Nr. 23
Ein neuer Beinahe-Frühling, ein weiteres sterbendes Feuer, das eine letzte Flamme im Kamin freigibt. Und dasselbe Paar — die jetzt eine andere Frau und ein anderer Mann sind — sitzen davor. Aus der Zeit, aus dem Sinn. Er spricht von Wahl, sie von Begehren. Keine/r versteht so recht, was es ist, das keine/r versteht. Wir gehorchen beide den gleichen physikalischen Gesetzen, doch ist jede individuelle Perspektive einzigartig. Diese Frau und dieser Mann sind relativ — verwandt zueinander. Jede/r verflacht an Dimension (aber nur für den Beobachter, nicht für sich selbst) mit derselben Geschwindigkeit, in der sich der oder die andere verändert, weil sich jede/r in der Zeit ändert, und in der Zeit wird die Zeit verzerrt. Sie spricht von Wahl, er von Begehren — als ob in Wirklichkeit nicht jede Energie und jede Masse äquivalent wären. Salzwasser quillt aus dem Auge, als wäre das Auge eine Bergquelle und das Wasser frisch. »In der gesamten Astrophysik geht es«, so sagt der Wissenschaftler, »um das Bestreben der Natur, die in (der) Materie vorhandene Energie freizusetzen.«

in der gesamten feministischen Politik, so tippt eine Frau auf ein flaches Stück Papier, das von Atomen wimmelt, geht es um genau dieselbe Sache.
Oder ist es, weil ich nicht ernsthaft meine Abhängigkeit zugegeben und ihn so davon befreit habe, seinen auf ihn projizierten Mangel an Unabhängigkeit mir gegenüber zum Ausdruck bringen zu müssen? Wurde meine Frage bereits von Käthe Kollwitz beantwortet, die mir mein eigenes Gesicht Jahre vor meiner Geburt gezeigt hat:

  • »Fing neulich an, in den alten Tagebüchern zu lesen ... nichts aufgeschrieben, wenn Karl und ich uns zusammengehörig fühlten und beglückten, aber lange Seiten, wenn wir nicht zusammenstimmten. Gerade hier hatte ich beim Lesen recht das Gefühl der Halbwahrheiten des Tagebuches (so wie ein Halbvogel?) ... Immer hatte ich neben mir den Karl. Und das ist mein Glück, das mir erst in den letzten Jahren so ganz klar wird, daß ich und er zusammen sind ... Er ist auch nicht mehr derselbe wie früher, wie ich nicht mehr dieselbe bin.«[13]

Martha Kearns schreibt in ihrem Buch Käthe Kollwitz, Woman and Artist, daß Kollwitz nach dem Tode ihres Mannes dieses Ereignis sehr schlicht in ihrem Tagebuch vermerkte: »Karl ist gestorben, am 19. Juli, 1940.« Und genau so schlicht fügt Martha Kearns hinzu: »Von diesem Tage an benutzte Käthe einen Stock zum Gehen.«[14]

INDRAS NETZ
Worauf wird die Perle der Empfindung aufgereiht? Wird sie lediglich auf die »Alltäglichkeit« aufgereiht, die von relativ Fremden bewohnt wird, die Höflichkeiten tanzen, Alpträume träumen, versuchen zu sehen und zu fliegen?

Verschlüsselte Botschaft Nr. 24
Im Vorwort zur Princeton-Ausgabe von Kirkegaards Furcht und Zittern schreibt Walter Lowrie, der Leser würde es kaum erraten, daß Furcht und Zittern und Wiederholung »von ein und demselben Thema handeln ... der unglücklichen Liebe Sciren Kirkegaards; denn die Analogien, die er zur Illustration seiner Krise wählt (Abraham, Hiob, usw.), scheinen auf den ersten Blick dem Thema unendlich fern zu sein.« (In anderen Worten, die bloße menschliche Liebe scheint auf den ersten Blick solch Ernsten Themen wie Leben, Tod, Opfer, Leid, Glaube, Standhaftigkeit, existentielle Angst und religiöse Ekstase unendlich fern zu sein.) Kommt ganz auf die Schärfe des ersten Blicks an, Walter.

Es gibt noch eine letzte Frage, die auch in den Bereich, wie sich Dinge vom patriarchalen Standpunkt aus darstellen, gehört — egal ob auf den ersten oder zweiten Blick. Die Einführungsanalogie zu diesem Kapitel könnte leicht der fundamentalistischen Tendenz zur dichotomischen Aufspaltung zum Opfer fallen: entweder man findet sich mit der unverbindlichen Liebesaffäre in ihrer zweidimensionalen Intensität ab oder mit der dauerhaften Bindung in ihrer gedämpften (sprich: dumpfen) Dreidimensionalität. Natürlich würden die meisten Frauen das letztere wählen und viele Männer das erstere. Und das tun sie auch. Aber diejenigen, die daraus folgern, dies sei ein Handel, der in »der Natur der Sache« begründet ist, haben Unrecht — und wenn dies tausendmal in den Werken männlicher Schriftsteller behauptet wurde. Es ist tatsächlich zum hochgradigen Klischee geworden. Sogar die augenscheinliche Trennung der Themenbereiche in diesem Buch (sexuelle Leidenschaft wird in Kapitel IV abgehandelt, dauerhafte Bindung in Kapitel V) könnte von einigen dahingehend interpretiert werden, daß meiner Ansicht nach Begehren und sexuelle Leidenschaft nur in Liebesaffären vorkommen können, während Liebe (und natürlich auch Begehren), aber nicht sexuelle Leidenschaft zur Ehe gehören.
Aber was wäre, wenn das zweidimensionale Acrylgemälde innerhalb einer dauerhaften Liebesbindung sich plötzlich zur Drei-dimensionalität vertiefen würde? (Und, gestehen wir es uns ruhig ein: viele, sogar die meisten Liebesaffären sind durchwegs, oder zumindest in der Phase ihrer Auflösung — fad, fad, fad.)
Ich denke an Li Ch'ing-Chao, Chinas größte Dichterin und ihren Mann Chao Ming-ch'en. Sie lebten zur Zeit der Sung-Dynastie, etwa 1080 bis 1150, und ihre Ehe ist in China seit tausend Jahren als die ideale Beziehung gefeiert worden. Ch'ing-Chaos Dichtung, hauptsächlich in den tz'u und shih Formen, umfaßt Themenbereiche von der satirischen Behandlung der Misogynie, die dem Konfuzianischen Denken immanent ist, über mutige politische Arbeiten zu zeitgenössischen Hofintrigen, bis hin zu einer exquisiten, bewegenden Lyrik über die Einsamkeit der Witwenschaft und des Alters. Aber ihre größten Gedichte sind wahrscheinlich die, in denen sie den emotionalen, intellektuellen und erotischen Kontrapunkt zwischen zwei autonomen Individuen rühmt, die in einer dauerhaften Liebesbeziehung leben. Diese Gedichte sind auf köstliche Weise sexy und erfüllt von Intelligenz und Energie. »Licht füllte unser Leben wie Weihrauch in unseren Ärmeln«, schreibt sie, »Wir tranken einander zu mit warmem Wein / und schrieben Gedichte auf geblümtes Papier.« An einer anderen Stelle beschreibt sie, wie sie und ihr Mann ihre Kleidung verpfändeten, um für das Geld Reibedrucke von Steininschriften und kleine antike Bronzeplastiken für ihre Kunstsammlung zu erwerben. Abends saßen sie zusammen in meditierender Bewunderung vor einer Neuerwerbung — für die Dauer, die eine Kerze zum Herunterbrennen braucht, oder sie spielten ihr privates Rivalitätsspiel: wer schafft es, die meisten Gedichtszeilen zu identifizieren, die der andere zitiert. Manchmal, so schrieb sie, waren sie von Entzücken erfüllt über ihre eigenen Gedichte und die anderer Dichter und so voll von Liebe zueinander, daß sie aus lauter Freude anfingen zu lachen, und dabei fielen ihnen die Teetassen, aus denen sie getrunken hatten, vom Schoß. Zugegeben, Ch'ing Chaos eigenes Leben und ihr eheliches Leben mit Ming-ch'en waren für die Zeit und den Ort unkonventionell. Viele Menschen waren schockiert und entrüstet darüber. Doch die beiden haben sich und den anderen weiterhin erforscht, in ihren Gedichten und ihrem täglichen Leben.[15]
Also ist eine dauerhafte Bindung, die so lebhaft wie dimensional ist, nicht unmöglich, wie wir es schon immer vermutet haben. Und das ist noch nicht einmal das Wichtigste, wie mein Mann und ich geglaubt hatten. Es kommt einmal die Zeit, wo eine Ehe durchsackt, wenn das Neue vorbei ist und eine neue unverfrorene Schamlosigkeit sich erst zeigen muß; das kann die Beziehung entweder beenden, oder aber sie in eine Intensität implodieren, die keine Gedämpftheit oder Fadheit kennt, die sich mit nichts zufrieden gibt — die experimentell ist, sexuell leidenschaftlich, und völlig unberechenbar. Das ist harte Arbeit. Das ist gefährlich. Das ist erhebend. Deshalb, liebe Leserin und lieber Leser, bin ich verheiratet geblieben. Denn wenn dieses Dritte geschieht, erscheint davor jede Metapher armselig.
Was würde wohl geschehen, wenn die Perlen sich ihrer selbst bewußt würden und beschlössen, sich aus sich selbst zu vermehren? Was wäre, wenn jede Perle — während sie weiterhin völlig und einzigartig sie selbst bliebe — nicht nur die ihr am nächsten aufgereihte reflektierte, sondern jede andere Perle, die sie erspürt?
Dann wären die Perlen an Indras Netz aufgereiht — eine Metapher, die im Mahayana-Buddhismus verwendet wird, um die gegenseitige Durchdringung aller Dinge des Kosmos zu beschreiben. Die Avatamsaka Sutra beschreibt dieses Netz, das sich endlos durch das Universum zieht, in dem die vertikalen Stränge die Zeit umspannen und die horizontalen den Raum durchziehen. Dem Netz entlang reihen sich schimmernde Perlen, eine jede vom (kohärenten?) Licht des Existierenden beschienen und jede reflektiert das Licht von jeder anderen Perle in diesem riesigen Netzwerk. Jede Perle ist deshalb nicht nur sie selbst, sondern ist zugleich jede andere Perle, insofern als sie mit jeder anderen Perle verknüpft ist.* (* Die letzten Gesänge des »Paradiso« in Dantes Commedia erheben sich zu einer erstaunlich ähnlichen ekstatischen Vision.) Diese Verknüpfung ist aktiv, dynamisch, fortlaufend — ein Tanz oder ein Summen oder Brummen, so durchdringend und überall gegenwärtig, daß es sogar als Stille erscheinen kann — ähnlich der »Rastlosigkeit« subatomarer Teilchen, die auf ihr Eingesperrtsein reagieren und passiv wirken, wenn sie unrelativistisch in einem unbeweglichen Objekt gesehen werden, in einem Stein etwa oder einem Stuhl. Oder in einer Ehe. So unendlich kann die Bewegung sein, daß Bewegung und Ruhe als ein und dieselbe Sache vereint werden.
Jede Perle der Empfindung ist praktisch eine Holographie, durch die das Licht der Kommunikation strömte und die Dimensionen dieser speziellen Perle mit der all-dimensionalen Energie grenzenloser Kommunikation erleuchtete. Wie ähnelt dies Bessie Heads Definition der Liebe in A Question of Power[16] — »ein gegenseitiges Nähren, nicht das ghulartige Aufzehren, bei dem sich einer auf Kosten des andern sättigt«.
So zu leben hieße, die Farben des Hologramms zu intensivieren, durch Neugierde und Begehren, bis zu einem Punkt, wo sie seiner Tiefe gleich werden — handgreiflich, lebendig, selbstbewußt sinnlich. Diese Farben in der Tiefe und nicht auf der flachen Leinwand wären Farben, die sich MANN und FRAU in ihrer Farbblindheit niemals vorstellen könnten. Farben, die nur zwischen Individuen möglich sind, die einander tief genug verstehen, um zu wissen, daß sie Fremde sind, und in noch stärkerer Vergrößerung, ewig und vollkommen — Mysterium, Entzücken und Wunder —, daß sie dasselbe sind.
Solch eine Ehe könnte frei im Raum hängen, ein Kunstwerk, das sich durch Selbsterforschung verbreitet, das sich mit der Kühnheit absoluter Festigkeit verhält, doch diese Festigkeit ohne Unterlaß in Frage stellt, indem es die immerwährende Bewegung in sich selbst anerkennt, sich keines vorgefaßten Ergebnisses gewiß, eine Bewegung zweier interagierender Komponenten, die eine Kommunikation von Information entlang des kohärenten Lichtstrahls ihrer Liebe hin- und herschicken, ein sich ständig vollziehender Akt der Freiheit.

Verschlüsselte Botschaft Nr. 25
Allmähliches Reifen.
Die Empfindung von Anspannung, die aufwogt und verebbt, das Zerschmelzen von Anmaßung und Vortäuschung, der Reiz des Ungewissen aber auch der Gewißheit, Bände, gelesen in einem ausgetauschten Blick, das schlichte Sich-Freuen auf nicht-ganz-aber-fast-als-ob endlose Tage und Abende und Nächte und Morgendämmerungen, die sich in ruhigen Lebensrhythmen dahinstrecken, die gesegnete Alltäglichkeit, die Wertschätzung des Gewohnten, des Gewöhnlichen, dessen, das zum Vergessen bestimmt ist. Allmähliches Reifen.
Nur durch den Altersprozeß verliert der Wein seine Säure, gewinnt der Käse seine Reife. Ich dürste nach dem auserlesenen Tropfen nicht nur in dir, sondern auch in mir. Die Tiefe, der Körper, das Bouquet, die reiche runde Fülle, die langsam zu Kopfe steigt in einem anhaltenden Rausch. Das ist die Schönheit in dir, nach der mich immer verlangt hat mit all meiner messergleichen Schärfe, der wilde Friede, still vor Bewegung und so wirbelig, daß kein Auge es gewahr wird, die Stille so vollständig, daß sie von Tönen überquillt, die geträumte Berührung, im Schlaf erspürt, Wirklichkeit.
Und ich hatte recht zu wählen, recht zu warten, recht auszuhalten, recht zu fliehen, recht zu wagen, recht zurückzukommen, recht zu hoffen, recht vorauszusetzen, recht zu fordern, recht mich zu ändern, recht zu versuchen, recht zu glauben. Und er hatte recht zu wählen, recht zu warten, recht auszuhalten, recht zu fliehen, recht zu wagen, recht zurückzukommen, recht zu hoffen, recht vorauszusetzen, recht zu fordern, recht sich zu ändern, recht zu versuchen, recht zu glauben.
Wir hatten recht, uns zu lieben, und die Liebe immer und immer und immer wieder neu zu erfinden.

Schaut, wie die Hände zweier solcher Künstler einander durchdringen, während sie sich umfassen.