Die ungewisse Zukunft des Fleisches

Eine Anatomie der Kunst und der Technologie

Sie ist die Wahlmöglichkeit in Widerspruch zur Notwendigkeit; sie ist die Liebe, die blind mit dem Kopf gegen alle Hindernisse stößt, die ihr die Zivilisation in den Weg legt.
George Sand

Weil das Wesen der Technik nichts Technisches ist, darum muß die wesentliche Besinnung auf die Technik und die entscheidende Auseinandersetzung mit ihr in einem Bereich geschehen, der einerseits mit dem Wesen der Technik verwandt und andererseits von ihm doch grundverschieden ist. Ein solcher Bereich ist die Kunst.
Martin Heidegger

Das Geheimnisvolle ist das Schönste, was wir erfahren können. Es ist das Herz wahrer Wissenschaft und wahrer Kunst.
Albert Einstein

Notiz: 1980 entschied der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten, daß lebende Organismen patentierbar sind. Sofort begannen die Laboratorien der Pharmakonzerne neue Lebensformen zu produzieren, die sich bis dahin in der Experimentierphase befunden hatten: Bakterien für Impfstoffe gegen Hepatitis und Maul-und-Klauen-Seuche, Insulin, Interferon, bestimmte Hormone und verschiedene andere modifizierte Bakterien — beispielsweise eine Gattung, die Holzabfälle in Alkohol umwandeln kann. Der Präsident der Cetus Corporation, Peter J. Farley, sagte voraus: »In zehn oder zwanzig Jahren werden wir beliebig Baupläne für Tiere entwerfen können.«[1]
Notiz: 1978 wurde in England zum ersten Mal ein »Retortenbaby« geboren, ein Kind, das in vitro empfangen, dann ausgetragen und geboren wurde. Bei dieser Prozedur muß zunächst den Eierstöcken der Mutter ein Ei entnommen werden, das dann in einer Laborschale durch Sperma befruchtet wird und sich unterteilt, um schließlich in den Uterus der Frau eingepflanzt zu werden. Am 28. Dezember 1981 wurde das erste Baby dieser Art in den Vereinigten Staaten geboren; weltweit gab es davor vierzehn solcher Geburten.[2]
Notiz: Lichtwellen-Kommunikation, bzw. Glasfaser-Technologie wird bereits überall in der industrialisierten Welt angewandt, doch eigentlich steht diese Technologie erst am Anfang. Die AT&T (American Telephone & Telegraph-)Gesellschaft gab 1980 ihre Pläne bekannt, ein annähernd tausend Kilometer umfassendes Telefonnetz zu legen, das Boston, New York und Washington D.C. über Laser-Strahlen verbinden soll; die Kapazität jener Glasfaserkabel, die aus Schlingen haarfeiner von Laser-Strahlen durchströmter Glasfasern bestehen, kann bis zu achtzigtausend gleichzeitige Telefongespräche umfassen. Die Glasfaser — die bei geringerer Verzerrung mehr Information über eine größere Entfernung übertragen können — werden bereits für Glasfaser-Kabel, die auf dem Meeresboden verlegt werden sollen, getestet und sie werden wahrscheinlich eine entscheidende Rolle bei der »Verkabelten Stadt« des 21. Jahrhunderts spielen. Wohnhäuser, Schulen, Büros und Geschäftshäuser werden über Computer-Terminals miteinander verbunden, die Wort- und Bild-Informationen vermitteln.[3]
Notiz: »Protoplast-Fusion« ist die neueste Technologie auf dem Gebiet der Pflanzengewebe-Kulturen. Protoplaste sind Pflanzenzellen, deren Wände bestimmten Enzymen ausgesetzt werden und sich dabei auflösen; dadurch können Protoplaste von zwei unterschiedlichen Pflanzen verschmolzen und genetisches Material von Arten, die sich normalerweise nicht kreuzen lassen, kann gezielt miteinander verbunden werden. Die Pflanzengewebekultur selbst ist ein Prozeß künstlicher Zellreproduktion. Zellen vermehren sich millionenfach durch Zuführung bestimmter synthetischer Wachstumshormone, sowie Salz, Zucker und Vitamine; jede einzelne Zelle kann dazu stimuliert werden, eine ganze Pflanze hervorzubringen; aus jedem Gramm von Starterzellen können bis zu tausend ganze Pflanzen entstehen und innerhalb weniger Wochen pflanzfertig sein. In der Protoplast-Fusion liegt nicht nur die Möglichkeit, neue Arten eßbarer Pflanzen, sondern auch widerstandsfähigere, Schädlings- und Krankheits-resistente Pflanzen zu produzieren. Auch können pharmazeutische Chemikalien direkt aus den Pflanzenzellen gezogen werden; dieser Prozeß ist der Extraktion aus geernteten Pflanzen an Schnelligkeit und Sauberkeit überlegen. So können Penicillin, Herzmittel, Antitumor-Mittel oder auch Extraktionen aus den Zellen zweier seltener chinesischer Pflanzen gewonnen werden, die bei bestimmten Leukämie-Arten eingesetzt werden können. Aus den Gewebe-Kulturen des Eukalyptus kann Methanol-Treibstoff gewonnen werden; die Entwicklung von Gewebe-Kulturen des Gelbholzes (ein Verwandter des Gummibaums) könnte Latex produzieren; aus Zellkulturen der malaysischen Palme gewonnene Margarine wäre gehaltvoller und preiswerter. Und in Gewebekulturen gesammeltes Keimplasma kann eingefroren und später wieder aufgetaut und regeneriert werden — eine Möglichkeit, gefährdete Pflanzenarten zu erhalten und wieder anzupflanzen.[4] (Mehr als fünfzig in den USA heimische Pflanzenarten wurden in den letzten Jahrzehnten durch rücksichtslose Planung von Brücken, Dämmen, Tunneln etc. ausgerottet. Das Smithsonian-Institut und das Bundesprogramm für gefährdete Arten sagen voraus, daß noch etwa dreitausend amerikanische Pflanzen — etwa zehn Prozent aller Pflanzen dieses Landes — verschwinden werden, wenn dieser Trend anhält.)
Notiz: Mit einem Endoskop (ein in die natürlichen Körperöffnungen eingeführter Schlauch) durchgeführte Elektro-Chirurgie kann mit Hilfe von Computern die Notwendigkeit, bei chirurgischem Vorgehen menschliches Gewebe zu zerschneiden, drastisch reduzieren, und scheint besonders zur Behandlung von Magengeschwüren, Polypen, anderen Magenbeschwerden und möglicherweise auch krebsartigen Gewächsen geeignet.[5] Außerdem sind medizinische Diagnosetechniken durch Röntgenstrahlen, Schallwellen, Infrarotstrahlen, Radar und Ultraschall-Anlagen, die über sonst nicht wahrnehmbare Vorgänge in Gehirn und Körper Aufschluß geben können, ersetzt worden.
Notiz: Die Holographie (dreidimensionale Darstellung linsenlose Photographie), die heute noch so primitiv ist wie das Fernsehen um 1940, wird bis zum Jahr 2000 überall Anwendung finden: in den Schulen (die Schüler werden anhand dreidimensionaler Reproduktionen von Skulpturen, Baudenkmälern und Landschaften lernen können), in den Wohnungen (man wird »Rundum«-Filme, Balletts und Theaterstücke in Holovision sehen können) und in Wissenschaft und Industrie (Geologen, beispielsweise, werden die Tätigkeit von Vulkanen aus der Sicherheit ihrer Studierstuben heraus beobachten können).[6]
Notiz: In den USA werden jedes Jahr zehn- bis zwanzigtausend Kinder nach künstlicher Befruchtung geboren, ein Phänomen, das bereits einen Wust medizinischer, rechtlicher und ethischer Probleme hervorgerufen hat: hat der Samenspender irgendwelche elterlichen Rechte (Besuchsrecht beispielsweise) oder Verantwortung (Unterhaltszahlungen für das Kind)? Ist das Kind rechtlich gesehen »außerehelich«? Hat das Kind einen Erbschaftsanspruch? Hat die Mutter das alleinige Vormundschaftsrecht — oder hat sie das Recht, vom Samenspender Unterhaltszahlungen zu verlangen? Die Ärzte der Columbia-Universität in New York setzten sich dafür ein, die Spender genauer auf genetische Defekte hin zu untersuchen, da es vorkam, daß über den Samenspender Erbkrankheiten auf das Kind übertragen wurden. Und Armand M. Karow jr. vom Medical College in Georgia wies darauf hin, daß das Einfrieren des Spermas (um mehr Zeit für genaue Untersuchungen zu gewinnen) außerdem noch den Vorteil hat, die Fälle von Geburtsschäden und ungewollten Abgängen zu reduzieren; das Einfrieren scheint entartete Spermatozoen abzutöten, jedoch auch das Zahlenverhältnis der Geschlechter unter den Neugeborenen zu beeinflussen: im allgemeinen sind 51% der Neugeborenen männlichen Geschlechts, bei den Geburten durch künstliche Befruchtung hingegen sind 60% männlich. Andererseits wiederum hat der verstorbene Pierre Soupart, ein Pionier der Retorten-Baby-Forschung an der Vanderbilt-Universität, behauptet, er habe OFP (oocyte fusion product, Eimutterzellen-Fusion) entdeckt — eine Technik, die den »Klebstoff«, mit dem das Spermatozoon während des Befruchtungsvorgangs am Ei klebt, künstlich herstellt. Dr. Soupart hatte zwei Mäuse-Eizellen mit Hilfe dieser Substanz zusammengefügt und bewirkte auf diese Weise den Befruchtungsvorgang ohne Sperma, aus dem schließlich ein normales weibliches Tier entstand. Mit dieser Technik entstehen nur weibliche Nachkommen, da sie eine Art Parthenogenese darstellt.[7]
Notiz: Angehörige der NASA und Weltraumexperten der Privatwirtschaft schätzen, daß ab 1990 elektrische erdumkreisende Fahrzeuge und Weltraumstationen (die medizinische, landwirtschaftliche und industrielle Labors für Experimente in der Schwerelosigkeit enthalten) alltägliche Realität sein werden. Bis zum Jahr 2000 sollte die erste Weltraumstation den Mond umkreisen, womit die intensive Erkundung und Ausbeutung des Monds beginnen könnte. Im nächsten Jahrhundert würden sich Mondsiedlungen entwickeln, die zunehmend selbständiger würden (der zwei-Wochen-lange Mondtag und die Schwerkraft des Mondes, die nur 1/6 der Erdschwerkraft beträgt, bietet besondere Voraussetzungen für eine umwelt-kontrollierte Landwirtschaft in riesigen Glashäusern). Die Roboterwissenschaft ist bereits zu einem Punkte gediehen, wo — durch die Kombination von Fernsehhardware und Muster und Strukturen erkennender Software die schweren Arbeiten im Hoch-, Straßen- und Bergbau und bei der Landwirtschaft von Robotern übernommen werden können. Die Dreihundertjahrfeier der Vereinigten Staaten wird vielleicht auf der ersten selbständigen Mars-Kolonie gefeiert. Wenn die Regierung derartige Projekte nur unzulänglich oder gar nicht finanzieren sollte, so wird das die Privatwirtschaft übernehmen.[8]
Notiz: Die Wissenschaft der Bionik entwickelt sich rasch über das Stadium von Hörgeräten, Kontaktlinsen, Herzschrittmachern und Prothesen (für amputierte Gliedmaßen) hinaus zum »Biochip Implantat« — ein Protein-Chip, der so winzig ist, daß er sich direkt mit dem menschlichen Nervengewebe verbindet und Blinden das Augenlicht, Tauben das Gehör zurückgibt, möglicherweise beschädigtes Rückenmark ersetzen und/oder dem menschlichen Gehirn ein Speichervermögen und die Fähigkeit zu mathematischer »Zauberei« verleihen könnte, mit denen es den stärksten Computern Konkurrenz machen könnte. Es ist durchaus vorstellbar, daß die Molekular-Elektronik innerhalb der nächsten fünfzig Jahre ein verträgliches Symbiont entwickeln wird, das ins Gehirn eingepflanzt werden kann, um dort zu wachsen, mit den Nerven zu kommunizieren, von ihnen zu lernen, sie nachzuahmen und zu ergänzen. Das wäre dann der bionische Mensch, eine neue Spezies, bei deren Entstehung menschliche und Computer-Intelligenz eine »Ehe« eingegangen sind.[9]
Notiz: Das Journal of the American Medical Association führt mehr als dreißig fötale Defekte auf, die schon heute durch in Utero -Chirurgie korrigiert werden können, und schätzt, daß diese bald durch pränatale Diagnose und Therapie abgelöst wird, die — zusammen mit den in letzter Zeit entwickelten Transplantations-Techniken (Niere, Herz, Knochenmark etc.) — einen wichtigen neuen Zweig der Medizin bilden wird. Als es noch keine erfolgreiche pränatale Operationstechnik gab, war die Früherkennungs-Diagnostik von Abtreibungsgegnern als »search-and-destroy missions«* (* milit.: eine Art Stoßtruppunternehmen mit dem Auftrag, ohne Rücksicht auf Verluste aufzuspüren und zu vernichten, A.d.Ü.) bezeichnet worden, da die Wahrscheinlichkeit groß war, daß Frauen, die von der schweren Schädigung ihres Fötus erfuhren, abtreiben würden. Nachdem nun die pränatale Chirurgie sich ausbreitet, sind diese Gruppen zu der Forderung eines generellen »Patienten-Status« für den Fötus übergegangen — unabhängig davon, ob die Frau, die ihn trägt, bei dieser Operation ihr Leben aufs Spiel setzen will (denn die findet ja nach wie vor in ihrem Leibe statt). Eine Kollision zwischen »fötalen« und »elterlichen« Interessen ist vorhersehbar. Diese neue Operationstechnik ist eine sehr zweischneidige Sache. Einerseits wird möglicherweise lange Krankenpflege und Fürsorge überflüssig, andererseits wird sich dadurch die Auseinandersetzung über die bereits gefährdeten »Träger«-Rechte (die Rechte der Frau als »Austrägerin« des Fötus) weiter verschärfen.[10]
Notiz: Um 1990 werden Computer- und Mikroprozessoren überall zu finden sein: im Auto, in der Wohnung (Heizung, Telefone, Küchengeräte, Video-Recorder, Spieie und Pay-TV-An-schlüsse sowie die ganze Verwaltung privater Haushalte, wie Rechnungen bezahlen, Briefe schreiben, Steuererklärungen erstellen), in Büros (Telekonferenz-Anlagen, Textverarbeitung) und Läden (elektronische Überweisungs- und Abruf-Anlagen, die Schecks, Kreditkarten und vielleicht auch Bargeld überflüssig machen werden). Über Telefon- und Fernseh-Computer können ganze Bibliotheken dem Anwender zur Verfügung stehen.[11]
Notiz: Gegenwärtige medizinische Techniken werden auf allen Gebieten revolutioniert. Mit der Scanner-Technik werden Unregelmäßigkeiten im Schädelbereich sichtbar, die mit traditionellen Techniken nicht wahrgenommen werden könnten. »Künstliches Blut« (in der Form von Fluosol-DA wird es bereits seit den siebziger Jahren in Notfällen verwendet) wird in komplizierten Zusammensetzungen, die in ihrer Wirkung vielleicht dem übertragenen Blut entsprechen oder es sogar übertreffen werden, getestet.[12] Dialyse-Maschinen filtern das Blut von Patienten, die an Nierenversagen leiden und ersetzen die Nierenfunktion. Fluor-Zusätze im Wasser und neue »Vorsorge-Methoden« in der Zahnheilkunde, bei denen die Zähne mit einer Fluorid-Substanz überzogen werden, haben bereits heute die statistischen Werte bei Zahnverfall stark gesenkt und Ende der achtziger Jahre gibt es vielleicht schon den Impfstoff gegen Zahnverfall, der Löcher in Zähnen für immer verschwinden lassen wird. Ein Schwangerschaftsimpfstoff, dessen Wirkung jederzeit wieder aufgehoben werden kann, geht in die Testphase; möglicherweise wird er Frauen eine vorübergehende Immunität gegen Schwangerschaft bieten und Ende der achtziger Jahre zur Anwendung kommen. Dann wird es möglicherweise auch ein selbsttätiges Abtreibungsmittel geben (ein mit einer Chemikalie imprägniertes Vaginal-Pessar, das innerhalb weniger Stunden Wehen und den Ausstoß fötalen Gewebes verursacht). Forschungszentrum für dieses Mittel ist das John-Radcliff-Hospital in England, das dafür von der Weltgesundheitsorganisation finanziert wird.[13]
Notiz: Das Jahr 2020 wird als der frühestmögliche Zeitpunkt angesehen, an dem Energie aus Kernfusion allgemein zur Verfügung stehen könnte (Fusion ist der Energieprozeß der Sonne übertragen auf irdische Bedingungen, bisher wurde er mit »Erfolg« nur bei der Wasserstoffbombe angewendet). Damit könnte der Energiebedarf der Welt auf Tausende von Jahren hinaus gestillt werden, doch sind die Kosten sehr hoch und die Risiken enorm. Schon heute ist die Energiegewinnung aus der Kernspaltung (Atomkerne werden durch den Beschuß mit Neutronen in Teilchen zerspalten) durch Probleme bei der Reaktorsicherheit, beim Transport gefährlicher Materialien, bei der Atommüll-Beseitigung und beim begrenzten Vorrat an spaltbarem Material (Uran 235) in der Natur zu einem ernsten Gefahrenpotential geworden. Daraus entsteht die Notwendigkeit, Uran 238 und Thorium 232 in spaltbares Material umzuwandeln, wozu Uran 238 mit Plutonium 239 angereichert werden muß, und Plutonium wiederum ist das Grundmaterial für Atomwaffen und darum einem großen Diebstahlsrisiko ausgesetzt. »Weiche« Energiequellen und Techniken wie Sonnenenergie, Windräder, Umwandlung von Biomasse, Photozellen etc. bleiben nur dezentralisiert eingesetzt »weich«; Sonnenkollektoren in großem Maßstab auf erdumkreisenden Satelliten montiert und von einem Versorgungsunternehmen kontrolliert und verkauft, würden allein vom Umfang her »harte Technologie« bedeuten.[14]
Notiz: Gentechnik und Genchirurgie befinden sich noch im Anfangsstadium, dennoch zeichnet sich bereits die Möglichkeit ab, mit ihrer Hilfe Erb-, Blut- und Hautkrankheiten sowie Beeinträchtigungen des Verdauungsapparats und vielleicht sogar Krebs (auch solchen, dessen Ursachen nicht als genetisch angesehen werden) zu heilen. Andererseits ist gerade auf diesem Forschungsgebiet aufgrund von eugenischen Überlegungen und wegen der Möglichkeit, durch neue Kombinationen einen »RNS-Irrtum« zu begehen und eine gefährliche Virusgruppe freizusetzen, für die kein Gegenmittel vorhanden wäre, extreme Vorsicht geboten. Diese Vorsicht wurde bereits in verschiedenen Fällen von übereifrigen Wissenschaftlern außer acht gelassen.[15]

KEIN ENTWEDER/ODER
Die oben aufgeführten Techniken stellen nur eine kleine Auswahl aus den neuen wissenschaftlich/technischen Entwicklungen dar; sie sind, so futuristisch sie auch klingen mögen, keine Science-Fiction. Im Gegenteil, sie sind bereits heute vorhanden. Und sie werden immer häufiger angewandt, ihre Methoden vervollkommnen sich immer mehr, und sie verändern die Gesellschaft in zunehmendem Maße. Wir können in diesem Zusammenhang Santayanas sprichwörtlich gewordene Feststellung »wer die Vergangenheit vergessen hat, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen« abwandeln in »wer die Zukunft nicht verstehen kann, ist dazu verdammt, sie zu zerstören«.
Die American Association of University Women (AAUW) hat ein bemerkenswertes Buch veröffentlicht: Taking Hold of Technology: Topic Guide for 1981 — 1983. Es sollte, wegen seiner eingängigen Erklärungen, seines verständlichen Stils und seines allgemeinverständlichen entmystifizierenden Ansatzes von allen Frauen gelesen werden.[16] Das Problem selbst, von Sheila Tobias als »Angst vor der Mathematik« bezeichnet, ist, wie wir wissen, durch die patriarchale Kultur bei Frauen hervorgerufen worden. Es wird durch unsere »Angst vor der Technik« weiter verschärft. Diese Art von »Analphabetentum« ist noch gravierender, da die Macht, die zukünftigen Lügen zu definieren und zu formulieren, mehr und mehr bei den neuen Technologien liegt. Das AAUW-Buch stellt eine aufregende Bewußtseinserweiterung dar. Es zeigt, daß die drei vorherrschenden Haltungen gegenüber der Technik — Technik als Triumph, als Gefahr oder als reines Werkzeug — nicht nur zu simpel, sondern auch in sich widersprüchlich sind. Der Glaube, die Technik könne alle Probleme lösen (der »Technik-Tick«) kann uns ins endgültige Verderben führen. Die Kopf-im-Sand-Haltung andererseits, die Technik nur als etwas Böses ansieht und eine Zurück-in-die-Wälder-Lösung nach Rousseau empfiehlt, ist unrealistisch und atavistisch. (Wie wollen zum Beispiel die Antitechnologen mit der neuen Eiszeit fertigwerden, die für die nächsten zweitausend Jahre vorausgesagt ist? Zurück in die Höhlen?) Auch mit dem »nur-ein-Werkzeug«-Argument — alles hängt davon ab, wer die Technik kontrolliert — wird im Grunde nicht begriffen, was Technik eigentlich ist: »Eine Form des Lebens« wie Langdon Winner gesagt hat, mit komplexer Natur und komplexen Wechselbeziehungen zur Gesellschaft. Alle Werkzeuge besitzen einen Kontext. Eigentlich sind es drei Kontexte: ein Anwender-Kontext, ein Entwicklungs-Kontext und ein Umwelt-Kontext, wie das AAUW-Buch ausführt. Und die miteinander verflochtenen Wirkungen all dieser Kontexte besagen, daß letztendlich kein Werkzeug wertfrei ist: es ist immer beides, »Segen und Fluch«.
Die Laser-Forschung, zum Beispiel, wurde zum großen Teil auf dem Gebiet der Waffentechnologie (eindeutig ein Fluch) entwickelt, dennoch sind Laser-Chirurgie, die Verwendung von Laser-Strahlen in der Kommunikationstechnik, bei der Holographie und der Glasfasertechnik beispielsweise, sowie Laser-Techniken zur Überwachung von Luftverschmutzung eindeutig ein Segen. Die künstliche Befruchtung hat einen furchterregend unmenschlichen Aspekt: die Zeugung von Leben wird auf kalte, klinische Weise aus dem Kontext geschlechtlicher Liebe entfernt. Dennoch bietet sie nicht nur heterosexuellen Paaren, die auf traditionellem Wege keine Kinder bekommen können, einen Ausweg, sondern auch alleinstehenden Frauen und lesbischen Paaren, die ein Kind, jedoch keine irgendwie geartete Beziehung zu einem Mann wollen.
Welch köstliche Ironie ist die Verwirrung, die ein solches Phänomen wie die steigende Zahl künstlich befruchteter lesbischer Mütter (1980 wurden sie in den USA auf 1500 geschätzt) in den Köpfen von Sexualfundamentalisten bewirkt. Der Sexualfundamentalismus fürchtet und haßt jede sexuelle Betätigung, die nur dem Vergnügen und nicht der Fortpflanzung dient. Deshalb ist er gegen Geburtenkontrolle, Recht auf Abtreibung, grundsätzlich freie Entscheidung bei der Zeugung, und, natürlich, gleichgeschlechtliche Liebe. Wie werden sich nun wohl Sexualfundamentalisten dieser ganzen lesbischen männerlosen Mutterschaft gegenüber verhalten? Diese Kinder sind eindeutige Wunschkinder und werden von ihren Müttern geliebt — und ist nicht Mutterschaft, nach Auffassung der Sexual- und Familienfundamentalisten, die reinste aller Lieben und die erste und heiligste Funktion von FRAU? Wie können in ein und derselben Frau »reine« Liebe und eine solche »unheilige« Liebe nebeneinander existieren? Die Rechten sind bisher noch nicht so richtig auf dies Phänomen aufmerksam geworden; sie sind so damit beschäftigt, sehnsüchtig ins achtzehnte Jahrhundert zurückzuschauen, daß sie das gegenwärtige Geschehen immer erst ein bißchen später mitkriegen. Ich fürchte jedoch, sie werden uns in ihrer Begabung für heuchlerische Unlogik nicht enttäuschen: da sie weder ihre Homophobie noch ihren Fötus-Fetischismus aufgeben wollen, werden sie sich etwa so herauszuwinden versuchen: »Es sollte Lesbierinnen nicht gestattet sein (ein nicht durchsetzbares Verbot), sich der künstlichen Befruchtung zu bedienen, und diejenigen, die bereits schwanger sind oder schon geboren haben, sollten gezwungen werden, ihre Kinder abzugeben — nach der Geburt, natürlich, denn Abtreibung ist außer jeder Diskussion.« Das würde die lesbischen Mütter angemessen schmerzlich bestrafen, würde die Waisenhäuser und Adoptionsagenturen füllen (und damit den lukrativen Baby-Markt weiter ausweiten), und würde den Heiligen Paulus, Ronald Reagan und alle guten weißen christlichen Patrioten dahingehend beruhigen, daß alles wieder ins Lot gebracht werde.* (*Vgl. Francis Hornsteins ausgezeichnetes Referat »Lesbians, Reproductive Rights and Artificial Insemination«, gehalten auf der 11. Jahreskonferenz »Frauen und Recht« (San Francisco, März 1980). Vgl. auch die Broschüre Lesbian Health Matters, herausgegeben vom Frauengesundheitskollektiv in Santa Cruz, in der sich ein Kapitel mit der Frage künstlicher Befruchtung außerhalb der Kontrolle des medizinischen Establishments beschäftigt, und den Artikel »Lesbian Insemination« von Susan Stern in The Co-Evolution Quarterly, Sommer 1980.)
In der Tat, Fluch und Segen! Biochip-Implantate, Fötale Chirurgie und Gentechnik können möglicherweise Krankheiten heilen, Leben retten und verlängern und Leiden verhindern. Sie können aber möglicherweise auch das Bewußtsein kontrollieren, können Frauen noch mehr in ihren Fortpflanzungsaufgaben versklaven, oder eine »geplante« Rasse »höherer Wesen« und eine »geplante« Unterklasse von »Arbeitsbienen« hervorbringen. Die Fortschritte in der Genetik bringen ein weiteres, noch dringenderes ethisches Problem mit sich: die »genetische Beratung«. Sie kann ein Segen sein als Frühwarnung für Eltern, wenn einer der Partner Überträger einer Erbkrankheit ist, zum Beispiel der Tay-Sachs'schen Krankheit oder der Sichelzellen-Anämie. Andererseits kann genetische Beratung auch zur »Umwelt-Beratung« führen. (Auf einer Reihe von medizinischen Hochschulen können Studenten bereits ihren Abschluß in Umwelt-Medizin machen.) In naher Zukunft könnte zum Beispiel ein Umwelt-Berater seine Klienten aufgrund ihrer genetischen Veranlagung und Krankheitsgeschichte in bezug auf ihre Reaktion auf bestimmte am Arbeitsplatz vorkommende Chemikalien und Gifte beraten. Leon Gordis von der John Hopkins Universität sieht hier ein ethisches Problem auf uns zukommen: ob nämlich die Arbeitgeber der Industrie bei der Auswahl von Arbeitnehmern Untersuchungen auf die Empfindlichkeit gegenüber bestimmter Materialien zwingend vorschreiben können — und ob mit diesen an ihren Angestellten vorgenommenen Tests die Verantwortlichkeit der Industrie für den Umweltschutz reduziert wird. Was natürlich ein Fluch wäre.[17]
Die Experimente des Klonens (noch weiter hinten am Horizont) könnten eine rein-männliche Nachkommenschaft möglich machen; und solange Frauen noch immer im Schatten von FRAU leben und in erster Linie als Reproduktionsmittel angesehen werden, erhebt sich die Frage: wozu brauchen Männer dann überhaupt noch Frauen? Frauenmord, oder die bewußte Verwendung weiblicher Bürger ausschließlich zur Befriedigung männlicher sexueller Bedürfnisse, oder eine vorherrschend männlich-homosexuelle Bevölkerung (die ab und an »Frauen-Museen« besucht) — all diese hypothetischen dystopischen Scenarios könnten die Folge sein. MANN hat bereits seit längerem die Produktionsmittel unter Kontrolle (und hat sie mißbraucht). Er scheint sich nun in Windeseile darauf zuzubewegen, auch die Produktionsmittel unter Kontrolle zu bekommen, obgleich die Reproduzierenden Frauen sind. In der Vergangenheit beschränkte sich seine Kontrolle der Reproduktion darauf, die Reproduzierenden, also die Frauen, zu kontrollieren. Und mit Hilfe des Bildes von FRAU sorgte er dafür, daß die Kontrolle wirksam war. Ist es also ein Zufall, daß in dem Augenblick, wo Frauen die Hülse FRAU und mit ihr die vielen Schichten seiner Kontrolle abwerfen, MANN nun andere, von den Frauen unabhängige Techniken der Reproduktion erforscht — und das alles nur »um der Wissenschaft willen«? In zwei wichtigen Werken wird der Ernst einer Situation, in der die Technik Fortschritte macht, doch das politische Bewußtsein — auf Kosten großen weiblichen Leidens — nicht Schritt hält, dargestellt und analysiert, einmal in dem bahnbrechenden Buch der Bioethikerin und Feministin Janice G. Raymond »The Transsexual Empire: The Making of the She-Male«[18] und in dem Buch von Gena Corea »Reproduktive Technology«[19]. H. G. Wells hat gesagt: »Die Zukunft wird zum Wettrennen zwischen Bildung und Katastrophe«; und wenn wir Frauen uns nicht hinsichtlich der neuen technologischen und wissenschaftlichen Entwicklungen bilden, dann sind wir tatsächlich ohnmächtig, können sie weder konstruktiv nutzen noch verhindern, daß sie destruktiv genutzt werden. Unsere Angst kommt aus unserer Unwissenheit — und es wird höchste Zeit, daß wir unsere Neugierde und unser Begehren diesem Thema zuwenden.
Wissenschaft, wiederum, kann nicht immer voraussagen, was sie entdecken wird. Parthenogenetische Techniken (ebenfalls noch fern am Horizont) könnten eine rein-weibliche Nachkommenschaft möglich machen — und das könnte eine vorherrschend lesbische Bevölkerung, »Männer-Museen« und sogar die Benutzung von Männern als Sex-Objekte durch Frauen zur Folge haben. Beide Extremfälle hätten jedoch ganz sicher eine Verringerung der Vielfalt des Gen-Pools zur Folge.[20]
Es gäbe noch unendlich viel mehr ... Sperma- und Ei-Banken, »Ersatzmutterschaft«, die Auswahl des Geschlechts der Kinder — all das sind befreiende Wahlmöglichkeiten für unfruchtbare Eltern oder für Eltern, die bereits ein Kind oder mehrere Kinder eines Geschlechts haben und gern noch Kinder des anderen Geschlechts hätten. Doch können Samenbanken auch manipuliert werden, wie zum Beispiel von so unerfreulichen Typen wie dem berüchtigten Dr. William B. Schockley, der bereits mit seinen Ansichten über die »Minderwertigkeit« bestimmter (dunkelhäutiger) Rassen ins Zwielicht geriet. Schockley verkündete, er habe Samen für Samenbanken gespendet, um der »Dysgenie« («übermäßige Reproduktion der genetisch Benachteiligten«) entgegenzuwirken und »die Elitemenschen der Gesellschaft zu vermehren«.[21]
«Ersatzmutterschaft« kann auf Kosten von Frauen in wirtschaftlicher Notlage, die gezwungen sind, »einen Uterus zu vermieten«, praktiziert werden — sie verkaufen ihre Körper zum Kinderaustragen in gleicher Weise wie es Frauen als Ammen oder Prostituierte taten und tun. Bisher wurde Ersatzmutterschaft ausschließlich im Kontext einer Beziehung von Mensch zu Mensch diskutiert. Doch Dr. Geoffrey Bourne, Kanzler der Medizinischen Hochschule der St.-George-Universität von Grenada, verkündete: »Ich halte es für wissenschaftlich sehr wichtig, eine Kreuzung Affe/Mensch zu versuchen (indem eine Äffin mit menschlichem Sperma befruchtet wird) und ich hoffe, daß jemand in einer entsprechenden Position diesen Versuch unternehmen wird.« Dr. John Senner, Genetiker am Forschungszentrum für Primaten in Oregon meinte dazu, eine Affen/Menschen-Kreuzung würde lebende Nachkommenschaft zeugen können, da 97,5% der Chromosomen beider Arten übereinstimmen. Dr. Stephen W. J. Seager, Chef der Abteilung für Fortpflanzungs-Physiologie an den Staatsinstituten für Tiermedizinische Gesundheitsforschung fand diese Idee aus ethischen Gründen unannehmbar — konterte jedoch mit einer noch überraschenderen: menschliche Weibchen sollten als »Austrägerinnen« für Embryos von Schimpansen oder Gorillas fungieren, die beide zu den gefährdeten Arten gehören. Dr. Seager meinte, diese Schwangerschaft würde für die menschliche Mutter keinerlei Schwierigkeiten darstellen, da die Trächtigkeit bei Schimpansen, Gorillas und Menschen den gleichen Zeitraum umfasse und neugeborene Affen im allgemeinen kleiner sind als neugeborene Menschen. Auf die Frage, wer wohl für die »Gastgeberinnenrolle« bereit sein würde, antwortete Dr. Seager: »Ich glaube, man wird Frauen finden, die im wahren Sinne des Wortes konservativ sind und Tieren helfen wollen.«[22]
Die Wahl des Geschlechts des Babies, in manchen denkbaren Situationen ein Segen, wird zum Fluch, wenn mit ihr nicht das Bewußtsein einhergeht, daß weibliche Wesen auch menschliche Wesen sind. So wie die Dinge liegen, kann eine Feministin nur Alpträume bekommen: die meisten Familien würden — nach der herrschenden MANNTheologie — männliche Babies bevorzugen, und damit zumindest die Geschlechterverteilung in der Bevölkerung aus dem Gleichgewicht bringen, im schlimmsten Falle de facto die Ausrottung der Frauen bewirken.
Seit jeher ist die Technik eine endlose Folge von Weiterentwicklungen. Eine Entdeckung oder Erfindung inspiriert oder bedingt die nächste. Das war und ist ein dynamischer Prozeß, stets Fluch und Segen zugleich, doch niemals neutral (ganz gleich wer ihn kontrolliert). Es begann mit dem ersten Dach über dem Kopf, mit dem Kochen auf Feuer, mit der Töpferei, dem Weben, der Festlegung von Maßen, dem Ausrechnen des Kalenders, der Domestizierung von Tieren — begann mit dem Rad und dem Pflug. In dem AAUW-Buch formuliert Corlann Gee Bush das sehr einleuchtend:

«Technik ist eine Form menschlicher kultureller Aktivität, die die Prinzipien der Wissenschaft und der Mechanik auf die Lösung von Problemen anwendet. Sie umfaßt die Rohstoffe, Werkzeuge, Arbeitsprozesse, Arbeitskräfte und Systeme, die entwickelt wurden, um bestimmte Aufgaben zu erfüllen und bestimmte persönliche oder konkurrierende Vorteile in einem jeweils gegebenen ökologischen, ökonomischen und/oder gesellschaftlichen Kontext zu schaffen.«

Doch wenn auch der dynamische Prozeß der Technik seit jeher der gleiche war, so waren doch seine Auswirkungen auf Männer und Frauen auf dramatische Weise unterschiedlicher Natur. Daran ist nicht die technische Dynamik selbst »schuld«, sondern MANN und FRAU. Anders ausgedrückt: solange für Männer und Frauen unterschiedliche Rollenerwartungen vorhanden sind, solange wird die Technik — ebenso wie fast alles andere — für jedes Geschlecht unterschiedliche Auswirkungen haben.
Dies sehen wir heute sogar in der Bewegung für »angemessene Technologie« (AT). Die Ideologie von AT scheint auf den ersten Blick äußerst vernünftig. Bei der Problemlösung wird die Technik als solche weder überschätzt noch verworfen, sondern jeder ihrer Aspekte wird auf seine Angemessenheit hin überprüft: was gewinnen wir damit und was verlieren wir damit? Ist der Nutzen größer als der Schaden? Ist es nur eine kurzfristige Lösung, die auf Kosten der Zukunft geht, oder kann sie heutige Bedürfnisse erfüllen und dabei zukünftige Ressourcen schonen? Ein Beispiel aus dem AAUW-Buch Taking Hold of Technology:

«Funktionen wie Rechnungen ausstellen, inventarisieren und Buchhaltung können wie bisher ausgeführt werden, dafür braucht es kein komplexes, zentralisiertes, breit ausgebautes System, das Energie verschlingt und Tausende von Arbeitsplätzen vernichtet. Anders verhält es sich mit Heimcomputern, Kabelfernsehen und .intelligenten' Maschinen (sich selbständig ein- und ausschaltende Küchenmaschinen etc.), da jede dieser Erfindungen die Unabhängigkeit von Einzelpersonen und Gemeinschaften erhöhen kann.«

Aber: Auf den zweiten Blick wird deutlich, daß MANN auch in der AT-Bewegung quicklebendig ist. Selbst Männer, die sich zur Aufgabe machen, die Angemessenheit bestimmter Technologien rigoros in Frage zu stellen, fragen im allgemeinen nicht »angemessen für wen?«. Es ist dieselbe Gleichgültigkeit, mit der die von Männern kontrollierte Ökologie-Bewegung die feministische Fragestellung verglichen mit der Rettung der Bäume oder der Wale als Spaltungstendenz oder Selbstmitleid zurückwies. (Ich kann mir gut vorstellen, wie sich die nordamerikanischen männlichen Radikalen beglückwünschten, als sie die »gefährdete Natur« entdeckten: seit dem Ende des Vietnam-Krieges hatten sie keine so eindrucksvoll dringliche Ausrede, sich vor den feministischen Forderungen zu drücken.) Ich mache mir einerseits sehr große Sorgen um die Wale — besonders seit ich weiß, daß Wale einer matriarchalen Gesellschaftsform anhängen, daß sie bei einer gebärenden Walmutter Hebammendienste verrichten und daß sie natürlich auch Lieder von geheimnisvoller Schönheit singen —, doch ich pflichte auch Gloria Steinem bei, die darauf hinwies, daß ein Kreuzzug für die Wale einem Mann eben nicht abverlangt, daß er Unbequemlichkeiten in seinem persönlichen Leben in Kauf nehmen oder es gar ändern muß. Mit ihrer typischen Begabung für Aphorismen sagte sie »ein Wal bringt eben nicht deinen Anzug in die Reinigung«.
Die Frauen in der AT-Bewegung ärgerten sich, wie indifferent die Männer gegenüber dem Bedürfnis nach einer besseren Empfängnisverhütungs-Technik waren, und wie sie einfach nicht verstehen wollten, warum für Frauen arbeitssparende Haushaltsmaschinen, ein Auto für die Mobilität oder zeitsparende Tiefkühlkost lebensnotwendig sind. Wenn Männer solche Technologien als »verweichlichend« ablehnen {sie benutzen sie ja nicht, sind nicht von ihnen abhängig, überleben nicht durch sie), dann bedeutet das für Frauen in bezug auf ihre Arbeit, ihre Rollendefinition und auf die Zeit, über die sie frei verfügen können, einen Riesenschritt zurück. Judy Smith hat ein vorzügliches Buch darüber geschrieben, wie und warum sich die AT-Bewegung mit Frauen beschäftigen muß oder aber irrelevant wird: Something Old, Something New, Something Borrowed, Something Due: Women and Appropriate Technology. (Etwa: Was Altes, was Neues, was Verliehenes, was Geborgtes: Frauen und angemessene Technik. A. d. Ü.)[23]
Ganz gleich, ob Establishment oder alternative Kultur: Technik gilt als eine Spezialität von MANN, obgleich die Frauen schon immer, genau wie die Männer, technische Wesen waren (Frauen erfanden die erste Tragetasche, den ersten Grabstock, das erste Tragetuch für Kinder etc.). Doch genau wie in der Welt der Kunst das, was MANN tut, Kunst ist, und das was Frauen tun, etwas anderes («Handarbeiten« oder »Kunsthandwerk«), so ist hier das, was MANN tut, »Technik«, und was Frauen tun, etwas anderes («Hilfsmittel für den Alltag erfinden«). Und immer, wenn es eine neue technische Entwicklung gab, besonders seit Beginn des Industriezeitalters, hat MANN zielstrebig versucht, den Frauen den Zugang dazu zu verwehren. In ihrem bereits zitierten Referat »über weibliche Kultur« beschreibt Berit As die Ironie der Tatsache, daß, als in Norwegen die Schreibmaschine eingeführt wurde, die Männer behaupteten, Frauen würden ihre attraktive Weiblichkeit verlieren, wenn sie an diesen Maschinen arbeiten. Als es sich dann jedoch für die Männer als praktisch erwies, Frauen zu dieser Technik zuzulassen, wurde der Gegenstand selbst nicht mehr als ein technischer angesehen. Das ist wie mit einer »guten Gegend«, die in dem Moment zum »Slum« wird, wenn Angehörige einer Out-Gruppe (andere Klasse, Rasse oder ethnische Gruppe) zuziehen und »den Grundstückswert herabsetzen«.
Die Tatsache, daß Frauen immer mit Technik zu tun hatten, daß sie Technik nutzten und mißbrauchten, daß sie von ihr profitierten, unter ihr litten und sie förderten, sollte inzwischen zur Allgemeinbildung gehören. Das wird jedoch immer noch abgestritten, und daher ist es umso erstaunlicher, wie vielen »Karriere«frauen es gelang, als Wissenschaftlerinnen und Technikerinnen zu existieren und sogar Eingang in die (Fußnoten der) Geschichtsbücher zu finden.
Schon eine fragmentarische »Ehrenliste« läßt unsere Herzen voll Stolz höher schlagen: Phaenarete (Hebamme, Mathematikerin und zufällig auch noch die Mutter des Sokrates), Fabiola, Marcella und Paula (drei Römerinnen, die in frühchristlicher Zeit Hospitäler einrichteten), Hypatia von Alexandrien (die vermutlich am höchsten geachtete Mathematikerin und Wissenschaftlerin der Alten Welt, 385 — 415 n. Chr.), Zubayda (die Stadtplanerin, die den Aquaedukt nach Mekka baute und den Wiederaufbau von Alexandretta nach seiner Zerstörung beaufsichtigte, 780 — 820 n. Chr.), Trotula (Doktorin der Medizin und Dozentin an der Universität von Salerno und als Mutter der Gynäkologie angesehen, ungefähr 1050), Anna Comnena (bedeutende Historikerin und Gründerin sowie Dozentin an der Medizinischen Hochschule in Konstantinopel, 1090.— 1120), die Heilige Hildegard von Bingen, Äbtissin von Rupertsberg (Autorin von Materia Medica und Liber Divinorum Operum, in denen das gesamte medizinische Wissen ihrer Zeit zusammengefaßt war, 1098 — 1178) — gar nicht zu reden von Caroline Herschel (der Astronomin), oder Ellen Swallow (die die wissenschaftliche Disziplin der Ökologie begründete und die erste Frau war, die am Massachusetts Institute of Technology aufgenommen wurde), oder Margaret E. Knight (die den Produktionsprozeß und die Maschinen für die Herstellung der noch immer allgegenwärtigen Papiertaschen mit festem rechteckigem Boden erfand), oder Emily Roebling (die, als ihr Mann arbeitsunfähig wurde, den Entwurf und die bauliche Ausführung der Brooklyn Bridge übernahm), oder Marie Curie und ihre Tochter Irene, oder Grace Murray Hopper (die eine der wichtigsten Computersprachen, COBOL, erfand), oder Gerty Cori oder Roslyn Yalow (Trägerinnen des Nobelpreises für Medizin), oder Rachel Carson oder Rosalind Franklin ... Eine weit umfangreichere Aufzählung findet sich in Taking Hold of Technology und in dem ausgezeichneten Buch von Elise Boulding The Underside of History-. A View of dornen Through Time.[24] (June Goodfields An Imagined World: A Story of Scientific Discovery[25] ist die faszinierende Lebensgeschichte einer zeitgenössischen Wissenschaftlerin, Anna Brito, und ihrer Forschungen über die Hodgkinische Krankheit.)
Frauen waren seit jeher Technikerinnen. Wenn wir die Lüge von MANN übernehmen, wir seien das nicht gewesen, dann finden wir uns damit ab, über unsere eigene Vergangenheit nichts zu wissen. Außerdem betreiben wir die Entfremdung von unserer Gegenwart — und möglicherweise den Ausschluß von unserer Zukunft. Es liegt in der menschlichen Natur, Dinge, die wir nicht verstehen, aus dem Denken zu verbannen — voll Ehrfurcht, wenn es sich um Macht, und voll Abscheu, wenn es sich um Machtlosigkeit handelt. Da die moderne Technik sowohl mit Macht (der Männer) als auch mit Machtlosigkeit (der Frauen) zu tun hat, haben die meisten Frauen sie als in doppelter Hinsicht unerreichbar beiseite geschoben. (Und nicht nur Frauen gehen in diese Falle. Sogar für Jean-Paul Sartre war ein Atomphysiker nur dann »ein Intellektueller, wenn er einen Aufruf gegen Atombombenversuche unterschreibt«.) Doch wie unterscheidet sich eigentlich eine simplizistische Zurück-zur-Natur-Haltung von einem geschlechtsbezogenen oder politischen oder sonstwie begründeten fundamentalistischen Denken?  Fundamentalismus in bezug auf Technik — ob er nun aus unkritischer Technik-Vergötzung oder aus einer zornigen Antitechnik-Haltung kommt — kann weder klärend wirken noch das Problem lösen und ganz bestimmt nicht die Technik zum »Verschwinden« bringen.

UNTER-ENTWICKELNDE ENTWICKLUNG
Nirgends ist die Ironie der modernen Technik so offenkundig, wie in den sogenannten »Entwicklungsländern« — und nirgends reagieren Frauen so vernehmbar und bewußtseinsverändernd.
Zu der traditionellen technischen Hilfe, die von den »entwickelten« Nationen exportiert (und manchmal aufgezwungen) wurde, gehörten bisher kaum Spezialplanungen, mit denen Frauen die Teilnahme an den Entwicklungsprogrammen ihrer Länder ermöglicht werden sollte. Im Gegenteil, der neokoloniale Ansatz von MANN unterscheidet sich in nichts von der alten kolonialen Haltung: der ganze Handel wird zwischen Männern und über die Köpfe der Frauen hinweg ausgetragen.* (* Erst jetzt haben die Vereinten Nationen damit angefangen, detaillierte Prüfungskriterien für »die Auswirkungen der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung auf dem Gebiet der Gen- und Biotechnik, der Mikroelektronik, der Ressourcen auf dem Meeresboden, des Bergbaus, der Technologien im schwerelosen Raum, der Petrochemie und verwandter Energien, der Glasfasertechnologie, Lasertechnologie etc. auf die Entwicklungsländer« festzulegen. Quelle: Annex III of the Report of the Administrative Committee on Coordination Task Force on Science and Technology for Development (New York, 2.-5. Februar 1982).
Infolgedessen werden landwirtschaftliche Großmaschinen eingeführt und einheimische Männer dafür ausgebildet, ungeachtet der Tatsache, daß in dieser bestimmten Kultur die Landwirtschaft bisher Aufgabe der Frauen war und ihnen eine gewisse Macht und Unabhängigkeit gab. Damit die Großmaschinen rentabel arbeiten können, muß das Land neu verteilt werden. Also wird den Frauen ihr Land weggenommen und an die Männer gegeben, die die Maschinen bedienen können. Oder es wird die Industrialisierung eingeführt, aber gleich in großem Maßstab: die Fabriken werden in Ballungszentren gebaut, und Männer vom Lande werden als billige Arbeitskräfte importiert. Dadurch werden Familien zerrissen, Frauen bleiben als ungelernte bäuerliche Klasse zurück (und damit von der industriellen Revolution ausgeschlossen), und die ganze Wirtschaft eines kleinen Landes gerät durcheinander. Wo beispielsweise organische Gruppierungen von Marktfrauen innerhalb ihrer Kultur ein beträchtlicher ökonomischer und politischer Machtfaktor waren, zerstört der Wechsel von der Landwirtschaft zur Industrie solche gewachsenen Strukturen, gibt den neuangelernten männlichen Industriearbeitern eine lediglich illusorische Macht und verwandelt das ganze Land in eine »Firmenstadt« für irgendeinen multinationalen Konzern. Dieser wiederum schlägt enormen Profit aus diesem Vorgang, bekommt Steuererleichterungen, humanistische Auszeichnungen und einen selbst-beweihräuchernden Ruf als »Helfer der ärmeren Nationen«.[26]
Innerhalb eines anderen Scenarios wiederum werden Frauen zwar (als noch billigere Arbeitskräfte als die einheimischen Männer) beschäftigt, jedoch immer als Fabrikarbeiterinnen auf der niedrigsten Stufe. Frauen werden fast nie für Posten im mittleren Management ausgebildet, ganz zu schweigen von Posten, die wirklich zählen.
Ein weiteres Beispiel fehlgesteuerter, doch lukrativer technischer »Hilfe« — der Ausdruck »diplomatische Technokratie« ist vielleicht angebrachter — ist der berüchtigte Milchpulver-Skandal: in der industrialisierten Welt hergestellte Baby-Trockennahrung, die in Länder der Dritten Welt verkauft wird. Daß diese Produkte mit dem verfügbaren, oft schmutzigen und verseuchten Wasser angerührt werden mußten, führte bei vielen Kindern zu Krankheit, Unterernährung und Tod. Die Mütter sind hilflos, denn sie haben meist keinen Zugang zu sauberem Wasser. Die Übertragung der Immunität gegen bestimmte Krankheiten durch die Muttermilch — ein besonders wichtiger Lebensretter dort, wo moderne Pharmazeutika nicht immer verfügbar sind — geht ebenfalls verloren. Von der Weltgesundheitsorganisation sowie praktisch in jedem Land der Welt außer den USA wurden Richtlinien für die Ausfuhr von Trockennahrung für Babies in die Dritte Welt erlassen, doch heute, wo ich dies niederschreibe, existiert das Problem immer noch. Und zwar einmal, weil es den Babynahrungs-Herstellern Profit einbringt, zum anderen auch wegen der verzweifelten Situation einer Frau, die vom Morgengrauen bis in die Nacht hinein auf dem Feld arbeitet und noch nicht einmal ihr Kind bei Angehörigen daheim lassen kann, weil sie es stillen muß; diese Frau sucht hoffnungsvoll Zuflucht bei der Trockennahrung. Wird jedoch nicht gleichzeitig mit der Trockennahrung eine Technik geliefert, Wasser keimfrei zu filtern, oder neue, reine Brunnen zu bohren, dann verwandelt sich ihre Hoffnung in eine neue Form von Verzweiflung.
Eine der konsequentesten Inkonsequenzen des Neokolonialismus von MANN ist, daß da, wo eine heimische Tradition im Interesse von Frauen besteht (wie zum Beispiel matrifokaler Landbesitz oder eine Batik-Industrie, die sich seit Generationen in den Händen von Frauen befindet), sich MANN im Namen des »Fortschritts« rücksichtslos darüber hinwegsetzt. Doch wo sich eine heimische Tradition zerstörerisch für Frauen auswirkt (beispielsweise die Genitalverstümmelungen als »Initiationsriten«, oder ein Tabu eiweißhaltiger Nahrungsmittel für Frauen), erkennt MANN diese Tradition an, gibt seiner Achtung vor ihr Ausdruck und nimmt sie in seinen »Fortschrittsplan« auf. Die ersten anglikanischen und katholischen Missionare in Tansania beispielsweise beschlossen, die Kirche solle, da die Beschneidung von Frauen zu den »Eingeborenenbräuchen« gehöre, diese Praktiken öffentlich gutheißen, um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen. Die im Besitz ausländischer Eigentümer befindlichen Teeplantagen in Asien, die im arbeits-intensivsten Bereich ihrer Betriebe — beim Pflanzen und Pflücken — Frauen an sieben Tagen in der Woche täglich sechzehn Stunden beschäftigen, verstießen in keiner Weise gegen die einheimische Tradition, nach der erst einmal die Männer mit möglichst gehaltvollem Essen versorgt werden müssen. Die ausländischen Interessenten dachten auch nicht daran, ihren Arbeiterinnen täglich eine protein-haltige Mahlzeit anzubieten, was vielleicht der Anämie und der Unterernährung, an der etwa 230 Millionen Frauen dort leiden, hätte entgegenwirken können.[27] Ich nehme an, das wäre keine »fortschrittliche« Handlungsweise gewesen.
Der Zeit-Rückstand, der den meisten sogenannten zurückgebliebenen Ländern zu schaffen macht, wurde durch den Kolonialismus selbst herbeigeführt. Er hat in voller Absicht die Länder der Dritten Welt fast in den Zustand der Bewegungslosigkeit gebracht, während die Kolonialmächte selbst auf ihrem »Weg der Zivilisation« weiter voranschritten.* (*Diese Einsicht verdanke ich Erskine Childers.) Wenn heute aus der Dritten Welt Praktiken bekanntwerden, die wir Menschen des Westens inzwischen als barbarisch betrachten, dann sollten wir bedenken, daß es seit Hunderten von Jahren auf diesem Planeten, außer in Europa und dem von Europäern besiedelten Nordamerika, kaum ein Volk oder eine Gemeinschaft gegeben hat, die überhaupt frei für den Fortschritt gewesen wären.
Niemand wird bestreiten, daß die Entwicklungsländer technische Hilfe brauchen können. Doch eine solche Hilfe muß an die Bedürfnisse aller Bürger des betreffenden Landes anknüpfen. Sie darf nicht zum Ziel haben, die eine Hälfte auszukaufen, was dadurch erreicht wird, daß man die andere Hälfte verkauft. Erst seit ganz kurzer Zeit — und nur, weil die Frauen in den betroffenen Ländern soviel Druck gemacht haben — gibt es »in Entwicklungsfragen wenigstens einen kleinen Ansatz von Bewußtsein für die Situation von Frauen« (Development Issue Paper Nr. 12, UN Development Programs).* (* Das International Women's Tribüne Centre, 305 East Forty-sixth Street, New York, N.Y. 10071 ist eine ausgezeichnete Quelle für Hintergrundinformationen, Dokumente etc. zu diesem Thema. Das Zentrum hat auch ein Multimedia-Paket zum Thema angemessene Technologie zur Vorführung in Frauengruppen produziert. Für die deutsche Leserin dürfte interessant sein, daß Entwicklungsministerin Marie Schlei in ihrer Amtszeit (1976—78) ein Konzept für die Förderung von Frauen in den Entwicklungsländern (vor dem Hintergrund der von R. M. geschilderten Situation) erarbeiten ließ. Was mag daraus geworden sein? A.d.Ü.) Daß es erst jetzt diesen »kleinen Ansatz von Bewußtsein« gibt ist umso ärgerlicher und lähmender, wenn man bedenkt, daß das, was MANN als »Weltprobleme« bezeichnet, in erster Linie Frauenprobleme sind:

  • Hunger ist ein Frauenproblem, weil der größte Teil der Menschen, die auf der Welt verhungern, Frauen und Kinder sind (teilweise aus Tradition, wie in den Kulturen, in denen Frauen kein Eiweiß zu sich nehmen dürfen, und teilweise in Krisen: sogar während der Hungersnot in Biafra bekamen die Soldaten zu essen — und die meisten Männer waren in der Armee).
  • Analphabetismus ist ein Frauenproblem, denn 58% der Analphabeten in der Welt sind Frauen.
  • Gesundheit ist ein Frauenproblem, denn, außer daß sie die allgemeinen Gesundheitsprobleme ihrer jeweiligen Kulturen mit den Männern teilen, tragen Frauen noch die zusätzliche Last körperlicher Veränderung durch Menarche, Menstruation, Schwangerschaft, Geburt, Stillen und Menopause.** (** Ein japanischer Mann, der die (durch Quecksilbervergiftung verursachte) Minamota-Krankheit bekommt, hat allein unter dieser Krankheit zu leiden; wenn eine japanische Frau sie bekommt und dabei schwanger ist, befällt die Krankheit auch den Fötus)
  • Das Flüchtlingsproblem ist ein Frauenproblem, denn mehr als 90% aller Flüchtlinge sind Frauen und Kinder.
  • Kindesmißbrauch ist ein Frauenproblem, nicht nur, weil in den meisten Kulturen die Frauen die alleinige Verantwortung für die Kinder tragen, sondern auch, weil die mißbrauchten Kinder meistens Mädchen sind.
  • Das Altersproblem ist ein Frauenproblem, weil in den meisten Kulturen die Frauen die Männer überleben, und weil die Sorge für die Alten den Frauen zugewiesen wird.
  • Armut ist ein Frauenproblem, denn die Mehrheit der Armen auf diesem Planeten sind Frauen und Kinder.

Und dennoch meint MANN, »Frauenfragen« hätten mit »Weltproblemen« nichts zu tun.
Wenn die Männer nicht die Sichtweise von MANN verlassen und wirklich sehen können, zser eigentlich unter den »Weltproblemen« leidet, und wenn diese Leidenden weiter hinter der Maske von FRAU unsichtbar bleiben, dann werden diese Probleme uns alle zerstören.
Solange die Männer sowohl die traditionellen als auch die alternativen Technologien als den Besitz von MANN horten, solange sie bei diesen Technologien auf den Aspekt des Erfindens und Entwerfens fixiert bleiben und den Kontext der Benutzer ignorieren, und solange Frauen zulassen, daß FRAU uns einzig auf den Benutzer-Kontext fixiert und uns davon abhält, den Besitzanspruch von MANN zu brechen, — solange wird Technik nie »angemessen« sein, weder für Frauen noch für die »Weltprobleme«.
Wir müssen, Männer und Frauen, über MANN und FRAU hinauswachsen, müssen MANN und FRAU überwinden.
Wir müssen als Spezies den Geschlechter-Fundamentalismus überwinden — oder wir werden als Spezies zugrunde gehen.

«EINFACH VERBINDEN«
Ich sah mich immer als eine, die Angst vor »der Technik« hat, sich durch sie entfremdet fühlt. Dennoch schreibe ich dieses Buch auf einer Schreibmaschine — einer elektrischen, äußerst praktisch. Auf dem Plattenspieler dreht sich eine Schallplatte, elektrisches Licht beleuchtet meinen Schreibtisch. Wenn ich eine Seite mit der Hand korrigiere, benutze ich gern einen mit dem elektrischen Spitzer geschärften Bleistift. Das Telefon klingelt (viel zu oft), und ich komme mit seiner Bedienung zurecht (meistens). Ich kann sogar Autofahren. Angesichts all dieser erstaunlichen Errungenschaften bin ich offenbar gar nicht so entfremdet oder ängstlich in meiner Beziehung zur Technik, wie man es mir immer eingeredet hat. Du auch nicht. Und doch fange ich (wie die meisten Frauen) gerade erst damit an, mein Analphabetentum in Sachen Technik, Computer, Energie zu überwinden. Auch trauten wir Frauen uns bisher nicht, unsere technischen Visionen zu formulieren. Bis auf wenige Ausnahmen wagten wir sogar nicht einmal, von ihnen zu träumen.* (*Es gibt bemerkenswerte und aufregende Ausnahmen. In einem unveröffentlichten Aufsatz »Der Technologische Imperativ: Feministische Visionen für das 21. Jahrhundert« analysiert Corlann Gee Bush die Umweltbewegung und den Feminismus als die entscheidenden Kräfte in einem dialektischen Prozeß, der die amerikanische Definition der Begriffe »endlich« und »unendlich« ganz grundlegend verändern wird. Die Umweltbewegung stellt die bisher herrschende amerikanische Auffassung von der Natur als einer unerschöpflichen Quelle in Frage. Der Feminismus bezweifelt die patriarchale Auffassung, das menschliche Potential habe fest bestimmbare Grenzen. Diesen bemerkenswerten Aufsatz, der die Grundlage für ein Buch mit gleichem Titel, an dem Corlann Gee Bush gerade arbeitet, bildet, hat sie 1981 auf der Konferenz der Northwest Women's Studies Association und dem Dritten Annual Women's Studies Symposion an der Universität von Oregon vorgetragen.)
Das kann nicht überraschen, denn um in Abwandlung mit Parmenides zu sprechen: »Was nicht ausgedrückt werden kann, wird auch nicht gewußt.«
Wir haben einfach die Sprache noch nicht gelernt. Und wir Frauen können nicht effektiv eine Frage wie beispielsweise Gentechnik analysieren, solange wir nicht die Worte, die Konzeptionen kennen. Wir können zwar das Thema unter uns diskutieren und unsere Forderungen, die Wissenschaft müsse unsere Bedürfnisse berücksichtigen, an die Gesetzgeber und die Mediziner richten. Wir können über Regelungen nachdenken, mit denen in Freibeutermentalität durchgeführte riskante Forschungen oder eine Regierungskontrolle nach Art des Großen Bruders verhindert würden. Wir können immer wieder darauf hinweisen, daß das wichtigste Grundrecht jeder Frau die freie Verfügung über ihren eigenen Körper ist — sonst laufen wir Gefahr, unsere Freiheit der Reproduktion nicht nur nicht zu gewinnen, sondern sie vielmehr in einer feigen Neuen Welt völlig zu verlieren und nur noch als dahindämmernde Brutapparate, als angemietete Gebärmütter oder steriles sexuelles Spielzeug betrachtet zu werden. Wir können (äußerst ernsthaft) daran denken, Genetik als Berufslaufbahn zu wählen — und unsere Töchter und jüngeren Schwestern dazu ermuntern. Doch nichts von all dem wird Wirkungen zeitigen, wenn wir nicht genug zu dem Thema wissen. Wissen ist Macht.
Sicher hilft es uns, wenn wir endlich den Mythos Technik durchschauen und erkennen, daß — entgegen aller Behauptungen von MANN — die meisten Männer ihr gegenüber genauso unwissend (und ängstlich) sind wie Frauen. Oder wenn uns klar wird, daß zum Kuchenbacken chemische Analyse gehört*,(* Der Artikel von Jearl Walker (Scientific American, Dezember 1970) »Physik und Chemie einer mißlungenen Sauce Bernaise« ist vorzüglich geeignet, unser Selbstbewußtsein und unseren Stolz zu stärken und außerdem zaubert er ein Lächeln auf das Gesicht jeder Frau.) und daß Arithmetik wirklich sehr wenig mit Physik zu tun hat.
Vor allem aber sollte uns dabei klarwerden, daß wir Frauen, die wir so lange unsichtbar waren und zwangsweise als »nichtmenschlich« eingestuft wurden, dennoch eine große Stärke besitzen. Und zwar nicht angeboren, sondern weil wir Erfahrungen haben. Wir sehen eher jene Zusammenhänge, die uns Nutzen und Schaden wahrnehmen und abschätzen lassen. (Hat das Spielzeug eine scharfe Kante, auch wenn sie sich unter einem Filzüberzug verbirgt, so besteht doch die Gefahr, daß sich der Filz ablöst und das Baby sich verletzt ... hmmm ... nein, nehmen wir lieber ein anderes.) Nur wenige einzelne Männer konnten diese Sensibilität formulieren, wie der liebe E. M. Forster, der es in zwei Worten zusammenfaßte: »Einfach verbinden«. Doch MANN hat es sich angewöhnt, das Leben in Bruchstücken zu sehen, in verschiedene Kästchen eingeteilt, kurzschlüssig (voreilig und ejakulatorisch?) — und zum Teufel mit den Folgen. Vielleicht hat das damit zu tun, daß er glaubte, FRAU, die schließlich für die Kinder sorgt, werde sich schon auch um die Zukunft kümmern. Auf jeden Fall konnte er immer fröhlich weitermachen. Er konnte Fluorkarbonate in die Stratosphäre entlassen, ohne daran zu denken, daß sie den Ozon angreifen und die nun ungehindert einströmenden ultravioletten Strahlen dem Baby — und anderen lebenden Dingen — schaden könnten. Er konnte die Verknüpftheit von Ereignissen ignorieren: daß politische Konflikte im Mittleren Osten Auswirkungen auf die Ölproduktion und damit auf die Lebenssituation in Iowa haben würden. Daß der saure Regen nicht nur die Ernte, sondern auch die Chromosomen schädigt, daß bestimmte Schädlingsbekämpfungsmittel heute ein Segen, später jedoch ein Fluch sein würden. Daß in die Luft abgegebene Radioaktivität sich mit Wind und Regen verbreiten und damit eine Bevölkerung zerstören würde, die niemals in irgendeinen Krieg in jener illusorischen Geographie von »anderswo« verwickelt war.
MANN nannte dieses Fehlen von Kontext und Verbindungen »Ordnung«. FRAU wurde natürlich die entgegengesetzte Funktion zugewiesen: sie sei ein Geschöpf der Unordnung, nicht festzulegen, inkonsequent — so unkonzentriert. Da stellt sich schon die Frage, warum MANN, wenn er die FRAU als Unordnung sah, ihr alle ordnenden Aufgaben zuwies? Vielleicht hat MANN seine eigene Lüge durchschaut, aber gehofft, daß Männer und Frauen das nicht tun würden? Vielleicht dachte er, sie würde sich dieser Aufgabe als unfähig erweisen und damit ihren Hang zur Unordnung beweisen? Oder vielleicht war es ihm wurscht — solange er nicht selbst aufräumen mußte. Natürlich hat FRAU sich bemüht, diese in sich so widersprüchlichen Erwartungen zu erfüllen. Ihr Balanceakt ist vollkommen: während sie alle irrationalen, dunklen, fruchtbaren, warmen, feuchten, chaotischen Elemente symbolisierte, polierte sie zugleich ihr Linoleum so blank wie einen Einwegspiegel. Auf diese Weise hat sie seine Angst vor dem, was Frauen wirklich sein könnten, ein wenig beschwichtigt, auch wenn ihm diese Ängste noch bei vielen Gelegenheiten aufstoßen. (Wie sehr ähnelt die Verachtung, die Hesekiel über »menstruierende Frauen« äußert und die von ihm dabei verwendete Sprache, dem Haß, den der schottische Calvinist John Knox gegenüber »jenem monströsen Weiberregiment« empfand.)
Die Stellung der Kunst ist der Stellung der Frau analog. Michele Roberts schreibt: »Die Angst vor den Frauen und die Angst vor der Kunst stammen aus der gleichen Wurzel. Beide werden als Herausforderung an die allgemeine Übereinkunft über den natürlichen Lauf der Dinge dieser Welt empfunden, als Herausforderung an die angebliche Kraft der Rationalität, die Welt zu ordnen und zu einem Ort zu machen, an dem man sicher leben kann — sicher und harmonisch für die, die an der Macht sind.«[28] Kunst, so fährt Michele Roberts fort, wurde als Untheorie, Unwissenschaft und Unwahrheit bezeichnet. Wie Frauen und Freiheit kann man (MANN) sie am besten per Negation definieren. Kunst wird als subversiv empfunden — und die Künstlerin als doppelt subversiv.
Dennoch waren Kunst und Wissenschaft/Technik einstmals dasselbe. In seinem älteren aber dennoch weitblickenden Essay »Die Frage nach der Technik«* führt Heidegger das Wort auf seinen griechischen Ursprung zurück: »Technikon meint solches, was zu techne gehört ... Einmal ist techne nicht nur der Name für das handwerkliche Tun und Können, sondern auch für die hohe Kunst und die schönen Künste.« In diesem Kontext überschneidet sich die Bedeutung von techne mit poiesis, womit nicht nur Poesie gemeint war, sondern auch der schöpferische Prozeß, der Prozeß des Sichtbarmachens, des Hervorbringens.
Unglücklicherweise steht Technik heute, so wie wir sie erfahren und mit ihr umgehen, in einem ganz anderen Kontext. Sie ist von poiesis abgespalten und wird häufig bewußt als Gegensatz zur Kunst definiert. Die Gesellschaft erkennt zwar an, daß Kunst immer noch etwas mit »Sichtbarmachen« und »Hervorbringen« zu tun hat — die Technik jedoch wird hauptsächlich als Mittel angesehen, um das, was immer wieder getan werden muß, und von dem MANN und FRAU bereits wissen, wie man es macht, auf effektivere Weise zu erledigen. Dies wiederum führt zu dem fatalen Irrtum zu glauben, Technik sei etwas, das man »unter Kontrolle« halten könne. Sogar halten müsse, damit sie nicht etwa neue Möglichkeiten eröffnet, die die alten Muster in Frage stellen oder gar verändern würden. Die vergleichbare Dynamik des künstlerischen Prozesses und die auch ihm eigene Absicht »hervorzubringen« wurden ganz anders beurteilt: da MANN keine wirksame Kontrolle über die Kunst ausüben konnte, entschärfte er ihre Macht, indem er sie für irrelevant erklärte.
Doch den Charakter der Technik durch Manipulation und den Charakter von Kunst durch Trivialisierung zu verändern, sind beides Formen von Verleugnung — und letzten Endes funktioniert beides nicht. Die Technik wird weiterhin »sichtbarmachen« — doch statt Freiheit macht sie die Politik des Todes sichtbar, die durch die Unvereinbarkeit neuer Mittel mit alten Zielen entsteht. Kunst »bringt« auch weiterhin »hervor« — doch statt auf sie zu hören wird sie wie der Hofnarr des Intellekts behandelt. Diese beiden aktiven Prozesse — Technik und Kunst — haben ihrem Wesen nach eng mit Freiheit zu tun, doch beide wurden gegen das »wahre Wesen der Befreiung« mißbraucht.
«Die Freiheit verwaltet das Freie im Sinne des Gelichteten, d. h. des Entborgenen. Das Geschehnis des Entbergens, d. h. der Wahrheit, ist es, zu dem die Freiheit in der nächsten und innigsten Verwandtschaft steht.«[29] Doch wenn man die Freiheit fürchtet, dann ist Wahrheit gefährlich, und wenn Wahrheit gefährlich ist, dann müssen Kunst und Technik auseinander und in sich von den ihnen innewohnenden gemeinsamen Eigenschaften isoliert gehalten werden.
Da die Technik MANN's »liebstes Kind« wurde, konnte er sie erfolgreicher korrumpieren als die Kunst. (Kunst — erinnern wir uns — ist angeblich irrational und daher nicht-Mann). Nur deshalb gab es auch einen Spalt, eine winzige Öffnung in der Wand, durch die Frauen nach der Kunst greifen konnten. Niemand kümmerte sich groß darum, denn Kunst war sowieso irrelevant. Dennoch gab es immer noch genügend dem Konzept von MANN und FRAU verpflichtete Leute, die die Künstlerin behinderten, lächerlich machten, zum Schweigen brachten, sie ignorierten und häufig genug zerstörten — ganz sicher aber ihren Beitrag untergehen ließen.
Das Gerücht, daß die Odyssee möglicherweise von einer Frau geschrieben wurde, findet kaum Beachtung.[30] Von den außerordentlichen Begabungen einer Nannerl Mozart, Fanny Mendelssohn, Dorothy Wordsworth, Mary Sidney und Augusta Byron wissen wir nur, weil sie in den Fußnoten zu den Biographien ihrer berühmten Brüder erwähnt sind. Erst kürzlich wurde bekannt, daß ein großer Teil der Musik Robert Schumanns von Clara Wieck Schumann geschrieben wurde, daß Anna Magdalena Bach einige von Bachs großen Werken entscheidend beeinflußte oder gar selber schrieb, und daß ihre Tochter Elisabeth tatsächlich viele der Stücke komponierte, die unter dem Namen ihrer Brüder laufen. Doch vielen Frauen hat stets die überhebliche Frage »wo sind denn eure großen Malerinnen und Komponistinnen?« die Sprache verschlagen, bis die heutige Welle feministischen Bewußtseins in einige Bereiche von Wissenschaft und Forschung eindrang und anfing, den Beweis zu erbringen.[31]
Auch ist es kein Zufall, daß wir etwas mehr über Schriftstellerinnen wissen als über ihre Schwestern in den anderen Künsten. Komponieren bedarf einer gewissen Zusammenarbeit, um sich darzustellen (Musiker, ein Orchester, ein Opernhaus etc.). Visuelle Kunst braucht kostspieliges Material. Frauen waren vom ersten Bereich weitgehend ausgeschlossen, weil sie die für eine Aufführung notwendige Kooperation nicht fanden, und weil eine solche Aufführung notwendigerweise öffentlich ist. Der Weg zu den visuellen Künsten war Frauen meist deshalb verschlossen, weil wir jahrtausendelang eine wirtschaftlich benachteiligte Kaste waren: wir hatten kaum die Mittel, die Materialien zu kaufen. Viele der visuellen Künstlerinnen, die heute »ausgegraben« werden, waren die Töchter von (männlichen) Künstlern. In den Studios und Ateliers ihrer Väter wurden sie mit den Materialien vertraut. Schreiben hingegen geschieht nicht öffentlich und die minimalste Voraussetzung sind ein Stück Papier und ein Bleistift oder eine Feder. Daher scheinen Frauen sich in erster Linie dieser Kunst zugewandt zu haben. Gedruckt zu werden war natürlich wieder ein ganz anderes Problem. Und ernstgenommen zu werden eine noch weiter entfernte Möglichkeit.
Wenn du sehr lange nicht ernstgenommen wirst, so fällt es dir schließlich schwer, dich selbst ernst zu nehmen. Und genau dies Ergebnis wird wohl mit dieser Taktik angestrebt. Wieder handelt es sich um mangelnde Resonanz, wieder um jenen Einweg-Spiegel. Die Ironie dabei ist, daß eine Schriftstellerin beispielsweise oft mit einem Minimum an Material arbeitet, »auskommt«, ganz als ob FRAU ihr über die Schulter schaute und die ganze Zeit ihr tz-tz-tz hören ließe, weil die da sich nicht zusammennimmt und unbedingt eine Künstlerin sein will. Ich pflege bei den Workshops für schreibende Frauen eine Reihe von bewußtseinserweiternden »Klick«-Fragen zu stellen: wieviele Frauen in diesem Raum haben gutes Arbeitsmaterial? Eine wirklich gute Schreibmaschine? Einen Vorrat an Farbbändern? Ein erstklassiges ausführliches Lexikon? Einen Roget's Thesaurus? (Das bekannteste englisch-sprachige Synonymen-Lexikon, A. d. Ü.) Ein Zimmer für sich allein — auch wenn es unterm Dach ist, oder eine alte Nähstube, eine Dies-ist-mein-Reich-Ecke? Ein Schild mit der Aufschrift »Nicht stören?« Wieviele Frauen kaufen sich gutes  Schreibmaschinenpapier, auf dem sie ihre Manuskripte tippen? Einen bequemen Stuhl? Welche Nachschlagewerke müßten sie unbedingt immer in Reichweite haben, statt ständig bücherbepackt zur Bibliothek zu rennen? Ein Archiv »für mich allein«? In einer Gruppe von zwanzig bis fünfzig Frauen heben sich bei einigen dieser Fragen meist nur ein oder zwei Hände. Selten nutzen wir die »Technik«, die unserer eigenen Arbeit dienlich wäre. Doch die gleichen Frauen geben im anschließenden Rundgespräch zu: »Ich habe meinem Sohn, als er auf's College kam, eine schöne neue Schreibmaschine gekauft und die kleine alte für mich behalten.« Oder: »Komisch, mein Mann ist Zeichner, und ich finde es ganz selbstverständlich, daß er für seine Arbeit immer nur das beste Material kauft.« Oder: »Erst kam mir deine Aufzählung wie ein teurer Luxus vor, doch dann fiel mir ein, daß ich ja auf eine neue Waschmaschine spare — warum eigentlich nicht auf eine gute Schreibmaschine!« Diese Fragen (und mehr noch die Antworten) garantieren eine lebendige Sitzung mit verbindenden feministischen Augenblicken wie »O mein Gott, so hab ich das noch nie gesehen ...« oder »Mei — du auch?«
Und dennoch — trotz aller Hindernisse, die von außen kamen oder verinnerlicht waren, sind Frauen immer Künstlerinnen gewesen — und haben immer Kunst geschaffen, die »sichtbar« machte, auch wenn sich anscheinend niemand für das, was da sichtbar wurde, interessierte.
Zu allen Zeiten und in allen Kulturen gab es in der Frauenkunst die Schönheit der kleinen alltäglichen Dinge in all ihrer »Dinglichkeit«: ausgeklügelte Muster in Stroh und Hanf — Weben; Rundungen und natürliche Erdfarben und -formen, die der Hand und dem Auge schmeicheln — Töpferarbeiten; etwas Schönes, das warm hält — Quilts. Gebrauchsgegenstände, die weit über den reinen Gebrauchswert hinausweisen.
Die Batikkünstlerinnen in Asien, die indianischen Sandmalerinnen im Südwesten der Vereinigten Staaten, die Reismalerinnen in Mithila in Indien, die Weberinnen der großen Wandgobelins im mittelalterlichen Europa, die heiligen Flötenspielerinnen der Völker am Amazonas — sie alle waren, als Frauen, mit der ursprünglichen und sich überschneidenden Bedeutung von techne und poiesis beschäftigt. Denn Kunst soll benutzt werden, soll ins Leben integriert und zugleich offenbarend sein. Die Becher und Schalen und Töpfe und Körbe können Nahrungsmittel und Wasser aufnehmen, Babies oder Früchte können darin getragen werden. Die Quilts halten die Kälte fern. Die Batik findet sowohl als Kleidung wie auch als Wandschmuck Verwendung. Die Sandmalereien wurden für Heilungs-Zeremonien, die Reismalereien für religiöse Rituale angefertigt. Mit den Wandteppichen sollten die Steinwände der Räume isoliert werden — doch zugleich enthalten sie in ihrer Ikonographie verschlüsselte esoterische Bezüge zum Wicca-Kult und anderen häretischen Glaubensrichtungen. Die heiligen Flöten entsprachen — ehe nach der Legende des Amazonas die Männer das Ritual stahlen — der Leier des Orpheus: ihre Töne konnten Steine bewegen, Städte bauen, wilde Tiere zähmen. Was wir Abendländer heute den »Bauchtanz« nennen, entstand unter und ausschließlich für Frauen, besonders für Gebärende. Die Bewegungen wurden vor Äonen wissenschaftlich entwickelt und dienten der gleichen Funktion wie die Schwangerschafts-Gymnastik heute. Sie sollten den Körper zwischen den Wehen entspannen und kräftigen und die Mutter von ihren Schmerzen ablenken.
Es ist techne und ganz gewiß poiesis, wenn ein Werk das Wesen, die Wahrheit und die Dinghaftigkeit eines Objekts enthüllt und — weil es schön ist — dieser Wahrheit huldigt und damit Zuschauer, Zuhörer, Teilnehmer einlädt, sich auf diese Wahrheit und ihre organische Anwendung — und damit auf die Sache selbst — einzulassen. Martha Graham hat gesagt, »es gibt keine größere Offenbarung als die Bewegung«. Und David Böhm nennt dies eine Ahnung von der »impliziten Ordnung« aller Dinge, im Gegensatz zu der »expliziten Ordnung«. Bei der letzteren werden »die Dinge in dem Sinne entfaltet (...), daß jedes Ding nur in seinem besonderen Raum- (und Zeit-)Abschnitt liegt, das heißt außerhalb der Abschnitte, die zu anderen Dingen gehören«.[32] Bis vor kurzem hat ausschließlich das Denken in Kategorien der expliziten Ordnung die Physik (und alles, was MANN beherrscht) bestimmt. Die Neue Physik jedoch arbeitet mit der Kategorie der impliziten Ordnung, in der »die Totalität des Daseins in jeden Abschnitt des Raumes (und der Zeit) eingefaltet ist. Welchen Teil, welches Element, oder welchen Aspekt wir also auch immer im Denken abstrahieren mögen, so faltet doch jedes einzelne stets das Ganze ein und ist von daher innig mit der Totalität verbunden, von der es abstrahiert wurde.«[33] Oder, wie die Malerin Francoise Gilot schreibt »das Gemälde verbirgt das Individuum wie eine Maske, macht jedoch eine größere Wahrheit, die Wahrheit des Archetyps sichtbar. Und auch das subjektivste Gemälde spiegelt keine Teilwahrheit wieder, sondern ist eine fragmentarische Enthüllung des totalen Enthüllungs-Prozesses, für den das Gemälde die sichtbare Hieroglyphe ist.«[34]
Frauen, Künstler und vor allem Künstlerinnen haben schon immer die wesenhafte Ordnung enthüllt, sichtbar gemacht.* (* Vor diesem Hintergrund überrascht es nur wenig, daß ein so großer Teil der feministischen politischen Theorie von feministischen Künstlerinnen kam, in Büchern, visuellen Arbeiten, Musik und Theater. In der Geschichte gibt es bereits Hinweise auf diese Art von Integration: Tausend Jahre lang, von der Han Dynastie bis zur T'ang Dynastie wurden chinesische Beamte auf ihre Kenntnis der Goldenen Anthologie der chinesischen klassischen Dichtung geprüft, ehe sie ihre Posten zugewiesen bekamen. Und Shelleys Ausspruch »Dichter sind die geheimen Gesetzgeber der Welt« entsprach vielleicht einer Wunschvorstellung - doch möglicherweise wird ihn feministisches Bewußtsein noch in die Tat umsetzen.) Ironischerweise wird eben diese Art, Verbindungen herzustellen — die gemeinsame Quelle aller Kunst und aller Technik —, »Handwerk« genannt — ein Wort, das die Begriffe Handfertigkeit und geistige Vorstellung enthält, techne und poiesis. Und eben dieses Wort »Handwerk« (der entsprechende deutsche Begriff wäre Kunsthandwerk, A. d. Ü.) wurde von MANN als herabsetzende Bezeichnung für ästhetische Bemühungen von Frauen verwendet, im Gegensatz zu den ästhetischen Bemühungen von Männern, die als »Kunst« bezeichnet werden.
«Kunst« sei ernstzunehmen, sagte MANN (und nahm sie nicht ernst). Kunst durfte entfalten, sollte aber nicht enthalten. MANN sagte, Kunst dürfe nicht nützlich sein — und mit der Zeit meinte er dann sogar, Kunst dürfe noch nicht einmal einen Sinn haben. Sinn war ein alter Hut, die vom Zufall bestimmte, entfremdete Sinnlosigkeit war »in«. Jeder Mann, der auf mehreren Gebieten der Kunst talentiert war, wurde von MANN als »Genie« oder »Renaissance-Mensch« gepriesen. Jede Frau, die das gleiche tat, war natürlich eine »Dilletantin«. Am traurigsten ist jedoch: die großen Künstler (männliche eingeschlossen) haben zwar nie aufgehört, jenem beglückenden Spiel von poiesis/teebne zu huldigen, doch MANN hat seine Vorstellungen, auf welche Weise ein Mann korrekterweise spielen dürfe, in eine von der Kunst abgespaltene Technik eingesperrt: Gimmicks, Apparate, Kriegsscenarios und andere Kriegsspielzeuge. Hier sollte nicht enthüllt, sondern verschleiert werden. Offenbar dachte MANN, der Gewaltkitzel dieser Spiele könne die Leere füllen, die im menschlichen Geist entstand, nachdem MANN verboten hatte,
nach den Regeln der ewigen und ekstatischen impliziten Ordnung zu spielen.
Doch diese Leere kann einzig durch das beglückende Spiel von poiesis/techne selbst gefüllt werden. Ist es da, so ist Leere — oder sogar der Gedanke an Leere — eine Absurdität. Ich kann mir durchaus vorstellen, daß ein/e engagierte/r Naturwissenschaftler/in in ihrer/seiner Arbeit ebenso »aufgeht«, wie ich es als Künstlerin bei der Arbeit mit meinen Energieteilchen, den Worten. Nie bin ich so sehr bei mir selbst und zugleich ganz und gar mit allem verbunden. Was ich normalerweise als das »reale Leben« empfinde (Essen mit der Familie und Freunden, gemeinsame anregende politische Aktivitäten mit Kollegen, Konzerte oder Theater oder Kino oder Spaziergänge im Park, frisch bezogene Betten, Tandoorichicken im pakistanischen Restaurant um die Ecke, eine Schachpartie mit meinem Kind, bei der alles erlaubt ist, die Freude — oder Depression — wenn der Postbote da war, den Einkaufswagen im Supermarkt füllen, ans Telefon gehen, für das, was ich geschrieben habe, gelobt oder kritisiert zu werden, Geldsorgen, in einem heißen Schaumbad versinken, Fahnenabzüge korrigieren) — all dies sogenannte reale Leben schrumpft zu einer zweidimensionalen Surrealität, die mir nur ganz schwach, wie ein Traum, gegenwärtig ist. Das alles ist verschwommen und blaß gegenüber der lebendigen Intensität, mit der ich bewegungslos an meinem Schreibtisch, vor meiner Schreibmaschine oder meinen Notizen sitze, der Raum um mich herum von jeder anderen Energie entleert (außer vielleicht Bach auf dem Plattenspieler). Zu solchen Zeiten wird das Auftauchen aus der Versenkung schlimmstenfalls als äußerst schmerzhaft und bestenfalls als merkwürdig fremd empfunden. Dennoch wird auch dann alles verwendet: ein zufälliges Gespräch, die Fernsehnachrichten, der Gesichtsausdruck eines Fremden im Bus — alles gelangt, verwandelt, in meine Arbeit. Alles scheint unmittelbar relevant, beziehungsreich, lebendig. Ich kann gar nicht anders als ständig und mühelos Verbindungen herstellen; ich komme mir vor wie ein Vehikel, das dem einzigen Zweck dient, jene Verbindungen herzustellen. Nie bin ich mehr ich selbst und nie so frei von Ich-Gefühl.
Und wenn ich — von dieser summenden Resonanz, dieser elektrisierenden kreativen Vibration (die der in der Mikrophotographie sichtbaren molekularen Aktivität gleicht) erfaßt — dann beim Schreiben bin, ist es so, als dächte diese Energie durch den Körper. Ich bin nicht hungrig oder durstig und kann stundenlang in der gleichen Haltung dasitzen. Erst später merke ich, daß mein Nacken schmerzt und der Rücken verkrampft ist. Ich wette, Tests würden ein Ansteigen des Adrenalinspiegels, einen beschleunigten doch gleichmäßigen Puls und eine leichte Vergrößerung des erigierenden Gewebes der Brust und der Klitoris oder des Penis zeigen. Zeit und Raum gewinnen ihre ursprüngliche Bedeutung zurück als Raum/Zeit-Einheit, relativ und irrelevant. Wenn ich schließlich doch Pause mache, um etwas zu essen oder um zu schlafen, dann tue ich das wie ein Geist meines Selbst, das immer noch am Schreibtisch sitzt. Ein Geist, der geistesabwesend kaut und sich wie eine Schlafwandlerin bewegt. Wenn ich wirklich schlafe, dann träume ich von meiner Arbeit. Manchmal träume ich die Lösung für ein bestimmtes Problem, das sich in wachem Zustand als unlösbar erwies. Und der ganze Vorgang ist durchtränkt von Geheimnis und von der Erregung einer tiefen ernsten Freude. Es ist, als hätte ich, wie die DNS selbst, nur zwei Aufgaben, existierte nur für sie. Sie sind miteinander verschlungen und entscheidend für alle Intelligenz, alles Leben: verschmelzen und vervielfältigen.
Und alle Erfindungen stammen aus diesem mystischen, vibrierenden, unerschöpflichen Spiel.

»WOLLE DIE WANDLUNG
Intelligenz, wo immer sie existiert, spielt mit Kommunikation, — spielt mit ihr, auf ihr, durch sie, aus reinem Vergnügen an ihr. Daß »Spielen« als kindische Aktivität eingestuft wird, ist zugleich der Grund und das Resultat der Dehumanisierung von Kindern durch Erwachsene. Der Stellenwert von Kindern ist ein Ausfluß der Verachtung für das Spiel, und der Stellenwert des Spiels ist ein Ausfluß der Verachtung für Kinder. Kinder haben noch nicht gelernt, daß die Welt der impliziten Ordnung eine verbotene Welt ist, —jene beglückende Welt, die enthält und enthüllt und hervorbringt, die die Dinghaftigkeit der Dinge entdeckt.
Die Erwachsenen haben das vielleicht vergessen, doch der Schmerz um dieses verlorene Paradies bleibt. Wir betrauern die durch Luftverschmutzung hervorgerufene Erosion des Parthenon, den Beschuß von Angkor Wat, den Brand der Bibliothek von Alexandria, den Verlust fast aller Gedichte der Sappho, das Einschmelzen (für Kanonenkugeln) fast aller großer griechischer Bronzestatuen, mit der zufälligen Ausnahme des delphischen Wagenlenkers. Ich trauere um die zerschmetterten Marmorfiguren von Adelaide Johnson. Warum — wenn Kunst für uns so irrelevant ist, wie MANN behauptet? »Warum«, fragt Susanne K. Langer,

«sollte wohl die Welt über den Verlust von nutzlosen Dingen jammern, wenn sie zugleich, ungerührt wie eh und je, der Vernichtung von so vielem in harter Arbeit Geschaffenem zusieht? Mir scheint es von der Natur nicht sehr ökonomisch eingerichtet, (daß Menschen) um des Spiels willen leiden und hungern, wenn Spiel lediglich die ihnen nach der Befriedigung ihrer täglichen Bedürfnisse noch verbliebene Kraft sein sollte.«[35]

Ist es nicht vielmehr so, fragt Susanne Langer, daß das Spiel ein Grundbedürfnis ist? Ich wage die Behauptung, daß es ein ebenso starkes Grundbedürfnis ist wie Essen und Trinken und Luft. Wahrscheinlich sind wir durchs Spiel erst wirklich lebendig oder zumindest menschlich — diese nicht zu unterdrückende Fähigkeit zum kreativen Spiel, dieses hartnäckige, unersättliche, tragikomische, wilde und zugleich disziplinierte Bedürfnis zu singen.
Und was ist dann eigentlich das wirklich »ernste« und was das »frivole« Spiel: jenes, das Wesen, Wahrheit, Verknüpftheit, Enthaltensein sichtbar macht? Oder das Spiel, das all dieses verhüllt und statt dessen auf Konkurrenz, Gewalt, Kategorien, Fundamentalismen setzt? Es scheint, daß MANN wieder einmal das Pferd vom Schwanz her aufzäumt. Er spielt lieber mit irgendwelchen Mätzchen als mit dem, was techne wirklich bedeutet, genau wie er heute eher bereit ist, die Intelligenz von Maschinen als die von menschlichen Frauen und Männern zur Kenntnis zu nehmen. Unglücklicherweise erleben wir auch hier wieder die Reaktion, die wir im Verhalten unterprivilegierter Klassen voraussetzen: MANN lobpreist die Computer-Intelligenz (ihm zur Seite FRAU, lächelnd und schweigend, und drum herum voller Ehrfurcht die Männer), und Frauen lehnen sie ab.
Warum wir uns so verhielten ist durchaus verständlich. Schließlich ist es doch eine grobe Beleidigung, daß MANN dem Gehirn eines Computers bereits mehr Respekt entgegenbringt als dem Gehirn eines weiblichen menschlichen Wesens. Doch wenn wir per Unterlassung die Kenntnisse über diese neue Form von Intelligenz allein MANN überlassen — verschiebt sich dadurch das Ungleichgewicht der Macht nicht noch mehr zu unseren Ungunsten?

Natürlich gingen auch mir die jüngsten Kontroversen, ob in den Computern das Potential zu einer neuen Form von Leben steckt, an die Nieren. All die Artikel und Bücher, die davon handeln, ob sich Intelligenz letzten Endes aus sich heraus fortpflanzt oder nicht, ob Intelligenz sich schließlich selbst Gefühle lehrt oder nicht ... Ein solches Buch ist The Enchanted Loom -. Mind in the Universe von Robert Jastrow.[36] Der Autor glaubt, Computer-Intelligenz sei tatsächlich der nächste Schritt in der Evolution und würde die menschliche Spezies — MANN, FRAU, Männer und Frauen — in ihrer evolutionären Sackgasse hinter sich lassen, ausgestorben wie die Dinosaurier oder die heute hoffnungslos gefährdete Kegelblume aus Tennessee. (Computer können den nuklearen Holocaust überleben. Kakerlaken können das auch.) Doch menschliches Fleisch in all seinen unzähligen Schattierungen von kobaltblauem Schwarz über Sienabraun bis zu zartem Bernstein (war uns dies Spektrum kein Anlaß zum Feiern}) und in all seinen wunderbaren unterschiedlichen Formen, unterschiedlich nach Geschlecht, nach Größe, nach Haltung (war uns diese Vielfalt kein Anlaß zur Freude}) — dies menschliche Fleisch hat nach Dr. Jastrows Meinung den Endpunkt seiner Entwicklung erreicht. O Jastrow, wie traurig, wie über alle Maßen traurig!
Doch auch wenn Dr. Jastrow mit seinen Prophezeiungen recht behalten sollte (und ich stimme George Eliot zu, daß »Prophezeiungen die wohlfeilste Art von Irrtum« sind) so macht mich jede neue Form von Intelligenz neugierig. Meine eigene Spezies hat ihre Form nicht übermäßig gut genutzt, wie also könnten wir über andere Formen die Nase rümpfen? Und an einem Ort, wo diese Qualität stets knapp war oder schlecht genutzt wurde, sollte jede echte Intelligenz doch nur willkommen sein. Oder vielleicht handelt es sich um die alte Neugier, das alte Begehren, die in meinem existentiellen romantischen Selbst brodeln und mich so scharf machen auf Exogamie in all ihren Formen, auf jede Art von Kommunikation. Offengesagt würde ich zu gern mit Delphinen und mit Maschinen kommunizieren. Mit MANN jedoch kann ich mich offenbar nicht verständigen, und sogar mit Männern habe ich da meine Schwierigkeiten, auch wenn ich mich noch so anstrenge sie zu verstehen und selbst verstanden zu werden. Also ist es sehr unwahrscheinlich, daß ich mit Hilfe von MANN Zugang zur Kommunikation mit Delphinen oder Maschinen finden werde. Also muß ich einfach um ihn herumflitzen und mir meinen eigenen Weg zu ihnen suchen. Und ob nun Männer eine Beziehung zu dem offenbarenden Charakter der Kunst herstellen oder nicht, wir Frauen müssen in jedem Fall die Beziehung zum offenbarenden Charakter der Technologie aufnehmen.* (* George Eliot formuliert die Herausforderung, wie immer, leidenschaftlich und elegant: »Mir scheint die Furcht vor der genauen Oberprüfungeines Vorschlags eine intellektuelle und moralische Lähmung, die auch das eingehende Erfassen jedes anderen Gegenstands verhindert.«)
Als Frauen sind wir offenbar bereits mit der Kunst verbunden und damit in unmittelbarer Nähe der impliziten Ordnung. Wie wäre es also, wenn wir Verbindung zur Technik, zu Maschinen (dummen und intelligenten, eine Diskriminierung sei uns fern) aufnehmen und sie in die Holobewegung, in die beglückende Unordnung der impliziten Ordnung einbeziehen? Gebt zu, daß das eine ganz tolle Koalition ergäbe!

»Wenn wir des weiteren glauben, daß die menschliche Intelligenz nur ein Beispiel eines allgemeineren Naturphänomens ist — das Entstehen von intelligenten Wesen in höchst verschiedenen Kontexten —, dann ist vermutlich die >Sprache<, in der sich die Menschen ... Botschaften mitteilen, ein >Dialekt< einer Universalsprache, in der Intelligente Wesen miteinander kommunizieren können.«[37]

Wer würde sich mit weniger zufrieden geben? Ich nicht, auch wenn wir uns als Frauen eine völlig neue Form der Verständigung aneignen müßten. Und auch, wenn wir Frauen die Männer lehren müßten, daß MANN, dieser Dummkopf, sie gewaltig in die Irre führt, wenn er behauptet, er hätte das, was all diese so unterschiedlich miteinander verknüpften Intelligenzen wirklich miteinander besprechen, unter Kontrolle.
Wer, in der Tat, würde sich mit weniger zufriedengeben? Vielleicht ist das die letzte Chance für unsere Spezies — oder unsere vorletzte. Hunger, Kriege, Selektion, Neutronen- und Wasserstoffbomben. Der Computer führt den Befehl aus, den MANN's Finger mit dem Knopfdruck für Abschuß der Atomraketen gibt (und weint dabei vielleicht durch all seine Regelkreise voller Mitleid und Gram für uns?). Oder der Computer stellt das Elektronenmikroskop ein, damit es enthüllt, was kein menschliches Auge bisher in der verwickelten Anordnung von Mustern in einem Diatom gesehen hat. Davon existieren mehr als 25 000 Arten, das Muster jeder Schale jedes einzelnen Diatoms ist einmalig, unterscheidet sich von den anderen. Und nun: welcher der beiden Computer? Beide sind Teil der »Natur«, ebenso wie Frauen und Männer und alles was auf Erden existiert. Wenn wir es uns vorstellen können, wird es auch Realität werden. »Die Natur«, sagt Margaret Füller, »bietet zu jeder Regel die Ausnahme.« Wenn es zur Existenz gebracht werden kann, ist es »Natur«. Warum uns mit weniger zufrieden geben, als uns die Wahrheit vorstellen und hervorbringen?
Warum uns mit weniger zufrieden geben als mit — allem? Die Mittel als solche sind interessant. Die Ziele waren langweilig und müssen geändert werden. Das überrationale, kalte, trockene, harte, erwachsene, frivole Spiel, das MANN und FRAU spielten, und zu dem sie uns alle, Männer und Frauen, gezwungen haben, ist tödlich und muß geändert werden. Es war letzten Endes, wie Wallace Stevens uns warnte, »eine gewalttätige Ordnung, die eine «Ordnung ist«. Jetzt kommt die Zeit der Unordentlichen auf dieser Erde — Frauen und Kinder und Völker, deren Fleisch die Farben der Erde selbst widerspiegelt, und Diatome und intelligente Computer, Künstler und Bakterien und der ganze Chor von techne/poiesis, jener Ordnung, die implizit ist und bereit, sich selbst zu offenbaren. Jetzt ist es an der Zeit (das war es schon immer, doch heute ist so gut wie immer) die Wandlung zu wollen.

Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert,
drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt;
jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert,
liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt.
Was sich ins Bleiben verschließt, schon ist's das Erstarrte;
wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's?
Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte. Wehe —:
abwesender Hammer holt aus!
Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung;
und sie führt ihn entzückt durch das heiter Geschaffene,
das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt.
Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung,
den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne will,
seit sie lorbeern fühlt, daß du dich wandelst im Wind.
Sonett II, 12
Aus den Sonetten an Orpheus von Rainer Maria Rilke[38]