Der Pfahl im Herzen

Eine Anatomie der sexuellen Leidenschaft

Das Zügeln der Leidenschaft ist nicht immer weise. Im Gegenteil, ein Grund, warum Männer ein größeres Urteilsvermögen und mehr geistige Kraft besitzen als Frauen, scheint unzweifelhaft darin zu bestehen, daß sie der großen Leidenschaft mehr Raum gewähren und durch häufigeres Irren ihren Geist erweitern.
Mary Wollstonecraft

Ich sah keinen Unterschied zwischen Gott und unserer Substanz, sondern sah es so, als ob alles Gott wäre... Tugenden treten in unsere Seelen ein in der Zeit, da sie mit unseren Körpern verknüpft werden. Durch diese Verknüpfung werden wir sinnlich gemacht... Und so begriff ich, daß Gott in unserer Sinnlichkeit ist, und ich werde mich niemals davon entfernen... Wir können nicht völlig heiligmäßig sein, bevor wir nicht unsere eigene Seele kennen — und das wird sein, wenn unsere Sinnlichkeit... in der Substanz erhöht worden ist.
Juliana de Nortuich

Zu viel von einer guten Sache kann wundervoll sein.
Mae West

Alles wird als Begehren erfahren; Begehren ist ein Ausdruck von Neugierde, und weiterführendes Begehren ist ein Ausruck von unstillbarer Neugierde.
Die Untrennbarkeit von Begehren und Neugierde ist das einzige, dessen sich ein neugeborener Säugling bewußt ist; es ist sein ursprüngliches Rüstzeug zum Überleben, die Wahrheit, die ihn zur Erforschung aller übrigen Wahrheiten hinführen kann. Erst wenn wir älter werden, bringt man uns bei, Neugierde und Begehren zu trennen, und dann noch weiter zu differenzieren. Neugierde wird aufgespalten in Entfremdung oder Sehnsucht, oder Herausforderung, in Unwissenheit oder Weisheit, sogar in Eroberung oder Angst; Begehren in Mangel und Bedürfnis oder Wahl oder Liebe, in Wollust oder Gier, in Versuchung oder Erleuchtung, in Gut und Böse — und ebenfalls in Angst.
Diese Aufspaltungen sind wohl Konsequenz der Einschränkungen, die die (im wörtlichen Sinn) unrealisierte Freiheit jenes Neugeborenen beeinträchtigen - »notwendige Einschränkungen«, wie sie von allen Kulturen gerechtfertigt werden, ganz gleich wie die jeweiligen Einschränkungsmaßnahmen dann aussehen mögen. Denn nichts ist für ein etabliertes System so gefährlich wie Neugierde und Begehren. Dennoch war es schon immer schwierig, ein Gleichgewicht zu halten, denn es gibt nichts Wichtigeres für die Erschaffung, Erhaltung und Evolution des Lebens selbst als eben dies: Neugierde und Begehren. Das Schachern zwischen irgendeinem gegebenen Status Quo und jeglicher Hoffnung auf Verbesserung hat demnach zu einem Aussickern von Freiheit geführt - nicht genug, um die Gegenwart zu gefährden (so hofft der Status Quo), doch gerade ausreichend, um eine Zukunft überhaupt zu ermöglichen.
Die Vorstellung eines Aussickerns oder einer Rationierung von Freiheit ist erschreckend und ergötzlich zugleich. Erschreckend, weil überall, wo ein Grundrecht des Lebens quantifiziert und zugeteilt wird, das zum sittlichen Verfall derjenigen führt, die die Quantifizierung vornehmen, und zum Leid von Millionen, die ihnen dafür zu Diensten sein müssen. Die Vorstellung ist gleichzeitig ergötzlich, denn selbst die winzigste Blechtasse, zur Hälfte gefüllt mit einer Ration Freiheit, kann kaum den Durst danach stillen.
Im Gegenteil, der Durst wird immer größer, er ist ein erworbenes Bedürfnis, doch zugleich so selbstverständlich wie die Luft zum Atmen. Er weckt den Hunger des Neugeborenen wieder auf, er hebt Erwartungen, schürt Revolutionen, er zieht die Forscherin zurück in ihr Labor (selbst wenn das Labor der IT&T* (* IT&T = International Telephone and Telegraphy Company; amerikanischer nachrichtentechnischer Konzern (A.d.Ü.). gehört), spornt den Entdecker an, seinen Kurs weiter zu verfolgen (selbst wenn er von Isabella und Ferdinand oder von der NASA finanziert wird), er ergreift Besitz vom Künstler mit immer neuen Formen und immer gewagteren Visionen (selbst wenn sie von auf Kooption bedachten Stiftungen oder den akademischen Ambitionen von Universitäten unterstützt werden). Nur eine kleine Kostprobe von dieser Ration, und schon träumt der Sklave wieder von beständiger Freiheit, auch wenn er einen wohlwollenden Herrn hat, schon hecken die Einwanderer Pläne aus, wie sie ihren Kindern zu einer Universitätsausbildung verhelfen können, schon erfindet der Mystiker frische Ekstasetechniken für einen neuen Zugang zum Universum, hinaus über die Mantras, Rosenkränze, Koans, Mitzwahs, Gebete und die anderen abgenutzten Rituale jedweder freiwillig gewählten oder aufgezwungenen religiösen Doktrin. Nur wegen dieser Rationen, so knausrig sie auch waren, hat das, was als »Fortschritt« gelobt wird, überhaupt stattfinden können. Es war erbärmlich wenig, an viel zu wenige verteilt, über einen bedrückend langen Zeitraum hinweg — und doch hat diese winzige Menge sich zu dem entwickelt, was die menschliche Spezies davor bewahrt hat, sich vollkommen zu zerstören.
Was würde wohl passieren, wenn Neugierde/Begehren in jedem von uns freigesetzt würde in einem Ausmaß, das annähernd der vollen Kraft des vorhandenen Potentials entspricht? Vielleicht sollten wir besser fragen, was passieren würde, hätte ein Teil dieses Prozesses der Freisetzung selbst diese Qualitäten — unverkleidet, unverdünnt, unverformt?
Einigen Frauen wurde zum Beispiel zu bestimmten Anlässen und auf unterschiedliche Weise Freiheit »gewährt« (Rassenprivilegien, oder Erziehung, oder Alibibeteiligung an angesehenen Funktionen usw.) — aber das war keine Freiheit. Das war Duldung. Einigen Männern wurde, zu weit häufigeren Anlässen und in vielfältigererweise Freiheit »gewährt« (die oben genannten Privilegien, dazu Aufbau und Erhaltung der sexuellen Vorherrschaft, der Klassenherrschaft, der ökonomischen Vormachtsstellung usw.) — aber auch das war keine Freiheit. Es war Ermächtigung. Freiheit hat sich, in diesem Prozeß des Zuteilens, des Verwässerns, des Aussickerns, in der Tat völlig verändert, ist zu etwas Kläglichem und Vertrautem geworden. Oder, wie die Philosophin Manon Philip (Madame Roland) 1793 auf dem Schaffott ausrief, kurz bevor sie von den Verfechtern der Französischen Revolution, für die sie selbst gekämpft hatte, exekutiert wurde: «Oh Freiheit, welche Verbrechen werden in deinem Namen begangen!«
Die Tatsache, daß (einigen) Frauen Duldung statt Freiheit verkauft wurde, und daß (einigen) Männern Ermächtigung statt Freiheit erteilt wurde, hat in keinem Fall etwas mit Freiheit selbst zu tun. Es hat schon eher etwas mit Macht zu tun — der Macht zu dulden (Duldung kann jederzeit aufgehoben werden), und der Macht zu ermächtigen (Ermächtigungen können jederzeit zurückgezogen werden). Als Männer für die Fronten des Zweiten Weltkriegs oder für Vietnam gebraucht wurden, waren sie ermächtigt zu töten, Greueltaten zu begehen, und sogar ihre Geistlichen vergaben ihnen das. Und daheim (wo sonst?) brauchte man plötzlich Frauen, die die leergewordenen Arbeitsplätze der eingezogenen Arbeiter füllen sollten, und so wurde geduldet, daß die Frauen in die Reihen der anerkannten Arbeitskräfte aufgenommen wurden (die Hausfrau und Mutter ist in unserer auf Lohnarbeit ausgerichteten Gesellschaft nie als »arbeitende Frau« anerkannt worden), und Rosie die Nieterin wurde eine Propagandaheldin. Ist so ein Krieg dann vorbei, werden die heimkehrenden Veteranen natürlich erneut daran erinnert, daß es eine Sünde ist zu töten, und die heimkehrenden Frauen werden daran erinnert, daß der Platz einer Frau in der Küche, der Kinderstube und im Schlafzimmer ist.
Eben weil Duldung und Ermächtigung ausschließlich mit Macht und in keinster Weise mit Freiheit zu tun haben, sind sie notwendig, um die wirkliche Freiheit zu leugnen, zu unterdrücken, zu verdrängen, denn eine sehr grundlegende und aufrührerische Eigenschaft von Freiheit ist wiederum das dynamische Zusammentreffen von Neugierde und Begehren.
Wenn die Schwingungen von Neugier und Begehren erst einmal wellenartig ins Vibrieren gekommen sind, wird alles bisher Festgefügte — Duldung, Ermächtigung, traditionelle Machtausübung —, durchsichtig, anfechtbar, durchdrungen. Es zerbirst wie Glas, das durch die Macht eines einzigen hohen reinen Tons zurück in die Erscheinungsform des körnigen Sandes entlassen wird. Vielleicht hat dies etwas damit zu tun, daß Duldung, Ermächtigung und traditionelle Machtausübung Formen von Unwissenheit sind, während Neugierde und Begehren Formen von Intelligenz auf der Suche nach eigener/weiterer/anderer Intelligenz sind. Und nirgendwo wird die Angst vor Intelligenz und ihre Unterdrückung so erschreckend offensichtlich wie auf dem Gebiet, das als der zentrale »Widerspruch« zwischen Mann und Frau gilt: der Sexualität.
Weil Frauen menschliche Wesen in ihren eigenen  Körpern reproduzieren können, und weil dies als Folge des Geschlechtsverkehrs mit Männern geschieht, und weil diese Männer sich nicht sicher sein können, daß der Nachwuchs ihr eigener ist, und weil aber diese Gewißheit lebenswichtig ist, wenn diese Männer sich ihr Verfügungsrecht über Personen und Besitz schaffen, behaupten und an »ihren« Nachwuchs weitergeben wollen, darum ist es nötig: a) Frauen als reproduzierende Geschöpfe zu definieren, b) Frauen als sexuelle Geschöpfe zu definieren (wobei sie als solche von den Männern abhängig sind), c) ein sexuelles Geschöpf dafür, daß es als solches von anderen abhängt, als intelligenzlos zu definieren. (Intelligenz, wohlgemerkt, hat einen Beigeschmack von Neugierde, Begehren, Freiheit, Unabhängigkeit. Darum kann das Wort natürlich nicht Frauen charakterisieren, denen die Verfügung über diese Eigenschaften bewußt vorenthalten worden ist und von denen dann rücksprechend — das Gegenteil von voraussagend — definitionsgemäß festgelegt wurde, daß wir diese Eigenschaften von vornherein ja noch niemals hatten.)
Dieses Vorgehen hatte allerdings auch einen Bumerangeffekt; durch die Abtrennung der Sexualität von der Intelligenz (wie die Abtrennung des Begehrens von der Neugier) wurde auch die männliche Sexualität festgelegt und korrumpiert — vielleicht sogar in einem noch größeren Ausmaß als die der Frauen, denn schließlich war es MANN, der die Abtrennung vollzogen hatte und nun seinen ganzen Stolz hineinsetzen mußte, sie zu verteidigen und selbst daran zu glauben. Und außerdem, selbst wenn MANN tatsächlich allein für den Sündenfall verantwortlich gewesen wäre, war es den Männern ein Leichtes, Eva, die Versucherin, zu erfinden und damit FRAU die Schuld zuzuschieben.
Doch Neugier und Begehren führen ebenso ein Eigenleben wie die sexuelle Intelligenz, ganz gleich, wie sehr diese Eigenschaften verzerrt oder in den Hintergrund gedrängt werden, hinein in unsere Tag- und Nachtträume, in unsere Visionen, in unsere unbeholfenen Liebesgesten, oder unseren politischen Jargon. Wie es Andrea Dworkin so schön formuliert hat:
»Sexuelle Intelligenz (wäre) eine menschliche Fähigkeit, die sexuelle Integrität erkennen, befördern und herstellen könnte. Sexuelle Intelligenz wäre nicht meßbar in der Anzahl der Orgasmen, Erektionen oder Liebespartner, noch würde sie sich darin zeigen, daß bemalte Lippen einer Klitoris vor einer Kamera in Positur gebracht würden, noch wäre sie an der Anzahl der geborenen Kinder zu ermessen; sie würde sich auch nicht als Sucht zeigen... sie benötigte, wie alle anderen Formen der Intelligenz auch, die wirkliche Welt, eine unmittelbare Erfahrung davon... unter dem Vorzeichen des sich selbst definierenden und bestimmenden Selbst. Vielleicht wäre sexuelle Intelligenz nahe mit moralischer Intelligenz verwandt, mehr als mit irgend etwas anderem: ein Sachverhalt, auf den Frauen schon seit Jahrhunderten hinweisen.«
Doch da sexuelle Intelligenz aus Neugierde und Begehren besteht, und da sich diese wiederum unvermeidlich mit der Vorstellung von wirklicher Freiheit überschneiden, darum ist sexuelle Intelligenz genau so gefährlich für den Status Quo wie die Freiheit selbst. Sexuelle Intelligenz muß deshalb verleugnet, mißachtet und abgewertet werden; sie muß als anarchisch gelten, als zerstörerisch, gotteslästerlich, als unnatürlich, trügerisch — und auch als nicht existent.
Doch dann muß es irgend etwas anderes geben, um diesen nicht existenten Platz zu füllen, bevor die Lücke sichtbar wird, bevor wir an dieser Wunde zu Tode bluten. Aha! Und MANN (mit der hilflosen Hilfe von FRAU) hat genau die passende Antwort für sowohl Männer als auch Frauen: etwas, das ich sexuellen Fundamentalismus nenne.

REDUCTIO AD FUNDAMENTA
Wir wissen, was religiöser Fundamentalismus ist; wir können uns im Gegenteil heute vor diesem Wissen nicht retten. Es ist die Denkart, die das Firmament zum Fundament herunterschrumpfen kann, die es schafft, die mehr als zwei Billionen Sterne in unserer Milchstraße, die ihrerseits wiederum nur eine einzige Galaxis in einem galaktischen Haufen ist, der seinerseits wiederum nur einer der galaktischen Haufen in unserer lokalen Gruppe ist, die ihrerseits ein Gebiet umfaßt, das etwas über unseren nächstgelegenen Spiralnebel-Nachbarn Andromeda hinausreicht, der 2,2 Millionen Lichtjahre entfernt ist, und von dem wiederum angenommen wird, daß er Teil eines Superhaufens ist — auf die »Washington-für-Jesus«-Bewegung« zu reduzieren.* (*Eine Versammlung von über hunderttausend »patriotischen Christen«, die am 28. April 1980 in Bussen nach Washington D. C. geschafft wurden, um zwei Aktionstage durchzuführen, in denen Kundgebungen, Marsche, Gebete im Freien und Lobbytätigkeit im Kongreß für die Ziele des rechten Flügels stattfanden. (Interchange Resource Center Newsletter, Bd. II, Nr. 1, Frühjahr, Washington D. C, 1980) Diese Denkart ist imstande, quasi stellare Radioquellen, Lichtimpulse, die etwa schon dreiviertel der Zeit seit der Ausdehnung des Universums durchs All ziehen, folgendermaßen zu übersetzen: »Ich schreibe dir dies als Gottes persönlicher Botschafter. Er hat mir einen Weg gezeigt, wie wir eine christliche Verteidigungslinie in Amerika aufbauen können... Aber ich benötige 55 611,89 Dollar, um diese »Für Christus gegen den Kommunismus« Erhebungsumfrage zu drucken und zu versenden.«[2] Diese Denkart ist es auch, die die Wissenschaft vom »Kreationismus« in die Welt gesetzt hat, die behauptet, das Alter unserer Erde und des uns bekannten Universums betrage etwa sechs- bis zehntausend Jahre; diese Zahl leitet sich aus einer wortwörtlichen Interpretation des biblischen Genesis-Mythos ab. Und leider beschränkt sich dies nicht auf die sogenannten Christen im Land der sogenannten Freien. Dieselbe Denkart inspirierte die Sitmar-Sekte der orthodoxen chassidischen Juden dazu, die Zerstörung Israels zu fordern — denn laut uralten Texten darf sich kein jüdischer Staat konstituieren, bevor nicht der hebräische Messias gekommen ist. Dieselbe Denkart beflügelt den Ayatollah Khomeini und seine Mullahs dazu, das islamische Gesetz dahingehend zu deuten, daß eine unverheiratete Mutter zu Tode zu steinigen sei, ein homosexueller Mann zu Tode geprügelt, die rechte Hand eines angeklagten Diebes mit der Axt amputiert werden soll.
Wir wissen, was religiöser Fundamentalismus ist: es ist die Trivialisierung des Komplexen, der Energie, des unvorstellbar kraftvollen Begehrens (die Gravitationsanziehung »interagieren-der Galaxien« zueinander hin), ununterdrückbar gewaltiger Neugierde (die Eichel, die in sich die Eiche spürt, der Gorilla, der vor Aufregung hochspringt, wenn er das 375ste Wort in der Ames-lan-Zeichensprache gelernt hat[3]), und der unvorstellbaren Freiheit (das Tachyon, eine Partikel, die sich schneller als Lichtgeschwindigkeit bewegen soll)* (* Die postulierte Existenz des Tachyons kann aus der Emission der Cerenkov-Strahlung oder kosmischem Strahlenzusammenprall geschlossen werden.) — all das, hinuntergeschrumpft in eine fanatisch wörtliche Interpretation irgendeines Gesetzesbuchstabens, der in einem von vielen Augenblicken des Terrors von MANN erdacht worden ist.
Der sexuelle Fundamentalismus entstammt derselben Denkart und ist faktisch überall da gegenwärtig, wo der religiöse Fundamentalismus seinen fauligen Atem über unser erwachendes Bewußtsein von Möglichkeiten bläst. Der religiöse und sexuelle Fundamentalismus sagt zu uns etwa durch den Mund von Marabel Morgan (der Autorin von The Total Woman und nicht verwandt mit mir), daß Frauen zu genau den sexuellen (oder asexuellen) Geschöpfen werden müssen, die ihre Männer sich wünschen, denn alles andere hieße Christus beleidigen. Beide Fundamentalismen teilen uns in mißtönendem Duett mit, daß Frauen »unrein« sind, wenn sie sich während der Menstruation frei bewegen, oder wenn ihre Klitoris unversehrt ist, oder ihr Kopf ungeschoren und unverschleiert, oder wenn sie beschließen, jemanden zu lieben (oder auch nicht), oder jemanden zu gebären (oder auch nicht), weil es ihrer Neugierde und ihrem Begehren so entspricht. Wir können sexuelle Fundamentalisten recht leicht ausmachen, wenn sie uns nämlich dieses oder jenes heilige Buch um die Ohren schlagen.
Daneben gibt es jedoch sexuellen Fundamentalismus auch ohne das religiöse Geschwister, obwohl dies umgekehrt nicht der Fall ist (was zu dem Schluß verlockt, daß der religiöse Fundamentalismus selbst lediglich ein Nebenprodukt des sexuellen Fundamentalismus ist). Sexuelle Fundamentalisten können in überraschenden Verkleidungen daherkommen: da gibt es den liberalen, ungläubigen Juden, der leicht zusammenzuckt, wenn ihm ein homosexueller Kollege die Hand gibt; oder die weiße Bürgerrechtsaktivistin, die ihrer weißen Freundin anvertraut, daß Schwarze doch tatsächlich einen längeren Penis zu haben scheinen als weiße Männer; oder der schwarze Bürgerrechtsaktivist, der seine schwarze bürgerrechtsaktive Freundin über die weißen Frauen belehrt, die noch feminin und sexy sein können; da gibt es die heterosexuellen und die homosexuellen Freundinnen und Freunde der wirklich bisexuellen Frau (oder des Mannes), die überzeugt verkünden, daß Bisexualität nicht existiert, oder eine Krankheit oder politischer Eskapismus ist.
Sexuelle Fundamentalisten können Homophobie im Tonfall des Liberalismus, Sozialismus, Kommunismus, Atheismus, Humanismus, und, ja, auch Feminismus von sich geben, wenn sie im Namen aller Heterosexuellen sprechen. Aber sexuelle Fundamentalisten gedeihen auch in einer Gemeinschaft von männlichen Schwulen, die ihre eigene Misogynie nicht in Frage stellt, oder sich dazu hergibt, genau die Leiden nachzuäffen oder zu verspotten, die die Frauen um ihres Überlebens willen gezwungen waren zu ertragen, indem sie FRAU spielten. Sexueller Fundamentalismus ist auch da im Spiel, wo Lesbierinnen, wie feministisch sie auch sein mögen, ihre Liebe erniedrigen, indem sie sich mit den Rollen des kessen Vaters oder des Weibchens abfinden, die in kläglicher Weise die schlimmsten Aspekte patriarchaler Heterosexualität imitieren; oder wann immer sie Verachtung für eine Frau zeigen, die »hetero« ist und somit »unfähig zu wirklichem Feminismus«.[4]
Sexueller Fundamentalismus ist gegenwärtig (und widerwärtig), wo immer Komplexität, Energie, Begehren, Neugier und Freiheit, die zur Sexualität gehören, in eine starre Form gepreßt, durch billige Witze trivialisiert, von unwissender Schamhaftigkeit versteckt, zu »linientreuer Politik« dogmatisiert, auf die Ebene von Eroberung und Hingabe übersetzt, in die Form von Sadismus und Masochismus gehetzt, oder ge- und verkauft, genötigt, erzwungen oder gestohlen werden.
Der Vergewaltiger, der Kinderschänder, der Zuhälter, der Frauenbelästiger, der hetero- oder homosexuelle Frömmler, der Zulieferer rassistischer Sexualstereotype, der Pornograph und der sexuelle Wüstling, der Ehemann, der auf Einlösung der »ehelichen Pflichten« beharrt, sie alle sind sexuelle Fundamentalisten. Doch gehören dazu auch die liberalistischen Pseudobürgerrechtler, die das Recht der Pornographen auf freie Meinungsäußerungen verfechten (und dabei das Recht auf freie Meinungsäußerung derjenigen ignorieren, die die Öffentlichkeit über die tatsächlichen Folgen von Pornographie aufklären). Auch der Papst gehört dazu, und der zynische Lobbyist, der Callgirls für seine Kongreßklientel herbeischafft. Dazu gehört der Rabbi, der dem bris (der Beschneidungszeremonie) vorsteht, und die Daya (die Dorfhebamme), die die Klitorisbeschneidung ausführt. Dazu gehören die schicken Werbebonzen derMadison Avenue, die Sex dazu benutzen, um Autos und Zahncreme zu verkaufen. Und ebenso die Gemeindeältesten der Mormonen, die verschämten Herausgeber des Cosmopolitan und des Savvy, und die linientreuen Freudschen Analytiker-, ebenso Lenin und Lenny Bruce, Paul Tillich und der Marquis de Sade, John F. Kennedy und Martin Luther King jr., Gandhi und Pablo Picasso. Dazu gehören auch Billy Graham, Mutter Theresa* (* Die Nonne Mutter Theresa gehört zu den Missionsschwestern der Barmherzigkeit, sie erhielt 1980 den Friedensnobelpreis für ihre Arbeit mit den harijan (den «Unberührbaren«) Armen in Indien. Sie benutzte ihre Festrede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises, um das erst kürzlich wiederbelebte römisch-katholische Dogma gegen die Selbstbestimmung der Frau über ihre reproduktiven Kräfte zu verkünden. Trotz und der Dalai Lama.dieser Loyalität ist sie nicht so bekannt geworden wie andere oben angeführte sexuelle Fundamentalisten. Ironischerweise braucht sie, gerade weil sie eine Frau ist, eine Fußnote, damit wir uns daran erinnern, warum sie in dieser Liste steht.)

Alle sexuellen Fundamentalisten — in einem von vielen Augenblicken der Angst dazu getrieben, irgendwelche die Sexualität betreffenden Buchstaben des Gesetzes wörtlich zu nehmen, Gesetze, die in einem von vielen Augenblicken der Angst von MANN (mit der hilflosen Hilfe von FRAU) erdacht wurde. Sie alle sind dem sexuell-fundamentalistischen Fundament treu ergeben, das entweder Sexualität als Träger und Verbreiter freudiger Stärke unterdrückt, oder sie aller Freude beraubt und damit kraftlos macht. Dorothy L. Sayers hat einmal geschrieben: »Die einzige Sünde, die die Leidenschaft begehen kann, ist es, freudlos zu sein.« Und schon vorher hatte William Blake geschrieben: »What is it men in women do require? / The lineaments of Gratified Desire. / What is it women do in men require? / The lineaments of Gratified Desire.«* (* Was ist es, das die Männer in den Frauen fordern? Den Ausdruck befriedigten Begehrens — Was ist es, das die Frauen in den Männern fordern? Den Ausdruck befriedigten Begehrens.)
Wie kann eine so einfache Sache so viel Angst einflößen?

PAS DE QUADRE: DIE SCHÖNE UND DAS UNTIER,
PSYCHE UND EROS
Kann eine so einfache Sache vielleicht deshalb so angsteinflößend erscheinen, weil sexuelle Intelligenz nicht nur Ausdruck von Begehren, Neugier und Freiheit ist, sondern auch von Energie? Blake hat auch geschrieben: »Energie ist immerwährendes Entzücken.« Doch Energie läßt sich nie festlegen, sie kann nicht mit Sicherheit kontrolliert werden, sie ist ja schon definitionsgemäß Bewegung und Veränderung. Wie wollt ihr sie kodifizieren, fixieren, kanalisieren, sie euch »dienstbar« machen? Nun, ein Weg, allerdings ein trügerischer, könnte sein, daß ihr euch von der Energie distanziert, indem ihr vorgebt, daß ihr selbst keine solch wunderbare Ansammlung energetischer Partikel seid. Distanziert euch, im wörtlichen Sinn, davon. (Das ist zwar gar nicht möglich, trotzdem haben sich viele große Geister, die es eigentlich hätten besser wissen müssen, mit dieser Aufgabe auseinandergesetzt.) Betrachtet sie »durch ein dunkles Glas«. Erzählt euch und anderen, daß diese Energie, weil sie unbeständig ist, auch unzuverlässig und möglicherweise zerstörerisch ist (wahr, aber nicht die ganze Wahrheit), und dann könnt ihr noch weiter gehen: setzt Energie in Vergleich zu Gewalt, macht sie schließlich zum Synonym für Gewalt.
Jetzt beginnen wir, die moderne Sexualität zu verstehen, wie sie so furchteinflößend von Michel Foucault beschrieben worden ist, nämlich als

»ein besonders dichter Durchgangspunkt für die Machtbeziehungen: zwischen Männern und Frauen, zwischen Jungen und Alten, zwischen Eltern und Nachkommenschaft, zwischen Erziehern und Zöglingen, zwischen Priestern und Laien, zwischen Verwaltungen und Bevölkerungen. Innerhalb der Machtbeziehungen gehört die Sexualität nicht zu den unscheinbarsten, sondern zu den vielseitigsten einsetzbaren Elementen: verwendbar für die meisten Manöver, Stützpunkt und Verbindungsstelle für die unterschiedlichsten Strategien.«[5]

Doch wir können diese Machtpolitik der Sexualität in noch kleinere Bestandteile zerlegen — in die Art und Weise, in der MANN die Männer dazu gebracht hat, sich mit dem Thema zu befassen, und in die Art und Weise, in der FRAU die Frauen veranlaßt hat, sich damit zu befassen. Ein Bild für ersteres könnte die Geschichte von der Schönen und dem Untier sein, für letzteres wäre es der Mythos von Psyche und Eros.
Sicher erinnert ihr euch, daß es in der Geschichte von der Schönen und dem Untier darum geht, daß die Schöne bei einem reichen, mächtigen und zauberkundigen Untier lebt; sie tut das in ihrer Funktion als Lösegeld für ihren Vater, der Anstoß erregte, als er eine Rose aus dem Garten des Untiers stahl. Zuerst hat sie Angst vor dem Untier, aber dann spürt sie allmählich eine eigenartige Anziehung, denn das Untier versucht, sich bei ihr beliebt zu machen, mit kleinen Aufmerksamkeiten, intellektuellen Spielchen (es ist nämlich kein dummes Untier), verschwenderischen Gewändern, köstlichen Speisen, einem großen Schloß — alle materiellen Werte, die sie sich nur wünschen kann. Doch trotz allem ist es ein Untier, und sie lehnt standhaft seine wiederholten Heiratsanträge ab, weigert sich standhaft, seine Bitte zu erfüllen und ihm zu sagen, daß sie ihn liebt. Nach einer Weile entwickelt sie deswegen Schuldgefühle — aber sie bleibt standhaft. Und ebenso standhaft bleibt er ein Untier. Die Verzweiflung ob seiner »grausam unerwiderten« Liebe treibt ihn sogar fast dazu, sie zu vergewaltigen — aber weil er kein dummes Untier ist und weil er weiß, daß er ihre Liebe dringender braucht als seine Wollust, zieht er sich zurück. Als die Schöne eines Tages entdeckt, daß sich das Untier vom Kadaver eines erlegten Rehs ernährt, überkommt sie endlich eine heftige Abneigung, und sie kehrt zu ihrer Familie zurück, ganz gleich was für Konsequenzen das haben mag. Das Untier läßt sie sogar gehen. Doch die gemeine Mißgunst ihrer Schwestern (»Wen zum Teufel schert es denn, daß er ein Untier ist? Schau dir doch bloß mal die Perlenkette an, die du da trägst!«) flößt ihr wiederum Abscheu vor den Menschen ein (besonders, wohlgemerkt, vor anderen Frauen). In einem magischen Spiegel erblickt sie das Untier, das, allein im Schloß zurückgelassen, aus Sehnsucht nach ihr im Sterben liegt. Im Vergleich zu ihren Schwestern sieht er gut aus, also kehrt die Schöne zu ihm zurück. Als sie annimmt, daß er gerade (mit Sicherheit?) in ihren Armen stirbt, sagt sie ihm, daß sie ihn liebt und ihn geheiratet hätte, wäre er am Leben geblieben. Auf der Stelle springt aus den Überresten des Untiers ein stattlicher Prinz hervor, der Bann, der vor langer Zeit über ihn gesprochen worden war (als Strafe für seinen Stolz) ist nun durch ihre Liebe gebrochen. Nachdem diese Liebe ihn sozusagen »zivilisiert« hat, können sie nun glücklich bis an ihr seliges Ende leben.
Denkt an dieses Märchen, wenn wir uns jetzt einigen Fakten des wirklichen Lebens in bezug auf sexuelle Gewalt — die in unserer Kultur mit sexueller Energie gleichgesetzt wird —, zuwenden. Wir brauchen uns nur auf zwei Beispiele zu konzentrieren, obwohl es viele eklatante gibt, wie Vergewaltigung, Körperverletzung, erzwungener Inzest, und der Krieg selbst.* (* Vergl. Kapitel II »Der Zweiwege-Spiegel«, S. 63 für die Statistik.) Trotzdem ist es vielleicht sinnvoller, uns für eines unserer Beispiele auf einen Sachverhalt zu beziehen, der immer noch, jetzt in den achtziger Jahren unseres Jahrhunderts, als umstritten gilt (und das bedeutet: »Nun ja, bei den anderen Sachen konnten sie uns mit Statistiken beikommen, aber was dies hier betrifft, müssen es uns diese irren Weiber alles noch einmal ganz von vorn beweisen«): Pornographie. Als zweites Beispiel können wir einen Bereich nehmen, der noch kaum erschlossen ist: den der Sportrituale.
Ich habe hier nicht die Absicht, noch einmal den feministischen Standpunkt zur Pornographie darzustellen, denn inzwischen gibt es eine Reihe ausgezeichneter Bücher zu dem Thema, und ich kann meinen Leserinnen/Lesern drei davon ganz besonders empfehlen: Take Back the Night: Women on Pornography, eine umfassende Anthologie, zusammengestellt von Laura Lederer;[6] Pornography: Men Possessing Women, eine Tatsachenenthüllung und theoretische Analyse von Andrea Dworkin;[7] und Ordeal: An Autobiography von Linda »Lovelace« Marciano und Mike McGrady, die Geschichte des mutigen Ausbruchs einer Frau aus der Wirklichkeit eines »Porno Stars« — eine Wirklichkeit, die aus Gefangenschaft, Prügel, Vergewaltigung und erzwungener Prostitution besteht.[8] Kein/e nachdenkliche/r Leserin/Leser wird nach der Lektüre dieser drei Bücher ohne Problembewußtsein sein, — Problembewußtsein einmal bezüglich der unter Schwierigkeiten zustandegekommenen Haltung der ja sonst für freie Meinungsäußerung kämpfenden Feministinnen in dieser Frage, zum anderen bezüglich ihrer Leistungen, ihrer Gründlichkeit in Forschung und Analyse, und schließlich bezüglich der Vielzahl der taktischen Maßnahmen, die empfohlen werden. Ich kann mich deshalb auf zwei Aspekte der Pornographie konzentrieren: die Behauptung eines Ursachenzusammenhangs und das, was ich als die Neue Pornokratie bezeichnet habe.
An anderer Stelle[9] habe ich ausführlich dargestellt, warum meiner Meinung nach Pornographie die Propagierung der sexuellen Gewalt und damit ihre »Theorie« ist, während Vergewaltigung, Körperverletzung, Belästigung und andere zunehmenden Verbrechen der sexuellen Gewalt gegen Frauen keineswegs zufällig die »Praxis« dazu darstellen. Dieser Ursachenzusammenhang wurde aber doch nie bewiesen, so feixen die Pornographen und ihre Gesinnungsgenossen. Er ist aber auch nicht widerlegt, und es existieren Beweise, daß die vom Präsidenten 1970 eingesetzte Kommission zur Untersuchung von Obszönität und Pornographie relevante Informationen unterdrückt hat. Sowohl im Hill-Link Minderheitsbericht als auch in der Zeugenaussage des Dr. Vincent Cline vor der Kommission, die deren methodisches Vorgehen analysiert, wird die Unterdrückung solcher Ergebnisse erwähnt. Wir haben guten Grund, uns zu fragen, ob diese vermutliche Manipulation der Tatsachen wohl deshalb stattfand, weil die Porno-Industrie eine so große politische und ökonomische Macht hat (sie hat einen Geschäftsumsatz von vier Milliarden Dollar pro Jahr, was vom Wall Street Journal regelmäßig hervorgehoben wird)? Oder weil nur zwei der achtzehn Kommissionsmitglieder Frauen waren? Oder weil die Wissenschaftler wohl selbst nicht frei von kulturellen Vorurteilen sind, was die Möglichkeit einschließt, daß sie sexuelle Fundamentalisten sind?
Inzwischen scheint sich eine Neubewertung der »Pornographie-als-harmloses-Ventil«-Theorie anzubahnen. Die Presse und die polizeilichen Ermittler nahmen die Unmasse an pornographischem Schrifttum zur Kenntnis, das sich in der Wohnung von David Berkowitz (Berkowitz ist der verurteilte »Sohn von Sam«-Mörder, der 1977 in der New Yorker »Liebesgasse« mehrere Paare, darunter fünf Frauen, umgebracht hat), und in der Harems-Kommune des verurteilten Mörders Charles Manson befand. Psychologen und Soziologen (unter ihnen Dr. Natalie Shainess aus New York und Dr. Frank Osanka aus Illinois) berichten von einem wachsenden Widerstand gegen Therapie bei verurteilten Vergewaltigern, die angesichts einer wachsenden Akzeptabilität von Pornographie in den populären Filmen und Zeitschriften der sechziger und siebziger Jahre, ihr Vergehen nicht mehr als gesellschaftlich abartig empfinden.
Noch aufschlußreicher sind zwei Experimente, die auf der Tagung der amerikanischen Psychologenvereinigung von 1980 Aufmerksamkeit erregten. In einem dieser Experimente nahm Dr. Edward Donnerstein Messungen über ausgelöste Aggression vor, indem er die Elektroschocks zählte, die Versuchspersonen einem männlichen oder weiblichen Partner verabreichten. Die Ergebnisse zeigen, daß Männer, die zuvor Filme mit sexueller Gewalt angeschaut hatten, ihren Partnern mehr Elektroschocks gaben als solche, die Sexfilme ohne Gewalt angeschaut hatten, — und daß ihre Aggression gegenüber weiblichen Partnern größer war als gegenüber männlichen. Im zweiten Experiment werteten die Doktoren Neil M. Malamuth und James V. Check (Universität von Manitoba, Winnipeg) die Auswirkungen pornographischer Gewalt anhand der Antworten auf einem umfangreichen Fragebogen aus; den Ergebnissen zufolge hält sich eine erhöhte Aggressivität gegenüber Frauen mindestens noch eine Woche nachdem die Versuchspersonen dem pornographischen Material ausgesetzt worden sind.
Vielleicht geben sich ein paar Sozialwissenschaftler ernsthaft Mühe, sich von ihrem sexuellen Fundamentalismus zu befreien und ein wirklich wissenschaftliches Verfahren zu praktizieren, um zu objektiven Ergebnissen zu gelangen. Diese Entwicklung ist sicherlich ermutigend, obwohl man versucht ist darauf hinzuweisen, daß diese Forschertätigkeit erst begann, nachdem Frauen über ein Jahrzehnt lang immer heftiger protestierten. Dennoch bleibt es verwunderlich, daß ein solcher Beweis des Ursachenzusammenhangs überhaupt gefordert wird. Wäre es nicht an der Zeit zuzugeben, daß wir uns dieses Zusammenhangs schon immer irgendwie bewußt waren — so wie dem zwischen antisemitischer Propaganda und den Pogromen, oder zwischen den Pamphleten des Ku-Klux-Klan und den Lynchverbrechen? Würde wohl die zeitgenössische Moralauffassung (oder sogar schon der Geschmack) die Existenz ganzer Buchläden und Kinotheater tolerieren, die sich auf die Verleumdung einer ethnischen Gruppe spezialisiert haben? Würden wir uns nicht gegen eine »Unterhaltung« wehren, die die systematische Folter von Tieren verherrlicht? Wie lange müssen es denn noch immer wieder nur die Frauen sein, denen ein Beweis eines Ursache-Wirkung-Zusammenhangs abverlangt wird, den wir tagtäglich als Adrenalinstoß erfahren, nicht nur als gefühlsmäßige Empörung, sondern auch als körperliche Bedrohung?* (*»Als die Nazis die Macht in Polen übernahmen, überschwemmten sie die polnischen Buchläden mit Pornographie. Sie gingen dabei von der Theorie aus, daß die Fixierung der Individuen auf ihre persönlichen Sinnesbedürfnisse die Chancen verringern würde, daß das Volk sich zur Rebellion vereinen könnte.« Irene Diamond, »Pornographie und Unterdrückung«, ein Vortrag beim Jahrestreffen der Western Social Science Association, Denver, April 1978, bei dem sie Pamela Hansford Johnson zitiert.) Wie lange noch müssen Gruppen wie »Frauen gegen Pornographie« und »Frauen gegen die Gewalt in Pornographie und Medien« überall in den USA und in anderen Ländern Demonstrationen nach dem Motto »Wir nehmen uns die Nacht zurück« inszenieren? Wie lange wird es noch dauern, bis die neue schicke Sado-Welle — die nicht nur in der harten Pornographie, sondern auch in Playboy und Penthouse zum Vorschein kommt, in Kunstfilmtheatern, in den Schaufenstern der Kaufhäuser und in der Fernseh- und Zeitschriftenwerbung — als propagandistische Verstärkung des seelentötenden Mythos begriffen wird, daß Männer, die richtige Männer sein wollen, sich wie Raubtiere aufführen müssen, und daß Frauen, die richtige Frauen sind, dafür Verständnis haben müssen? Sie dürfen zwar bis zu einem gewissen Punkt widerstehen, müssen aber am Ende doch kapitulieren. Und noch schlimmer — wie lange noch wird es dauern, bis die Gesellschaft in aller Form anerkennt, daß die Frauen »es« nicht wollen, daß sie sich nicht heimlich danach sehnen, vergewaltigt, geschlagen, brutalisiert zu werden? Wie lange noch, bis uns allen klar wird, daß die Frauen — und gewiß auch irgendwo hinter dem Pelz, den Klauen und der Schnauze des Untiers, die Männer — sich nach Energie in der Sexualität sehnen, aber bisher dazu gezwungen worden sind, sich statt dessen mit Gewalt abzufinden?
Wie lange das noch dauern wird, hängt vielleicht mit unserer Fähigkeit zusammen, die ganze Breite und Tiefe der Neuen Pornokratie zu entlarven — die Porno-Aristokratie. Denn Pornographie besteht heute nicht mehr (wenn je überhaupt) aus schmierigen Unternehmern, die ihren Geifer an den äußeren Rändern der Gesellschaft verschleimen. Wie der Mob sind die Pornographen (gewöhnlich als Geschäftspartner von Verbrecherorganisationen) »legal« geworden, mit allem was dazugehört, »mit allen Kennzeichen konventioneller Industriezweige, einer großen Arbeitnehmerschaft, hochbezahlten Geschäftsführern, regem Wettbewerb, Fachzeitschriften, Vorstandssitzungen und Verkaufsabkommen«.[10] Die Neue Pornokratie umfaßt offensichtlich das ausbeuterische Ersatzvehikel des »Schwulenporno« ebenso wie den erst kürzlich ins Leben gerufenen Greuel des »Kinderporno«, dazu Rockmusiktexte, distinguierte Staatsmänner und Politiker und geliebte Helden der Kulturszene (so ließen sich der Bürgermeister von Atlanta und frühere UNO-Botschafter Hochwürden Andrew Young, der ehemalige Präsident Jimmy Carter, der Bürgermeister von New York Ed Koch, und John Lennon, alle bereitwillig vom Playboy interviewen, Backe an Backe mit dem Pin-up Foto in der Mitte).
Die Neuen Pornokraten sind (wie das Untier) nicht dumm. In ihrem bösartigen sexuellen Fundamentalismus klingen immer häufiger Töne an, die eine ganz eigenartige Verwandtschaft zu bürgerrechtlicher, revolutionärer und sogar zu feministischer Rhetorik haben. Sie erniedrigen die Prinzipien der freien Meinungsäußerung, indem sie behaupten, alle objektive Forschung zu den schädlichen Folgen der Pornographie sei Bücherverbrennung. Sie bestehen auf ihrem Programm der »sexuellen Befreiung« und versuchen eine bewußte Vermischung der Begriffe »sexuelle Revolution« und »feministische Revolution«. Durch derartige Ausweichmanöver erhalten und erweitern sie ihre Macht, sogar wenn sie, nach den Regeln der Logik, eher den Karren vor den Ochsen spannen; sie bestehen darauf, das Gemeine vor das Herz zu spannen.* (*Ein Wortspiel, das sich im Deutschen nicht nachvollziehen läßt: To put the horse) (*before the cart = den Ochsen vor den Karren spannen; they put the coarse before the heart = sie spannen das Gemeine vor das Herz (A.d.Ü.). Sie schieben ihre »Alibifrauen« in den Vordergrund, wie Christine (»Christie«) Hefner, die sich als Feministin betrachtet und gleichzeitig das Playboy-Imperium ihres Vaters mit dem ganzen Eifer einer Erbin verteidigt. Sie sind gerissene Wirtschaftsfunktionäre, denen es völlig gleichgültig ist, inwieweit sie bei ihrem Vorgehen echte emotionale und politische Werte für ihre Zwecke manipulieren. So inszenierte der Playboy-Klub von Manhattan im Rahmen seiner selbstlegitimierenden Öffentlichkeitsarbeit am Valentinstag 1980 eine Massenhochzeit für sechzehn Paare. Geboten wurde dabei eine freie, das heißt kostenlose, Heiratszeremonie mit anschließendem Empfang, dazu eine dreitägige Hochzeitsreise in das Playboy-Zentrum in New Jersey, alles natürlich »um der Liebe willen«, also gratis. Als Brautjungfern fungierten Playboy-«Häschen«, und der Staatsbeamte Ralph Sherman vom Obersten Gericht des Staates New York in Queens vollzog die Zeremonie von einer Plattform aus, die frei über den Anwesenden schwebte — und auf der sich gewöhnlich eine Disco-Tänzerin im Lendenschurz produziert. Einigen Bräuten soll diese Umgebung tatsächlich peinlich gewesen sein, doch, so argumentierten die Bräutigame, dafür war's frei (wie wird dieses Wort doch mißbraucht), und außerdem, habt ihr denn gar keinen Humor?
Verblüffendstes Beispiel für den Geschäftssinn der Neuen Pornokraten ist vielleicht ein Beispiel, das auf äußerst besorgniserregende Weise klarlegt, wie von einer bestimmten Ebene an alle sexuellen Fundamentalisten miteinander verbunden sind. Der TAB-Bericht (TAB = The Adult Business, das Erwachsenengeschäft) wurde 1978 als Forum für den Informationsaustausch und die Koordination in der Porno-Industrie gegründet. Er enthält Werbehilfen, Branchenverzeichnisse und acht verschiedene Mitteilungsblätter, einen Groß- und Einzelhandelskatalog und eine umfangreiche Adressenkartei für Erwachsenenbelange (dazu gehören Kinos, Massagesalons, Verlage, Verleihe, Produktehersteller u. a.), sowie Swingklubs, Schwulenbars, Hostessenservice, Sexboutiquen, Video-Produzenten, Spezialanwälte, Berater und Investoren. Das folgende Zitat ist einem Leitartikel/Brief in einer Aussendung von 1981 entnommen, der auf die Anwerbung neuer Abonnenten abzielt und von Dennis Sobin, dem Präsidenten des TAB-Berichts, unterzeichnet ist:

»Heute ist es wichtiger denn je, daß Sie über die Ereignisse, die das Geschäft beeinflussen, auf dem Laufenden sind. Der Aufstieg der Moralischen Mehrheit wird weitreichende Folgen haben, die möglicherweise an die Sexuelle Revolution der sechziger Jahre heranreichen. Da die Zahl der wiedergeborenen Fundamentalchristen immer größer wird, die als gewählte Abgeordnete legislative Funktionen auf nationaler, einzelstaatlicher und kommunaler Ebene wahrnehmen, haben wir schärfere Kontrollen der bestehenden Gesetze auf dem Gebiet der Erwachsenen-Industrie zu erwarten. Aber es wird sich dabei auch herausstellen, daß der religiöse Konservatismus uns Vorteile bringt — wo immer der Sex zur verbotenen Frucht wird, steigt sein Wert... Im viktorianischen England gediehen der Gebrauch von Erotika und der käufliche Sex... Unsere Industrie hat einen langen und geduldigen Weg zurückgelegt, der zu ihrem Überleben und Erfolg geführt hat. Die Moralische Mehrheit wird uns, wie alle großen konservativen Institutionen, ein größeres Publikum und mehr Möglichkeiten für die Erwachsenenindustrie vermitteln.« (Hervorhebung R. M.)

Noch nie ist die Lüge so deutlich entlarvt worden, die Lüge, daß Pornographie revolutionärer, progressiv und Widerpart reaktionärer Politik sei. Das ganze Gerede über die freie Meinungsäußerung ist gut und nützlich, um in liberalen Zeiten den Liberalen die Bettdecke über die Augen zu ziehen. Doch wenn im Lande Tendenzen zu faschistischer Politik spürbar werden, dann können die Tendenzen des sexuellen Faschismus sich endlich offen dazu bekennen, daß es schon immer der Unterdrückung bedurft hatte, um diese sogenannte »sexuelle Freiheit« zu verwirklichen. Kaum jemals war der Unterschied zwischen Freiheit und Ermächtigung so abstoßend offensichtlich. Natürlich sagen Feministinnen schon seit Jahren, daß patriarchales Denken, egal ob es von Rechts oder Links kommt, nie ein Spektrum umfaßt, sondern eher schleifenförmig einen Kreis bildet, umschichtig an der Macht teilhat, voneinander profitiert und dieselbe Botschaft in verschiedenen Mundarten verbreitet. Immer wieder waren wir gezwungen, politische »Revolutionäre«, »sexuelle Befreier« oder »Künstler« der Avantgarde zu tolerieren: ein Heer von anmaßenden männlichen Souveräns, die ihre moralische Trägheit auf eine jeden Lebens entleerte Technik übertragen und gleichzeitig eine angenehme Distanz der Entfremdung zu dem menschlichen Leid aufrechterhalten, das ihr launenhafter Mißbrauch von Politik, sexueller Leidenschaft oder von Kunst mit sich bringt. Ebenso häufig wurden wir gezwungen, »Zensoren« zu ertragen: Männer, deren übertriebene Strenge lediglich Verleugnung ihrer Lüsternheit war — und manchmal auch Frauen, unfähig ihren gerechtfertigten Abscheu über ihre Ausnutzung (als Wählerinnen), ihren Mißbrauch (als Sexualobjekte) und ihre Trivialisierung (als Künstlerinnen) zu äußern. Frauen, die daraufhin ihren nicht als solchen wahrgenommenen feministischen Zorn falsch umsetzten, in Aktionen für »die Prinzipien der Tugend«. (Können wir denn, letztendlich, das Opfer dafür verantwortlich machen, wenn es die Vergewaltigung nicht vom Vergewaltiger zu unterscheiden vermag?) Doch wir sind es wirklich müde, noch immer mit diesen vorsintflutlichen Alternativen konfrontiert zu werden: »radikaler« Terrorismus oder totalitärer Staat, sexuelle Ermächtigung oder sexuelle Unterdrückung, hemmungslose sexistische »Ästhetik« oder selbstgerechte Zensur. Als ob dies nicht jedes Mal zwei Seiten derselben Münze desselben Reiches wären. Aber diesmal haben die Pornokraten sich, dank Herrn Sobin, tatsächlich öffentlich exponiert und es selbst ausgesprochen. Wird man den Frauen jetzt glauben?
Doch sogar einige Frauen wollen den Frauen nicht glauben. Bei der starken Kraft, die vom Symbolbild FRAU ausgeht, hat es immer Frauen gegeben, die bereit waren, ihr Leben und ihre heilige Ehre dranzugehen, um in die Gesellschaft von MANN aufgenommen zu werden. Ihre Tragik besteht natürlich darin, daß sie erst, wenn es zu spät ist, einsehen müssen, daß sie stets nur bis ins Vorzimmer kommen; sie schaffen es nie, ins innere Heiligtum der wirklichen Macht vorzudringen. (Oder bekam etwa Phyllis Schlafly einen Sitz im Kabinett, weil sie sich für die Wahl Reagans eingesetzt hat?) Egal ob es diesen Frauen um die Anerkennung in den Kabinettsitzungen und Vorstandszimmern der Rechten geht oder in den Katakomben der linken Zentralkomitees, zwei Dinge bleiben gleich: der Preis (der Verrat der anderen Frauen) und der Lohn (ein Näherrücken an Autoritäten statt wirklicher Macht, Duldung statt Freiheit). Für die Frauen, die dabei verraten werden, ist das Schlimmste daran, erkennen und zugeben zu müssen, daß der Verrat tatsächlich von einigen wenigen anderen Frauen begangen wird. (So müssen sich die zentral- und westafrikanischen Völker gefühlt haben, als ihre afrikanischen Nachbarn sie in ihren Dörfern überfielen — und dann die gefangenen Dorfbewohner an Sklavenhändler verkauften.) Die Ungläubigkeit sitzt tief, weil wir doch wissen, daß die anderen »von derselben Art« die gleiche Unterdrückung erfahren wie wir; wieso können sie dann so etwas tun? Das Nicht-Wahrhaben-Wollen sitzt ebenso tief, denn hinter dem Eingeständnis, daß es wirklich so war, wartet schon die Verzweiflung, daß wir an dieser Situation nichts ändern können. So konnte es geschehen, daß in den letzten Jahren inmitten der Frauenbewegung eine Tendenz zum sexuellen Fundamentalismus fast ungehindert Fuß fassen konnte; sie ist sehr begrenzt, ihr wurde aber, wie zu erwarten war, von den etablierten Machthabern viel Respekt und öffentliche Anerkennung gezollt.
Wie gewöhnlich teilen auch hier die sexuellen Fundamentalisten ihr Bett mit merkwürdigen Gefährten. In diesem Fall gehören zu dem Bündnis einige wenige Frauen, die sich als militante feministische Lesben bezeichnen, andere nennen sich sozialistisch-feministisch, außerdem gibt es ein oder zwei selbsternannte Radikalfeministinnen, die öffentlich artikulierte Positionen von äußert unsubtiler Homophobie vertreten. Dieser eklektischen Gruppierung gehört auch eine Frau namens Pat Califia an, die sich hin und wieder als Feministin bezeichnet, wenn sie nicht gerade die S&M-«Rechte« in der Sex-Kolumne des Schwu-lenmagazins The Advocate verteidigt; heterosexuelle und lesbische, sogenannte »sozialistische Feministinnen« wie Deirdre English, Amber Hollibaugh und Gayle Rubin, die zusammen für das Socialist Review eine ziemlich schülerhafte Rundtischanalyse zu dem Thema veranstalteten, warum man Pornographie verteidigen kann; und Ellen Willis, eine heterosexuelle Autorin, die bei verschiedenen Anlässen für Pornographie eintrat und verlauten ließ, Feministinnen seien entweder Braunhemden, Puritaner, frigide Neurotiker oder Narren, wenn sie es wagten, diese spaßliebende Industrie zu kritisieren. Vielleicht hätten wir mit all dem rechnen müssen. Was bei Feministinnen allerdings immer wieder einen neuen Schock auslöst ist, daß sich Frauen wie Willis und andere als »Feministinnen« bezeichnen. Ihre Taktik reicht von einem recht plumpen Ansatz (»Es fühlt sich gut an, und ich mag's — da habt ihr's!«), der im Stil eines füßescharrenden und kampfstiefelig-trotzigen Schmollens vorgetragen wird, bis hin zu einer weit spitzfindigeren Attacke gegen Feministinnen, die als anti-sexuell bezeichnet werden, weil wir anti-sexistisch sind. Einige verteidigen Kindesbelästigung als »Knabenliebe«, die meisten verteidigen sado-masochistische Praktiken als »befreienden ausgefallenen Sex«. Einige (in diesem Fall die Lesbierinnen) verteidigen ihre pro-Porno und/oder pro S&M-Einstellung, indem sie sagen, dies sei zwischen gleichgeschlechtlichen Partnern eine »Geste des Vertrauens«, es sei anders, gleichberechtigter — und darum bedeute die Lektüre, oder das Betrachten oder Praktizieren von sexuellen Machtspielen hier etwas völlig anderes. Andere wiederum (diesmal die heterosexuellen Frauen) stellen die Hypothese auf, daß Machtspiele natürlicher Bestandteil des Sexuallebens seien; weder sie noch ihre Männer könnten sich vorstellen, daß sich daran je etwas ändert, und weil sie ihre Männer nicht verlieren wollten, unterstützten sie alles, was bei denen liefe.
Dieses bizarre Phänomen hat eine eigenartige Wirkung auf Feministinnen (und auch auf Millionen anderer Frauen, die, ob sie sich Feministinnen nennen oder nicht, schon immer soviel gesunden Menschenverstand besaßen, Pornographie zu verabscheuen, sogar bevor dies zur Sache der Frauenbewegung wurde). Manchmal ist es, als sei der Spiegel, von dem wir glaubten, er spiegele unsere inneren Wahrheiten wider, zum Jahrmarktsspiegel geworden, der unsere Gestalt so verzerrt, daß wir die Balance verlieren, wenn wir versuchen, einen Schritt zu machen. Alles wird ins Gegenteil verkehrt: die pro-Porno und pro S&M-Frau-en erklären sich zum Sprachrohr einer freien Sexualität und behaupten dagegen ankämpfen zu müssen, von den altmodischen feministischen Ansichten über Sexualmoral erstickt zu werden. »Aber«, so argumentieren nachdenkliche Feministinnen, »Schmerz tut doch weh, Leiden ist nicht Vertrauen, genauso wie Krieg nicht Frieden, und Sklaverei nicht Freiheit ist. Herrschaft und Unterwerfung, Gewalt, Machtspiele, Erniedrigung — was hat denn das mit wahrem Vertrauen zu tun, mit wahrem sexuellem Vergnügen, wahrer sinnlicher Freiheit?« Doch Sades neue Juliettes weigern sich, eben diese Marketenderinnen-Sexualität, die sie verteidigen, als das zu sehen, was sie in Wirklichkeit ist; sie bleiben dabei und behaupten noch, diese Regression sei avangardistisch.
Und doch ist es tatsächlich so, daß Schmerz weh tut — wie Frauen aus bitterer Erfahrung nur zu gut wissen. Und es ist auch tatsächlich so, daß Folterspiele abscheuliche Travestien von echter Folter sind, wie sie heute offiziell und inoffiziell in der ganzen Welt praktiziert wird.
Es dauerte eine unentschuldbar lange Zeit, bis man begriff, daß Weiße, die mit geschwärzten Gesichtern herumliefen, durch dieses Verhalten, egal mit welchen launigen Ausreden sie dies ableugneten, eine politische Botschaft zum Ausdruck brachten:
die Verspottung schwarzer Menschen. Es dauerte eine vergleichbar lange Zeit, bis wir begriffen, daß Transvestiten, egal wie revolutionär sie sich dabei vorkamen, in Wirklichkeit eine politische Botschaft zum Ausdruck brachten: die Verspottung von Frauen. Es erscheint mir unerträglich, daß wir wieder so lange warten sollen, bis wir begreifen, daß »Knechtschaft«, »Disziplin«, Requisiten wie Ketten und Lederriemen und vermeintliche »Liebesspiele« unter »einander vertrauenden Liebenden« ebenfalls eine politische Botschaft zum Ausdruck bringen: eine gespenstische Verspottung jener Menschen, die unter der Folter der iranischen SAVAK litten, jener Menschen, denen von Idi Amins Handlangern Elektroden angelegt wurden, jener Menschen, die in diesem Augenblick in den Verhörkammern in Südafrika oder Chile oder der DDR oder den Philippinen ihre wirkliche Todesqual herausschreien. Und sicher sind selbst die Frauen, die durch unsere männerzentrierte und fundamentalistische Kultur so beschädigt wurden, daß sie Pornographie und S/M verteidigen, fähig zu begreifen, daß etwas nicht stimmen kann, wenn Haltungen oder Handlungen einen Kitzel auslösen, denen dasselbe Prinzip zugrunde liegt wie jenes, das in Auschwitz, Bergen-Belsen und Treblinka herrschte. Und gewiß sind diese Frauen auch in der Lage zu sehen, daß das, was sie in ihrer erbärmlich verdrehten Sexualität verfechten, nichts, aber auch gar nichts mit der feministischen Vorstellung von Freiheit zu tun hat.

Ich möchte jedoch noch eine andere mögliche Reaktion von Feministinnen zur Sprache bringen, die über das Schwindelgefühl hinausgeht, das Vertreterinnen des pseudo-feministischen Sexualfundamentalismus in uns auslösen. Sie liegt jenseits von Verurteilungen, jenseits jeder Absicht, diese Frauen zu ignorieren oder zu bemitleiden, sich über sie zu ärgern, und natürlich auch, sie ernst zu nehmen. Ich meine lediglich die Erkenntnis, daß Frauen, die eine solche Haltung einnehmen, alle Hoffnung aufgegeben haben, die Verbindung mit wahrer sexueller Energie herzustellen, daß sie statt dessen gemeinsame Sache mit dem angebotenen Ersatz, der Gewalt machen. Ihre Verwirrung besteht darin, daß sie Gewalt als Sexualität verteidigen — und wir wissen, wo die herkommt; sie umgibt uns von allen Seiten. Sie mißdeuten die Gegenwart (und Vergangenheit) als unvermeidliche Zukunft und erinnern damit an jene Menschen, die die Erde um sich herum als flache Scheibe erlebten und davon ausgehend behaupteten, dies müsse auch jenseits ihres eigenen Vorstellungsbereiches so sein.
Die Kirche zwang Galilei, seine häretische Position, die Erde bewege sich um die Sonne, zurückzunehmen, aber letztendlich war der Erde und der Sonne diese Zurücknahme völlig gleichgültig. Galilei wußte das natürlich — wie wir auch. Nach dem öffentlichen Widerruf erhob er sich aus seiner knieenden Haltung vor den Kirchenvätern und dabei konnte man ihn leicht lächelnd vor sich hinmurmeln hören: »Und sie bewegt sich doch.«
Keinem religiösen Fundamentalisten dieser (flachen) Erde wird es gelingen, das Universum auf ihre gesäuberten Textbücher zu reduzieren; und es wird den vereinigten Sexualfundamentalisten und Pornokraten in ihren Sex-Spielzeug-Folterkammern nicht gelingen, sexuelle Energie auf die ihnen genehmen Definitionen zu reduzieren. Sich dies zu merken ist hilfreich. Sich dies zu merken ist aber nicht immer leicht angesichts der Tatsache, daß die Mächtigen den Machtlosen gewöhnlich nur die Wahl lassen zwischen a) völliger Energielosigkeit oder b) gewalttätiger Energie selber stellen, denn inzwischen kennen auch sie nichts anderes mehr.
Ein Hauptbereich, in dem diese Transaktion regelmäßig stattfindet, ist das in erster Linie männliche Blutritual des Sports. Zwei Sport»traditionen« sollten uns dabei schon von vornherein mißtrauisch machen:
a) die männliche Jungenklub-Intimatmosphäre, die sich in den Umkleidekabinen darin äußert, daß sie sich gegenseitig Handtücher auf die nackten Hinterteile klatschen — eine (sexualfundamentalistische) homophobische Form von versteckter Homosexualität, aber ohne — natürlich! — jene »weibische« Abküsserei, oder Zärtlichkeit, oder offene, ehrliche sexuelle Energie — und
b) die Tradition des übertriebenen Widerstands gegen Athletinnen, die es wagen, in den Profisport, oder auch nur in den Amateursport einzubrechen.
Aber es gibt noch einen dritten Hinweis, und das ist die Gewalt, oder die Korrumpierung von Energie zu Gewalt.
1980 erschien ein bemerkenswertes Buch: Seasons of Shame: The New Violence in Sports von Robert C. Yeager.[11] Obwohl ich mich mit dem Wort »neu« im Titel anlegen könnte, gelingt es ihm doch darzustellen, daß während des letzten Jahrzehnts die Gewalt im Sport sprunghaft angestiegen ist. Schauen wir uns ein paar seiner dokumentierten Beispiele an:
In Australien zeigt ein Fußballtrainer seiner Mannschaft Wochenschaufilme über Massenmorde und -begräbnisse in Auschwitz. Danach fordert er das Team auf sich vorzustellen, die Opfer wären ihre Familienangehörigen, und jetzt hinauszugehen und zu spielen, um sie zu rächen. In Guatemala werden fünf Menschen zu Tode gehackt, als die Anhänger der verlierenden Fußballmannschaft die Fans des gewinnenden Teams mit Macheten angreifen. In Florida wird bei einem Fußballspiel zweier höherer Schulen der stellvertretende Direktor der einen Schule vom Geschäftsführer der anderen Schule umgebracht. Einundachtzig amerikanische Fußballspieler sind seit den drei Spielzeiten, die 1977 endeten, vom Hals abwärts gelähmt. Aufstände, an denen sich sowohl Spieler als auch Zuschauer beteiligen — wobei die Verwundeten und Toten von Kranken- bzw. Leichenwagen davongeschafft werden —, sind eine typische Erscheinung nach Hockey- und Rugbyspielen. »Legt sie um! Schlagt das Schwein tot!« sind traditionelle Zurufe von den Tribünen. »Gewalt«, so schreibt Yeager, »ist auf dem besten Weg, ein Freizeitvergnügen zu werden.«
Nun ja, das allerdings kaum. Denn da gibt es immer noch die großen Geschäftemacher, die multinationalen Konzerne und den ganzen Bereich der Militärindustrie, die für die ernsthafte, nichtvergnügliche Seite der Gewalt zuständig sind. Trotzdem ist Yeager auf der richtigen Spur: Gewalt wird als Lustbarkeit legitimiert, als Spiel, als Energie, als »ewiges Vergnügen« — und dabei sind keine pharisäerhaften Sprüche mehr nötig, wie »Krieg ist die Hölle, aber wir müssen mitmachen, um Gottes und der Heimat willen, für Apfelschaft und Mutterkuchen«. Jetzt ist es eher wie »Au prima! Tod, Zerstörung, das Böse, Gemetzel, Blut!« Ist es denn wirklich so zufällig, daß im Weißen Haus unter Reagan die Lage der Nation in Metaphern aus der Welt des Fußballs dargestellt wird? Oder ist die aggressive Einstellung zum Sport, wie sie die Sowjetunion und die DDR an den Tag legen, zufällig, die bis hin zur illegalen Verschreibung von Steroiden an die Athleten zur Vermehrung ihrer Muskelsubstanz reicht? Ist es Zufall, daß für Afroamerikaner der einfachste Weg zu Geld und Ruhm schon seit langer Zeit der Sport ist, besonders der Boxsport (denn die weißen Männer, die in ihrem Rassismus voraussetzen, daß die aus der wirtschaftlichen Situation entstandene Gewalt im Ghetto »angeboren« ist, brauchen in diesem Fall die Eigenschaften der Gewalttätigkeit, um sich als Zuschauer daran zu ergötzen)? Ist es Zufall, daß die Sportarten, in die die Frauen am stärksten eingedrungen sind — Tennis (dank der heroischen Sturheit von Billie Jean King), die Lauf Sportarten, Schwimmen, Golf und (seit kurzem) Basketball — weniger gewaltbetont sind, mehr mit dem Brechen von Rekorden als mit dem Brechen von Hälsen zu tun haben? Ist es Zufall, daß dieselben Universitäten, die keine Mittel für Frauenstudien zur Verfügung haben, plötzlich mit den Spendengeldern ehemaliger Studenten für den Bau eines neuen Sportstadions herausrücken? Und ist es Zufall, daß solche quasi-wissenschaftlichen Schicksalsverfechter wie der Ethnologe Konrad Lorenz auf dem Standpunkt stehen, daß den »natürlichen, angeborenen« Aggressions-und »Killerinstinkten« des Menschen (sie!) in den gewaltbetonten Sportarten ein »Ventil« angeboten wird?
Dies ist die Denkart, die auch Pornographie als Ventil für sexuelle Aggression definiert. Beide Analysen ignorieren dabei die historische Tatsache, daß Gewalt-als-Spiel in jeder Form dazu tendiert, die Vorstellung von Gewalt zu verstärken. Sie wird als natürlich, zuträglich, harmlos, ein wenig unwirklich in ihrer mörderischen Konsequenz und, was am gefährlichsten ist, a\s unvermeidlich gegeben hingestellt. Brachten denn etwa die Gladiatorenkämpfe und die »Brot-und-Spiele«-Einstellung des Römischen Imperiums eine friedliebende römische Kultur hervor? Machten die Turniere und Zweikämpfe im Mittelalter die Kreuzzüge überflüssig? Hat der ganze Industriezweig der Kriegsspielzeugherstellung in unserer Gesellschaft Generationen erwachsener Männer produziert, die kein Bedürfnis mehr nach gewalttätigen Aktionen (sexuell oder militärisch) haben, weil sie dazu erzogen worden sind, ihre Gewalttätigkeit mit solchen »Ventilen« abzureagieren?
Wenn der Sport, wie es heißt, Amerikas »nationaler Zeitvertreib« ist und die Pornographie eine der am schnellsten wachsenden amerikanischen Industrien, was sagt uns das über die Art, wie wir menschliches Fleisch sehen, wie wir spielen, Sexualität zum Ausdruck bringen, Erregung umwandeln — in Gewalt? Und wenn dies ein Konstrukt von MANN ist, in das die Männer einwilligen, wie verhalten sich dann Frauen dazu? Nun, FRAU erscheint, wie wir wissen, zu viert oder fünft beim Fußballspiel und schreit pflichtschuldigst: »Haut sie zusammen!« um des Beifalls ihres Freundes willen — und sie macht Cheerleader.* (*Cheerleader, weibliche Stimmungsmacher bei Sportveranstaltungen (A.d.Ü.))
Aber was ist mit den anderen Frauen, die der Propaganda, das Untierhafte am Untier sei angeboren, nicht so recht glauben können? Die abwechselnd und zu verschiedenen Zeiten Widerstand leisten oder kapitulieren?
Auch wir »bedürfen des Ausdrucks befriedigten Begehrens«, sehnen uns nach einem energievollen Ausdruck unserer Sexualität und geben uns dann zuweilen doch mit einer anderen zufrieden, die uns brutalisiert. Unserer Geschichte entspricht der Mythos von Psyche und Eros besser.
Ihr erinnert euch vielleicht, daß Psyche für Eros zum Liebesobjekt wird, nachdem er sich, während er sie anschaute, versehentlich selbst mit einem seiner Pfeile verletzte. Im Trancezustand wird sie in seinen Palast getragen und dort mit allen nur vorstellbaren Sinneswonnen belagert. Sie heiraten — doch ihr wird verboten, jemals sein Gesicht oder seinen Körper zu sehen. Trotzdem befindet sie sich in einem Delirium von Glückseligkeit. Er ist ein wundervoller Liebhaber, und obwohl sich alles in völliger Dunkelheit abspielt, sind ihre allnächtlichen sexuellen Begegnungen voll Zärtlichkeit und Leidenschaft. Allerdings fühlt sie sich tagsüber ein wenig einsam, wenn sie durch die Hallen des Palastes wandelt und auf den Einbruch der Nacht wartet, und eines Tages bittet sie ihren Gatten um Erlaubnis, ihre Familie besuchen zu dürfen. (Im patriarchalen Mythos reist natürlich keine Frau einfach so herum, dafür braucht sie immer die Erlaubnis ihres Herrn, so wie die Frauen in den Ländern des Mittleren Ostens noch heute eine schriftliche Reiseerlaubnis brauchen, die vom Ehemann oder Vater unterschrieben sein muß). Doch als Psyche in ihr Elternhaus zurückkehrt, sind gleich ihre neidischen, gehässigen (wer wohl?) Schwestern zur Stelle und vergiften ihren Seelenfrieden. »Du hast ihn noch nie gesehen]« tuscheln sie. »Woher willst du dann wissen, ob er wirklich ein Gott ist und nicht ein Monster, eine gefährliche Bestie, die sich eines Tages gegen dich wenden und dich verschlingen könnte? Was werden dir dann deine feinen Gewänder nutzen?« (Es hört sich an, als hätten sie »Die Schöne und das Untier« gelesen, bevor sie sich in ihren eigenen Mythos begaben.) Psyche beteuert, sie wisse einfach, daß er viel zu liebenswürdig und zartfühlend leidenschaftlich sei, als daß er ihr je ein Leid antun könne, aber das Herumnörgeln tut doch seine Wirkung, und als sie zum Palast zurückkehrt, beschließt sie, einen heimlichen Blick auf ihren Ehemann zu riskieren. In dieser Nacht, nachdem Eros an ihrer Seite eingeschlafen ist, zündet Psyche eine kleine Lampe an und beugt sich im schummrigen Licht über ihn, um ihn zu betrachten. Sie sieht kein Untier, kein Monster, sondern einen jungen Gott von unglaublicher Schönheit, und so sehr ist sie von ihrer Liebe zu ihm gebannt, daß sie unvorsichtigerweise etwas Kerzenwachs auf sein Fleisch tropfen läßt. Hellwach springt er auf. Als er begreift, daß sie das Verbot übertreten und in sein Gesicht geschaut hat, ruft er trauernd aus, jetzt müsse er sie fliehen. Psyche ist, wie zu erwarten war, verzweifelt. In einigen Versionen des Mythos stürzt sie sich von den nahegelegenen Klippen, wird jedoch auf den Schwingen der Liebe (Eros) in Sicherheit gebracht. In anderen Versionen fleht sie die Mutter des Eros, Aphrodite, an oder auch alle olympischen Götter und bittet sie, ihr zu helfen, ihre Liebe wiederzugewinnen. In diesen Versionen stellen Aphrodite oder die anderen Götter Psyche eine Reihe von Prüfungen, die, wenn sie erfolgreich bestanden sind, ihre Wiedervereinigung mit Eros ermöglichen werden. Die Prüfungen bestehen aus unmöglichen Aufgaben — in einer Nacht die Körner eines Reisfeldes zu einem Hügel zusammenzutragen, in die Unterwelt zu reisen und Persephones heilige Gesichtssalbe zu stehlen und ähnliche kleine Aufträge, die die Taten des Herkules im Vergleich dazu als leichte Hausarbeit erscheinen lassen. Aber Psyche gelingt es, sie alle zu Ende zu bringen (manchmal, je nach Version, mit der Unterstützung diverser Götter), und sie wird im Olymp erneut mit Eros vereint. Und was noch wichtiger ist, von nun an darf sie ihn betrachten so oft sie nur will.

Wir brauchen auf die offensichtliche Propaganda, die sowohl in »Die Schöne und das Untier« als auch in »Psyche und Eros« enthalten sind, nicht näher einzugehen — daß nämlich Frauen und ganz besonders Schwestern dafür verantwortlich sind, wenn etwas schief geht; sie sind miese Ratgeber, man kann ihnen niemals über den Weg trauen. (In der ersten Geschichte sagen sie, die Schöne soll sein Aussehen ignorieren und sich zufrieden geben — und sie liegen falsch. In der zweiten Geschichte raten sie Psyche herauszufinden, wie er aussieht — und liegen falsch.) Wir sollten uns lieber auf Psyches Neugier konzentrieren (und ihr Begehren), darauf, wie diese Eigenschaften durch aufgezwungees Unwissen beeinträchtigt und durch Trennung und harte Arbeit bestraft werden, und wie sie diese Arbeit verrichtet — voll Eifer und Hartnäckigkeit, wobei sie ihr Leben, ihre körperliche
und geistige Gesundheit riskiert. Psyche, die sich abmüht, abmüht, die Liebe des Eros wiederzugewinnen, ihn wissen zu lassen, er brauche keine Angst zu haben, weil sie seine Verletzlichkeit gesehen hat. Dieses Thema ist modernen Frauen vertraut. Leider nicht so vertraut ist der glückliche Ausgang im Olymp.
Man könnte sagen, daß Psyche sich in der ersten Zeit der Erfüllung mit ihrem unsichtbaren Liebhaber/Ehemann »passiv« verhält; das wurde von allen Frauen gesagt, die auf sich nahmen, was sie nicht ablegen konnten. Man könnte auch sagen, daß Psyche in ihrer Beständigkeit während der Prüfungen »masochistisch« ist, auch dies ist von allen Frauen gesagt worden, die ihr Leben der Idee beugten, daß genügend Liebe, genügend Geduld, genügend Verständnis, genügend Zeit, Gesten, Aufmerksamkeit sie letztendlich ans Ziel bringen würden, sie an einen Ort brächten, wo die Männer endlich begriffen hätten und »ihren Anteil Arbeit in der Liebe« auf sich zu nehmen beginnen, wie der Dichter Rainer Maria Rilke vorschlägt. Doch weder das Untier in seiner Wildheit noch Eros in seiner Göttlichkeit wagen es, ihr wahres Gesicht zu zeigen, aus Angst, daß sonst die Liebe, die eine Menschenfrau ihnen entgegenbringt, auf der Stelle erlischt. Warum sollten sie wohl, so mögen sie verständlicherweise meinen, die Enthüllung riskieren, daß sie lediglich menschlich sind, solange die Frau in ihrer schwierigen Liebe für etwas, das entweder monströs oder unsichtbar erscheint, ausharrt? Warum überhaupt Enthüllungen riskieren?
Und doch gibt es in den Männern etwas, das erkannt, um seiner selbst willen geliebt werden möchte, etwas ganz menschliches — nicht Untier und nicht Gott und auch nicht MANN. Und auch in den Frauen gibt es etwas, das sich zutiefst danach sehnt, erkannt und um seiner selbst willen geliebt zu werden — nicht dafür, daß es schön ist oder hart arbeitet und nicht weil es FRAU ist. Genau das ist es, es gibt etwas in den Männern und in den Frauen, wie verborgen es auch immer sein mag, das sowohl des Sich-Verbergens als auch der Suche müde ist — und sich doch voll Hingabe der Suche verschrieben hat.
Wenn zwei mythische Momente eingefroren werden könnten, um die eigentliche sexuelle Qual, jeweils für Männer und für Frauen, darzustellen, so könnten die beiden folgenden Momente diesen Zustand verkörpern:
* Das Untier, starrend von Klauen und Hauern, schreit auf zu der Schönen: »Liebe mich! Liebe mich trotz meiner Scheußlichkeit.«
* Psyche, die zitternde Hand mit der Lampe erhoben, durchleuchtet die Dunkelheit, beugt sich hinab und hofft, endlich zu sehen und gesehen zu werden und schaut in das schlafende Gesicht ihres Geliebten.

* * *

Sexuelle Leidenschaft schließt immer ein tiefes und verletzliches Erkennen und Erkanntwerden ein — das heißt, sexuelle Intelligenz. Der biblische Ausdruck »sie erkannten einander« besitzt von daher einen wirklichen Erkenntniswert — aber die King-James-Fassung der Bibel wurde ja auch von metaphysischen Dichtern des siebzehnten Jahrhunderts übersetzt, und das waren keine Einfaltspinsel. MANN hat den Männern diese Leidenschaft und Intelligenz verweigert und sie gezwungen, statt dessen die Erotisierung der Gewalt hinzunehmen. Dies ist der Pfahl im Herzen der männlichen Sexualität, der Pfahl, der verhindert, daß diese Energie sich erhebt, sich fortbewegt, aufhört, untot zu sein.
FRAU hat ihrerseits, auf das Geheiß von MANN, ebenfalls diese Leidenschaft und Intelligenz verweigert, hat uns statt dessen gezwungen, einen ähnlichen Pfahl im Herzen unserer Sexualität zu dulden. Und es ist ja auch einfacher, einen Pfahl ins Herz einer Geistererscheinung zu treiben, wenn deren Spiegel nichts reflektiert. Der Pfahl im Herzen der Frauen ist das Romantische.

GESTÄNDNISSE EINER EXISTENTIELLEN ROMANTIKERIN
Noch nie ist mir ein Untertitel so schwer gefallen. Trotzdem beschreibt er exakt das Bild, das ich im Zweiwegspiegel sehe, und ich habe erfahren, wie gut diese Beschreibung auf viele andere Frauen innerhalb der Frauenbewegung und auch außerhalb zutrifft, egal welcher Generation, Rasse, Nationalität oder sexuellen Präferenz sie angehören. Darum erscheint es nützlich, den Titel eingehender zu untersuchen.
Ich möchte hier keine historische Betrachtung der Romantik, was Literatur oder künstlerische Tradition betrifft, anstellen, das wurde an anderer Stelle schon sehr oft gemacht. Statt dessen will ich versuchen, ein Thema aufzugreifen, das viel weniger
Beachtung gefunden hat: das Dilemma einer modernen Frau, die versucht, das Positive einer emotionalen Erotik des »Romantischen« und das Schädliche einer institutionalisierten »weiblichen Romantik«, die beide aus demselben Impuls hervorgehen, auseinanderzuhalten.
Solch eine Frau bin ich in der Tat selbst. »Romantisch« ist genau das Wort, das meine immer schon bestehende Vorliebe für Flieder, Sturmhöhe (eine Besessenheit, die ich mir schon in der Kindheit zuzog), Schumann (Robert und Clara), Abenddämmerung, Morgengrauen, Chiffon und Walzer zum Ausdruck bringt. Meine Liebe zur Dichtung ist etwas anderes; vielleicht war auch sie am Anfang »romantisch«, aber schon nach kurzer Zeit schwappte sie sowohl nach hinten in die Klassik über als auch nach vorne in die Moderne und auch sonst überall hin und zu jeder Zeit, wie und wo sie nur konnte. Aber hier ist es wichtiger zu bekennen, daß ich immer schon eine sexuelle Romantikerin gewesen bin — von den Nächten der Adoleszenz an, als ich mir vorstellte, von einer Mischung aus Heathcliff*,(* Heathcliff ist der Held aus Emily Brontes Roman »Sturmhöhe« (A.d.Ü.), Harry Belafonte, Ingrid Bergmann, John Donne und Laurence Olivier auf das weiße Roß gehoben zu werden, bis zu dem Tag vor zwanzig Jahren, als ich meiner Familie die Stirn bot und einen bisexuellen Dichter »mit geringen finanziellen Aussichten« ehelichte; bis zu meinem Beharren darauf, daß es innerhalb des feministischen Weltbildes einen Platz für Liebe und sexuelle Leidenschaft geben muß; bis zu der Liebesaffäre, die ich 1980 mit einem Bildhauer in einer Künstlerkolonie hatte, es war eine Vollmondnacht im Mai und dreitausend Meilen weiter weg brach gerade der Vulkan Mount St. Helens aus. Eine hoffnungslose, unrettbare, politisch unkorrekte Romantikerin.
Nun, vielleicht doch nicht ganz so hoffnungslos und unrettbar. Denn jetzt komme ich zum »Existentiellen«. Das »Existentielle« ist relativ neu bei mir, und ich setze mich damit immer noch auseinander. Es ist ein gesunder Ausgleich zu der für das Romantische so charakteristischen Verzückung. Es lehnt die tiefe Bedeutung irgendeiner sexuellen Geste ab und bestätigt die Vergänglichkeit aller Dinge, die »negative Fähigkeit«, wie Keats es nannte, die uns gestattet, gleichzeitig zu glauben und nicht zu glauben. Es lehnt geistiges und auch emotionales Martyrium ab. Aber es hat auch Prinzipien und weigert sich, andere leichtfertig zu verletzen, genauso wie es sich weigert, bereitwillig verletzt zu werden. Ich habe den Verdacht, daß es etwas mit sexueller Intelligenz zu tun hat. Es bietet viele Möglichkeiten, und ich bin gerne bereit, es anderen Frauen zur Verfügung zu stellen, die wie ich eine Schwäche fürs Romantische haben.
Nicht daß man uns viele Alternativen angeboten hätte. Bücher, Filme, Lieder, Fernsehen, Zeitschriften, Märchen und Volkssagen, die gesamte Kultur der westlichen Welt (und ein guter Teil der restlichen Welt dazu) ist durchtränkt mit romantischen Botschaften für Frauen.
Wenn, wie einige behauptet haben, die unterschiedlichen, aber häufig nicht genau zu trennenden Gattungen des Schauerromans, der Romanze, des historischen Romans und der »Miederreißer« zusammen mit privaten Phantasien die frauengerechte Ausgabe von Pornographie sind, dann spricht dieser Sachverhalt für sich selbst. Romanzen verkaufen sich gut, jedoch bei weitem nicht so gut wie Pornographie.
Und was die Phantasien betrifft — wenn Frauen sie dazu benutzen, um unsere »lüsternen Interessen« zu wecken, so geschieht dies fast immer mit einem Gefühl von Niederlage: Der Ehemann oder Liebhaber ist im Bett ein Tölpel, darum muß sie sich selber erregen oder aber einen Orgasmus fingieren oder sich als frigid bezeichnen lassen (Feministinnen haben »frigide« Frauen sehr passend in »präorgasmische« Frauen umbenannt). Lieber würde sie ihn mit ihrem Partner haben, aber, wie aus den im Report von Kinsey und Hite[12] zitierten Statistiken hervorgeht, verstehen erschreckend wenig Männer etwas von Liebestechniken. Darüber hinaus ist interessant, daß die behauptete Pornographie in den tatsächlichen Frauenphantasien (nicht in den Phantasien, die die Männer den Frauen anphantasieren) ganz privat ist. Gewöhnlich werden die Phantasien versteckt gehalten — also das genaue Gegenteil von Vermarktung, Industrialisierung, der Verfechtung als freier Meinungsäußerung, der Verteidigung vor Gericht der männlichen Phantasien. Im Gegensatz dazu gelten die weiblichen Phantasien gewöhnlich als neurotisch und »unfraulich«. Oder ist es einfach nur das Stigma der Bedeutungslosigkeit von allem, was eine Frau tut, sogar ihrer Phantasien, die es nicht wert sind, publiziert, geschweige denn vermarktet zu werden? (Schließlich verdienen Frauen weniger, wie soll da ein lukratives Geschäft zustande kommen?) Nicht profitträchtig genug.
Trotzdem sind Phantasien bei Frauen weit verbreitet. Im Jahre 1973 führte Dr. E. Barbara Hariton, eine Psychotherapeutin am Long Island Jewish-Hillside Medical Center in New York, eine Tiefenstudie an 141 Hausfrauen bezüglich ihrer sexuellen Phantasien durch. Sie fand heraus, daß 65% der Frauen während des Beischlafs mit ihren Männern Phantasien hatten, weitere 28% hatten gelegentlich Phantasien, und nur 7% behaupteten von sich, niemals Gedanken zu haben, die man als Phantasien bezeichnen könnte. Eines der wichtigsten Ergebnisse war, daß die erotischen Phantasien der Frauen keine Neurose indizierten; im Gegenteil, Hariton stellte fest, daß die häufig phantasierenden Frauen mit großer Wahrscheinlichkeit eine kreative Persönlichkeitsstruktur hatten.[13]
Was die beinahe weltweite »romantische Propaganda« betrifft, so scheint da allerdings eine Ebene in den Frauen angesprochen zu werden, die eben nicht masochistisch, passiv oder vernebelt ist, sondern sich vielmehr nach Zuneigung, Zärtlichkeit sehnt, nach einer Gefühlsbeziehung mit dem Sexualpartner, statt eines bloßen Aufeinandertreffens von Geschlechtsteilen. Diese Sehnsucht muß bejaht werden-, und es wäre schön, wenn Männer lernten, sie in sich selbst zu bejahen. Nein, problematisch sind mehr die anderen Bestandteile, die in das Paket »Romantik« mit hineingestopft werden: die künstlich fabrizierte »Fraulichkeit« der Frauen und die künstlich hergestellte »Männlichkeit« der Männer, die dementsprechenden dominierenden/ sich unterordnenden Rollen, die die äußere männliche Machtstellung und weibliche Ohnmacht verstärken, die Erotisierung der Gewalt, auf dem Weg über die Romantik (emotional, körperlich oder psychologisch) als Ersatz für wirkliche Leidenschaft.
Vor sechs Jahren habe ich einen Aufsatz über die Funktion sadomasochistischer Phantasien bei Frauen geschrieben.[14] Ich habe dort versucht, den Unterschied zwischen Phantasie und Praxis zu analysieren und zu erklären, warum diese Phantasien bei Frauen so häufig sind. Ich stellte die Behauptung auf, daß diese Phantasien in Wirklichkeit — durch eine Reihe komplizierter Drehungen, Wendungen und Übersetzungen hindurch —, auf den Wunsch der Frauen zurückgehen, die Kontrolle vorübergehend auszuschalten, ohne dabei die Selbstbestimmung zu verlieren — das heißt, eine Möglichkeit zu haben, sich zu entspannen, in einem wechselseitigen Verhältnis von Vertrauen und Abhängigkeit, ohne daß dieses Vertrauen und diese Abhängigkeit zum einseitigen, ewigen, angeborenen »Ort der Frau« werden.
Ich würde dem noch hinzufügen, daß viele Frauen eine starke und realistische Angst davor haben, für ihren selbstbewußten Umgang mit Sexualität bestraft zu werden. Und so projizieren wir unsere eigene natürliche, menschliche, sexuelle Energie auf unsere Partner, wo sie — besonders dann, aber nicht immer, wenn unsere Partner Männer sind —, sich in Gewalt verwandelt und sich zurück gegen uns richtet.
George Eliot hat geschrieben: »Es gibt kein privates Leben, das nicht von einem umfassenderen öffentlichen Leben bestimmt wird.« (Und dies gilt nicht nur für die menschliche oder noch allgemeiner, sexuelle Energie jedweder Art. Die Relativitätstheorie hat uns gelehrt, daß die Eigenschaften eines Elementarteilchens nur im Zusammenhang seiner Interaktion mit der Umgebung verstanden werden können.)
Mae West hat es, wie immer, kürzer formuliert: »Zwischen zwei Übeln suche ich mir immer dasjenige aus, das ich noch
nicht ausprobiert habe.« '
Auch ich suchte mir dasjenige aus, das ich noch nicht ausprobiert hatte. Nach achtzehn Jahren Ehe, einem Kind, einigen jämmerlichen Ausflügen in den Gruppensex während der sechziger Jahre — hauptsächlich um mit der sogenannten sexuellen Revolution Schritt zu halten — nachdem ich darüber geschrieben, phantasiert, Vorträge gehalten, nachgedacht und mit dem Problem des sexuellen Überlebens von Frauen gerungen hatte, hatte ich, im Alter von neununddreißig Jahren, eine Liebesaffäre.

HEILENDE LEBENSFÜHRUNG
Gloria Steinem sagte einmal zu mir (wobei sich ihre Augenbrauen im Stil von Groucho Marx auf und ab bewegten): »Jede Frau hat wenigstens einmal in ihrem Leben einen Parkplatzeinweiser verdient.« Dabei meinte sie natürlich jenen Archetypen des schmalhüftigen Jünglings in engen Jeans, mit leicht verstrubbeltem Haar und diabolischem Lächeln, der das Auto mit Schwung in jede noch so kleine Parklücke hinein- und herausbugsiert, vor und zurück, mit bewundernswerter körperlicher Geschicklichkeit und voll Selbstvertrauen. Vielleicht ist er ein Arbeiterkind und dies ist sein Lebensjob, oder ein Student, der sich damit das College finanziert, oder ein Herumtreiber; aber in diesem Augenblick ist das gleichgültig. Sein Charme liegt in seiner zwanglosen, fröhlich unbeschwerten Ausstrahlung und in seiner körperlichen Anmut. Sein Charme liegt auch darin, daß ihr niemals auf die Idee kämt, euer ganzes Leben mit ihm zu verbringen. Er gehört dem Augenblick an. Er ist gewissermaßen ein Augenblick in sich selbst.* (* Auch auf die Gefahr hin altersfixiert zu erscheinen, möchte ich darauf hinweisen, daß, wie Feministinnen auffiel, die Kombination ältere Frau/jüngerer Mann — wie auch die Kombination große Frau/kleinerer Mann — zu diesem historischen Zeitpunkt dazu beitragen kann, das gewöhnliche Machtgefälle zwischen Männern und Frauen (jedenfalls zu einem gewissen Grad) zu korrigieren. Aber das muß natürlich nicht heißen, daß der »Parkplatzeinweiser« unbedingt ein jüngerer Mann zu sein hat. Er kann auch eine Frau sein. Er kann auch ein Mann im selben Alter sein, oder älter: ein grauer Hauch um die Schläfen — dazu der Sinn für Humor, die Selbstsicherheit und das vergleichsweise reduzierte Gefühl von Panik, das ältere Männer manchmal haben — all das finden viele Frauen notorisch attraktiv.)
Leider ist es so, daß die meisten Frauen ihn anschauen, nochmal hinschauen, aber dann davonfahren — und das ist meistens eine sehr vernünftige Entscheidung. Unbeschwertheit kann sich als ziemlich beschwerlich erweisen, und für eine Frau, die versucht, sich in einer unfreien Situation frei zu verhalten, kann eine zwanglose Bekanntschaft gefährlich werden, kann Geschlechtskrankheit, Schwangerschaft, Vergewaltigung oder zumindest Enttäuschung bedeuten. Aber dennoch, er scheint so ein gesundes männliches Tier zu sein, in der Blüte seiner sexuellen Attraktivität und er hat Sinn für Humor... Weil wir Frauen sind, fahren wir, um uns vor Gefahren zu schützen unsere Antennen so oft aus, daß wir kaum noch wissen, wie wir gute sexuelle Signale auffangen, oder wann oder ob wir ihnen überhaupt trauen können.
Ich beschloß, ihnen dieses Mal zu trauen. Er war schließlich ein Künstler, hatte aber trotzdem die ganze jungenhafte Anmut des Parkeinweisers meiner Freundin. Und außerdem gab es da den Schutzraum der Künstlerkolonie; ich war fort von daheim, der Familie, dem Telefon, der Politik, für ein einziges seltenes Mal nur mir allein Rechenschaft schuldig. Das war tatsächlich wichtiger als man vielleicht glaubt, und nicht nur, weil die tägliche Verantwortung und der Druck wegfallen. Es hatte auch mit der Abwesenheit von Vertrautem zu tun, damit, dem Anderen, Unbekannten, Neuen — dem Fremden ausgesetzt zu sein. Vielleicht war es der exogame Antrieb, und ganz ohne Zweifel war Neugierde mit im Spiel. Außerdem aber, so glaube ich, war es die Chance, die sich in einer Umgebung von völlig fremden Menschen bietet, Aspekte von sich selbst zum Ausdruck zu bringen, die dem restlichen Selbst, das sich im täglichen Leben unter vertrauten Menschen in den Vordergrund schiebt, fremd sind. Fremde haben natürlich keine Vergleichsbasis, und können es deshalb gar nicht merken, wenn man neue Aspekte oder neue Masken ausprobiert, ein neues Verhalten, das bizarr oder zumindest peinlich wirkte, wenn es »daheim« ausprobiert würde. Und dies wiederum zeigt, wie kleinmütig wir sind: wir sollten doch in der Lage sein, neue Facetten der Persönlichkeit in unserem Leben auszuprobieren, statt uns ein Leben draußen dafür zu suchen; wir sollten diese Facetten erforschen und verkörpern können, um sie in unsere Persönlichkeit zu integrieren, nicht, um uns noch weiter zu fragmentieren. Unsere Kultur ist da nicht ermutigend. Die verschiedenen Bereiche des Lebens in getrennten Fächern sortiert zu halten — vielleicht nur aus Angst vor der Integration — ist die Lebenshaltung eines Don Juan: die immerwährende Suche nach dem Neuen, dem Unbekannten — und die sich immer wiederholende Abwendung, wenn es erst einmal »erobert« ist (das heißt, wenn es vertraut geworden ist). Das heißt, dazu verurteilt sein, immer nur an der Oberfläche zu leben aus Angst vor den Tiefen, sich damit zufrieden geben, viel zu wissen (über Menschen, Erfahrungen, Gefühle) statt gründlich zu wissen, den Sand auf immer durch die Finger rinnen zu lassen statt zu riskieren, in einem Sandkorn das ganze Universum zu erfahren.
Aber ich war ja auch eine Romantikerin, und die Fähigkeit des existentiellen Relativierens hatte kaum erst in meiner Seele zu flackern begonnen. Deshalb war das rein Ästhetische, die sexuelle Freude, das Freisetzen, die Selbstvergessenheit und der schlichte Spaß einfach nicht genug für mich. Ich bestand auch noch auf »Liebe« (nicht nur freundschaftliche Zuneigung, wohlgemerkt, sondern Leidenschaft) — obwohl die Vorstellung einer andauernden Beziehung zu diesem Menschen mir Bauchgrimmen verursachte. Ich mußte Gedichte darüber abfassen. Ich mußte, als ich nach einem Monat heimgekehrt war, sofort Alles Meinem Mann Sagen — einem freidenkenden Menschen mit geistigem und sexuellem Mut sowie Neugier. Ein Mann, der tief in der antisexistischen Bewegung engagiert ist, der die Neuigkeit ruhig (und vielleicht sogar hilfsbereit?) zur Kenntnis hätte nehmen können, hätte ich nicht eine Vergleichs- und Gegenüberstellungsanalyse mitgeliefert, die in sich selbst ein Nebeneffekt jenes romantisch-rebellischen Hochs war, das mich in einen Rausch versetzt hatte. Auch die Seltenheit einer solchen Erfahrung hat dabei eine Rolle gespielt.
Mein Mann (auch ein Romantiker, obwohl er dies gelegentlich ableugnet) mußte natürlich in melodramatischer Weise aus den Fugen geraten, jedem Bekannten Alles Erzählen und ein Verhältnis mit einer anderen Frau beginnen. Es war eine Zeit des Haareraufens, des Kummers, nächtlichen Schluchzens, der Versöhnungen und weiterer Episoden der oben beschriebenen Vorgänge. Wenigstens schrieben wir beide in dieser Zeit Unmengen von Gedichten — ein wirklicher Trost. Doch mehr davon im nächsten Kapitel, wo es um dauerhafte Beziehungen geht. Solch eine Beziehung ist viel zu komplex, als daß sie leichtfertig oder oberflächlich abgehandelt werden könnte.
Laßt uns jetzt zu der Frau zurückkehren, die es tatsächlich fertigbrachte, unter großem Kostenaufwand zu einer neuen Ebene der sexuellen Befähigung, der sexuellen Energie, der sexuellen Intelligenz durchzudringen. Obwohl sie die Seelenqualen bedauert, bedauert sie sonst nichts. Sie fühlte sich strahlend. Und es war sichtbar: sie strahlte tatsächlich. In ihrem Schreiben war eine gewaltige neue Energie freigesetzt. Ihre masochistischen Phantasien verschwanden. Jahrzehntelang hatte sie auf intellektueller, psychologischer und politischer Ebene mit ihnen gerungen. Seit Jahren hatte sie den Verdacht gehabt, daß diese Phantasien mit einer mangelnden Kontrolle über das eigene Leben zu tun hatten und mit dem gleichzeitig bestehenden Wunsch, die Kontrolle aufzugeben, indem man sie auf jemanden projiziert, unter dessen Kontrolle man die eigene sicher fallenlassen kann. Jetzt hatte sie etwas erstaunlich Einfaches entdeckt: die konkrete Ausübung von Kontrolle über die eigene Sexualität, wie unbeholfen auch immer sie am Anfang gehandhabt wird, macht es überflüssig, sie auf jemand anderen zu projizieren. Wenn ihr spürt, daß ihr die Kontrolle habt, dann seid ihr auch frei, sie fallenzulassen, weil ihr wißt, daß ihr sie nach Wunsch wieder aufnehmen könnt.
Sie würde nie mehr die Gleiche sein. Ich sage damit nicht, daß eine Liebesaffäre ein Schmerzmittel für irgend etwas ist, noch empfehle ich eine sogenannte offene Ehe. Auch versuche ich nicht (der Himmel bewahre uns), eine neue Richtlinie für feministische sexuelle Freiheit mit Sofortwirkung in die Welt zu setzen. Im Gegenteil, ich spreche ausschließlich für mich selbst, in der Hoffnung, daß nicht so sehr die konkrete Erfahrung, sondern das, was ich daraus gelernt habe, anderen Frauen von Nutzen sein könnte — und auch anderen Männern, was das anbelangt.
Laßt uns dieser Frau über die Schulter schauen, auf einen Brief, den sie aufgehoben hat; sie schrieb ihn, als sie die Künstlerkolonie verlassen hatte, der Bildhauer aber noch da war. (Ich habe den Verdacht, sie behielt eine Kopie des Briefes in der Schriftstellern nun einmal eigenen merkwürdigen Denkweise, damit sei sichergestellt, daß wirkliches Leben tatsächlich stattgefunden hatte. Der Geruch von frischem Kaffee oder das Gefühl von zerdrücktem Samt zwischen den Fingern ist für sie im wirklichen Leben immer weniger lebendig gewesen, als es die sinnliche Erfahrung war, es auf dem Papier zu beschreiben. Ganz allgemein gesagt können Künstler ganz fröhlich unbefangen pervers mit den übernatürlichen Aspekten der Realität umgehen, doch mehr davon in Kapitel VII...)
Zur Erhellung der Handlung sollten wir uns einige Fakten ins Gedächtnis rufen: der Bildhauer (wir wollen für ihn die Initiale »V.« verwenden) ist jünger als die Frau, und dies vermittelt ihr tatsächlich ein eigenartiges Gefühl von Macht. Und es stellt sich heraus, daß er etwas hat, was er in der drolligen Terminologie des neunzehnten Jahrhunderts als »Geliebte« bezeichnet — eine Tatsache, von der unsere Briefschreiberin nichts wußte, als sie zuerst miteinander ins Bett gingen, und die ihr beträchtliche feministische Qualen und moralische Nackenschläge während des Rests der kurzen Affäre bereitete. Später traf sie die »Geliebte«, eine angenehme, unabhängige Frau (auf die wir uns im folgenden mit der Initiale «C.« beziehen), und sie wurden Freundinnen, die sich hin und wieder das Vergnügen gönnen, sich zusammenzusetzen und einander genießerisch ihren gemeinsamen Liebhaber aufzutischen. Doch zurück zum Brief und was darin — zwischen all dem Romantisieren, den Ausflüchten und der barocken Sprache — über die große, gute Kraft reiner sexueller Energie zum Ausdruck kommt und über deren Vermögen, einen Menschen in den Zustand emotionaler Übersteuerung zu versetzen, jenseits von Verstand, Vernunft, Vorsicht und Aufwand:

  • Liebster V., Es ist seltsam und macht mir Angst, diesen Brief zu schreiben. Weil ich noch keine Ahnung habe, was ich schreiben werde, zwischen jetzt und wenn er zuende sein wird. Weil Wörter meine Werkzeuge sind, die Luft-und Blutmoleküle, durch die ich lebe und die mir deswegen auf absurde Art heilig sind. Weil ich nie so recht weiß, was ich eigentlich empfinde, bevor es mir meine Wörter, auf dem Papier, nicht gesagt haben. Denn wenn sie erst auf dem Papier stehen, haben sie mich für immer in einer Verbindlichkeit eingefangen, von der ich mich nie mehr völlig lösen kann. Weil einen Brief zu beginnen das Risiko der Unfähigkeit ihn zu beenden einschließt. Weil ich aus einem Bedürfnis nach Sicherheit heraus, warten wollte, bis ich Deinen Brief erhalten hätte, so daß ich dann im selben Ton, den ich darin vorgefunden hätte, hätte antworten können. Weil ich die ganze Zeit schon NEIN zu jedem dieser blöden Risiken sage, wage ich also den Sprung. Weil diesen Brief zu beginnen riskieren heißt, daß ich ihn immer weiter schreibe.
    Ich schließe meine Augen, um in die Deinen zu schauen. Diese angsteinflößende Intimität, die mitten in unserer Unwissenheit umeinander erblüht, so unvermittelt wie eine Orchidee in einem stinkenden Sumpf, wenn sie ihre gefleckte Zunge zum Gesang herausstreckt. In der Hinsicht bin ich Dir gegenüber im Nachteil, denn seit Jahrzehnten habe ich alle meine Wahrheiten in Gedichte und Prosa fließen lassen, Du kannst die Seiten meiner Jahre umwenden und alles entdecken, was Du willst. Von Dir habe ich nur Erinnerungen (schon), oder Sätze... Ich habe solche Angst. Ich fühle mich, als ob ich auf einem Minenfeld voller Klischees lebte und auch schriebe, obwohl ich weiß, daß die beste Methode, sie in Archetypen zu verwandeln, darin besteht, sich zu trauen und geradewegs an ihnen vorbeizustürmen; und ich habe einmal geschrieben, wie ich mich danach sehne, das tun zu können, ohne dabei auf ihre lauten Hinweistafeln zu schauen: Ältere Frau, Untreue Ehefrau, Künstlerkolonie-Mädchen-das-anmaßenderweise-über-Bedeutung-nachdenkt, Feministin-andere-Frau-betrügend, Verheiratete Dame von fast vierzig über die Stränge schlagend, Irre Poetin auf Motivsuche — Himmel, diese Richtung führt geradewegs in den Wahnsinn. Zum Teufel damit. Weil ich beide Arme weit ausbreiten und singen möchte, daß das alles nicht stimmt, sogar dann, wenn alles wahr sein sollte — etwas anderes ist noch wahrer, und ich weigere mich, es zu verleugnen.
    Hier ist alles so verworren, so gräßlich kompliziert, hier in meinem Arbeitszimmer in New York (obwohl ich Kodaly auf dem Plattenteller habe). Aber das eine, das allen diesen zähnefletschenden Komplexitäten zugrunde liegt und sie zugleich an Bedeutung übertrifft, ist das Wissen, daß nichts von all dem eine Rolle spielte während einiger Nächte im Mai, als der Mond über dem keuschen, weiß angemalten Bett in Deiner Hütte zunahm und Deine Augen sie erleuchteten. Ich habe solche Angst, daß wieder nichts von dem eine Rolle spielen wird, wenn wir uns wiedersehen — davongefegt von der Kraft, die wir einer in des anderen Gegenwart sind. Gleichzeitig habe ich aber auch Angst, daß es nicht so sein könnte. Wie seltsam — nach allem was ich erlebt habe, nachdem ich Tod und Gefängnis riskiert habe und Kindbett und Engagement und Kunst und Zorn und Wahnsinn und, ja auch Liebe. Und das alles nur, um einen neuen Bereich von Risiko zu erfahren, der mir die Schultern herunterzieht, als ob ich dort die Last eines lebenslangen Sehnens trüge, die so vertraut ist, daß ich aus dem Gleichgewicht geriete, würde ich sie absetzen. Und ich habe Angst, Dir Angst zu machen. Das vielleicht sogar mehr als alles andere? Vielleicht.
    Nun ja. Sei willkommen in dem, was Du als Empfangsraum (aber nicht als innerste Kammer) hinter meinen Augen erblickt hast — wo Du ruhig sitzt und Dich wie zu Hause fühlst, wo Du eine topographische Karte und den Entwurf für den Rest des Grundstücks und Gebäudes studieren kannst, alles steht Dir in meinen veröffentlichten Arbeiten zur Verfügung. Was Du aber nicht weißt ist, daß vor ein paar Wochen, als Folge von Mount St. Helens und all dem so etwas wie eine Neuordnung stattgefunden hat, was die Lage der Räume, der Korridore und sogar der Gärten betrifft. Nichts ist nämlich mehr so wie es war, mußt Du wissen, und ich verlaufe mich beinahe genau so oft selbst darin wie die anderen. Es ist offensichtlich an der Zeit, das Ganze neu zu vermessen.
    Was die Paläste hinter Deinen Augen anbelangt, ich stehe davor wie vor den großen Toren von Kiew, versonnen...
    Wir sind zwei schlaue Leute, die sich zu schützen wissen, nicht wahr? Nicht wahr?
    Das habe ich nun davon, daß ich in meiner Kunst so lange zu meiner wunderschönen atheistischen Göttin gebetet habe, sie solle mich zur heiligen Närrin machen. Jetzt bin ich eine.
    Ich muß mit diesem Brief Schluß machen und mich in Zurückhaltung üben, damit ich Dich heute abend nicht anrufe. Jetzt ist es halb sechs, also habe ich gute zwei Stunden, um dagegen anzuarbeiten. Ich versuche zu schreiben, habe aber Angst vor dem, was ich schreibe — in Gedichten, in Prosa, sogar in diesem gottverdammten Brief. Ich fühle mich so froh und bin gleichzeitig zornig auf Dich, daß Du nicht im Sumpf ertrunken bist an dem Tag, als ich in der Kolonie ankam. Wenn noch so ein Gedicht den Weg durch mich hindurchfindet wie das letzte, dann muß ich schon sagen, daß ich mich lieber zur Verwertung freigeben sollte. Arbeitest Du? Ich sag es Dir nochmal, untersteh Dich, nicht gut zu sein — denn wenn ich diese ganze Verwirrung durchmachen muß, weil ich mich mit einem mittelmäßigen Künstler eingelassen habe, dann bin ich wirklich erledigt.
    Ich versuche jetzt schon eine ganze Weile, den Brief zum Ende zu bringen. Ich versuche, mich nicht zu beunruhigen, geschweige denn Dich. Zum Teufel damit. Ich kann's nicht. Ich sollte lieber ein paar literarische Liebesaffären studieren: Candida, Das Spiel ist aus, Anna Karenina, Madame Bovary, Villette. Ich übersehe was Wichtiges. Zum Teufel damit. Es muß doch ein Weg aus diesem verdammten Brief herausführen.
    Jetzt weiß ich. Wenn ich mich damit tröste, daß ich ihn doch nicht abschicken werde, dann... ah ja, jetzt weiß ich auf Anhieb, wie ich ihn beenden werde. Ich kann mich später damit auseinandersetzen, ob ich ihn abschicke oder nicht. Ich kann mir sagen, Nein, ich will diesen Brief nicht weggeben, darum kann ich jetzt dies sagen:
    Ich möchte Deine Lippen küssen, Liebster, und Deine Augen. Ich möchte meinen Hals an Deine Stirn pressen, damit Dein Gehirn das Singen meiner Arterien spüren kann, weil ich in Deinen Armen bin. Ich möchte mein Haar auf Deinem Kissen ausbreiten und Dir mit aller Sorgfalt erklären, warum die Welt jetzt noch nicht aufhören darf, trotz Deines Zynismus und aller Deiner Ängste. Dann möchte ich Dich wieder küssen, tief im Nacken, und lachen, ebenfalls tief in Deinen Nacken hinein, über die alberne, zerbrechliche Macht dieses Augenblicks. Dann würdest Du nach mir greifen, und ich würde Fels und gleichzeitig Wasser sein, das den Fels umspült, und für einen Augenblick würde ich meinen, ich hätte mir Dich wieder ausgedacht. Aber Du bist eine wirkliche Person und nicht ein Ereignis, trotz des beträchtlichen Leids, das dieses Ereignis anderen schon verursacht hat, ganz zu schweigen von den beiden, die keine Ereignisse sind, die hindurchzuschießen scheinen, von einer Parabelkurve zur nächsten, vorsätzlich hilflose, heilige Narren. Und ich möchte meine Augen öffnen und Deine schon offen sehen und meinen Blick erwarten — ein Reptil, ein Heiliger, ein schattiger, moosüberwachsener Teich, ein Observatorium zur Beobachtung des Schädeluniversums, die große Leere, in der die Hirnraumstation langsam kreist, registriert, aufnimmt, sendet — Schock über Schock, egal wie vorbereitet, gewichtsloses Kreiseln im All oder mitten im Strudel, bis die Benommenheit in der Ruhe aufgeht, als ob wir jeder auf des anderen Inselstrand herausgekrochen wären und schlafen, während die Sonne aufgeht, riesig und hoch und ohne Scham.
    Ich warne Dich wenn Du nach New York kommst werde ich ganz gewiß nicht auftauchen ich übe schon jetzt vernünftig und fest und weise Nein zu sagen genauso wie ich weiß Nein ich werde diesen Brief nicht wegschicken wo zum Teufel sind deine Neins benutzt Du sie nicht hebst Du sie alle auf bis ich die meinen verbraucht habe oder was? NEINNEINNEINNEINNEIN.
    Ich weiß nicht, wie ich aufhören soll. Ach Gott.
    Wie wäre es mit:
    Liebster V.
    R.

Die Frau, die diesen Brief schrieb — und auch wegschickte — gab ganz gewiß »der großen Leidenschaft freieren Raum«, wie Mary Wollstonecraft es gesagt hatte. Allerdings erweiterte dieser Raum nicht ihren Verstand, wie Wollstonecraft versprochen hatte — jedenfalls nicht sofort. Zunächst schrumpfte ihr Verstand auf beängstigende Weise. (Achtet auf die Eingebungen, die sie hatte: sie möchte sich dagegen sträuben, ihn anzurufen, sie weiß intuitiv, daß er seine schallenden »Neins« aufspart, bis ihre «Neins« erschöpft sind. Achtet darauf, wie sie ihm das sogar anvertraut — sie möchte erkannt sein von genau dem Fremden, den sie sich ja gerade deshalb ausgesucht hatte, weil sie ihm nicht so tief vertraut war wie ihrem Mann. Achtet darauf, wie sie weiß, daß sie ihr Wissen mißachtet.)
Das folgende ist ein Auszug aus einer Tagebucheintragung, die drei Wochen nach dem Brief entstand. Ihr Verstand hat inzwischen die Größe einer vertrockneten Erbse. Offensichtlich ist der Bildhauer nach New York gekommen, es fanden weitere Treffen statt, weitere Schuldgefühle, Kummer und Sturm und Drang wegen und mit ihrem Mann und der »Geliebten« ihres Liebhabers. In allen Aspekten des Melodramas wird ausgiebig geschwelgt. Und klar ersichtlich ist, daß die Schreiberin dieses Tagebuchs auf Stufe Eins des sexuellen Fundamentalismus zurückgefallen ist, daß sie im Zuge dieser Entwicklung fast jegliche sexuelle Intelligenz, Perspektive und den Humor verloren hat, gezwungen, ihre Vorstellung von sexueller Leidenschaft über das Medium des Romantischen in gewaltsame Leidenschaft einzutauschen. Der Pfahl in ihrem Herzen ist scharf, und er vibriert:

  • Oh Gott, fast war ich eingeschlafen, und dann die Hupe auf der Straße, ich dachte es wäre die Türklingel, wie gemein, mich zu wecken, ich war fast... Jetzt weine ich Gott was willst du denn wieviel muß ich zahlen für diese kleine Freude? Das reißt jetzt an den Narben, die ich für geheilt hielt. Schau Gott, das habe ich nie geschafft, ihm zu sagen, für ihn zu tragen, mit ihm zu machen, ihn zu fragen, ihm zu erzählen, ihn zu berühren... dieser Schmerz ist so unglaublich körperlich. Er verkrampft und verdreht und brennt in meiner Kehle und Brust wie ein Gewicht... meine Schreie verschrecken meine Katzen, ach Gott bitte.
    Laß es mich schreiben laß es mich schreiben laß mich einen Weg da durch schreiben bitte Gott... Es kann nicht sein, daß ich ihn liebe, ich kann nicht ich kann nicht ich weiß nicht was das ist ich bin neununddreißig und er siebenundzwanzig und nicht mal so besonders intelligent lieber Gott -
    Diese Panik... ich möchte schlafen oder nichts fühlen oder eine Tablette nehmen oder irgendwas um aufzuwachen wenn ich diese Trauer gerade nicht spüre. Aber ich bin so gräßlich nüchtern daß es mir Angst macht.
    »Welch herrliche Frau bist du, bist du, welch herrliche Frau bist du«...
    Die Wahrheit: dies wäre unerträglich ohne die Vorstellung, daß er vielleicht morgen anruft und ich immer noch die Chance habe zu sagen, Ja, laß uns zusammenkommen. Irgendeine heimliche Frau in mir bereitet das schon vor. Erniedrigung...
    Ich werde die ganze Nacht lang schreiben, bei Gott, ich werde es überleben liebe Ishtar Astarte Aphrodite. Sogar jetzt lüge ich noch: Ich warte ja. Das ist unglaublich. Frauen haben alle diese Tränen schon für mich geweint. Sie sollen nicht mehr länger geweint werden, von keiner Frau länger mehr, mehr, mehr...
    Sogar jetzt, wie erniedrigend. Bring es aufs Papier: das Diaphragma drin, das Telefon in der Nähe... Er sagte, heute abend kann ich dich nicht sehen, und es war wie ein Faustschlag in die Magengrube, direkt unterm Herzen, körperlicher Schmerz.
    Ich hätte in der Kolonie Schluß machen sollen. Oder letzte Woche. Oder gestern. Kein Stolz. Wo ist der Stolz? Der Stolz kommt zuerst... oh Gott, deine Witze sind kosmisch und tiefgründig, die besten Galgenwitze weit und breit.
    Heute abend wollte ich allen Liebenden zutrinken. C? Nein
    C. auf den Verstand? NEIN
    C. auf die Moral? JA
    C. auf das Herz? Ja Nein Ja Meine Schwester meine Schwester meine verlorene Schwester wir sind zusammen verraten worden doch du ganz ohne Schuld mea culpa mea culpa mea maxima culpa
    Die Wahrheit: ich kann ja einfach nicht den Hörer abheben. Falls er anruft, wird er es bald wieder aufgeben. Die Wahrheit: Das möchte ich nicht. Die Wahrheit: Das ist also Feminismus. Da bist du ja wieder. Hast du es immer noch nicht gelernt? Dann werden wir es dir auf die Haut gravieren.
    Jedenfalls verschwende ich hier Büttenpapier, gütiger Himmel. Das ist vielleicht befreiend. Es ist zum Wahnsinnig werden. Dummes Ding, dummes Künstlerkolonie-Mädchen ich weiß nicht was das ist das ist wie lebendig begraben sein, Platten, die ich ihm nie vorgespielt habe, Ausstellungen, die wir nie zusammen besucht haben. Ich kann immer noch Ja sagen ich kann immer noch Nein sagen.
    Schnüffel doch an deinen eigenen parfümierten Handgelenken, du Idiot.
    Hat er geglaubt, ich hätte alle meine Neins aufgebraucht? Ha! ich werde sie erfinden, sie erschaffen, es werden geniale Werke werden... schau es ist vier in der Früh. Ich habe schon wieder eine Stunde rumgekriegt laß mich dranbleiben, reinigende Wörter Wahrheit häßliche Wahrheit auf dem sauberen Papier...
    Dies vergeht alles vergeht. Mach es zur Politik. Mach es zu Kunst.
    Er hat die ganze Zeit lang gelogen, dich die ganze Zeit lang an der Nase herumgeführt. Hol ihn der Teufel er schien der Schlüssel zu allen meinen verschlossenen Räumen zu sein und er ist mir in der Hand verrostet... Gott, daß ich mein Talent daran verschwenden muß, diese Argumente zusammenzubrauen wie Sylvia Plaths »Großer Chirurg, nun Tätowierer / immer und überall dieselben dumpfen Klagen einritzend«. Laß es mir gleich sein laß es mir gleich sein laß es mir gleich sein.

Die Schreiberin dieser Tagebucheintragung hatte, ein paar Wochen vorher, eine elektrische sexuelle Energie in sich freigesetzt, die letztendlich wenig oder sogar gar nichts mit ihrem (es tut mir leid, daß ich das Wort gebrauche, aber es stimmt) Objekt zu tun hatte. Zur Zeit des Tagebucheintrags aber hatte sie diese Selbstermächtigung in die augenscheinliche Gewißheit eingetauscht, daß ihr Durchbruch nur mit ihrem Liebhaber und im Grunde nichts mit ihr selbst zu tun hatte.
Warum? War diese Kraft zu schockierend um zuzugeben, daß es ihre eigene war? Zu rebellisch, zu wahrhaft revolutionär, zu intelligent! Wieviel Opfermentalität lag von vornherein in ihrer romantischen Haltung, in welchem Ausmaß bedeutete der herrliche schwindelerregende Ohnmachtsanfall einen tatsächlichen Zusammenbruch von Muskelsubstanz? Und vor allem, warum war diese Frau so überrascht, als sie herausfand, daß sie mitten im Spiel die Regeln nicht mehr ändern konnte: nachdem sie sich den Fremden ausgesucht hatte, weil er ein Fremder war, warum sehnte sie sich danach, daß er sie mit dem Wissen eines Vertrauten behandelte, mit dessen Zuvorkommenheit, Sorgfalt, Liebe? Sie mußte erst noch lernen, daß es weit faszinierender ist, das Ästhetische im Ethischen aufzuspüren, das Erregende im Vertrauten wahrzunehmen als umgekehrt.
Drei Wochen nach dem Tagebucheintrag schrieb dieselbe Frau (für die wir die Initiale l(ch) nehmen können) dem Bildhauer noch einen, diesmal längeren Brief. Sie hatte sich ein wenig eigene Perspektive zurückerobert, ein wenig Humor, ein wenig von ihrer früheren Kraft — und ihre Intelligenz begann sich ein wenig aufzuhellen. Hier sind Auszüge aus diesem Brief:

  • »Da sind ein paar Dinge, von denen ich möchte, daß Du sie zu verstehen versuchst.
    Das Wichtigste ist vielleicht das Einfachste: In Wirklichkeit reißt Liebe nicht an sich. Sie ist nicht einmal bedürftig, im üblichen Wortsinn. Sie leidet, darauf kannst Du wetten, und sie kann krankwerden und sie kann sterben (obwohl, wenn es so etwas wie ein Leben nach dem Tod gibt, dann wette ich, es existiert nur um der Liebe willen). Ich glaube, das Wunder daran ist die Energie — egal ob sie in einem Gedicht mitschwingt oder in einem Blick, in einer Sonate, einem Atom oder einer Skulptur — die Art wie sie es fertigbringt, mehr Liebe und weitere Energie zu erzeugen, so wie eine Pflanze Chlorophyll erzeugt, um das Begehren zu nähren, noch mehr davon zu produzieren. Dieses besondere Talent — denn Liebe ist natürlich nicht irgendeine Kunstschaffende, sondern eine Virtuosin - liegt darin, daß es so wandelbar ist, so viele Formen annehmen kann (allerdings nicht ohne einige schmerzhafte Häutungen), daß es im wörtlichen Sinn transformativ ist, und das alles mit dem augenzwinkernden Flair von Bach (der in den Scherz eingeweiht war). Und ohne dabei die Kraft zu verlieren.
    Und das bedeutet — für den Fall, daß Du eingeschlafen oder mit diesem glasigen Blick weggetreten bist, der sich manchmal wie eine Maske über Deine Züge zieht — eine Menge verschiedener Dinge, nicht nur einen Vortrag, ahem, über die Mittel und Wege der Liebe.
    Zunächst einmal, diese Form von Energie, Macht, Kunstfertigkeit, oder wie Du es nennen willst, kann nicht zusammen mit so nachahmenden und dilletantischen Schaustellern wie Objektivierung, Zensur der Gefühle, Manipulation — und Angst existieren. Ich, Du oder wir beide sind schuldig, alle diese in unsere jeweiligen Arbeitsräume eingelassen zu haben. Sogar jetzt noch bin ich versucht zu sagen: ,Also gut, ich habe Dich geträumt. Du bist hiermit aus der Verantwortung entlassen, existiert zu haben.' Angeblich, um Dich von Schuld freizusprechen, aber in Wirklichkeit, um mich selbst in der Falle eines arroganten Martyriums zu verfangen — die Falle der »Weiblichkeit«, die ihrerseits verkleidet mit der Pose einer Gottheit daherkommt. Pfui!
    Die Wahrheit ist, daß ich Dich nicht geträumt habe — Du bist (vielleicht bedauerlicherweise) sehr wirklich; Du schnarchst manchmal und sprichst das Wort »Pyramiden« höchst absonderlich aus und hörst mir oft nicht zu, wenn ich etwas sage, egal wie wunderbar weise es sein mag. Und genauso oft hörst Du Dir selbst nicht zu (egal wie weise oder dumm) und wiederholst Dich, ohne daß Dir bewußt wird, daß Du ,Versatzstücke' zu liefern beginnst — was schlimmstenfalls gefährlich und bestenfalls einfältig sein kann. Hätte ich Dich geträumt, dann wärst Du ohne diese ärgerlichen Eigenschaften, darauf kannst Du Dich verlassen.
    Trotzdem habe ich Dich zum Objekt gemacht — indem ich Dich zum verklärten (oder dämonischen) Liebhaber vernebelt habe — während Du deinerseits eifrig damit beschäftigt warst, mich in die Dirndlröcke einer Künstlerkolonie-Maid einzuhüllen, hi hi. Nun, hier ist ein heißer Tip für Dich: es ist für einen Künstler immer zuträglicher zu übertreiben statt zu trivialisieren; denn letzteres macht der Rest der Welt ohnehin viel effektiver. Aber auch wenn ich meine Form der Verdinglichung der Deinen vorziehe, es war trotz allem eine Verdinglichung — und ich glaube, jetzt weiß ich auch warum.
    Ich habe es von ganzem Herzen satt, mich dafür zu schämen, daß für mich Liebe in jedem ekstatischen Feiern gegenwärtig ist, sei es nun künstlerisch, religiös oder sexuell (als ob es da überhaupt einen verdammten Unterschied gäbe). Gott ist darin, was auch immer das sein mag. Aber ich glaube, die Welt hat sich verschworen, uns das Gefühl von gräßlicher Peinlichkeit zu vermitteln, wann immer wir genau danach suchen, ganz zu schweigen davon, wenn wir es finden oder noch schlimmer, verkünden, es gesehen zu haben. (In dieser Hinsicht begeben sich Künstler permanent in gefährliche Gewässer.) In meiner Unfähigkeit, meinen Fund in der Realität zu artikulieren, bin ich auf diese Schamhaftigkeit hereingefallen — und ich überhöhte folgerichtig die Realität auf die Ebene nur einer ihrer Bestandteile.
    Ach je, über Verdinglichung gibt es noch soviel mehr zu sagen. Wie dem auch sei, Du bist hiermit davon befreit, ein Objekt zu sein. Du bist reizend. Aber Du bist nicht Gott. (Ich schon.) Und Du bist auch kein Künstlerkolonie-Knabe. Du bist ein Künstler und ein Mann und bist mein Liebhaber gewesen — und ob Du der erste oder der letzte bist, das geht Dich überhaupt nichts an.
    Aber. Es ist an der Zeit, daß wir Freunde werden. Diese virtuose Liebe, die sich so boshaft und wundervoll transformieren kann, sollte ganz gewiß auch fähig sein, den Druck zu verringern, zu ,de-eskalieren', großzügig und einfach freundlich zu sein, vor allem inmitten solch absurden aber erschreckenden Schmerzes. Sie sollte Klarheit bringen, nicht Verwirrung, Trost, durchsetzt mit ein klein wenig Humor. So. Dich ,nach Hause' zu schicken, ist nicht genug. Du mußt herausfinden, warum Du da bist. Du darfst C. nicht mehr wie ein handliches Papiertaschentuch benutzen, ganz gleich in welchen Krisen Du gerade steckst. Du verhältst Dich damit nicht nur unsäglich gegenüber einem Mitmenschen — wie sehr Du auch beteuerst, daß es ihr nichts ausmacht — es ist tatsächlich auch verheerend korrumpierend für Dich selbst, als Mensch und als Künstler. Außerdem mußt Du ihr sagen, was zwischen uns gewesen ist, so wie ich es Dir dringend empfohlen habe. Jetzt, nachdem ich sie bei der Eröffnung Deiner Galerie kennengelernt habe und sie mir ihre Freundschaft angeboten hat, ist es umso höllischer, daß sie nicht Bescheid weiß. Ich gebe Dir eine Woche Gnadenfrist, und egal ob Du's inzwischen getan hast oder nicht, werde ich sie dann anrufen, so wie ich es ihr versprochen habe, und ich werde es ihr sagen. Die ganze Geschichte. Ich kann nicht länger einer anderen Frau gegenüber in dieser Position sein. Es ist unerträglich, und ich bin ärgerlich, daß ich mich nur zu gerne habe überreden lassen, es ihr nicht früher zu sagen: überreden lassen von Deiner Angst, meiner Feigheit und sogar vom gutmeinenden beschützenden Rat zweier Freundinnen. Tatsache ist, daß, wenn C. Dich nicht liebt (wie Du manchmal behauptest), es ihr gar nicht soviel ausmachen wird. Wenn sie Dich doch liebt (wie Du manchmal behauptest), dann wird es ihr etwas ausmachen — aber auch das läßt sich überleben. Und außerdem, wenn sie Dich liebt, dann ist es ihr gutes Recht zu wissen, wen sie da eigentlich liebt. Ich glaube, Du mußt erst noch zu erkennen wagen, wen oder was Du liebst, ausgenommen natürlich Dich selbst — und den hast Du in der Tat so gern (trotz Deiner Angst vor ihm, Deinem Ekel, Deiner Lebensüberdrüssigkeit), daß Du ihm wohl nicht wehtun wirst — aber Du mußt damit aufhören, ihr wehzutun. Wenn Du ihr die Wahrheit sagst, wird Dir nämlich möglicherweise klar, was das überhaupt ist, und dann würde die Zensur der Emotionen davon geweht. Und um es einfacher zu machen, kannst Du jetzt alles in der Vergangenheit erzählen (ich meine uns, nicht die Wahrheit). Ach mein Lieber, was ist nur aus dem Laut-und-Deutlich-Leben geworden?
    Was mich selbst betrifft, so bin ich unsagbar müde. Trotzdem gebe ich zu, daß hin und wieder irgend etwas in all meinen Schichten von Schmerz und Enttäuschung das Kichern nicht unterdrücken kann über diese ganze Farce, die sich als Tragödie aufspielt.
    Ich kann nicht umhin zu bemerken, alle vereinfachenden Schablonen einmal beiseite, daß sich die Frauen seit Jahrhunderten in den aufgezwungenen Rollen von ,Ehefrau' und .Geliebter' inszeniert haben; hin und wieder recht melodramatisch, aber meistens mit großer Würde und sogar mit einigem Verständnis dafür (wenn nicht sogar mit der Bereitschaft dazu), den geliebten Mann zu teilen, oder an den Rändern seines Lebens zu leben. Nicht, daß sie viel Auswahl gehabt hätten. Aber trotzdem, zwei Männer, mit einer entfernt ähnlichen Situation konfrontiert, tendierten dazu, finster und selbstmörderisch blickend herumzulaufen, denn wenn nicht jeder von ihnen in der Bühnenmitte sitzt und kommen und gehen kann, wie es ihm beliebt, dann kann er genauso gut Schluß machen. Für fast jeden Mann, so scheint es, ist das Leben Einfach zu Schwierig, besonders was seine Arbeit, seinen Wahnsinn, seine Zerbrechlichkeit, seine Bedürfnisse betrifft. Er muß Genährt, Gefestigt und in Sich Gegründet werden, von — jetzt kommt's — einer Frau. Aha.
    Um im Namen dieser Frau zu sprechen, habe ich erst jetzt angefangen, laut und deutlich zu leben, bei Gott.
    Paß auf Dich auf. Du bist frei - aber was sie einem nie dazusagen, ist, daß Freiheit noch mehr Verantwortung einschließt als Knechtschaft, genauso wie Kunst das Hohe Spiel in vollem Ernst erfordert — und diese Verantwortung kommt da ins Spiel, wo C. hereinkommt, oder hinausgeht.
    Und was am wichtigsten ist, such Dir einen Ort wo Du arbeiten kannst, denn früher oder später ist das die einzige Möglichkeit, Hoffnung oder geistige Gesundheit oder Frieden zu erhalten, ganz zu schweigen von der Gnade.«

Die Frau, die diesen Brief schrieb, war dabei, ihre geistige und körperliche Gesundheit wiederzuerlangen, und dieses unschätzbarste aller Überlebenswerkzeuge, ihren Sinn für Humor. Mit der Zeit erholte sie sich vollständig, gewann dabei aber ein Wissen (denn Neugier und Begehren sind eins) — ein Wissen um sich selbst als Geschöpf der Leidenschaft, ein Wissen um den Gebrauch und Mißbrauch von Leidenschaft, ein neues Wissen über ihren Mann, ihr Kind, ihre Freunde. So wie Heidegger einmal geschrieben hat: »Der Schmerz gibt von seiner Heilkraft, wo wir es am wenigsten erwarten.«
Viele Monate später überraschte sie sich selbst dabei, daß ihr Blick im Vorübergehen mit Vergnügen auf einem weiteren »Parkplatzeinweiser« verweilte, von ähnlich anmutiger und körperlich schöner Beschaffenheit. Erst jetzt wurde ihr das Offensichtliche bewußt: das ständige Vorhandensein des Begehrens als schlichte Gewohnheit, das ist es, was den meisten Frauen verwehrt ist. Denn wenn sich ein Gefühl nur selten zu regen wagt und auch dann noch nicht immer zum Ausdruck gebracht werden kann, hat es die Tendenz, zu Etwas Besonderem erhoben zu werden, mit einem mächtigen romantischen Heiligenschein um sich. Wenn Frauen unmittelbaren Zugang zu ihrem Begehren hätten, wenn sie es offen zum Ausdruck bringen und regelmäßig befriedigen könnten, dann würde der Heiligenschein zerschmelzen. Aber dafür könnte etwas anderes an seiner Stelle leuchten: eine gewöhnliche Heiligkeit, eine alltägliche (aber nicht fundamentale) Erhabenheit — schlicht und vertraut, die Schönheit des Fleisches, der Berührung, des Vergnügens — eine immerwährende Freude an ihrer Energie, derer sich eine Frau bedienen kann oder nicht, wie sie es möchte, ohne die Energie zu überhöhen oder sich daran zu verlieren.
Aber es dauerte einige Zeit, bis die Schreiberin der Briefe irgend etwas davon begriff. Zunächst konnte sie nur den zweiten Brief schreiben. Dann schaffte sie es sogar, ihn nicht abzuschicken, weil sie einsah, daß der Empfänger seine Bedeutung nicht würdigen könnte. Nicht würdigen, gerade weil er nicht darauf gefaßt war, sie in der Gesamtheit ihrer Lebensbezüge zu erkennen — politisch, ethisch und emotional.
Diese Einsicht brachte ihrerseits zwei weitere hervor: daß sie diesen Brief für sich selbst geschrieben hatte (wieder einmal), um auf dem Papier für sich real und durchschaubar zu machen, was sie in ihrem bloßen Leben nicht in der Lage gewesen war zu verstehen und auszudrücken; und daß sie den Brief aufgrund von Prinzipien der Ästhetik und der Ethik geschrieben hatte, die jahrzehntelang zwischen ihr und ihrem Mann entwickelt und genährt worden waren. Prinzipien, die im Zusammenhang mit der Bereitschaft zu erkennen und erkannt zu werden entstehen konnten. Diese zweite Intuition erwies sich als wahr, als ihr Mann durch Zufall auf diesen Brief stieß, ihn las und tatsächlich verstand.
Schließlich beschloß die Frau (auf die wir in Zukunft wirklich mit der Initiale I(ch) verweisen sollten), die relevanten Abschnitte dieses Briefes in ihrem neuen Buch zu veröffentlichen. Ihr Mann kannte sie so gut (und, weil er selbst ein Dichter ist, weiß auch er, daß das Papier eine oftmals teuer erkaufte Wahrhaftigkeit verlangt), daß er sie darin unterstützte.
Als die Frau diese Briefe in das Manuskript ihres Buches hineintippte, spürte sie, wie für einen Augenblick der Atem von etwas Süßem und Wildem durch ihr Arbeitszimmer wehte. Es fühlte sich an wie etwas, daß ihr einerseits noch nie begegnet aber andererseits schon immer intim vertraut gewesen war. Ich glaube fast... Ich glaube es war ein Flüstern, gerade nur einen Augenblick lang, von etwas, das man »Freiheit« nennen könnte.

LAUT UND DEUTLICH LEBEN
Die eigene wirkliche sexuelle Energie kennenzulernen, frei von Fundamentalismus, Apathie, Kapitulation oder sogar Rebellion, ist für eine Frau in praktisch jeder Gesellschaftsordnung außerordentlich schwierig. Diesem schwierig zu erlangenden Wissen gemäß zu handeln, ist noch schwieriger.* (* Die Ausstattungen und Kostüme sind wieder verschieden, und das kann zu der Illusion führen, daß das Gras auf der anderen Seite des Zaunes weniger abgemäht ist — aber dies ist eine Illusion: In den USA halten die weißen Frauen die schwarzen für sexuell freier — doch fragt einmal die schwarzen Frauen selbst, wie es wirklich damit aussieht. Auf internationaler Ebene halten die Nordländerinnen die Südländerinnen für freier, die westlichen Frauen die Frauen auf den pazifischen Inseln für weniger unterdrückt, usw. — aber wann immer Frauen ihre konkreten Erfahrungen austauschen, stellt sich heraus, daß das Skript das gleiche ist.)
Jede Frau weiß, daß in den meisten Kulturen eine selbstbewußte Sexualität (nicht Flirt, weibliche List, kleinmädchenhafte Niedlichkeiten, oder femme-fatale Kapriolen), direkte, ehrliche sexuelle Selbstbehauptung in einem weiblichen Menschenwesen schlimmstenfalls als hurenhaft angesehen wird und bestenfalls als bezeichnend für das Bild der schein-emanzipierten Frau, oder würdig der »Forsches-Mädel-Auszeichnung«. Manchmal wird solche Selbstbehauptung bewußt ignoriert oder in die Passivität zurück euphemisiert:

»Während der Paarungszeit wirbt der weibliche Wassertreter um den männlichen... (ein geläufiges Beispiel von) weiblichem Werbeverhalten im Tierreich... Jetzt, da mehr Frauen in den Naturwissenschaften arbeiten und mehr Männer sich der bisherigen Versäumnisse in der Erforschung des weiblichen Teils der Spezies bewußt werden... stehen neue Daten über weibliches Werbeverhalten zur Verfügung. Die Forscher haben das Phänomen sogar mit einem neuen Begriff gewürdigt... Da sie mit der Semantik von ,weiblichem Werbe verhalten' nicht zufrieden waren, sprechen sie jetzt von »Prozeptivität« und definierten dies als weibliche Initiative in sexuellen Angelegenheiten.«[15]

Das klingt unangenehm nach »Rezeptivität«. Wenn ein weibliches Wesen sich wie ein männliches Wesen verhält, dann ändert den Namen für das Verhalten, ändert die Regeln, ändert die Belohnungen — bis wir anfangen zu glauben, daß dieses Verhalten für uns nicht vorgesehen ist, oder zumindest nicht zu wissen, was wir tun, während wir uns so verhalten. Unser anhaltender, fast chronischer sexueller Hunger hat zur Unterernährung unserer Sexualität geführt. 1837 hat die nicht kleinzukriegende Victoria Claflin Woodhull in ihrer Rede »Das Elixier des Lebens«[16] gesagt: »Dies ist eine schreckliche Tatsache, wenn man darüber nachdenkt, sie ist aber nichtsdestoweniger wahr und sollte als solche der Öffentlichkeit zur Kenntnisnahme aufgedrängt werden: daß gut die Hälfte aller Frauen am Liebesakt selten oder auch niemals Vergnügen finden. Nun, das ist eine Beleidigung der Natur, eine Schande für unsere Zivilisation.«
Mehr als ein Jahrhundert später werden Frauen immer noch in den sexuellen Fundamentalismus zurückgezwungen, werden gezwungen, das, was wir für sexuelle Freiheit hielten, über das Medium des Romantischen gegen gewalttätige Leidenschaft einzutauschen. Teils ist das wohl deshalb so, weil man uns glauben machte, sexuelle Selbstbehauptung sei nichts für uns — und so projizieren wir sie auf die Männer: erinnert euch an den Satz, »Hol ihn der Teufel, er schien der Schlüssel zu allen meinen verschlossenen Räumen zu sein, und er ist mir in der Hand verrostet«.
Warum projiziert denn eine Frau überhaupt ihre eigenen sexuellen Durchbrüche, ihre Energie und ihr Begehren auf einen Mann (oder manchmal eine andere Frau), als ob diese Kraft nichts mit ihr selbst zu tun hätte? Du Subjekt; ich Objekt. Wie Shulamith Firestone schon vor Jahren darauf hingewiesen hat, werden Frauen so allumfassend als Objekte erotisiert, daß sie beginnen, sich selbst als erotische Objekte zu sehen, statt als Subjekte.[17] In einer unveröffentlichten Seminararbeit analysierte Suzanne Braun Levine18 das Motiv des Geliebten-als-Spiegelung in der romantischen Literatur (Cathys Aussage: »Ich bin Heathcliff« in Sturmhöhe usw.). Müssen Frauen noch so lange ihre Leidenschaft auf andere projizieren (damit sie auf uns zurückreflektiert), wie wir uns in einseitigen Spiegeln suchen müssen?
Es ist zugleich tragisch und ironisch, daß MANN FRAU als vorrangig sexuelles (und reproduktives) Wesen etikettiert und ihr dabei gleichzeitig die Sexualität entrissen hat. Die Sexualität zurückzuerobern ist zum zentralen Aspekt der Idee geworden, was wirkliche Freiheit für Frauen und für Männer bedeuten könnte. So wie Audre Lorde es in ihrem inzwischen berühmten Essay »Vom Nutzen der Erotik: Erotik als Macht«19 beschrieben hat:

»Erotik ist ein Maß der beginnenden Wahrnehmung unserer selbst im Chaos unserer stärksten Gefühle. Sie ist eine Empfindung innerer Befriedigung, von der wir — wenn wir sie einmal erlebt haben — wissen, daß wir sie anstreben können. Denn wenn wir die Fülle und Tiefe dieses Gefühls einmal erlebt haben und seine Macht wiedererkennen, können wir um den Preis unserer Ehre und Selbstachtung nicht mehr weniger von uns erwarten.«

Ein solcher Anspruch kann überall hinführen. Er ist so unberechenbar wie die Energie. Er verlangt ein lautes und deutliches Herausleben, sexuelle Intelligenz und existentielle Romantik. Er verlangt auch Aufmerksamkeit — den Begriff, den ich wählte, als man mich bat, in einem Wort die Eigenschaft zu nennen, die die Frauen im Patriarchat am meisten von den Männern unterscheidet. Frauen sind aufmerksam, Männer können sich leisten, es nicht zu sein. Wir werden aufmerksam bei einer kleinen Nuance im Ausdruck, dem Zögern in einer Stimme, einem Glas, das zu nahe an der Tischkante steht, einem Kleinkind, das dem Bordstein zu nahe kommt. Unglücklicherweise sind wir bei uns selbst weniger aufmerksam: das scheint unwichtig, kann warten -,
wir können ohnehin nicht viel dran ändern.
Wir müssen diese wundervolle kreative Technik der Aufmerksamkeit auf uns selbst richten — und es wäre reizend, wenn zunächst die Männer sich diese Technik aneignen würden. Denn sie ist erlernbar.
So bin ich zum Beispiel auf eine wachsende Unruhe in mir aufmerksam geworden, weil ich, bis jetzt jedenfalls, mich in diesem Kapitel noch nicht mit der gleichgeschlechtlichen Erotik befaßt habe. In der Tat wird die Leserin/der Leser inzwischen festgestellt haben, daß es in diesem Buch hauptsächlich um Frauen geht, die, in freier Entscheidung oder auch gezwungenermaßen, Umgang mit Männern pflegen. (Die meisten Frauen auf diesem Planeten haben solchen Umgang.) Und ich behaupte, daß solche Bücher — ja auch solche feministischen Bücher — ebenfalls notwendig sind. Eine der Freuden, als ich vierzig wurde, war für mich der Wegfall einiger akuter Defensivhaltungen zu verschiedenen Themen: jahrelang hatte mich diese Defensivhaltung in eine zeitweilige politische Unterwürfigkeit hineingelockt. Inzwischen kann ich schlicht mehr Wahrheiten über mehr Dinge sagen, ohne Entschuldigung oder Schuldgefühle. Auf die Dauer ist wohl die Wahrheit das beste, was jede/jeder von uns den anderen anzubieten hat, als Frauen, als Männer, als menschliche Wesen.
Mehr als 95% der sexuellen Aktivität in meinem Leben war auf Männer bezogen; davon genaugenommen mehr als 90% auf meinen Mann — meinen Ehemann. (Nach einigen modernen Maßstäben der Erfahrung bin ich eine blauäugige Novizin.) Trotz leidenschaftlicher Freundschaften mit Frauen entstanden meine wirklich sexuellen Erfahrungen mit Frauen leider mehr aus dem Bedürfnis heraus, politisch »richtig zu liegen«, Zustimmung und Anerkennung zu bekommen (parallel zum meisten Sex mit den meisten Männern!), denn aus Motiven wirklich sexueller Leidenschaft. Ich habe inzwischen erkannt, daß sexueller Druck in jedweder Form — ob emotional, körperlich oder politisch — ganz einfach der widerliche alte Sexual-Fundamentalismus ist, und damit will ich nichts zu tun haben.
Ich glaube von ganzem Herzen daran, daß alle menschlichen Wesen, männliche und weibliche, sexuelle Wesen sind, sehr wahrscheinlich bisexuelle Wesen, die auf den einen oder anderen Weg gelenkt werden, und zwar von Kulturen, die von der Furcht besessen sind, wenn die Klassifikation Andersrum oder Normal nicht im Paß eingestempelt ist, könnte es zu Grenzüberschreitungen kommen. Die in den meisten Kulturen tief eingewurzelte Homophobie ist eine ernste politische Krankheit, und ich verstehe und unterstütze den notwendigen Mut und die Militanz der lesbischen Frauen und homosexuellen Männer, die genug haben von ermüdenden Erklärungen an die Heterosexuellen bezüglich »Abweichung«,  Neurose,  Kindheitstrauma, Hormone, verzehrender Lust oder Was Wir Wirklich Wollen. Allerdings ist die Hydrophobie, die zuweilen in verschiedenen Frauenbewegungen überall in der Welt zum Vorschein gekommen ist, kein wirksames Gegengift. Dennoch ist anzumerken, daß sie aus dem Schmerz über eine Situation entstand, die nicht von jenen geschaffen wurde, die sie artikulieren. Die Institution der Heterosexualität, die Konformität fordert, ist tatsächlich von Übel; sie hat die Freude unterdrückt und viel Geist und viele Körper gemordet. Sie ist ein Pfahl im Herzen der sexuellen Leidenschaft. Eine Institution der Homosexualität, die Konformität verlangt, würde allerdings ein Zwillingspfahl im gleichen Herzen sein. Denn sowohl Homophobie als auch Heterophobie sind ganz einfach sexual-fundamentalistische Reproduktionen von Neugier und Begehren.
Innerhalb eines jeden Ghettos (sogar in einem, das sich mit selbstbewußtem Trotz konstituiert, als Reaktion darauf, daß es vorher ein erzwungenes war), bildet sich unvermeidlich die Taktik einer offensiven Verteidigung heraus. Daß Heterosexuelle jahrzehntelang einen muskelbepackten sexuellen Fundamentalismus gegen gleichgeschlechtlich Liebende zur Schau stellten, machte die heterosexuelle Liebe nicht unbedingt besser. Daß, in gequälter Reaktion, einige Homosexuelle inzwischen den Schwulenstolz-Slogan »Two, four, six, eight, gay isjust as good as straight« geändert haben zu »Two, four, six, eight, gay is twice as good as straight«, (* Zwei, vier, sechs, acht, schwul ist genauso gut wie hetero — zwei, vier, sechs, acht, schwul ist doppelt so gut wie hetero.) macht den homosexuellen Sex nicht unbedingt besser. Im Gegenteil, eine Wagenburg-Haltung kann es den einzelnen Mitgliedern einer unterdrückten Gruppe erschweren, den Mut aufzubringen und über sexuelle Probleme zu klagen, sogar dem Geliebten gegenüber, einem Freund, einer Selbsterfahrungsgruppe, einer Schwester, die eine lesbisch-feministische Therapeutin ist. Und diese Probleme gibt es sehr wohl — sie sind im Grunde den heterosexuellen Problemen ganz ähnlich: Probleme bezüglich der Romantik, der Gewalt, des Machtgefälles, der Monogamie, bezüglich fundamentalistischer Einstellungen und sexueller Intelligenz. Wir alle leben bedauerlicherweise in einer patriarchalen Kultur.
Ich bemerke außerdem, daß die Frauen, die mich wirklich sexuell anziehen, Frauen mit einem Bewußtsein um ihre eigene Stärke sind. Und doch spüre ich, daß da ein Unterschied ist zum Gefühl der Anziehung durch männliche Stärke. (Henry Kissinger wird der Ausspruch zugeschrieben, daß Stärke — irgendeine Stärke — das wirksamste Aphrodisiakum ist. In seinem Fall ist das vielleicht Wunschdenken.) Nein, Eigenschaften wie Anmut, Fähigkeit, Humor, eine Bereitschaft, mich zu erkennen in meinem ganzen Selbst (Neugier) sind es, die einen Mann für mich anziehend machen. Bei den meisten Frauen scheinen diese Eigenschaften vorausgesetzt werden zu können. Doch eine Frau, die nicht nur eine Ausstrahlung hat, sondern auch ein Bewußtsein dieser Ausstrahlung — eine solche Frau setzt in mir einen elektrischen Stromkreis machtvollen Begehrens frei. Es ist etwa wie die Haltung, die Virginia Woolf als »das Leben reiten« beschrieben hat. Woolf selber wollte ihre Arbeit reiten, »wie man ein großes Pferd reitet«. Sollte diese Entladung jemals eine Kettenreaktion von Handlungen freisetzen, dann nicht, weil irgendeine sexualfundamentalistische Institution sie aus dem politischen Fundamentalismus oder »Wohlverhalten« herausgesprengt hat. Es wird ausschließlich das Feiern eines weiteren Aspekts meiner eigenen wachsenden sexuellen Intelligenz sein.
Und ich bin heute neugieriger auf meine eigene sexuelle Energie als ich es jemals war, in meiner Ehe und auch außerhalb, mit einer anderen Frau oder mit einem Mann. Ich habe aber keine Angst davor, »sexuell haltlos« zu werden, weil ich ein starkes Sehnen in mir spüre, die Bindung zu denen, die ich wirklich liebe, zu erhalten. Und außerdem möchte ich daran erinnern, daß mein existentieller Aspekt durch die unerschrockene Romantikerin gut ausbalanciert wird. Noch nie zuvor war ich mir meiner alten Hypothese so sicher, daß sexuelle Freiheit die Frauen nicht zu imitierenden Dona Juanas macht, wie verführerisch die wie-du-mir-so-ich-dir-Taktik zunächst auch scheint. Schließlich war es bei Don Juan der Mangel an echter Neugier, trotz all seiner Gegendarstellungen, der es ihm unmöglich machte, sein Verlangen jemals zu stillen.  Er hatte die Macht, die Fragen der
Frauen, um die er warb, nicht hören zu müssen, obwohl er ironischerweise Antworten für sie gehabt hätte — Antworten, die den Machtlosen Wissen gegeben hätten, das für sie Macht bedeutet hätte. Vielleicht hat er ihnen deshalb nie zugehört?
Nein, die Trennung von Gefühl und Sexualität ist es, die Gewalt, Pornographie, sexuellen Fundamentalismus verursacht. Das war für mich schon immer falsch, und wenn ich manchmal den Gefühlsaspekt meines Romantizismus überbetont habe, so war mir dieser Irrtum lieber als das Gegenteil. Darauf zu bestehen, daß Gefühl und Sexualität zusammengehören, heißt jedoch, auf der Integrität des eigenen Selbst und dem der anderen zu bestehen, auf dem Selbstrespekt, auf der erotischen Intelligenz, auf der Energie als Freude.
Wenn die vereinten Gegner dieser Haltung zuweilen so übermächtig erscheinen, daß man an der Existenz der Energie überhaupt verzweifelt, oder daran, daß sie je wieder freigelassen werden könnte, sollte ein Satz von Dr. Mary Jane Sherfey genügen, um uns an unsere verborgene Wahrheit zu erinnern:
»Die Stärke des Triebs bestimmt die Kraft, die notwendig ist, ihn zu unterdrücken.«[20]