Die Dienstmagd des heiligen Mannes

Eine Anatomie der Freiheit

Der Feind ist allgegenwärtig. Er existiert nicht in der Ausnahmesituation, sondern im normalen Alltag ... Der Feind ist der gemeinsame Nenner allen Handelns und allen Unterlassens. Und der Feind ist nicht identisch mit dem tatsächlichen Kommunismus oder Kapitalismus — sondern er bildet, in beiden Fällen, das wahre Gespenst der Befreiung.
Herbert Marcuse

I wish I knew how it would feel to
be free, I wish I could break all the chains
over me. I wish I could say all the things
that I should say, say 'em loud, say 'em clear for the whole round world to hear.
I wish I could share all the love
that's in my heart, Remove all the bars that keep us
apart. I wish you could know what it
means to be me. Then you'd see and agree that every(one) should be free ...
I wish I could be like a bird
in the sky. How sweet it would be if I
found I could fly. I'd soar to the sun and look down
at the sea. Then I'd say, 'cause I'd know — I'd know how it feels to be free.
Nina Simones Version
des Billy Taylor Songs[1]

Es war einmal ein Mann, den hielten alle für heilig. Tag und Nacht saß er am Gipfel eines Berges, scheinbar ohne sich je zu rühren. Einige meinten, daß er ständig betete oder meditierte oder Visionen hätte. Einige hielten ihn deshalb für einen Heiligen oder zumindest für einen Weisen ...
Niemand wußte eigentlich so recht, seit wann er da auf seinem Felsvorsprung saß, doch fast alle konnten sich daran erinnern, daß früher einmal, vor vielen Jahren, Pilger — nicht ohne Schwierigkeiten — zu ihm hinaufgezogen waren, um ihre Streitfragen, ihre spirituellen Anliegen, ihre Verzweiflung und ihre eigenen Versuche, Heiligkeit zu erlangen, vor ihm auszubreiten. Seine Ansichten waren jedoch so streng und wurden in einem Ton vorgetragen, der so viel Verachtung gegenüber den Pilgern auszudrücken schien, daß fast keiner öfter als einmal kam, und als sich das mit der Zeit herumsprach, machten sich immer weniger Pilger auf den mühsamen Weg den Bergpfad hinauf. Schließlich kamen nur noch ein oder zwei Pilger im Jahr zu dem Heiligen Mann — und diese betrachteten ihn eher als kuriose Sehenswürdigkeit, denn als lebenden Heiligen, den man befragen, dem man nachfolgen oder dem man sogar vertrauen konnte. Und am Ende kam eigentlich niemand mehr.
Er aber saß nach wie vor auf seinem Felsvorsprung, schien über die nahen und fernen Gipfel anderer Berge zu starren, kniff ab und an die Augen vor dem Wind zusammen, und sein Körper schrumpfte immer mehr dahin, trocknete aus: Er wurde zum knöchernen Dreieck, die Wirbelsäule balancierte auf der Basis der gekreuzten Beine, sein kahler Schädel war die Spitze. Niemand konnte auch nur annähernd sein Alter schätzen. Er schien niemals zu sprechen, obgleich sich manchmal seine Lippen bewegten.
Und wißt Ihr, daß ihm während dieser ganzen Zeit die Frau, die als Dienstmagd des Heiligen Mannes bekannt war, treu blieb ...

Wir haben keinerlei Vorstellung davon, was »Freiheit« eigentlich ist oder warum wir, als Menschen, sie offenbar so fürchten. Wir verstehen sie am besten in ihrem Nichtvorhandensein, so wie das besiegte Geschöpf in einem Gedicht von Emily Dickinson, das, hingestreckt auf dem verwüsteten Schlachtfeld, von Ferne die den Sieg bejubelnden Trompetenstöße aus dem Lager des Feindes hört und viel tiefer als der Sieger begreift, was Triumph wirklich bedeutet. Da wir alle bislang Geschöpfe des Mangels und des Verlangens sind, scheint bei uns Menschen die Fähigkeit der Trauer und der Sehnsucht besonders gut ausgebildet zu sein — und auch die Fähigkeit, die Tatsache zu verdrängen, daß wir etwas nicht haben, was wir noch niemals hatten.
Wir haben wirklich keinerlei Vorstellung davon, was »FRAU« eigentlich ist oder warum wir, als Frauen und Männer, das vorhandene Konzept akzeptieren. Wie die Freiheit verstehen wir es am besten in seinem Nichtvorhandensein, seinem Fehlen, seiner Verneinung — »FRAU« ist nicht-MANN. Aristoteles war weder der erste noch der letzte, der Frauen als »mißlungene Männer« bezeichnete. In unserer Eigenschaft als Geschöpfe voller Sehnsucht haben wir (durchaus verfrüht) MANN als menschlich definiert. In unserer Eigenschaft als Geschöpfe des Gegensatzes sind wir demnach gezwungen, FRAU als nicht-menschlich zu definieren.
Ist es ein Zufall, daß wir zwar keine Vorstellung davon haben, was Freiheit oder was FRAU ist, aber doch meinen, eine Vorstellung von Knechtschaft oder von MANN zu haben? Ist es möglich, daß unsere Unwissenheit darüber, was FRAU eigentlich ist, eben jene Barriere darstellt, die uns hindert, zu wissen was Freiheit ist?
Wir wissen nur, wie man uns Freiheit definiert hat (und unsere Fähigkeit zur Hoffnung hat uns oft dazu verleitet, der Botschaft zu glauben statt dem Boten). Man sagt uns, zum Beispiel, daß wir die Freiheit bereits hätten. In den;,entwickelten Ländern« beglückwünscht der vereinigte Kapitalismus seine Untertanen zu ihrer Meinungsfreiheit und beraubt sie ihrer wirtschaftlichen Freiheit; in der »kommunistischen Welt« gratuliert der Staatskapitalismus seinen Untertanen zu ihrer wirtschaftlichen Freiheit, während er ihnen die Meinungsfreiheit vorenthält; in den »Entwicklungsländern« wetteifern die globalen Supermächte und die nationalen hierarchischen Systeme darin, den Untertanen die perfekte befreiende Ausgewogenheit zu versprechen — eine importierte technologische Zukunft kombiniert mit einer einheimischen kulturellen Vergangenheit — während sie in der Gegenwart, von den gleichen Untertanen, ständig Treueschwüre auf dies oder das System, auf ökonomische Abhängigkeit, eine »vorübergehende« Aufhebung der Freiheit, kritische Meinungen zu äußern, und eine freiwillige Selbstaufopferung für Die Sache erzwingen.
All diese Freiheiten — ob versprochen oder angeblich bereits bestehend — sind in Wirklichkeit illusionär. In den Vereinigten Staaten beispielsweise übersteigt der Zugang zur »Freiheit der Rede« meist bei weitem die Möglichkeiten des Redners, wenn er/sie nämlich zufällig eine Frau, oder Sozialhilfeempfänger/in, oder Atheist/in, oder nicht weiß, oder Dichter/in, oder Kind, oder Fließbandarbeiter/in, oder Bergarbeiter/in, oder lesbische Mutter, eine geschlagene Frau, oder Bewohner/in eines Altersheimes, oder Feministin ist, die einen Feldzug gegen die pornographische Industrie organisiert.
All diese Versklavungen — die als Gegenleistung für die Illusion der Freiheit Menschen auferlegt werden — sind in der Tat real. In der Sowjetunion beispielsweise ist »wirtschaftliche Freiheit« für die Frau eine Illusion, die stundenlang Schlange stehen muß, um ein Paar Schuhe zu kaufen, oder ein Stück Fleisch aus einem in Menge und Qualität begrenzten Angebot, zum Preis von einem Viertel des mit ihrem Mann gemeinsam erarbeiteten monatlichen Einkommens; oder für die Prostituierte, die durch die Bahnhöfe huscht, auf Parkbänken schläft und sich ihrer eigenen Realität sehr wohl bewußt ist, trotz aller offiziellen Statistiken, die verkünden, daß es sie schon lange nicht mehr gibt; oder der Homosexuelle, der auf sieben Jahre ins Zwangslager geschickt wird, trotz aller offiziellen Proklamationen, die darauf bestehen, daß er (und sein »Problem«) schon lange nicht mehr existieren; oder für den frommen Gläubigen, für den ein Synagogen- oder Kirchenbesuch ein Akt des politischen Widerstandes ist; oder die rassischen Minderheiten, deren Identitätsgefühl allmählich ausgehöhlt oder militärisch zerstört wird.
Die Illusion dieser Freiheiten wird durch die konkrete Wirklichkeit dieser Versklavungen notwendig. Warum, wenn nicht für diese Freiheit, wurde das als Guerilla kämpfende Kind in Belfast zu Fetzen geschossen? Warum, wenn nicht für diese Freiheit, ertrug die iranische Frau die Torturen der Untersuchungsbeamten des Schah? Warum, wenn nicht für diese Freiheit, hat der buddhistische Mönch sich selbst geopfert? Warum, wenn nicht für diese Freiheit, schweigt die vergewaltigte Ehefrau? Warum, wenn nicht für diese Freiheit, haben Mütter die Füße ihrer Töchter gebunden, schneiden Frauen ihren weiblichen Kindern die Klitoris heraus? Warum gibt es »First Ladies«? Warum, wenn nicht für diese Illusion der Freiheit, gäbe es soviel Leiden? Welche andere mögliche Ausrede hätten wir?
Wir wissen, wie man uns Freiheit definiert hat, und wir haben den Verdacht, daß dies nicht mit dem übereinstimmt, was wir wirklich haben. Man sagt uns, merkwürdig genug, sie sei eine nicht unerschöpfliche Quelle, die verdient aber auch rationiert werden kann. Man sagt uns, wir müßten die Freiheit aufgeben, um sie zu gewinnen (so spornen Führer ihre Anhänger an, Erwachsene lehren es die Kinder, Männer erzählen das den Frauen, Weiße den Farbigen. Menschen begründen und rechtfertigen so die Gefangenhaltung gefährdeter Arten, Zoos, und Tierexperimente, Zerstörungen durch den Tagebau, Tankerkatastrophen und Aufrüstung. Die etablierten Religionen predigen alle diese Botschaft). Man sagt uns, Freiheit sei gleichbedeutend mit freier Wahl. Doch was bedeutet die Wahlfreiheit für die Frau im Supermarkt, die unter zwanzig verschiedenen Sorten von Cornflakes wählen kann (die alle vom gleichen Hersteller sind), oder für die Studenten, die sich für alles ausbilden lassen können, aber (je nach Gestalt oder Hautfarbe) nur zu wenigen Berufen Zugang haben? Welche Wahlfreiheit hat die Hinduwitwe, die entweder im Begräbnisfeuer ihres Mannes sterben kann oder ein Leben in Ächtung und den allmählichen Hungertod vor sich hat? Welche Wahlfreiheit hat der Wähler bei einer Ein-Parteien-Wahl — oder in einem Zwei-Parteien-System, wo beide Parteien praktisch die gleichen Ziele vertreten, nur mit kunstvoll unterschiedlichen Formulierungen? Wer bestimmt die Möglichkeiten, zwischen denen wir wählen können?
Die Ultra-Rechte sagt uns, Freiheit könnte davon abhängen, daß wir in der Lage sind, einen »begrenzten Atomkrieg« zu führen. Die Ultra-Linke sagt uns, Freiheit könnte in unserer Fähigkeit zu »revolutionärer Gewalt« bestehen. Die Mitte — weder Fisch noch Fleisch — sagt uns, Freiheit sei gleichzusetzen mit unserer Fähigkeit, uns an Coca Cola, Zeichentrickfilmen, einem Sparkonto, Nachbarn, die »Leute wie wir« sind, und jeden Sommer zwei Wochen Urlaub zu erfreuen. Wir dürfen vermuten, daß die Ultra-Rechte und die extreme Linke sich nicht in einer geraden Linie bewegen, sondern vielmehr in einem apokalyptischen Nebel den Kreis schließen; ebenso dürfen wir vermuten, daß die Mitte keineswegs ein Ort der Sicherheit und Rationalität ist, sondern vielmehr eine Leere, die genauso geschmiert läuft wie Disney-Land. Das Risiko, wirklich frei von all dem und dennoch politisch engagiert zu sein, ist ein alarmierender Gedanke.
Eine eindeutig irre Gesellschaft sagt uns, daß »Normalsein« Freiheit bedeutet, und ihre spiegelverkehrte Gegenkultur sagt, daß Irrsinn Befreiung ist. (Orwell hat uns davor in seinem Roman »1984« gewarnt, wo das totalitäre Regime Parolen wie Unkraut ins Volk streut: »Krieg ist Frieden« verkündet es, »Freiheit ist Knechtschaft«.)
Natürlich fällt uns der Gedanke, wir seien tatsächlich versklavt, schwer. Das erscheint uns übertrieben, zumal es an einigen Stellen unseres Planeten ja wirklich noch Sklaverei gibt. Schlimmer noch: mit diesem Gedanken wäre unsere feste Überzeugung, wir seien frei, Lügen gestraft. Dennoch haben wir keinerlei Vorstellung, was Freiheit wirklich ist, und warum wir, als Menschen, sie so zu fürchten scheinen. Außerdem haben wir fast unsere ganze Intelligenz auf die Vermeidung der Erkenntnis verschwendet, daß Freiheit, solange wir nicht wissen, was das eigentlich ist, lediglich ein Zugeständnis bedeutet — eine neue und heimtückische Form von Unfreiheit — sogar für uns selbst, besonders aber für alle, die wir als »anders« (als wir) ansehen. Es scheint als hätten wir den kreativen Geist unserer Spezies darauf verwendet, die Vermeidung dieser Erkenntnis zu erfinden, beizubehalten und zu verteidigen.

Den klapprigen Holzverschlag, der den Körper des Heiligen Mannes in der Regenzeit schützte, hatte die Dienstmagd des Heiligen Mannes gebaut. Sie war es auch, die früher die Besucher auf dem schwierigen Pfad nach oben geführt hatte, und die man manchmal auch jetzt noch suchend durch die Dörfer im Tal laufen sah, als wolle sie neue Pilger aufstöbern. Natürlich war sie es auch, die um Essen für ihn bettelte und es ihm jeden Abend in einer hölzernen Schüssel hinaufbrachte. Die nannte man in den Dörfern »die Bettelschale des Heiligen Mannes« — merkwürdigerweise, denn niemand konnte sich erinnern je gesehen zu haben, daß der Heilige Mann selbst damit betteln ging.
Aber schließlich konnte sich auch niemand erinnern, je den richtigen Namen der Frau gewußt zu haben, obgleich sie in der Gegend wohl bekannt war. Vielleicht hatte sie sogar nie einen eigenen Namen gehabt. Wie dem auch sei, sie war einfach zur »Dienstmagd des Heiligen Mannes« geworden. Und mochten sich auch manche flüsternd darüber streiten, ob die Bergklause überhaupt heilig war, und mochten sich auch ein oder zwei Dorfbewohner fragen, wieso die Bettelschale die des Heiligen Mannes sein sollte, wenn man ihn doch noch nie damit gesehen hatte, so schien sich doch niemand daran zu stoßen, daß die Frau allgemein »Dienstmagd des Heiligen Mannes« genannt wurde.
Vielleicht lag das daran, daß sie selbst sich so lange und leidenschaftlich so bezeichnet hatte, daß niemand mehr darüber diskutieren mochte — allerdings konnte sich niemand erinnern, ob und seit wann sie diesen Eindruck erweckt hatte. Oder vielleicht lag es daran, daß niemand sonst darauf aus war, diesen Titel oder die Aufgabe zu übernehmen. Es war zwar nicht ungewöhnlich, daß ein heiliger Mann nicht beachtet wurde, einen solchen jedoch verhungern zu lassen, hätte Schande über alle umliegenden Dörfer gebracht. Vielleicht war ja auch der Titel »Dienstmagd des Heiligen Mannes« einfach nur die genaue Beschreibung dessen, was ihr Leben zu sein schien. Was war sie denn sonst?

Die Vorstellung, daß es »FRAU« nie gegeben hat, ist uns unangenehm.
Denn schließlich, Frauen gibt es. Doch gibt es Frauen in unterschiedlichster Gestalt, Farbe, Lebensform, Größe, Stimmungslage, es gibt Frauen jeder Klasse und jeden Alters, Frauen in den unterschiedlichsten Stadien der Fruchtbarkeit, mit den unterschiedlichsten Haltungen gegenüber Fruchtbarkeit. Für Männer gilt natürlich das Gleiche. Das einzige, was Männer wirklich miteinander verbindet, ist ihre gemeinsam ausgeheckte und ständig weitergetragene Definition — die Definition der Männer — von FRAU. Könnte es sein, daß Männer, da sie (aus dem Gefühl des Mangels und der Sehnsucht) MANN als Definition ihrer selbst schufen, sich gezwungen fühlten, ihr tägliches Leben dieser Definition weitmöglichst anzunähern? Könnte es sein, daß wir Frauen, weil nicht wir FRAU als Definition unserer selbst schufen, sondern diese Definition von anderen bekamen, uns weit weniger getrieben fühlen, ihr zu gleichen — und haben wir uns nicht seit Äonen das Lachen verbissen bei dem Gedanken, wir hätten dem jemals geähnelt?
Wir wissen, wie man uns FRAU definiert hat, und wir bezweifeln sehr, daß wir das sind. Man sagt uns, das sei relativ: je nach den Prioritäten der Männer zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort kann FRAU Raquel Welsh sein oder eine Arbeiterhelden-Mutter, Mata Hari oder eine liebevolle Großmutter, eine angesehene Witwe; ein verkrüppeltes menschliches Wesen mit neun-Zentimeter-kurzen Füßen; ein menschliches Wesen, dem Silikon unter die Haut gepumpt wurde; ein menschliches Wesen, das sich zwangsweise unter einem Schleier verborgen halten muß oder eines, das zwangsweise auf einem Riesennacktfoto in einem Herrenmagazin dargeboten wird; ein menschliches Wesen, dessen Arbeit zu verehrungswürdig ist, als daß sie durch Bezahlung entweiht werden dürfte; ein menschliches  Wesen,  dessen  Genitalien  zusammengenäht  sind;  ein menschliches Wesen, dessen ganze Befriedigung darin besteht Schmutzstreifen auf Fliesen zu bekämpfen; ein menschliches Wesen, das im Alter von drei Jahren in der Lage ist, den eigenen Vater zu verführen; ein menschliches Wesen, das fähig ist, ständig äußerste  Zärtlichkeit zu  spenden und dauernd äußerste Grausamkeit zu empfangen — beides mit offensichtlichem Vergnügen. Dies sind nur einige der Identifikationsmerkmale von FRAU — doch ist keines dabei, in dem wir uns als Frauen wieder erkennen könnten, weder so, wie wir sind, noch so, wie wir sein wollen — und das gilt auch für alle anderen Aufzählungen der Eigenschaften von FRAU. Mit diesen Definitionen ist vielleicht unsere Situation beschrieben, doch mit uns selbst hat das nicht das geringste zu tun.
Wir sollten festhalten, daß wenn wir an FRAU denken, uns die Kaiserin Wu, Marie Curie, Juliana von Norwich, Indira Ghandi, George Eliot, Lady Murasaki, Mary McLeod Bethune, Mary Cassatt, Elizabeth Cady Stanton, Yaa Asantewaa, Amy Beach, Rabi'a, Yvonne Goolagong, Elizabeth L, Zora Neale Hurston,' Teresa von Avila, Agötfme, Sor Juana oder Simone Beauvoir nicht einfallen. Nein, wir denken statt dessen: religiöse Reform, Wissenschaft, Mystik, Premierminister, Autor und so weiter. Wir denken: Genie, Führungspersönlichkeit, schöpferische Kraft, Talent. Wir denken:  Ausnahme.  Ausnahmen wovon? Große Männer sind ebenso Ausnahmen unter den Männern und für sie so dürfen wir hinzufügen, ist es viel einfacher, ihre Größe auszuleben und Anerkennung zu finden. Dennoch, ein Askenase, Einstein, Mozart, Martin Luther King jr., Schweitzer, Chakka, Kublai Khan, Black Elk, Thomas Paine, Saladin, Shakespeare — sie alle werden als Teil von MANN und deckungsgleich mit MANN angesehen. Wenn wir »Ausnahme« denken bei den vielen Frauen, die genial oder erfindungsreich oder kreativ waren, und deren Namen trotz aller Hindernisse auf uns gekommen sind, dann meinen wir nicht Ausnahme unter Frauen, sondern Ausnahme in Hinblick auf FRAU. (Genius ist gleich Mensch ist gleich Mann — so lautet das Gesetz!)

Einzelne Frauen, wie die oben aufgeführten, sind äußerst gefährlich für das Bild von MANN, eben weil sie das Bild von FRAU gefährden. Männer nahmen MANN vor ihnen in Schutz, indem sie sie als Ausnahmen von der Regel FRAU bezeichneten und uns allen erzählten, daß die meisten Frauen der richtigen FRAU entsprechen, und daß diese Verirrungen das nicht tun. Und so hat man uns ausgetrickst: statt stolz auf diese Frauen zu sein und sie zu beneiden, fühlen wir uns ihnen entfremdet, ja, verachten sie sogar. Wir haben sie verleugnet, damit wir selbst voll in Besitz genommen werden konnten. Ihr Schicksal hat uns auch Angst gemacht, denn der Preis, den sie, von Männern erpreßt, zahlen mußten, war enorm. Wir waren unfähig, uns zu uns zu bekennen, den Männern zu sagen — und dabei seine Fata Morgana MANN anzusprechen — »ja, das sind einige, sogar viele von uns: dieses Genie, diese Energie, dieser Intellekt, diese Beweglichkeit, diese Kraft und dieser Wille, all diese Fähigkeiten. Diese? Ja, natürlich, das waren eben Frauen.«
Man sagt uns, daß wir aufhören müssen, Frauen zu sein, um unsere FRAUlichkeit zu erringen. Und die Formen dieses Tausches sind eindeutig, starr und voller Raffinesse.
Frauen wurde Religion anstelle von Philosophie angeboten, Moral anstelle von Ethik, »weibliche Ängste« anstelle von existentieller Furcht, Gemeindeangelegenheiten statt Politik, Selbstlosigkeit anstelle des Selbst, ehrenamtliche statt bezahlte (lies richtige) Arbeit, Äußeres statt Substanz, Romantik statt Sexualität, Kinderkriegen statt Kunst, und das Heim anstelle des Universums. Man sagt uns, daß uns dieser Handel Glück und Sicherheit brachte, und obgleich wir uns weder glücklich noch sicher fühlten, gelang es uns, in die Asche unserer eigenen Menschlichkeit zu blasen und ihr manchmal eine kleine züngelnde Flamme des Glücks, eine warme Fata Morgana der Sicherheit zu entlocken. Dies war, aus mehreren Gründen, ebenfalls unvermeidlich. Erstens hatten wir keine andere Wahl; das hat man uns jedenfalls erzählt — und wir vergaßen, daß das eine Lüge war. Zweitens wollten wir überleben, und da auch wir Geschöpfe des Mangeis und der Sehnsucht sind, wollten wir unsere Menschlichkeit gerade dadurch beweisen, daß wir alle jene Fähigkeiten vervollkommneten, die uns erlaubten, zu klagen und uns zu sehnen — doch vor allem wollten wir die Tatsache verleugnen, daß wir etwas nicht besaßen, das wir nie gehabt hatten.
Man sagt uns, daß MANN gewisse Eigenschaften fehlen, die FRAU zu so etwas Besonderem machen. Wir haben dabei die Tatsache übersehen, daß, wenn auch einigen Männern diese Fähigkeiten abgehen, dies durchaus nicht für MANN gelten muß, denn er war immer nur ein Phantom der jeweiligen Auslegung durch jene, die ihn nach ihrem Bild schufen, vom Cro-Magnon bis zum Astronauten. Wir haben ebenfalls die Tatsache übersehen, daß diese (weiblichen) Eigenschaften - Mütterlichkeit, Geduld, Demut, Selbstlosigkeit, Nächstenliebe, Toleranz, Intuition, Zusammenarbeit, praktischer Sinn — im Kontext von Nicht-Freiheit genau die Eigenschaften sind, die es den Unfreien schwer möglich machen, ihren Zustand der Unfreiheit überhaupt zu erkennen, geschweige denn, ihm ein Ende zu setzen.
Man sagt uns, MANN trüge schwer an der Tatsache, daß MANN gewisse Eigenschaften besitzt, die Frauen fehlen: Macht, Energie, Intellekt, Wille, Mut, Neugier, Risikobereitschaft, Idealismus, Phantasie, Erfindergeist, Spontaneität. (Für Frauen ist es verwirrend, daß diese Eigenschaften für MANN eine Last sein sollen — denn seit Jahrhunderten haben Frauen nur erlebt, daß sich die Männer genau zu diesen Eigenschaften gegenseitig beglückwünschen.) Wir haben die Tatsache übersehen, daß — mag man auch Frauen nachsagen, ihr fehlten diese Eigenschaften —, reale Frauen sie doch tatsächlich besitzen und immer besaßen — von der Cro-Magnon bis zur Kosmonautin. Wir haben auch die Tatsache übersehen, daß — in einem Kontext, in dem niemand weiß, was Freiheit eigentlich ist, — diese Eigenschaften es denjenigen, die Freiheit definieren, noch schwerer machen, ihren eigenen Zustand der Unfreiheit überhaupt zu erkennen, geschweige denn, ihm ein Ende zu setzen. Und sie machen es ihnen unmöglich, eine so schwierige Erkenntnis oder Forderung auf diejenigen auszudehnen, die noch unfreier sind als sie selbst.
Hier sind Frauen im Vorteil, denn wir haben immer schon die Lüge FRAU durchschaut, während die Männer erst jetzt anfangen, die Lüge MANN zu durchschauen.

Jahr um Jahr wurde die Dienstmagd des Heiligen Mannes von Fragen bedrängt — in der ersten Zeit von außen, doch als die Pilger ausblieben und schließlich auch die, die die Bettelschale füllten, nicht mehr fragten, stiegen Fragen in ihrem Innern auf.
Nicht, daß sie tatsächlich das Recht gehabt hätte, verwundert oder befremdet zu sein. Er hatte von Anfang an klargestellt, daß er nur dazu taugte, ein heiliger Mann zu sein und zurückgezogen auf einem Berg zu sitzen. Wenn die Welt sich ihm in Gestalt der Pilger näherte, die etwas von ihm haben wollten, oder in Gestalt der Spender, die, indem sie die Bettelschale füllten, ihm etwas gaben, so war dies Sache der Welt und nicht sein Problem. Obgleich er dies alles nie in Worten ausgedrückt hatte, hatte ihr das die Leere tief hinter seinen Augen deutlich gesagt. Die Dienstmagd des Heiligen Mannes konnte nicht sagen, er habe sie irregeführt. Dennoch wurde sie Jahr um Jahr von Fragen bedrängt.
Sie erinnerte sich, daß es ihr in der ersten Zeit ungeheuer schwer fiel, die von den Pilgern gestellten Fragen zu beantworten. Sie fragten-. »Wie ist der Heilige Mann wirklich?'1 Sie fragten-. ,,Wo stammt der Heilige Mann her?« Sie fragten-. »Was ist sein Fach, seine Denkrichtung?« Sie fragten-. »Kann er Wunder bewirken?« Und einige fragten sogar-. »Wie fühlt man sich als Dienstmagd des Heiligen Mannes?«
Sie erinnerte sich mit einem traurigen Lächeln, wie sich ihre Antworten durch die Jahre gewandelt hatten. Am Anfang hatte sie sich in geheimnisvolles Schweigen gehüllt, mit einem Gesichtsausdruck jedoch, der deutlich zu verstehen gab, sie wüßte viel mehr, als sie überhaupt in Worte fassen könnte. Später dann erfand sie Antworten-, manchmal waren diese von Pilger zu Pilger verschieden — was von den Dorfbewohnern als ein weiteres schwerwiegendes Geheimnis von Widersprüchen gewertet wurde. So trug sie zur Legende des Heiligen Mannes bei, während sie in Wirklichkeit lediglich verschiedene Antworten ausprobierte, um zu sehen, mit welcher sie am erfolgreichsten ihre eigene Unwissenheit verbergen konnte. Erst viel später, als die Pilger anfingen zu fragen: »Warum ist er so streng mit uns?« oder »Warum hat er kein Erbarmen, das sein Urteil mildern könnte?« oder »Ist er böse auf uns?« oder »Stören unsere Fragen seinen Auftrag?« — erst dann begann die Dienstmagd des Heiligen Mannes einfach alle Fragen mit »ich weiß nicht« zu beantworten. Zuerst empfand sie diese Antwort als Verrat an ihrer Beschützerhaltung gegenüber dem Heiligen Mann, dann empfand sie es als beschämendes Eingeständnis ihrer eigenen Unwissenheit, am Ende war es ihr gleichgültig, daß dies nichts weiter als die Wahrheit war.
Und jetzt sagte sie sich, daß es den Fragen, die sie von innen her bedrängten, mit der Zeit ebenso ergehen würde, wie denen von außen, sie würden nämlich irrelevant werden — obgleich: diese neuen Fragen schienen weitaus schwieriger beantwortbar zu sein als die Neugier der Welt. Genau wie zuvor reagierte sie mit geheimnisvollem Schweigen. Doch seit kurzem hatte sie angefangen, Antworten zu erfinden ...

Wie können wir, solange MANN gleich menschlich, FRAU jedoch nicht-Mann (und deshalb nicht-menschlich) ist, überhaupt auch nur etwas so vergleichsweise Einfaches erfinden wie Freiheit? Eine so grundsätzliche Aufgabe wie sich-Freiheit-vorstellen würde immerhin die Energie aller lebenden Zellen, die uns allen miteinander zur Verfügung stehen, erfordern — doch mehr als der Hälfte unserer Spezies war es nicht gestattet, sich dieser Aufgabe auch nur zu nähern.
Stellt euch beispielsweise einen Raum vor, der keinen Ausgang zu haben scheint. In diesem Raum sind zwölf Männer. Sieben dieser Männer haben die anderen fünf zunächst einmal — irgendwie — in diesen Raum geführt, doch die Fünf haben vergessen, wie sie dort hineingekommen sind. Jetzt wird es in dem Raum heiß und immer heißer, Rauch kräuselt durch kleine Ritzen in den Wänden. Der Raum scheint keine Türen oder Fenster, kein Oberlicht und keine Falltür zu haben. Den fünf Männern, die später in den Raum kamen, wird klar, daß sie alle verbrennen können. Sie reagieren, indem sie wütend auf die Sieben werden, die sie in diese Situation gebracht haben. Ihre Wut ist so groß, daß sie sich sogar weigern, mit den Sieben über Möglichkeiten dort herauszukommen, zu beratschlagen, obgleich auf der Hand liegt, daß ihre sieben Führer ja offensichtlich wußten, wie man in den Raum hineinkommt, und daher — logischerweise — auch einen Ausgang kennen, versteckt hinter einer Täfelung vielleicht, oder eine Tricktür, die dem von Panik erfüllten Blick entgeht. Vielleicht wissen die Sieben, daß die Wände selbst Illusion sind. Doch die Fünf weigern sich nicht nur, sich mit den Sieben zu beraten, sie wollen auch nicht auf sie hören, als diese versuchen, ihnen durch die immer dichter werdenden Rauchwolken zuzuschreien, daß es einen Ausweg gibt. Mal abgesehen von der Vernunft, von der Frage der Schuldzuweisung, sogar von ihrer wachsenden Angst, — man sollte meinen, die Fünf müßten nun begreifen, daß in dieser so ernsten Situation alle zwölf anwesenden Hirne notwendig sind, um gemeinsam an einer Lösung zu arbeiten. Einem der Fünf könnte der Gedanke kommen, daß, wenn er und seine vier Kollegen mit den Sieben nichts zu tun haben wollen (die ja immerhin das Terrain gut genug kannten, um sie alle dorthin zu bringen), die Sieben vielleicht sogar, voller Abscheu, einen Ausweg ohne die Fünf finden würden — obgleich dies von dem einen-von-fünf vielleicht doch zu viel verlangt ist; das würde nämlich inmitten von Angst ein Quentchen Einsicht, ja sogar Bescheidenheit erfordern, — und Angst ist eigentlich eher eine Brutstätte für dogmatischen Stolz.
Uns (in der Sicherheit außerhalb des brennenden Raums) ist klar, daß die absichtliche Taubheit und der Zorn der Fünf selbstmörderisch ist. Uns ist ebenfalls klar, daß die Sieben entweder irgendwie zu den Fünfen durchdringen und alle retten, oder aber versuchen müssen, sich selbst zu retten, ohne die Fünf. Die dritte Möglichkeit — daß auch die Sieben, auf Anweisung der Fünf, ohne Widerspruch in dem Raum bleiben —, erscheint uns wahnsinnig. Warum in aller Welt sollten sie das tun? Wegen fehlgeleiteter Schuldgefühle, weil sie die Fünf überhaupt erst dahin gebracht haben? Aus Angst vor dem Zorn der Fünf, die so darauf versessen zu sein scheinen, sie für alles verantwortlich zu machen? Aus einer bohrenden Angst, daß sie selbst vielleicht den Ausgang nie kannten oder vergessen haben, wie es die Fünf mit Nachdruck behaupten? Dennoch erinnern sich die Sieben, daß sie die Fünf hierherbrachten, um hier mit ihnen fröhlich zu sein, zu feiern, neue Einsichten zu gewinnen; sie wissen, daß es ein sehr schöner Raum war — wie können sie also glauben, es sei ihre Schuld? Und die Sieben wissen, daß ein Bestehen auf Schuldzuweisungen (worauf die Fünf so versessen scheinen, daß sie sogar ihr Leben dafür riskieren) unbegründet und dumm ist — warum also sollten sie Angst davor haben? Doch das Wichtigste: die Sieben fühlen, daß sie irgendwie — sei es Erinnerung oder Instinkt oder Intuition, oder einfach nur, weil sie den Eingang einstmals kannten — wirklich den Ausgang kennen, den Ausweg wissen, — wie können sie sich also durch mangelndes Vertrauen in ihre eigene Macht lähmen lassen?
Uns (in der Sicherheit außerhalb des brennenden Raumes) scheint die letzte Möglichkeit — die Sieben entscheiden sich dafür, ungehört mit den Fünfen zugrunde zu gehen — die unwahrscheinlichste. Also bleiben nur die Möglichkeiten, daß die Sieben die Fünf davon überzeugen können, sie rechtzeitig anzuhören, oder daß sie ohne die Fünf den Raum verlassen. Oder: die Sieben bemühen sich zu lange, angehört zu werden, und versäumen so, auf sich selbst zu hören.
Natürlich befinden wir uns nicht in Sicherheit außerhalb des brennenden Raums. Wir sind mittendrin, der Raum ist unser Planet, und die Sieben sind die weibliche, größere Hälfte der Spezies, und die Fünf die männliche kleinere Hälfte. Doch ist es zunächst nötig, die Geschichte so zu erzählen, als seien alle handelnden Personen Männer, weil wir dann den echten Wahnsinn unserer gemeinsamen schlimmen Lage deutlicher erkennen. Denn selbst in den achtziger Jahren kann die Wahrheit einer solchen Geschichte, würde sie realistischer mit sieben Frauen und fünf Männern erzählt, noch immer leichter als Gedankenspielerei vom Tisch gewischt werden — das Phantom FRAU behindert die Fabel.
Doch die real existierenden Frauen stellen eine Mehrheit dar. Und die real existierenden Frauen haben bisher die Männer geboren, haben sie in diesem Raum, der die Existenz ist, willkommen geheißen (und sind deshalb oft beschimpft worden). Mehr noch: immer waren es die Frauen, die sich gegen militärische Lösungen und die arrogante Aufopferung von Leben gesträubt haben; es waren Frauen, die quer durch alle kulturellen und altersmäßigen Unterschiede angesichts der Probleme von Hunger, Krankheit, Ausbeutung natürlicher Quellen, Fürsorge für die Jungen und die Alten und die Sterbenden praktische Nächstenliebe geübt haben. Das Klischee in internationalen Kreisen, »wenn es nach den Frauen ginge, hätten wir schon letzte Woche die einseitige Abrüstung durchgeführt«, ist entlarvend. Diese praktische Nächstenliebe hat weder mystische, noch genetische Gründe. Im Gegenteil, das scheint den Frauen eingedrillt worden zu sein, eingedrillt durch einen alles durchdringenden, versteckten globalen Androzentrismus* (*  Männerbezogenheit) ein System, das Frauen als die (machtlosen) Hüter des menschlichen Gewissens braucht. Die Ironie dabei ist, daß wir das auch weiterhin, manchmal sogar zu unserem eigenen Kummer, so praktizieren, vielleicht weil wir auf ambivalente Weise von Liebe besessen sind.
Frauen — die real existierenden, gewöhnlichen Frauen — sehen sich vor einer noch viel schwierigeren Lage als die sieben Männer in dem brennenden Raum. Weil wir nämlich, obgleich wir fühlen, daß wir für uns alle den Ausweg wüßten, den Raum nicht allein verlassen können. Wir können uns nirgendwo hinbewegen, es sei denn, wir tun es alle zusammen. Dies erklärt vielleicht, warum wir seit Jahrhunderten zwischen den Alternativen hin- und herschwanken, einerseits die Männer zu überzeugen, daß wir menschlich (wenn auch nicht-MANN) sind, und andererseits angesichts von Verantwortung, Schuldgefühlen und und Angst, die wir uns haben aufladen lassen, in Schweigen zu verfallen. Der dritte Weg, nämlich ohne sie zu gehen, ist möglicherweise physisch unmöglich, könnte aber vielleicht eine andere Form annehmen: für uns da sein, lernen, zu agieren statt lediglich zu reagieren, die Verantwortung für das Leben auf diesem Planeten übernehmen, ohne die üblichen Schuldgefühle. Dies jedoch dürfte nicht mit FRAU anfangen und noch nicht einmal mit den Frauen.
Es hätte mit einer Frau zu beginnen, mit ihrem eigenen Leben. Das würde sie ganz und gar und über alle Maßen fordern; sie müßte alles Vertraute hinter sich lassen, müßte bereit sein zu glauben, daß sie den Ausweg weiß, und daß das Schicksal allen Lebens von ihr abhängt. Sie müßte bereit sein zu glauben, daß sie in der Lage ist, neue Räume zu schaffen, sogar noch schönere als der, der gerade verbrennt, müßte bereit sein, ihre eigene menschliche Seele zu riskieren, bereit, zu der Tür zu gehen, die man nicht sieht, und bereit, sie aufzureißen.
Mit einer solchen Handlungsweise riskiert sie nicht nur mit Sicherheit die Wut der Fünf, sondern auch Verwirrung, Geschrei, Schuldgefühle, Neid und Angst bei den übrigen Sechs, die möglicherweise in dem Bestreben gehört zu werden, zu lange warten, statt auf sich selbst zu hören. Dennoch riskieren einzelne Frauen heute diese Tat jeden Tag, wissend, daß sie etwas aufs Spiel setzen müssen, um alles zu gewinnen — und dies in jeder Hinsicht.

»Wie bin ich überhaupt hierher gekommen?« fragte sich die Dienstmagd des Heiligen Mannes. »Habe ich mir das freiwillig ausgesucht, oder wurde ich irgendwie ausgewählt? Und wenn nun — wie manche Dorfbewohner raunen — der Heilige Mann gar kein heiliger Mann ist? Habe ich mein Leben in seinem Dienst vergeudet? Oder ist selbstloser Dienst, auch für einen Unwürdigen, an sich eine Form der Freiheit? Vielleicht gerade, wenn er an einem Unwürdigen geschieht? Wenn er meine Dienste annimmt, ohne sie je anzuerkennen, — ist das eine Prüfung meiner Hingabe? Verfehle ich meine Hingabe schon damit, daß ich meine Aufgabe und seine Berufung in Frage stelle? Besteht wahre Tugend nicht gerade angesichts von Verachtung und Schweigen fort? Heißt das dann, daß ich den Heiligen Mann als Instrument meiner Tugendhaftigkeit benutze, während ich mir die ganze Zeit eingeredet habe, ich wollte ihm zu seiner Seligkeit verhelfen? Warum bin ich erst jetzt mit meinem. Leben unzufrieden: ist das nicht verdächtig? Habe ich mir vielleicht insgeheim gewünscht, er solle ein erfolgreicher heiliger Mann sein — verehrt und geliebt, mit Scharen von Pilgern von nah und fern, die ich stolz den Bergpfad hinauf zu seinen Füßen führen könnte? Habe ich gedacht, er würde mir für diesen Dienst zulächeln? Hat er meine Dienste jemals wirklich gebraucht? Wenn nicht, wieso habe ich das dann geglaubt?«
Diese und viele andere Fragen bewegten die Dienstmagd des Heiligen Mannes. Und sie entdeckte, daß sie auf alle eine Antwort erfinden konnte, so wie damals bei den Pilgern. Und wie damals merkte sie, daß sie für die gleiche Frage oft verschiedene Antworten hatte, und daß die Antworten selbst wieder neue Fragen hervorriefen. Die vielen Fragen machten sie ganz benommen. Sie gingen ihr ständig im Kopf herum-, sogar wenn sie in dem Nest, das sie sich einen Abhang unter der Hütte des Heiligen Mannes gemacht hatte, schlief, träumte sie immer mehr Fragen. Tagsüber, wenn sie ihre Runde durch die Dörfer machte, bewegte sie sich wie in einem heimlichen summenden Schwärm von Fragen, was schließlich so weit ging, daß sie vergaß, Pilger zu werben.
Einige der Dorfbewohner dachten, sie sei verrückt geworden. Andere waren überzeugt, sie befände sich in einem entrückten, mystischen Zustand, den sie durch ihr jahrelanges enges Zusammenleben mit dem Heiligen Mann erreicht hätte. Aber da sie nie irgend jemandem etwas zuleide getan und somit den Dörflern keinen Anlaß gegeben hatte, sich vor ihrem neuen Zustand zu ängstigen, wandten sie nur die Augen von ihrem abwesenden Blick ab, füllten die Bettelschale des Heiligen Mannes und ließen sie in Ruhe.
Sie wartete auf das dritte Stadium: wenn sie endlich in der Lage sein würde, alle ihre Fragen einfach mit »ich weiß nicht« zu beantworten, — und damit von ihnen befreit wäre. Das war damals so gewesen, warum sollte es jetzt nicht wieder so sein? Ein Jahr verging und noch eins. Immer noch machte sie ihre Runden und wartete. Doch jetzt wurden ihre Fragen zur Besessenheit, denn sie wußte noch immer keine richtigen Antworten, war überdrüssig, welche zu erfinden und konnte doch ihre Unwissenheit nicht akzeptieren.
…Eines Tages, viel erschöpfter als sie es gewöhnlich nach ihren Runden durch die Dörfer war, trug sie die Schale (jeden Tag schien sie schwerer zu werden!) den gewundenen Pfad zu dem Felsvorsprung hinauf, auf dem der Heilige Mann saß, — seine Haare wehten im Wind und seine Lippen bewegten sich langsam Sie war an diesem Tag in fünf Dörfern gewesen und hatte viele Meilen zurückgelegt, doch nicht mehr als sonst auch. Durch das unablässige Dröhnen ihrer Fragen (»Wie bin ich überhaupt hierhergekommen? Warum bin ich unzufrieden? Ist er ein Heiliger Mann? Wer bin ich denn, daß ich das überhaupt frage? Hat er mich je gebraucht? Oder brauche ich etwas, das ich für heilig halte, damit ich dienen kann? Warum bin ich nicht heilig? Warum frage ich?«), drang eine vage Erinnerung: Waren die Dorfbewohner heute nicht besonders freundlich und geduldig mit ihr gewesen? Und als sie den Felsvorsprung des alten Mannes er-' reichte, schob sich ein Gedanke durch das Dröhnen ihrer Fraven (»Warum sieht er meine Verzweiflung nicht? Warum kann er meine Fragen nicht beantworten, er wäre doch der einzige, der das könnte? Warum kann nicht ich ihn fragen?«), —der Gedanke daß er — da die Dorfbewohner so freundlich gewesen waren und die Schale so schwer war — heute ein ganz besonders gutes Mahl haben würde — nicht, daß ihn solche weltlichen Dinge interessierten. Die Dienstmagd des Heiligen Mannes bückte sich, um die Schale zu seinen Füßen niederzusetzen. Und da sah sie zu ihrem Entsetzen, daß die Schale leer war.
Im gleichen Augenblick wußte sie, dies lag nicht daran, daß die freundlichen Dorfbewohner die Schüssel nicht gefüllt hätten. Und plötzlich lösten sich ihre Fragen auf, als sei ein Vorhang zerrissen. Sie sah in ersten Umrissen die Ursache und Entsetzen erfüllte sie bei dieser Vision und heilige Furcht, als hätte sie das unverhüllte Gesicht eines Gottes gesehen-, die Dienstmagd des Heiligen Mannes hatte an diesem Tag zu betteln vergessen

Heute, Mitte der achtziger Jahre, trennen uns weniger als zwei Dekaden vom einundzwanzigsten Jahrhundert. Wir wissen nicht ob dann noch organisches Leben, ob überhaupt noch Leben auf unserem Planeten existieren wird, um das Jahr 2000 zu begrüßen. Das einzige, dessen wir uns wirklich sicher sind, ist unsere Fähigkeit, eine Situation herzustellen, in der es bestimmt nicht so lange existieren wird.
Unsere Spezies erreicht mit ihrer Überbevölkerung die kritische Masse. Unsere Seen, Ströme, Flüsse, sogar Ozeane sind durch Industrievergiftung, chemische und nukleare Abfälle, Ölverschmutzung zu Kloaken geworden. Ganze Fisch-, Vogel-, Tier- und Pflanzenarten sind ausgerottet oder stehen kurz vor der Ausrottung. Große Teile Asiens und Afrikas befinden sich im Würgegriff des Hungers. Die Beulenpest, von der die Weltgesundheitsorganisation meinte, sie stelle keine Gefahr mehr dar, kommt zurück; hauptsächlich in Asien, doch auch in den USA wurden Fälle festgestellt.* (* Laut der Zentralstelle für Seuchenkontrolle in Atlanta, USA, erkrankten im Jahre 1980 achtzehn Amerikaner an der Pest, fünf davon starben.) Die Lepra nimmt wieder zu. Kriege sind so alltäglich geworden, daß man sie nicht einmal immer als solche bezeichnet; was sind schon »Kriege« im Mittleren Osten, in Afrika, in Südamerika, in Irland, auf den Inseln im Pazifik, verglichen mit einem Dritten Weltkrieg oder einem Nuklearkrieg? (Die anderen nennt man jetzt »Grenzkonflikte«, »Revolutionäre Aufstände«, »Verteidigungsangriffe«, oder gar »offensive Verteidigungsangriffe«, »Stammesfehden«, »Schutzinvasionen«, »Befriedungsaktionen« oder »Polizeiaktionen«). Der Rüstungswettlauf zwischen den Supermächten wird mit jedem Jahr intensiver, die Waffen werden »intelligenter«, ihre Aufstellung wird immer zynischer, die mögliche Zerstörung immer drastischer, die Kontrolle gerät immer mehr außer Kontrolle. Der religiöse Fundamentalismus — der im Verlaufe der Geschichte stets in Augenblicken der Krise mit virulentem Fanatismus wieder auferstand — verkündet seinen Trost vor Menschen, deren tägliches Leben inzwischen so von Furcht erfüllt ist, daß die Verleugnung der Gegenwart, die Verdammung des Fleisches und das Versprechen eines Lebens nach dem Tode einen willkommenen Ausweg bieten. In Gestalt von Jehovas Zeugen beschwört er voller Begeisterung Armageddon herauf. In Gestalt der Fundamentalisten des Islam verlangt er steinigen, köpfen, auspeitschen und eine zum Tode führende selbstmörderische Militanz — und danach die Gewißheit des Paradieses. Als christlicher Fundamentalismus ruft er die moralische Mehrheit ins Leben — die weder moralisch, noch eine Mehrheit ist. Diese Gruppe, voll Hurra-Patriotismus und Nostalgie nach einer Vergangenheit, die es niemals gab, zeigt Ehrfurcht vor dem Leben nur in seiner zellulären Form. Für alle anderen Formen unterstützt sie die Forderung nach körperlicher Züchtigung und der Todesstrafe; bis es so weit ist, gelten ihre Angriffe dem Leben in seiner weiblichen Gestalt (und in der nichtweißen, der armen, der jüdischen, der »ausländischen« Gestalt, und der sexueller Vorlieben, die sich von denen der Angreifer vielleicht unterscheiden). Dieser Fundamentalismus kritisiert Demokratie, Frieden und genau jene »Freiheiten« (Rede-, Versammlungs-, Presse-, Religions- etc. -Freiheit), die er zu verteidigen vorgibt.
In den Vereinigten Staaten, heute reichste Supermacht der Welt, kam die Ultrarechte und die »moralische Mehrheit« durch eine Wahl ans Ruder, an der mehr als die Hälfte der wahlbeteiligten Bevölkerung nicht teilnahm — sie war von der Macht des Stimmzettels so enttäuscht, daß sie ihr Recht nicht mehr ausüben wollte. Jede Meinungsbefragung zeigt, daß die Mehrheit der US-Bevölkerung — Männer wie Frauen — das, was man »Frauenfragen« nennt (Gebärfreiheit, Rechte im Bereich der Sozialhilfe, Frieden, Umweltfragen, Freiheit in der Wahl der Geschlechtspartner, wirtschaftliche Gleichstellung, Gleichstellung in der Ausbildung etc.), nach wie vor entschieden unterstützt. Dennoch spricht die Minorität, die tatsächlich gewählt hat und nun die Regierung kontrolliert, von »einer Wende des ganzen Landes nach rechts«, — Wunschdenken, um es freundlich auszudrücken.
Jeder Handstreich der Rechten braucht einen Sündenbock. In den fünfziger Jahren war Der Feind der Kommunismus. Diesmal (vielleicht weil sich die Supermächte zu ähneln beginnen und miteinander verbünden?) wurde die Frauenbewegung als Der Feind ausgemacht, »Feminismus«, Frauen.[2] (Immerhin sind wir wirklich die größere Gefahr für den Status Quo.) Diesmal spielten die rechten Kräfte mit den tiefsten Ängsten: Fortpflanzung, Sexualität, Familie, menschliche Beziehungen, die Art, wie Frauen die Luft aus der aufgeblasenen Gummipuppe FRAU herausließen.
Die Linke, die die Frauen und die Frauenbewegung zuerst ignorierte, dann zu vereinnahmen versuchte, und (als das nicht gelang) wieder ignorierte, schlug auf ihre eigene Weise zurück; wenn das Zimmer brennt, dann muß es einen Schuldigen geben. Das Argument der »vorrangigen Prioritäten« wurde wieder ins Spiel gebracht: da es den Krieg in Vietnam als geeignete Priorität nicht mehr gab, mußten nun die Fragen der Ökologie und der Kernkraft von den Männern okkupiert werden — und an erster Stelle kommen. Das altbekannte Argument der »Revolution«, wie MANN es definiert, erstrahlte im neuen Glanz-, FRAU war zum Mitmachen eingeladen, doch den Frauen war die Tür verschlossen (»Wie können die schon wissen, wie man aus einem brennenden Zimmer herauskommt?«). FRAU beispielsweise war nicht so dumm, Pornographie als Propaganda zu entlarven und auf eine Stufe mit antisemitischen Traktaten oder den Ku-Klux-Klan-Broschüren zu stellen, Frauen hingegen — diese prüden Weibsbilder — waren nicht davon abzubringen, hier eine Verbindung zu sehen.
Die Mitte rang die Hände, schaute geschmerzt, zuckte die Achseln und tat so, als röche sie den Rauch nicht.
Ein solcher Rückschlag ist jedoch, aus historischer Perspektive gesehen, in bestimmter Hinsicht unvermeidbar; er ist fast ein Kompliment, wenn wir auch sehr gut darauf verzichten könnten. Er bedeutet nämlich, daß unser Schreien durch den Rauch hindurch gehört wurde, daß wir Frauen laut genug waren, als Gefahr angesehen zu werden, daß wir stark genug waren, eine Wende im Bewußtsein jener (wahlabstinenten) Mehrheit zu bewirken, daß wir die richtigen Fragen stellten. Das heißt, daß Frauen, nachdem sie FRAU durchschaut hatten, nun MANN durchschauten und die Männer herausforderten, es ihnen nachzutun. Das heißt, daß Frauen nun wissen wollten, was eigentlich mit Freiheit gemeint ist.
Die meisten Frauen — und das war das Unverzeihlichste dabei — waren nicht zufrieden mit dem, was wir auf unsere Fragen zu hören bekamen. Wir waren noch nicht einmal mit unseren eigenen, erfundenen Antworten zufrieden. Frauen legten in höchst bedauerlicher Weise Zeichen von MÄNNlichkeit an den Tag — Kraft, Energie, Intellekt, Durchsetzungsvermögen, Mut, Neugierde, Risikobereitschaft, Idealismus, Phantasie, Erfindungskraft, Spontaneität, — und bestanden darauf, daß diese Zeichen zur Kenntnis genommen würden. Frauen verhielten sich nicht mehr, als seien wir nicht-MANN, sondern als seien wir menschlich.
Frauen hatten vergessen zu betteln.

Die Dienstmagd des Heiligen Mannes erhob sich von den Knien. Sie stand Angesicht zu Angesicht mit dem Heiligen Mann, der an ihr vorbei auf die fernen Berggipfel starrte. Da stand sie — und während der Wind beide umtoste, begann sie ihn zu fragen. Wie im Traum und dennoch wacher als sie sich je gefühlt hatte,
hörte sie ihre Stimme in aller Ruhe eine Frage nach der anderen stellen. Sie zog jede einzelne unter großen Schmerzen aus ihrem Inneren hervor und legte sie, wie eine Opfergabe, zu seinen Füßen nieder. Die Lippen des heiligen Mannes hörten auf sich zu bewegen.
Ihr schien, als verharrten sie schon so seit aller Ewigkeit, umbraust vom Wind, ihre Fragen, eine nach der anderen, wie Feuerblumen in die Leere seines Schweigens fallend, ihre Augen auf ihn, seine Augen in die Ferne gerichtet. Dann hatte sie keine Fragen mehr, doch sie wartete immer noch.
Ihr war, als warte sie bis zum Tode, und würde dann wiedergeboren, lebte, wuchs auf, wurde alt und älter, starb wieder, wurde wieder geboren und starb wiederum-, tausendmal tausend Leben, so schien es der Dienstmagd des Heiligen Mannes, lebte sie — und starb jedesmal — während sie darauf wartete, daß seine Antwort sie durch sein Schweigen hindurch erreichte. Aber es kam keine Antwort von ihm.
Wieder bückte sie sich, kaum wissend, was sie tat, und schob sanft die Bettelschale, die sie immer mit sich herumgetragen hatte, von der aber alle zu wissen schienen, daß sie ihm gehörte, ein bißchen näher zu ihm hin, mit einer bedauernden Geste, die zu sagen schien, daß er die Schale von nun an brauchen würde. Sie sah, wie eine Träne in glitzernder Bahn in der bauchigen Wölbung der hölzernen Bettelschale herabrann und gleich einem Auge oder Diamanten auf dem Grund liegenblieb. Da merkte sie voller Staunen, daß sie geweint hatte.
Sie richtete sich wieder auf, blickte in die Ferne hinaus, dorthin, wohin er starrte, und ihre ganze Seele folgte ihren Augen, als sie versuchte zu sehen, was er sah. Aber da waren nur die fernen Nebelwolken um die schneebedeckten Gipfel. Die Dienstmagd des Heiligen Mannes drehte sich um, sah ihn noch einmal an und lächelte durch ihre Tränen voller Vergebung und Liebe, umfassender und zärtlicher als sie es je von sich erwartet hätte.
Dann wendete sie sich um und ging langsam den gewundenen Bergpfad hinab ...

Mögen sich auch bei jeder Frau die Fragen anders stellen, das Thema ist überall auf diesem hübschen kleinen Planeten bemerkenswert gleich. Sind auch Szenerie und Kostüme und Sprachen verschieden, die Handlung des Stücks verläuft überall in ermüdender Gleichförmigkeit — und so improvisieren Frauen überalneue Stücke und frische Dialoge, die weit interessanter sind, als das sattsam bekannte Thema FRAU.
Jede der bei uns in den USA gestellten Fragen finden wir auch international: Gebärfreiheit, — das menschliche Grundrecht, eine Schwangerschaft in eigener Entscheidung zu beginnen oder zu beenden, und dafür eine sichere, anständige Technologie zur Verfügung zu haben; ökonomische Gleichheit — gleiche Bezahlung für gleiche oder vergleichbare Arbeit; Schluß mit Vergewaltigung und Prügeln, mit sexuellem Mißbrauch von Kindern und sexueller Belästigung im Beruf oder auf der Straße oder in der Universität; das menschliche Grundrecht der Freiheit in der Wahl der Sexualpartner; das Recht auf gleiche Ausbildung; das Recht auf Mitwirkung in der Politik; das Recht auf sichere, menschliche Gesundheitsfürsorge; das Recht auf von der Regierung finanzierte, aber in der Verantwortung der Kommunen stehende Zentren für Kinderbetreuung (damit würde sich das Interesse des Staates an der nächsten Generation und seine Verpflichtung ihr gegenüber konkret darstellen); das Menschenrecht auf Beendigung der gegen Hautfarbe oder Geschlechtsteile oder rassische Herkunft oder Alter, oder Glauben oder körperliche Fähigkeit gerichteten Heuchelei; das Recht, gleichberechtigt an der Spielfreude auf künstlerischem oder sportlichem Gebiet teilzuhaben; das Recht, die verborgene Geschichte der Frauen oder anderer unsichtbarer Menschengruppen zu lernen und zu lehren, und nicht nur Geschichte aus der Sicht der Eroberer; das Recht, sich von dem Frauenhaß, der sich in der Pornographie, der organisierten Religion und in »örtlichen Bräuchen« zeigt, zu befreien; das Recht, kreativ an den Wissenschaften, den politischen Institutionen, den Medien und allen anderen Formen von Gesellschaft teilzunehmen.
Die Liste dieser internationalen Prioritäten kann mit einer Fülle weit dramatischerer Fragen ergänzt werden: die tatsächliche Versklavung — die direkten Eigentumsrechte an einem anderen Menschen — meist einer Frau oder eines Kindes zu körperlicher Arbeit; der immer noch bestehende, und sogar wachsende Handel mit Frauen und Kindern, speziell zur sexuellen Versklavung;[3] die »Mitgiftmörder«, gegen die indische Frauen zu Felde ziehen;[4] die sogenannten Kavaliersdelikte (wo ein Mann seine Frau töten darf und der Staat keine Strafverfolgung vornimmt), gegen die lateinamerikanische Frauen demonstriert haben;[5] das internationale Verbrechen der Genitalverstümmelung - Klitoridektomie und Infibulation — die es in Europa und den beiden Amerikas, wie auf dem afrikanischen Kontinent und auf der arabischen Halbinsel gab und gibt, und gegen die Frauen revoltierend ihre Stimme erheben;[6] die Allgegenwart multinationaler Konzerne, die die natürlichen und menschlichen Ressourcen dieser Erde bis zur Erschöpfung ausbeuten — wogegen Frauen streiken, Sabotage verüben, sich organisieren;[7] das stürmische Anwachsen der Flüchtlinge in aller Welt — fast ausschließlich Frauen und Kinder, die vor Krieg und Hungertod fliehen — wogegen Frauen ihre Anklage hinausschreien;[8] die Grundfrage des Analphabetentums, bei der Frauen verlangen, daß wir, die wir 58 % der Analphabeten der Welt stellen,[9] Zugang zur Macht des geschriebenen Wortes bekommen.
Dies sind keine »neuen Probleme« — und es ist auch nicht zum ersten Mal im Verlauf der uns bekannten Geschichte, daß Frauen gegen diese unsere  Lebensbedingungen  aufgestanden sind. Das tatsächlich Neue daran zeigt sich an vier Punkten: Niemals zuvor geschah Unterdrückung mit Hilfe einer so ausgefeilten Technologie. Niemals zuvor sind Frauen so schamlos als Blitzableiter für die Unfähigkeit von MANN, mit Männern in einer planetarischen Krise zusammenzuarbeiten, benutzt worden. Niemals zuvor waren Frauen in der Lage, so schnell auf globaler Ebene miteinander in Verbindung zu treten (dank der gleichen hochentwickelten Technologie). Und niemals zuvor waren Männer in diesem Ausmaß, wie es jetzt durch eben diese Kommunikation  unter  Frauen  geschieht,  gezwungen,  das,  was MANN überall angerichtet hat, zur Kenntnis zu nehmen. In seinem offiziellen Bericht an die Kommission der Vereinten Nationen zur Situation der Frauen sagte UN-Generalsekretär Kurt Waldheim: »Frauen stellen die Hälfte der Weltbevölkerung und ein Drittel der Arbeitskräfte, beziehen aber nur ein Zehntel des Welteinkommens und besitzen weniger als 1% des Weltbesitzes. Und sie leisten zwei Drittel aller Arbeitsstunden.«[10] Dies war eine typisch diplomatische Untertreibung, und doch wäre es noch nicht einmal zu dieser Äußerung gekommen, hätten nicht die Bemühungen von Tausenden von Frauen diesem Minimum an Bewußtsein zur Existenz verholfen. Erst wenn das, was eigentlich überhaupt niemandem zugemutet werden sollte, für diejenigen, denen es zugemutet wurde, unerträglich wird, werden diejenigen, denen dies alles nie zugemutet wurde, gezwungen, die Existenz dieser von ihnen selbst geschaffenen Belastung überhaupt zur Kenntnis zu nehmen und einzugestehen.
Und dann bekommen wir endlich Antworten aus dem Schweigen heraus — und die übertreffen an Grausamkeit alles, was Frauen in den sogenannten entwickelten Ländern bisher erlebten, übertreffen Hohn und Spott, Tränengas werfen, Schlagen, Vergewaltigen, Schießen, Prozesse um Sorgerecht, Scheidungen und Verlassenwerden, Falschdarstellungen in den Medien und Gefängnisaufenthalte. Jetzt bekommen wir Antworten als Vergeltung dafür, daß wir es wagten, Frauen statt FRAU zu sein. Auf globaler Ebene sind die Gegenschläge offen, schnell, total und verheerend: Zum Schweigen bringen, Zensur, Gefangenschaft, Exil im eigenen Lande, öffentliche Auspeitschungen, wiederholte Verhöre, Ausweisung, Kidnapping, Folter, Mord, öffentliche Hinrichtungen.* (

  • *  Politischer Meuchelmord: Aleida Foppa, Radikale und Feministin,  Guatemala 1979. Versuchter Meuchelmord: die Lybierin Farida Allaghi, feministische Soziologin, und ihr Ehemann Faisal Zallagai, Demokrat und Soziologe, in Fort Collins/Colo-rado, durch einen amerikanischen Ex-Soldaten der Green Berets mit Verbindung zu Oberst Khadafi, 1980. Zwangsexil, Einzug der Staatsangehörigkeitspapiere  Tatjana Mamonowa, Tatjana Goritschewa, Natalja Malakowskaja und Julja Woszezenskaja, wegen »feministischer Subversion« 1980 aus der UdSSR ausgewiesen. Verhöre, Verhaftung und schließlich Ausweisung: Motlalepula Chabaku, als »verdächtige Person«, Südafrika 1970 - 1980, und Susanne Körösi, wegen Aktivitäten für Gebärfreiheit, Ungarn 1973. Öffentliche Hinrichtung: Prinzessin Misha, wegen heimlicher Heirat in eigener Wahl, 1979 — und zahllose namenlose Frauen wegen angeblicher Vergehen der »Unkeuschheit«, des »Ehebruch's«, des »Aufruhrs« in Saudi Arabien. Öffentliche Auspeitschungen: zahllose und namenlose Frauen für die angebliche Sünde der »Perversion«, »Prostitution«, des »Ausschenkens oder Trinkens alkoholischer Getränke«, des »Ehebruchs« im Iran 1979 - 1982. Gefängnis: Nawal El Saadawi unter der Anklage mit ihren Büchern und Vorträgen über Frauen »zu öffentlicher Unruhe beizutragen«, Ägypten 1980; Maria Isabel Berreno, Maria Teresa Horta und Maria Velho da Costa (die sogenannten drei Marias), weil sie gemeinsam das Buch »Neue portugiesische Briefe« über die Leiden, Sehnsüchte und die Wut der Frauen geschrieben haben, Portugal 1972. Inneres Exil: Natalja Lazarewa wegen »aufwieglerischer Aktivitäten in Frauenfragen«, Malwa Landa und Tatjana Ossipowa wegen »hochverräterischem Verhalten«, Irina Griwnina, weil sie den Mißbrauch psychiatrischer Behandlung an Frauen untersucht hatte; Natalja Lesnischenka, weil sie Frauen in der Freien-Gewerkschafts-Bewegung organisierte. Sowjetunion, Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre. Diplomatisches »Zum Schweigen Bringen«: Marylin Warin, Parlamentsmitglied — wurde von der Sprecherliste des Parlaments gestrichen, nachdem sie die Beziehungen ihres Landes mit der Republik Südafrika angeprangert hatte. Neuseeland, 1980; Koryne Horbal, Mitglied der Delegation der Vereinigten Staaten bei der UN-Frauenkonferenz 1980 in Kopenhagen, die sie als Vertreterin der Vereinigten Staaten in der UNO-Kommission zur Situation der Frau mitkonzipiert und organisiert hatte — ihr wurde jeder Zugang zur Presse verweigert, weil sie die »Sünde« begangen hatte, die Frauenpolitik der damaligen Carter-Administration zu kritisieren. Dies sind nur einige Beispiele.)

Und dennoch sind Frauen in Bewegung, ziehen hinaus in die Welt, lassen FRAU hinter sich, die mit leerem Blick auf all ihre Wiegen, Küchen, Kirchen und Gräber starrt.
In den Niederlanden streiken wir für das Recht auf Abtreibung. In den UdSSR geben wir die feministische Untergrundzeitung »Almanach von Frauen für Frauen« heraus. Im Senegal und Kuwait organisieren wir panafrikanische Frauenkonferenzen. In Libyen, Südafrika, Chile, der DDR und Haiti treffen wir uns in Privathäusern und dürfen voneinander nur die Vornamen wissen. In Afghanistan — in der Klemme zwischen einer nationalen Befreiungsfront mit der fundamentalistisch-religiösen Einstellung, daß wir niemals öffentlich reden dürfen, und einem fremden Invasoren, der auf zynische Weise die »Frauenfrage« benutzt, um unsere ethnische Autonomie zu zermalmen — treffen wir uns auch im Untergrund. In Portugal, Israel, Indien, Sri Lanka, Großbritannien, Norwegen, Island - jedes Jahr werden es mehr Länder — kandidieren wir für das höchste Amt im Staate — und werden zu Premierministern gewählt.
Ja, wir bewegen uns, mehr als die Hälfte der Menschheit - und endlich bewegen wir uns auch gemeinsam.

Die Dorfbewohner waren erstaunt, als sie die Dienstmagd des Heiligen Mannes abends den Bergpfad herunterkommen sahen-sie waren daran gewöhnt, sie immer pünktlich zu einer viel früheren Stunde zu sehen. Sie schauten ihr nach, ah sie durch die Dörfer ging, und einige fragten sich, ob der feuchte Schimmer auf ihrem Gesicht etwa Tränen seien oder nur ein Niederschlag des Abendnebels — denn man hatte sie noch nie weinen gesehen. Sie jedoch ging schneller und schneller und ihr Gesicht verschwamm im blauen Abendlicht. In jedem Dorf, durch das sie kam, glaubte man, sie sei auf dem Weg zum Nachbarort, und erst nach ein paar Tagen wurde allen in der Gegend klar, daß sie nirgends Halt gemacht hatte. Die Dienstmagd des Heiligen Mannes war verschwunden.
Alle dachten natürlich gleich an den Heiligen Mann. Da er nicht selbst mit seiner Bettelschale heruntergekommen war mußte er dort oben auf dem Felsvorsprung am Verhungern sein Schnell bildete sich eine Delegation von Dorfbewohnern, deren Selbstgerechtigkeit nur um ein Weniges größer war, als ihre Bequemlichkeit. Sie erklommen den steilen Pfad, beladen mit Körben voll Nahrungsmitteln und voller Empörung, daß die Dienstmagd des Heiligen Mannes ihren Posten verlassen und sie damit zu diesem Akt der Nächstenliebe gezwungen hatte. Eine Undankbare sei sie, so versicherten sie sich gegenseitig; nicht nur ihren Herrn habe sie betrogen, sondern auch alle die, durch deren Großzügigkeit allein sie ihm jahrelang immer die gefüllte Schüssel hätte bringen können. Ein Dummkopf sei sie, so versicherten sie sich gegenseitig, nie hätte sie die Lehren des heiligen Mannes so würdigen können, wie sie selbst das getan hätten. Eine verlorene Seele sei sie, für immer der Sünde und Verdammnis anheimgefallen, denn offensichtlich hatte sie die weltlichen Freuden gesucht, als sie von dem zur Erlösung führenden Pfad aufopfernden Dienstes abwich. Verrückt sei sie geworden, denn nur eine Verrückte könnte versuchen, der Welt die Stirn zu bieten, nachdem sie ein so behütetes Leben geführt hatte. In den Wäldern hinter den Dörfern lebten wilde Tiere, die hatten sie sicher längst verschlungen.  Und wenn sie doch irgendwie dem Tod entgangen war, so würde sie ein noch demütigenderes, ein schändliches Ende erwarten. Einige Mitglieder der Abordnung fragten sich zwar im Stillen, was sie wohl davongetrieben haben könnte — doch die Tradition der Verehrung eines Heiligen Mannes (selbst eines heiligen Mannes, den man seit Jahren nicht besucht oder gesehen hatte), die Tradition der Verehrung der Idee eines heiligen Mannes war so stark und so altehrwürdig, daß diejenigen, die für einen Moment Sympathie oder auch nur Neugier für die Motive der Dienstmagd hatten, derartige ketzerische Gedanken sofort unterdrückten.
Als sich die Delegation der Dorfbewohner jedoch dem Berggipfel näherte, gefror ihr Geschnatter zu Schweigen. Jedem fiel jetzt ein, wie wenig sie alle, jeder einzelne von ihnen, wirklich von dem Heiligen Mann wußten. Diejenigen, die vor so langer Zeit zu ihm hinauf gepilgert waren, erinnerten sich daran, wie streng seine Aussprüche und wie entrückt seine Stimme war, wie er nie einen Fragesteller wirklich angeschaut, sondern seinen Blick auf die fernen Berggipfel gerichtet hatte. Diejenigen, die niemals zu ihm hinaufgezogen waren, erinnerten sich desto deutlicher an die Geschichten, die sie über jene Pilger gehört hatten, die voller Zerknirschung vom Berg zurückgekehrt waren; wie hoffnungslos weltlich hatten sie gelebt, wie schmutzig, dumm und ohne jede Vision — und wie diese zurückgekehrten Pilger dann wochenlang vor ihren ärmlichen Hütten gesessen und in die Ferne gestarrt hatten, so wie es ihr Lehrer zu tun schien, bis sie entdeckten, daß die anderen um sie herum noch immer lebten, lachten, liebten und um das Feuer saßen und miteinander aßen. Dann wurde ihnen die größere Einsicht zuteil, daß diese Nachbarn ebenso weltlich, schmutzig, dumm und ohne Visionen waren wie sie selbst, doch dazu noch nicht einmal die Fähigkeit hatten, das zu erkennen. Und so gelang den zurückgekehrten Pilgern das Wunder einer Verachtung für andere, die noch größer war als die Verachtung, die man sie für sich selbst zu empfinden gelehrt hatte — und jene Verachtung gab ihnen die Kraft, wieder zu leben, zu lachen, zu lieben und mit den anderen ums Feuer zu sitzen und zu essen, und alles zu vergessen bis auf eines-, daß sie nie wieder auf den Berg steigen wollten.
Schließlich kam die Abordnung — mit schmerzenden Rücken-und Beinmuskeln und voller dunkler Vorgefühle — um die letzte Wegbiegung, und sie blickten auf den vor ihnen liegenden Felsvorsprung. Latten des zerfallenen Schuppens flatterten im leichten Morgenwind wie ein einsamer, vielarmiger Gott, der seinen Anhängern winkt. Aber es gab keinen Heiligen Mann, da war überhaupt niemand. Da stand nur eine Bettelschale: stand leer auf dem Felsvorsprung, wie ein Zeichen, eine Rune, eine Inschrift, daß es hier einst eine Dienstmagd gegeben hatte-, eine Botschaft, daß einst jemand gegeben und jemand genommen hatte, jemand hatte gebettelt und jemand hatte nicht gebettelt. Jemand hatte gedient und jemand war ernährt worden — und alles, was übrig blieb, war Leere.

Frauen sind immer tugendhaft gewesen, jedoch nicht nach unseren eigenen Maßstäben von Tugend. Jetzt ist es an der Zeit, daß wir weniger »tugendhaft«* (*  Unübersetzbares Wortspiel: tugendhaft ist engl, »virtuos«, A. d. 0. und stattdessen virtuoser werden — daß unsere Taktiken mannigfaltiger, unsere Fähigkeiten zupackender, unser Engagement ausdauernder wird. Vor fünfzehn Jahren begann die heutige Welle des Feminismus, sie hat ihre eigene innere Geschichte und auch ihren Platz in einem historischen Kontext. So ist es zum Beispiel eine beträchtliche Untertreibung (und ein ethnozentrischer Irrtum), wenn wir diese Welle manchmal die »zweite Welle« nannten und die Suffragetten-Bewegung des 19. Jahrhunderts — nicht nur in den USA, sondern auch in einigen anderen Ländern — als erste Welle bezeichneten. In Wahrheit hat es jedoch, solange es Unterdrückung gibt, auch immer Rebellion gegeben - von denen wir zwangsläufigerweise weniger erfahren, da diejenigen, die die Macht gewinnen oder innehaben, meist auch diejenigen sind, die die Geschichtsbücher schreiben. Dennoch ist es uns gelungen, einige vergrabene historische Tatsachen ans Licht zu bringen.
Wir wissen zum Beispiel, daß weder Nat Turner, noch Harriet Tubman[11] »ein glückliches Landleben auf der Plantage« führten, — die gleiche Unzufriedenheit findet sich bei den Schwestern Chuong im Vietnam des 17. Jahrhunderts, der Beginen-Bewegung im Frankreich und Spanien des Mittelalters, den türkischen Haremsrevolten im 12. Jahrhundert, und den neun Millionen Frauen, die nach Ende des Mittelalters innerhalb von 300 Jahren als Ketzerinnen verbrannt wurden. Der Höhepunkt dieser Verfolgungen — in Quantität und Intensität — lag in jener Periode, die MANN feierlich die Renaissance nennt. Wenn wir noch ein wenig weiter schauen, dann sehen wir die Spuren von einzelnen Rebellinnen: Eleonore von Aquitanien, Christine de Pisan, La Malinque, Aspasia, Boadicea, Theodora, Hatsepshut, Mary' Wollstonecraft und anderen. Wenn wir tiefer schauen, dann finden wir die am längsten vergrabenen Spuren in den Mythen an denen wir die Vorgeschichte ablesen können: die Amazonen (hellenische, dahomeyanische, lybische und brasilianische) und die weiblichen Gottheiten, die dem Ursprung jeder Religion zugrundeliegen, die Sidh, die Shekinah. Wenn wir für die jetzige Welle der Frauenrebellion unbedingt ein Köchelverzeichnis anlegen müßten, dann kämen wir der Wahrheit näher, wenn wir sie »die dreimilliardste Welle« nennen würden.
Doch die wievielte auch immer, es ist die unsere, jetzt, hier, zu unseren Lebzeiten. Am Anfang konnten wir es uns (vielleicht) noch leisten, uns auf gewissen Gebieten zu spezialisieren. Einige Frauen spezialisierten sich in »Konfrontations-Taktiken« - Demonstrationen, Gebäudebesetzungen, Gewalt gegen Dinge (nicht gegen Menschen) und Straßenaktionen - während sich andere auf Gesetzesreformen konzentrierten, darauf, einen Wählerblock von Frauen zu schaffen und Frauen in die qualifizierten akademischen Berufe und die Politik zu bekommen. Eine Zeitlang konnten wir uns (bedauerlicherweise) sogar den fragwürdigen Luxus leisten, auf diejenigen, die eine andere Taktik als wir verfolgten, herabzusehen: Mit Befremden betrachteten die sogenannten Straßenkämpferinnen die Frauen, die »innerhalb des Systems arbeiteten«. Voll Angst blickten die
Reformerinnen auf die militanten Frauen.
Einen derartigen relativen Luxus können wir uns nicht mehr leisten. Der Raum brennt — und es ist selbstmörderisch, die vergleichsweise geringen Unterschiede zwischen denen zu betonen, die vielleicht den Ausweg wissen. Zumal diejenigen, die keinen Ausweg zu wissen scheinen, bei denen, die vielleicht einen wissen, auch keinerlei Unterscheidungen treffen. Für sie sind wir alle FRAU, sie nehmen auf einmalig kurzsichtige Weise eine pluralistische Mehrheit als uniforme Einheit wahr. Wenn die Mehrheit der Menschheit Fragen von historischem und unerträglichem Leid aufwirft, dann ist das für MANN eine »einäugige Politik«, eine Folge der »Ich-Dekade«* (* »Me-decade«, die gegenwärtige Dekade der 80er Jahre, in der im Gegensatz zu den 60er/70er Jahren auf das eigene Subjekt bezogene Belange Priorität haben.)
(daß es für MANN das »Ich-Jahrtausend« oder besser das »Ich-Äon« gab, spielt keine Rolle). Die Auffassung, Frauen seien FRAU, also nicht-MANN und daher nicht-menschlich, ist so fest verwurzelt, daß all unsere Anliegen als einäugige egoistische Prioritäten der »Ich-Dekade« angesehen werden. Also rechnen sie unter »Frauenfragen«: Weltfrieden, Beendigung von Hungertod, von Analphabetentum und zwangsweiser Umsiedlung, sichere Geburt und einfühlsames Aufziehen der nächsten Generation, das Menschenrecht, selbst über die Reproduktion zu entscheiden, Schutz vor Gewalt und Demütigung, und die Freiheit zu lieben, wen man will. Der Kern der Sache ist natürlich, daß diese Prioritäten auch Männer angehen sollten. Doch der Raum brennt, und wenn auch einige Männer versuchen, uns durch den Rauch eine angesengte Hand zu reichen — MANN verharrt in seiner Weigerung, uns zu hören.
Und hier wird nun Vielseitigkeit zum ersten Gebot, denn die Situation ist so kritisch, und die Probleme sind so allumfassend, daß wir auf den Straßen und in den Parlamenten sein müssen, daß wir uns in geheimen Zirkeln treffen und die Massenmedien benutzen müssen, daß wir in Code und in so vielen Weltsprachen, wie wir lernen können, sprechen müssen, daß es uns gelingen muß, mit unendlicher Geduld und zugleich mit einem unnachgiebigen Gefühl der Dringlichkeit, des Zeitdrucks zu arbeiten. Wir müssen wissen, wie wir alle Möglichkeiten des Systems ausnutzen, und dabei nie die Tatsache aus den Augen verlieren, daß wir — wie Elizabeth Oakes Smith im Jahre 1852 gesagt hat — »nichts geringeres (anstreben) als den totalen Umsturz der gegenwärtigen Gesellschaftsform, eine Auflösung der ganzen existierenden gesellschaftlichen Übereinkunft«. Wir müssen Strategien gegen Rückschläge entwickeln und dabei nicht die historische Perspektive verlieren, daß wir als unvermeidliche Antwort auf die Bedrohung, die wir mit unserer nicht länger zu ignorierenden Existenz darstellen, mit Rückschlägen rechnen mußten. Wir müssen — wie das subatomare Teilchen — in unserer Umlaufbahn in jedem Augenblick überall und nirgendwo sein.

Eine Zeitlang sprachen die Dorfbewohner von nichts anderem als dem Heiligen Mann. Nachdem die erste Abordnung mit den nicht angerührten Opfergaben zurückgekehrt war, mühten sich weitere Delegationen den Berg hinauf- um selber nachzusehen oder weil sie vermuteten, der Heilige Mann sei nur einmal irgendwie kurz weggegangen und würde zurückkehren. In den Wochen nach dem Verschwinden des Heiligen Mannes stiegen mehr Pilger auf der Suche nach ihm auf den Berg, als je zu Zeiten seiner Anwesenheit. Doch sie fanden immer nur den klapprigen und mehr und mehr in sich zusammenfallenden Verschlag, kahle Felsen und dürftige Vegetation, und die leere Bettelschale. Schließlich verschwand auch die — irgend jemand hatte gemeint eine so gute Schüssel dürfe nicht einfach verkommen.
Nach einiger Zeit fanden sich die Dorfbewohner mit der Tatsache ab, daß es keinen Heiligen Mann mehr gab. Einige meinten, er sei tot, andere, er habe nie existiert. Der einzige Beweis den sie für seine Existenz gehabt hatten, war die ständige, unwiderlegbare, selbstverständliche Anwesenheit der Dienstmagd des Heiligen Mannes — jedenfalls bis zu dem Zeitpunkt, als sie ihn plötzlich verließ, oder vielmehr sie alle verließ. Und nachdem sie anfangs ihr die Schuld für sein Verschwinden zugeschoben hatten, machten sie sie nun für seine Existenz verantwortlich. Sie warfen ihr vor, daß sie ihnen so viele Jahre lang diesen Schwindel vorgemacht hätte — daß sie ihn überhaupt erst erfunden hätte, um für einen unverdienten Unterhalt betteln zu können, denn jeder wußte, daß sie selbst — da sie eine Frau war — nie ein Heiliger Mann sein konnte. Die Dorfbewohner, die behaupteten, den Heiligen Mann vor langer Zeit einmal besucht und ihn  wirklich gesehen zu haben,  meinten nun, daß die Dienstmagd des Heiligen Mannes sie mit irgendeinem Zauber belegt hatte, um sie glauben zu machen, es sei ein menschliches Wesen, das ihnen die Ratschläge gab, und nicht nur eine Erscheinung. Das war ein beruhigender Gedanke, denn es war die beste Erklärung für ihre Erinnerung an seine distanzierte Art, seine Strenge und seine Verachtung, was doch keiner von ihnen verdient hatte. Der Heilige Mann war ganz offensichtlich nur eine Erfindung seiner Dienstmagd gewesen, eine Legende, und zuzeiten ein geschickt heraufbeschworenes Trickbild, womit eine skrupellose Frau ihren Lebensunterhalt gesichert hatte. So lösten die Dorfbewohner auf angenehme Weise ihr beunruhigendes Rätsel und ihr Leben verlief wie zuvor.
Doch dann machten plötzlich seltsame Geschichten die Runde, Geschichten über die Frau, die sie so lange die Dienstmagd des Heiligen Mannes genannt hatten — Gerüchte, daß sie wieder gesehen worden sei, doch jedes Mal in anderen Situationen.
Mehrere Dörflerinnen, die auf den Markt der Provinz gefahren waren, um dort ihre Handarbeiten zu verkaufen, berichteten, sie hätten sie in einer Jahrmarktsbude gesehen, wo sieden Leuten aus den Karten gelesen hatte; der Name der Wahrsagerin, hatten sie herausgefunden, war Ankha. Eine andere Frau, die ihre sterbende Mutter in einem weit entfernten Dorf besucht hatte, behauptete, sie habe die Dienstmagd des Heiligen Mannes gesehen, diesmal nannte sie sich Rejan und lebte ganz offen und glücklich mit einem Mann — einem fröhlichen Flötenschnitzer — und war genauso offensichtlich schwanger. Ein junges Mädchen, das per Heiratsversprechen an eine Familie viele Meilen nordwärts vergeben worden war, schickte eine Nachricht an ihre Schwester: die Dienstmagd des Heiligen Mannes sei in dieser Gegend eine bekannte Gestalt, sie trüge den Namen Meilade und sei eine Heilerin, die, obgleich erst vor kurzer Zeit zugezogen, bereits eine Art Kloster gegründet hatte, in das sich Frauen und Kinder in Not von überallher flüchteten-, dort, so berichtete das Mädchen, lebte diese Meilade zusammen mit anderen Frauen und betreute diese Unglücklichen. Ein Mann und eine Frau, die vom Vorgebirge hinab in die Ebene gegangen waren, um Geschäfte mit einer dort eintreffenden Karawane zu machen, hatten beide die Dienstmagd des Heiligen Mannes gesehen — doch stritten sie sich über Einzelheiten. Der Mann hatte sie in einer Sänfte erblickt, in feinste Seide gekleidet und in goldenen Kissen ruhend; er hatte einen Kameltreiber gefragt und erfahren, daß die Dame Bretiang sei, eine berühmte Kurtisane. Seine Frau jedoch bestand lautstark darauf, daß für ihren Mann sowieso alle Frauen gleich aussähen, und daß sie wirklich die Dienstmagd des Heiligen Mannes gesehen hätte, aber nicht als Kurtisane-, sie hatte sie in Männerkleidern auf einem schönen Wüstenhengst an der Spitze der Karawane reiten sehen, wo sie einer gut organisierten und ergebenen Gruppe von Anhängern, die sie mit Oon anredeten, Befehle zurief. Und zwei junge Männer, echte Umtreiber in ihrem Dorf, schworen, sie seien beim Jagen von einer wilden Waldfrau angegriffen worden, die jeden Schlag, den sie ihnen versetzte, mit dem höllischen Schrei begleitete-. »Der ist von mir! Der ist von Uxten!«, und diese Frau, so versicherten sie allen, sei eindeutig als Dienstmagd des Heiligen Mannes zu erkennen gewesen. Ein kleines Kind, das der Spur strahlend gelber Butterblumen folgend, von zu Hause fort- und immer weiter ins Vorgebirge hineinlief, kam am nächsten Tag heil und gesund zurück — und als es seine fassungslosen Eltern fragten, wie es denn überlebt habe, antwortete es einfach, daß sich die Dame, die früher immer mit der Schale gebettelt habe, seiner angenommen und es wieder auf den Weg nach Hause gebracht habe. Der Name der Dame klang in der lispelnden Kindersprache wie Evaraze Jahrelang behaupteten die verschiedensten Leute aus den zahlreichen umliegenden Dörfern die Frau gesehen zu haben die sie einst die Dienstmagd des Heiligen Mannes nannten. Jedesmal erschien sie unter ganz anderen Umständen, und immer mit einem anderen Namen. In dieser ganzen Zeit jedoch hatte niemand den Heiligen Mann gesehen, nicht einmal eine Erscheinung von ihm. Noch hatte irgend jemand, länger noch als die Dorfbewohner sich erinnern mochten, den Berg bestiegen, um nach ihm zu sehen, denn sie glaubten mit der gleichen Sicherheit, daß er tot oder überhaupt nie dort gewesen sei, wie sie überzeugt waren, daß seine Dienstmagd lebte und überall sei.

Doch wie sollen wir — die wir noch eine Weile auf diesem Planeten leben und uns notwendigerweise auf unserer Umlaufbahn überall und nirgends und das alles zur gleichen Zeit bewegen — wie sollen wir überleben? Wie können wir — während wir den anderen in dem brennenden Raum laut zurufen oder heiser flüstern oder verzweifelt gestikulieren — überhaupt atmen? Denn die einfache unausweichliche unentrinnbare Wahrheit ist daß wir — als Frauen, die nicht mehr FRAU sind (als seien wir das je gewesen), und die keine Männer und ganz bestimmt nicht-MANN sind — Menschen sind. Und nun — da wir angefangen haben, die Verleugnung dessen, was wir nie hatten, nämlich Freiheit, lernend rückgängig zu machen —, erfüllen uns heftiger denn je die typisch menschlichen Gefühle von Sehnsucht und Mangel. In diesem Augenblick finden sich unser ganzer Kummer der Vergangenheit, unser gegenwärtiger Aktivismus und unsere Visionen von der Zukunft zusammen wie Engel und Dämonen, die auf einer Nadelspitze tanzen, und in diesem Tanz ist das Leben selbst in der Schwebe. Nicht FRAU, sondern eine Frau, jede einzelne individuelle Frau, hält diese Nadel (zwischen ihren Zähnen, weil sie die Hände voll Arbeit hat). Und so eine Frau ist oft müde.
So eine Frau fragt sich vielleicht, warum sie aus der Frauenbewegung eigentlich kaum mehr etwas über Liebe hört, über die wahren (und nicht rhetorischen) Komplexitäten menschlicher Sexualität, über die wahre (und nicht die jargonhafte) Bedeutung von »Schwesterlichkeit«, über den wahren (und nicht den verleugneten) Zorn von Frauen auf Frauen, und ja — über die wahre (und nicht die von MANN erfundene) Natur der Männer. So eine Frau versteht, wie lebenswichtig es ist, für eine Gesetzgebung zu kämpfen, die Frauen die Menschenrechte sichert, und um den gleichen Zugang zu Jobs und um gleiche Bezahlung — die traditionellen politischen Kampfplätze —, und doch, und doch ...
Auf dem Weg zur Revolution ist uns etwas Merkwürdiges passiert. Als wir mit vollster Berechtigung unsere Freiheit forderten, begannen wir denen zu glauben, die uns sagten, wir müßten sie erst definieren — als ob wir, oder sie, oder irgendjemand das könnte. Wir fingen an zu glauben, Freiheit sei ein Ziel und nicht ein Zustand, ein Prozeß, eine ständig in Bewegung befindliche, überraschende, dynamische Bewegung. Wir begannen sogar zu glauben, daß, wenn es ein Ziel sei, wir es noch zu unseren Lebzeiten erreichen würden — als sei Geschichte nicht sowohl ein Kontinuum als auch eine synchrone Minisekunde. Wir haben den Kern und die Unendlichkeit unseres eigenen Anliegens aus den Augen verloren.
Wir machten jene Fragen zu unseren Prioritäten, von denen man (MANN) uns sagte, sie seien wichtig — und sie sind es —, doch damit achteten wir nicht mehr darauf, was uns jenes etwas, das mit wilden Flügeln im Herzen jeder einzelnen Frau schlägt, als wichtig mitteilte. Wir begannen (welch allzu vertraute Misere), uns wieder unserer Wut zu schämen, von der man uns durch Jahrtausende erzählt hatte, daß FRAU sie gar nicht hätte. Wir begannen (welch neue und tragische Ironie), uns unserer eigenen Liebe zu schämen — von der man uns durch Jahrtausende erzählt hatte, sie sei das einzige, was FRAU überhaupt fühlen könnte. Wir versuchten auf diese Weise als menschlich — und damit weniger nicht-MANN — angesehen zu werden und hielten uns dabei an eine Sprache, die, so meinten wir, von MANN verstanden werden könnte: Objektivierung, Versachlichung, politisches Gewicht, Geschlechtsrollen, Parität, Kapitalismus, Kommunismus, Sozialismus, radikal/reformistisch, homosexuell/heterosexuell, ledig/verheiratet, Mutter/nicht Mutter (es fehlt ein nicht-negativ bestimmtes Wort für eine Frau, die kein Kind hat, und der Pseudo-Ersatz »kinderfrei« statt »kinderlos« ist eine Beleidigung für Kinder). Wir sprachen von Klassen-Analysen, von kooptieren und Wahlversammlungen, von Plenarsitzungen und Demonstrationsgenehmigungen, von Demographie, Meinungsumfragen und daß wir »die Öffentlichkeit nicht verprellen« wollten. Wir sprechen immer noch von diesen Dingen, ich spreche immer noch davon. Und es ist auch nichts dabei dessen wir uns schämen müßten, — nur ist es wirklich tragisch wenn wir dabei die wahren Worte für das, worum es uns geht, vergessen.
Wir begannen, sie zu vergessen — oder, besser, es war uns peinlich sie zu benutzen, besonders seit uns klar geworden war von welch numinoser Qualität sie waren und wie furchtbar tief wir uns nach ihnen sehnten, unter ihrer Abwesenheit litten. Und wir wollten auch nicht, dadurch daß wir sie verwendeten, mit FRAU verwechselt werden. Diejenigen, die überhaupt keine Vorstellung davon haben, was sie reden, tun sich natürlich immer leichter. Sie reden, was sie wollen, und so begannen die religiösen Fundamentalisten und die Rechten jene Worte zu benutzen, die wir nicht mehr als die unseren in Anspruch zu nehmen wagten: Ehre, Integrität, Moral, Ethik, Zorn, Gerechtigkeit, Macht, Freiheit, Liebe.
Doch dies sind genau die Dinge, um die es der Frauenbewegung geht und immer ging: genau diese Kühnheit und diese Vision.
Nehmen wir einmal an, eine Frau liebt eine andere Frau und ist stolz auf ihre Liebe. Da sie beide Frauen sind (und daher einfach menschlich) haben diese Liebenden Probleme — sogar miteinander. Ihre Probleme sind, wie in jeder anderen menschlichen Beziehung, Konflikte über zwischenmenschliche Macht, über Verantwortung, oder Temperament, oder Eifersucht, oder Besitzansprüche, oder unterschiedliche Aktivitätsgrade, oder Sinn für Humor, oder Stimmungen. Doch sie befinden sich im Belagerungszustand: einerseits durch eine schrecklich misogyni-stisch/homophobische Kultur, andererseits durch eine äußerst nervöse Frauenbewegung (die ihrer Homophobie manchmal auf traditionell bigotte Weise, und manchmal in der »politisch korrekten« Form von Schuldgefühlen Ausdruck verleiht), und so bauen sie eine Wagenburg um ihr Leben. Denn wo können denn diese Frauen, jede für sich, offen über diese Liebesschwierigkeiten sprechen außer innerhalb einer — ob frei gewählten oder aufgezwungenen — Ghetto-Kultur? Diese Liebe konnte sich nur mit soviel Kampf und um einen so horrenden Preis festigen, wie könnten sie es jetzt wagen zuzugeben, daß eine lesbische Liebe — genau wie jede andere Liebe — alles andere als perfekt, ideal, utopisch sein kann? Muß eine Defensivhaltung zu lange durchgehalten werden, so wird diese fast immer starr und sogar defensiv gegen sich selbst.
Nehmen wir einmal an, eine Frau liebt einen Mann und ist stolz auf ihre Liebe. Er liebt sie, er hat sich durch das feministische Bewußtsein verändert, er will sich noch mehr verändern — genau wie sie. Zu Beginn dieser Feminismuswelle beschäftigten sich die kleinen CR-Gruppen*, (*CR-Gruppe: Consciousness-Raising Gruppe ist eine Gruppe zur Bewußtseinserweiterung.) die in den Vereinigten Staaten und anderswo entstanden, mit ihrer Situation, wenn auch manchmal auf Kosten der Probleme ihrer Schwester (die zufällig eine Frau liebte). Irgendwie ist dieses Anliegen der ersten Tage — statt sich auszuweiten — unter dem Druck »politischerer« Probleme verschwunden: das Equal Rights Amendment**, (** Equal Rights Amendment: Verfassungszusatz zur Gleichberechtigung der Frau. □  Affirmative Action: Vergabe von Staatsaufträgen nur an solche Firmen, die nach einem Quotierungssystem Frauen bevorzugt einstellen.) - die Affirmative ActionQ, Prozesse gegen Diskriminierung, Demonstrationen — alles ehrenwerte Aspekte des Kampfes. Und dennoch: Irgendwie ist auf dem Wege des wachsenden Bewußtseins von Klasse, Rasse, Alter, sexueller Vorliebe, ethnischer Identität, Stellung im Beruf, ledig-oder-verheiratet-Status, Kinder oder keine Kinder und all den anderen vielen verschiedenen Formen, in denen wir eingeordnet werden oder uns selbst einordnen —irgendwo auf diesem Wege haben wir die unvermeidliche und absolut unumgängliche Notwendigkeit, diese Unterschiede zu sehen, sich ihnen zu stellen, zu versuchen, dennoch miteinander zu reden, aus den Augen verloren, und damit den einmaligen und komplizierten Schmerz jener Frau. MANN — und manchmal sogar ihr eigener Mann - sagt ihr vielleicht, sie sei unzufrieden. Einige Frauen sind vielleicht neidisch, daß sie überhaupt eine Beziehung zu einem Mann hat, andere lassen sie gerade deswegen ihre Verachtung spüren. In der Frauenbewegung schämt sie sich nun vielleicht genauso wie in der patriarchalen Welt, wenn sie immer noch manchmal nachts in ihre Kissen weint, weil die Liebe so kostspielig, die Veränderung so ungeheuer schwierig ist. (Haben wir vielleicht deshalb unsere Aufmerksamkeit fast ausschließlich der Veränderung in Politik und Gesetzgebung zugewandt? Weil das — verglichen mit der wahren Aufgabe, daß nämlich jede ihre eigene menschliche Authentizität begreifen muß - so herrlich unkompliziert erschien?)
Wenn wir unsere Wut nicht wieder entdecken, dann werden wir daran ersticken. Wenn wir uns nicht wieder unserer Liebe bewußt werden, werden wir verdursten. Und beides, Liebe und Wut, dies Reservoir in jeder Frau, sind noch kaum angezapft.
Hat MANN wirklich geglaubt, daß all diese Tausende von Jahren Eingeschlossensein in die Gestalt von FRAU einen so kleinen Zorn hervorrufen würde, daß er innerhalb einer Dekade verraucht sei? Die Männer haben das nicht vermutet, doch MANN dachte genau dies — und wir haben ihm fast geglaubt, haben fast wiederum — um des Pragmatismus willen — unsere Wut der Selbstkontrolle unterworfen. Hat MANN geglaubt, daß die Geschichte — so wie die Männer sie nach seinem Bilde schufen — die Männer mehr über Liebe gelehrt hätte als Frauen seit Jahrtausenden wußten? Ja, offenbar. Und wir waren so eifrig darauf aus zu glauben, die Männer hätten eine Art zu lieben, die wir noch nicht ganz ausloten konnten, daß wir unser eigenes Expertentum in dieser Sache verleugneten.
Dennoch ist das, was Feminismus genannt wurde, eben genau eine Vision von außergewöhnlicher Liebe, ausgedrückt in einer notwendigerweise reinigenden Form von Wut. Wenn wir uns nicht gegenseitig die Erlaubnis erteilen, wütend zu sein, wer wird es dann tun? FRAU bestimmt nicht. MANN auch nicht. Und auch nicht die Männer. Und was haben wir bei unserer Liebe zu fürchten? Warum sollen wir sie verleugnen? Der feministischen Vision ist es immer um Liebe gegangen — nicht die billige sentimentale Imitation einer Glückwunschkarte, sondern die wilde, wütende, zornige, reinigende, energiegeladene Liebe, die die Veränderung fordert — eine Liebe, die dem Glauben entspricht, daß es tatsächlich einen Ausweg aus dem brennenden Raum gibt, daß Frauen und Männer sich wirklich verändern können, daß wir die toten Häute von MANN und FRAU abstreifen können, daß dieser kleine blau-grüne Planet, auf dem wir gemeinsam leben, gerettet werden kann zu Frieden, Wohlstand und Lachen.
So eine Liebe ist unberechenbar in ihren Äußerungen, sie äußert sich witzig, äußert sich schmerzhaft. Sie kann mit dem einen Wort »NEIN« beginnen. Oder mit dem durch und durch revolutionären Spruch: »Hermann, heb deine Socken auf.« Es kann sprachlos geschehen: das öffnen einer Tür — oder das Schließen einer Tür. Doch sie beginnt jedesmal mit einer Frau, einer Frau, die absolut einmalig unter allen lebenden Wesen ist' die nur ein, nämlich ihr eigenes Leben zu leben hat — und die das weiß. So einer Frau müssen wir uns immer wieder zuwenden, so wie sie selbst sich langsam, allmählich, in Furcht und Zittern und in Gesundheit zum Leben dem zuwendet, wo sie begann — sich selbst.

Eines Tages wanderte ein alter Mann durch die Dörfer des Tals. Das Gehen fiel ihm schwer, er klammerte sich an seinen Stock Im Tal hatte man schon immer die Gastfreundschaft gepflegt, und so wurde der Fremde in jedem Dorf, durch das er kam, zum Essen und Übernachten eingeladen. Außerdem fanden ihn die Dörfler unendlich rührend, weil er so demütig war und so dankbar für alles, was ihm angeboten wurde. Er sprach wenig. Auf Fragen antwortete er nur, er sei ein Wanderer, er sei, auf der Suche nach einem großen Schatz, den er einst verloren aber eigentlich nie richtig besessen hatte, weit in der Welt herumgekommen. Eine rätselhafte Antwort — die Dörfler zuckten die Schultern und ließen ihm seine Geheimnisse. Einige wären gern weiter in ihn gedrungen, doch irgend etwas in seiner Haltung — etwas wie Trauer, ein großer Schmerz - hielt sie davon ab. Sie ließen ihn in Ruhe.
Er ging weiter, langsam, schmerzbeladen, als habe er ein bestimmtes Ziel vor Augen. Weder die vielen besorgten Reden der mitleidigen Dörfler noch ihre großzügigen Angebote, ihn ganz bei sich aufzunehmen (wie lange würde schon ein so gebrechlicher alter Mann noch leben?) konnten ihn halten. Schließlich erreichte er das kleine Dorf am Fuß des Berges und übernachtete dort in einer Hütte, wiederum freundlich aufgenommen, so wie man Fremde aufzunehmen hat. Beim ersten Morgengrauen jedoch entdeckten die Kinder dieses Hauses, die früh aufgestanden waren, um heimlich nach ihrem Besucher zu sehen, daß er verschwunden war. Sie liefen zu ihren Fitem und erzählten es ihnen, und die fanden es merkwürdig.
Erst als die Sonne schon hoch am Himmel stand und die Leute ihren täglichen Geschäften nachgingen, sah jemand zufällig hoch und rief den anderen zu: »Schaut — da oben! Da — halb oben auf dem alten Bergpfad! Der Fremde!« Und da sah man ihn — sein Rücken so krumm wie die Windungen des Pfades schlurfte der Fremde beharrlich bergauf, als zöge ihn eine Kraft, viel stärker als sein schwacher Körper sie hergehen konnte.
Voller Sorge um den fremden Alten — der seinen Verstand verloren oder sich verirrt haben mußte oder beides, — ließen einige Dörfler alles stehen und liegen und liefen zum Bergpfad. Doch er war schon viel zu weit oben, ihre Rufe erreichten ihn nicht mehr, und so machten sich ein paar Leute auf den Weg, ihm nachzugehen, einige ärgerlich, daß sie aus ihrem Tagesablauf herausgerissen wurden, andere froh über die Unterbrechung. Bestimmt würden sie ihn bald einholen, denn sie waren robust und im Vollbesitz ihrer Kräfte, während er — nur Haut und Knochen, nur Augen und lange Haarsträhnen — die Last seiner vielen Jahre einem dünnen Wanderstab aufzubürden versuchte. Es zeigte sich jedoch, daß er sich mit jeder Wegbiegung ein Stück weiter von ihnen entfernte, und bald wurde ihnen klar, daß sie wahrscheinlich den ganzen Weg bis zum Gipfel hinaufsteigen müßten, um ihn einzuholen.
Und so war es dann auch. Doch als die Dörfler atemlos oben ankamen und die letzte Biegung des Weges vor dem höchsten Felsvorsprung umrundet hatten, blieben sie, völlig verdutzt von dem sich ihnen darbietenden Anblick, stehen.
Nicht nur der alte Mann, nein, zwei alte Leute saßen auf dem Vorsprung und redeten leise miteinander. Hinter ihnen im Gestrüpp stand eine kleine Hütte, ihr strohgedecktes Dach schützte mit seinem Schatten eine Art kleinen Garten vor dem intensiven Sonnenlicht, ein bißchen Gemüse und ein paar Blumen boten dort fröhlich dem steinigen Bergboden Trotz.
Die Dörfler sahen das alles — den Garten, die Hütte, die beiden tief in ihr Gespräch versunkenen alten Leute — mit Erstaunen. Dann brach die Hebamme des Dorfes, vielleicht, weil die Umgebung eine schwache Erinnerung in ihr wachgerufen hatte, das Schweigen:
»Das ist die Dienstmagd!« keuchte sie, ,,die Dienstmagd des Heiligen Mannes! Und er ... er muß der Heilige Mann sein!«
Der Fremde unterbrach sein Gespräch und wandte sich den Dörflern zu, sein Gesicht von heiliger Ehrfurcht erfüllt.
»Ihr lieben Narren«, rief er, »ich bin nur ein armer Fremder. Aber dies«, und er wies auf die alte Frau, »ist die Heilige Frau, die ihr einst meine Dienstmagd genannt habt.«
Doch da lachte die alte Frau, lachte tief, warm und rund, ein Lachen wie die Wolle der Bergschafe, ein Lachen, das sie alle, den Fremden und die Dörfler, wie die beschützenden Falten eines Mantels einhüllte.
»Nein, nein, nein, meine Freunde«, sagte die Alte, und lachte dabei weiter eine unzähmbare Melodie zu den Worten, die sie fast sang: »Die Zeiten sind vorbei, wir brauchen solche Unterschiede nicht mehr, ganz gewiß nicht. Wir sind hier alle heilig.« Und die Augen im Gesicht der alten Frau blickten so durchdringend wie die Sonne selbst, wenn sie tief in die felsigen Spalten der Berge scheint. »Ja«, fuhr sie fort, und ihre Stimme war aufgeregt wie die eines Kindes, das eine Handarbeit, an der es lange gearbeitet hat, als Geschenk bringt, »ja, es gibt keinen Ort mehr, wo wir nicht alle heilig sind.« Sie wandte sich dem alten Mann zu und sagte leise.- »Wir müssen ihnen erzählen was wir gelernt haben.«
Die Dörfler kamen näher, mit staunenden Gesichtern. Zu Füßen der alten Frau lag ein Schneeleopard, er schien so zahm wie ein Kätzchen, sein schläfriges Schnurren begleitete rhythmisch und entspannt die Geschichte, die sich nun vor ihnen ausbreitete.
»Ich wollte von allen weltlichen Dingen frei sein«, sagte der alte Mann leise, »und deshalb kam ich vor langer Zeit hierher. Aber ich mußte schließlich entdecken, daß meine Freiheit nur dadurch möglich war, daß jemand anders für mich arbeitete. Ich hatte zwar nicht darum gebeten, hatte es auch nicht erwartet, doch ich habe es angenommen, ich sah keine andere Möglichkeit, frei von den Dingen der Welt zu leben. Und« — der Fremde ließ den Kopf sinken, »schließlich habe ich diejenige, ohne die ich, wie ich dachte, diese meine Freiheit nicht haben konnte, gehaßt.«
Dann sprach die alte Frau: »Ich wollte von der Idee der Freiheit frei sein«, lächelte sie, »und ich dachte, ich könnte dies mit meiner völligen Selbstaufgabe erreichen. Aber ich wußte nicht, daß ich, da ich mich selbst nie richtig gehabt hatte, auch nichts aufgeben konnte. Ich dachte mir etwas aus, was ich geben konnte, und jemanden, der meine Gabe empfangen konnte. Doch keine dieser Illusionen machte mich frei, und schließlich wollte ich nur noch das eine«, sie wandte sich dem alten Mann zu, »frei von deiner Freiheit sein. Und dafür war es notwendig, daß ich mich selbst erfand.«
Und so, erfuhren die Dörfler, war sie davongegangen, mitten in die Welt hinein, um sich selbst zu erfinden. Und so, erfuhren die Dörfler, war er ihr nachgegangen, diesmal nicht auf der Suche nach seiner Freiheit, sondern auf der Suche nach derjenigen, die sie ihm genommen hatte. Doch wo der Heilige Mann auch nach seiner Dienstmagd suchte, er fand immer nur eine  die einen eigenen Namen hatte, er fand nur sich selbst und er fand nur die Welt. Selbst heimatlos, sah er die, die an einem Ort verwurzelt waren-, selbst besitzlos, sah er die, die an ihr Eigentum gefesselt waren-, auf seinem Weg durch die großen und die kleinen Städte und die Dörfer sah er die Menschen, die ihn durch Gefängnisgitter hindurch anstarrten-, selbst ohne Bluts- oder Wahlverwandtschaft, sah er die, die Tag um Tag mit Leuten, an denen sie aus Angst oder Einsamkeit oder Rache hängen, leben und sterben und dies Liebe nennen-, und mit dem Älterwerden sah er dann, wie die Jungen in der Falle ihrer Ungeduld saßen, wie die mittleren Alters zu Sklaven ihrer alltäglichen Sorgen geworden waren und wie die Alten nur noch im Gefängnis ihrer Erinnerung an verpaßte Gelegenheiten lebten. Er erkannte, daß nichts und niemand, lebendig oder tot, frei war, und mit dieser Erkenntnis mußte er dann auch seltsamerweise nicht  mehr nach der Freiheit und nach der Frau, die sie ihm gestohlen hatte, suchen.  Und dies weckte in ihm, noch seltsamer, auf gnädige Weise ein Gefühl der Gemeinsamkeit zwischen sich und allen anderen, mit denen er diesen Zustand teilte. Schließlich und endlich beschloß er, zu seinem Platz am Berg zurückzukehren. Er erwartete nicht, daß dort irgend jemand oder irgend etwas auf ihn warten oder daß jemand ihn wieder erkennen würde, er wollte nur dort sterben, wo er zuerst die Freiheit verloren hatte, die ihm nie gehörte.
Und in dieser ganzen Zeit war die Frau, die man die Dienstmagd des Heiligen Mannes genannt hatte, auf der Suche nach dem Selbst gewesen, das sie gerade erfand, das Selbst jenseits des Selbst, das frei von der Idee der Freiheit sein würde. Und überall, wohin sie auch ging, fand sie andere, die sich auf der gleichen Suche befanden. Sie sah, wie das vom Hunger gezeichnete Gesicht einer Mutter aufblühte, als sie einen Krümel Nahrung für ihr Kind fand; sie sah, wie der Verurteilte, den man mit auf dem Rücken gefesselten Händen zu seiner Hinrichtung führte, sein Gesicht in den sanften Regen hob und von ihm streicheln ließ, und die Tropfen grüßten ihn inniger, vertrauter als jeden anderen, auf den sie fielen-, sie sah, wie sich ein junges, von Krankheit zerstörtes Mädchen wie eine Braut schmückte, um in der Erwartung, endlich erlöst zu werden, ihrem Tod entgegenzutreten-, sie sah, wie zwei Liebende gesteinigt wurden, weil andere ihre Liebe nicht akzeptieren konnten — und wie jeder der beiden nur versuchte, den Körper des anderen zu schützen-, sie sah, wie ein großer Held in der Nacht vor und in der Nacht nach der Schlacht in seinem Bett vor Feigheit zitterte-, sie sah, wie eine Tänzerin sich in den Trommelschlag, nach dem sie tanzte, verwandelte-, sie sah, wie eine Schar von Bauern, nur mit ihrem Leid bewaffnet, langsam auf einen großen Palast zumarschierten — und sie hörte, wie sie »Freiheit« flüsterten, als die Wachen sie niedermachten; sie sah, wie ein Kind, das sich verlaufen hatte, sich selbst vor Freude umarmte, als es den Heimweg fand. Und sie selbst war in all diesen Selbst, und all diese Selbst waren in ihr. So beschloß sie, schließlich und endlich, zu dem Platz am Berg zurückzukehren. Sie erwartete nicht, daß dort irgend jemand auf sie warten, und auf keinen Fall, daß jemand sie wieder erkennen würde. Sie wollte dort ruhig, selbstgenügsam und ohne jemanden um irgend etwas bitten zu müssen bis zu ihrem Tode leben — dort, an der Stelle, wo ihr zum erstenmal der Gedanke gekommen war, der Idee der Freiheit zu entfliehen, um sich selbst zu erfinden.
Sie baute die kleine Hütte und legte den kleinen Garten an. Sie begrüßte die wilden Tiere ohne Angst, bis auch sie keine Angst mehr vor ihr hatten. Sie wartete auf niemanden, denn sie hatte sich selbst gefunden; sie suchte nichts mehr, denn sie hatte die Idee der Freiheit gefunden. Und dann schleppte sich eines Tages ein alter Mann mühselig den Bergpfad hinauf...

Woraus besteht diese Frau? Fleisch, Gehirn, Träume, Blut, heimliche Sprachen, Tage und Nächte, Phantasien, Haßgefühle und Schrecken, Lust, Angst, Abscheu? Wie war ihre Kindheit, in der sie auf dies alles vorbereitet wurde? Welche Beziehung hat sie zu ihrem eigenen Körper, zu einem Mann, den sie liebt, zu einer Frau, der sie vertraut, zu einer Angst, über die sie zu niemandem spricht, zu einer Hoffnung, über die sie zu niemandem spricht, zum Nachthimmel über dem Meer, zu einer tödlichen Krankheit, zu ihrer eigenen Vorstellung von Freude, ihrer eigenen Vorstellung von Freiheit, ihrer eigenen Existenz, ihrer eigenen Authentizität, ihrem eigenen Tod?
Wem können wir diese Fragen stellen? Wem kann ich diese Fragen stellen? Wem kann ich diese Fragen stellen — außer mir selbst?
Beim Schreiben dieses Buches ertappte ich mich bei dem Gedanken, eigentlich nicht befugt zu sein, das Thema Freiheit anzugehen. Ich dachte: über Frauen sprechen und schreiben, ja, dieses Recht habe ich mir erworben. Schließlich bin ich nun einundvierzig Jahre lang eine Frau und halb so lange fühle ich mich den Frauen als Gruppe verpflichtet. Ich habe mit Frauen gearbeitet, demonstriert, argumentiert, gestritten, gelacht, geweint und bin mit ihnen eingesperrt worden; Frauen haben mich begeistert und wütend gemacht, haben mich verändert, inspiriert und ausgelaugt; ich habe mehr Tage meines Lebens darauf verwendet, mit Frauen zu reden, Bücher von und über Frauen zu lesen, über Frauen und ihre Bedingungen nachzudenken als auf jedes andere Thema; habe mehr Nächte zu diesem Thema als zu jedem anderen Traumstoff geträumt. Ja, dachte ich, ich habe mir das Recht erworben, anzufangen, Frauen zu verstehen.
Doch wie kann ich es wagen, über Freiheit zu schreiben? Ich bin keine Expertin, keine Philosophin; wenn es um Freiheit geht, weiß ich weniger als eine erfahrene, engagierte Journalistin. Was weiß ich über Freiheit? Mit welchem Recht ergreife ich dies Thema?
Die Frage enthüllt mehr über die Situation der Frauen — und über die Situation der Freiheit — als jede heute mögliche Antwort.
Freiheit als Tatsache, die wir übersehen haben, oder als Illusion, die nie jemand voll verwirklichen wird, oder als Frage, ob nämlich die uns geläufige Definition vielleicht zwar eine Wahrheit, aber sicher nicht die ganze Wahrheit für die ganze Spezies darstellt, und ob sie, um überhaupt zu existieren, nicht bisher unvorstellbarer neuer Definitionen bedürfte — worum immer es geht: es ist eine Aufgabe für jedermann/jedefrau.
Zuerst einmal müssen wir uns ein Bild machen von der Freiheit, eine Vision entwerfen — doch dafür müssen wir die gängige und machtvolle (und auch von vielen Feministinnen geteilte) Auffassung, daß gewisse hergebrachte ,,Vorgegebenheiten« unausweichlich, unveränderlich, natürlich sind, durchbrechen. Die Neue Physik fordert zu völlig neuem Denken heraus, verlangt es sogar; als intellektuelle Disziplin bläst sie frischen Wind durchs Gehirn, so daß es in Ansätzen begreifen kann, wie wenig eigentlich unausweichlich, wie alles völlig relativ ist, wie unendlich sich alles verändert, wie unentrinnbar natürlich alle Vorstellungen sind. Die Neue Physik hinterfragt jede Annahme — und entdeckt bei jeder Mängel. Sie konzipiert philosophisch — und beweist wissenschaftlich — eine breite Fächerung von Möglichkeiten, Systemen, Formen, Realitäten und Phantasien als bereits existent und potentiell möglich, die all unsere bisherigen wildesten kreativen Halluzinationen übersteigen. Unser Denken wird aus den ausgefahrenen Gleisen politischer Rhetorik herausgerissen, das reflexartige reine Reagieren läßt nach. Sie verlangt unsere Mitwirkung in gleichem Maße — oder noch mehr — wie unsere Beobachtung. Und schließlich gibt es nichts, was sie sich nicht zum Gegenstand nehmen könnte! Sie reicht von den unsichtbarsten Partikeln der subatomaren Partikel durch alle Materie (»belebte« und »unbelebte«) bis hinaus in das makrokosmische Universum, in dem sich unser eigenes Universum mikrokosmisch dreht. Mit Hilfe eines derartig machtvollen Handwerkszeugs können wir wohl daran gehen, uns neue Bilder von Männern und Frauen zu schaffen und uns eine Vorstellung von Freiheit zu machen.
Wird die Vorstellung von Freiheit nur von wenigen entworfen, dann — so haben wir erfahren — existiert sie auch nur für die wenigen. Wer könnte also besser die Aufgabe angehen als Frauen — nicht nur, weil man uns so lange von der Freiheit ferngehalten hat, sondern auch, weil wir unter dem Deckmantel von FRAU genau auf den entgegengesetzten Pol dessen, was MANN als Freiheit bezeichnete, festgelegt wurden. Wir waren (angeblich) das Heimchen am Herd mit dem Nestbauinstinkt, dem konservativen Instinkt, waren die »Zahmen«.
Man könnte sagen, daß FRAU aus dem einfachen Grund geschaffen wurde, damit Frauen ihre Finger von einer solchen Aufgabe lassen sollten. So ist es nicht verwunderlich, daß auch wir Frauen angesichts der umwerfenden Aufgabe, uns selbst von einer Kategorie in eine Bevölkerungsgruppe, eine Bewegung, eine aktive Kraft zu verwandeln — und dies als notwendige Reaktion auf genau jene Struktur, in der Veränderung unmöglich von Einzelnen, sondern nur von einer Riesenanzahl von Menschen bewerkstelligt werden kann —, daß auch wir uns hier und da in unseren eigenen Gruppen, unserer eigenen Bewegung, in gewisse unfreie Konstellationen hineinmanövriert haben. Wir sind ja schließlich, nicht zu vergessen, auch nur Menschen. Während also Frauen als Gruppe die Unfreiheit bekämpfen, haben wir uns noch nicht der Freiheit selbst zugewandt (wir hatten auch genug anderes zu tun). Vielleicht kann diese Aufgabe nie von einer Gruppe begonnen werden, obgleich sich am Ende alle Gruppen dabei engagieren müssen. Doch beginnt sie unweigerlich beim Einzelmenschen. Wenn Erforscher und Studienobjekt des Gegenstandes »Mensch« der Mann ist, dann kann ebensogut eine Frau Erforscherin und Studienobjekt des Gegenstandes »Menschheit« sein.
So eine Frau könnte denken: »Deshalb muß ich es wagen, über Freiheit zu schreiben, auch wenn ich nicht weiß, was das ist, sie nie erlebt habe, nicht an ihre Existenz glaube und mich dennoch vor ihr fürchte.«
So eine Frau könnte sagen: »Wenn ich jetzt nicht riskiere, mit der Erfindung des Universums zu beginnen, dann wird das niemand tun.«

Als die Sonne unterzugehen begann, machten sich die Dörfler auf den Heimweg, und als sie den gewundenen Pfad hinabstiegen, schauten sie einander an, als sähen sie die vertrauten Gesichter zum ersten Mal. Über ihnen, auf dem Felsvorsprung, hatten die beiden Alten viel miteinander zu besprechen (allein).
Bald darauf starb der Mann, den sie einst den Heiligen Mann genannt hatten, still in den Armen der Frau, die sie nun die Heilige Frau nannten. Sie begruben ihn, unter der sanften Anleitung der Frau, dicht am Rande des Felsvorsprungs, der hinaus auf die fernen Berggipfel blickte.
Noch ein oder zwei Sommer lebte die Frau, die sie einst seine Dienstmagd genannt hatten, in der kleinen Hütte, bestellte ihren Garten und schalt mit ihrem Schneeleoparden, wenn er die Blütenblätter anknabberte. Jetzt liefen oft Kinder den Bergpfad hinauf, und sie erzählte ihnen Geschichten, brachte sie zum Lachen und ließ sie mit dem Leoparden spielen — der sich von einem kleinen Kind besonders gern seinen seidenen Bauch kraulen ließ. Die Kinder konnten nie genug von ihren Geschichten bekommen: eine hieß ,,Der Tod der Mutter«, die andere ,,Das Marmorbuch«,  und ,,Der Doppelspiegel«, und »Die Kristallfrau des Lichts«, und »Der Lebendige Stein«, und »Der Riesenstern«, und »Die Liebesperle«, und viele andere. Besonders die Kinder fragten sie immer und immer wieder, was denn nun Freiheit sei — sie wußten, sie würde es ihnen jedesmal auf andere Vi eise zeigen. Einmal wies sie auf eine gelbe Marguerite in ihrem Garten und fragte sie der Reihe nach »Welcher Teil der Blume ist am meisten Blume: Der gelbe Kelch? Die orangefarbenen Blütenblätter? Welches orangefarbene Blütenblatt? Die Blätter? Welches Blatt? Der Stengel? Welcher Teil des Stengels?« Und wenn keines eine Antwort wußte, dann fragte sie, ob die Blume nicht eigentlich ein einziges aus all den Teilen bestehendes Ganzes sei? »Ja, oh ja«, nickten sie. »Und dennoch«, fuhr sie fort, »existiert die ganze Blume nicht in jedem ihrer Teile? Wenn du an einem Sommertag ein orangenes Blütenblatt im Wind segeln siehst, an was denkt ihr dann gleich?« Die Kinder schrien durcheinander, daß es sie an eine gelbe Marguerite erinnerte.
»So ist es«, rief die alte Frau, »die Idee der ganzen Blume wohnt vollkommen in jedem einzelnen Blütenblatt, so wie ein Lied noch in der Luft klingt, wenn der letzte Ton bereits gesungen ist. Und so«, sagte sie nachdenklich, »ist es auch mit der Idee der Freiheit. Sie lebt nirgends und überall zur gleichen Zeit. Sie lebt in den Beziehungen, in den Zusammenhängen. «
Die Dörfler verstanden nicht immer alles, was die alte Frau sagte, doch sie liebten sie. Die Kinder jedoch liebten und verstanden sie. Als man sie eines sonnigen Nachmittags fand, friedlich schlafend in einer Nacht, von der sie nie mehr erwachen würde, begruben sie sie neben dem Fremden, den sie einst den Heiligen Mann genannt hatten, dicht am Rande des Felsvorsprungs, der hinaus auf die fernen Berggipfel blickte. Tagelang brachten die Kinder Blumen auf die Gräber, und tagelang rührte sich der Schneeleopard nicht vom Platz.
Doch dann schritt das schöne Tier eines Tages dreimal um die Gräber und sprang vom Felsvorsprung auf einen anderen Vorsprung — und war für immer verschwunden. An diesem Tag wurde den Kindern klar, daß sie nicht mehr den Berg hinaufgehen und den Ruheplatz der alten Leute pflegen mußten; es war nicht mehr notwendig.
Sie gingen wieder hinunter in ihre Häuser und Dörfer und wurden größer und dachten nach und sahen sich um, und lehrten andere, was sie gelernt hatten. Und die Nachricht verbreitete sich nah und fern, bis alle Menschen in allen Dörfern der Provinz wußten, daß jede/r von ihnen ein heiliges Wesen war, jede/r ein Blütenblatt oder ein Staubgefäß, oder Blatt oder Stengel einer Idee der Freiheit. Und dann nahm die Idee — wie der Nachklang eines Liedes — von dieser Provinz ausgehend ihren Weg in die Welt.
Niemand saß mehr auf dem hohen Felsvorsprung, und niemand bettelte je wieder mit einer hölzernen Schale. Heiliger Mann, Dienstmagd, Fremder und Heilige Frau — sie alle waren zurück in den Kelch der Blume gegangen. Niemand mußte jetzt mehr ihren Platz einnehmen, wenn es überhaupt jemals ihr Platz gewesen war.
Und die fernen Berge blickten unbeteiligt auf den Felsvorsprung, der Jahr um Jahr mehr abbröckelte. Und wenn den Bergen daran gelegen gewesen wäre, dann hätten sie wissen können, daß das, was sie sahen, alle Antworten auf die vorübertreibenden Schauer von Fragen enthielt, die — jede wie eine im Sonnenaufgang rot und golden glühende Schneeflocke — auf ihren ewigen unberührten Höhen dahinschmolzen.