Einleitung

»Frei wurde ich geboren, frei lebte ich und frei will ich sterben«, war der persönliche Wahlspruch Königin Christinas von Schweden (1626-89), den sie vor ihrer Thronabdankung auf eine Medaille eingravieren ließ. Ein Credo, das alle Frauen, allerdings auch die meisten Männer, beneidenswert finden würden. Man fragt sich allerdings, ob es wirklich wahr war.
Dies Buch ist der Versuch einer Anatomie der Freiheit — aber nicht das Sezieren eines abgestandenen Problems, sondern die meditative Analyse einer Idee, die noch nicht geboren ist. Seit Tausenden von Jahren diskutiert man über die Freiheit, definiert sie, schlußfolgert, dreht sich im Kreis, kämpft und stirbt für sie, dennoch konnte sie bislang nicht zu einer tatsächlichen Existenz beredet werden. Darüber hinaus war in der Vergangenheit ebenso wie noch heute die Mehrheit der Menschen von der Aufgabe, die Freiheit zu analysieren oder zu beschwören, ausgeschlossen. Diese Mehrheit besteht aus weiblichen Menschen.
Feminismus wird, sogar von den meisten Feministinnen, als eine politische Philosophie und Bewegung aufgefaßt, die sich speziell mit den Rechten der Frauen und der ihnen gerechterweise zustehenden Macht beschäftigt. Dies allein würde die Existenz und die Aktivitäten von Feministinnen rechtfertigen. In Wahrheit ist Feminismus jedoch viel mehr — eine für Männer wie für Frauen gleichermaßen wichtige und umwälzende Vision, die für das Fortbestehen von Leben auf diesem Planeten entscheidend ist. Diese feministische Vision und ihre enge und unlösbare Beziehung zur Freiheit will ich in diesem Buch untersuchen.
Mir scheint, daß Feminismus in all seinen unendlich vielen Erscheinungsformen, durch die Jahrhunderte und in unserer heutigen Epoche, immer als dringender Appell, die Lebensbedingungen der Frauen zu ändern, vorgebracht wurde — ein Appell, der trotz allem zweidimensional und flach blieb. Wir können die Galerie der Zeit durchwandern und die Appelle an ihren metaphorischen Wänden betrachten, von den leidenschaftlichen Gedichten der Enheduanna im alten Sumer (ca. 2300 v. Chr.) bis zu den bewegenden Zeugnissen unserer Zeitgenossinnen im zwanzigsten Jahrhundert. Jetzt aber ist es an der Zeit, Feminismus in seiner vollen, holographischen Form zu verstehen.
In diesem Buch unternehme ich den Versuch, Feminismus in seiner drei- oder gar vierdimensionalen Form zu sehen, als die Holographie, für die ich ihn halte. Dies wiederum verlangt, daß sich in der Form des Schreibens selbst der Inhalt projiziert, reflektiert und ausdrückt. Ich mußte mich über eine feste, lineare, einer einzigen Stilrichtung verpflichteten Form hinaus auf einen kontrapunktischen Stil zubewegen, mit dem Risiko, persönliche Aussagen mit analytischer und philosophischer Sprache zu mischen, Parabeln, dramatische Formen und meditative Strukturen mit journalistischen Reportagen und theoretischen Hypothesen zu durchziehen. Das hieß, die Fragen, die wir bisher stellten, neu einzuschätzen, bedeutete das Wagnis, mehr und unvorhersehbare neue Fragen zu stellen statt Antworten zu verkünden, und schließlich zu begreifen, daß alle Antworten früher oder später zu neuen Fragen werden. Wenn dies auf einige Leser/innen beunruhigend wirkt, so kann ich nur sagen: Diese Wirkung ist beabsichtigt. Eine Holographie ist nicht zu verstehen, indem man sich ruhig hinsetzt und sie betrachtetem Gegenteil, ihr Verständnis setzt die Bereitschaft voraus, immer wieder die Perspektive zu verändern. Das wiederum verlangt, daß wir unsere Haltung des passiven Beobachtens ablegen und statt dessen aktiv teilnehmen. Wir müssen uns um das Hologramm herumbewegen, um seine verschiedenen Seiten zu betrachten, seine vielschichtigen Wirklichkeiten zu erkennen, seine Tiefen zu verstehen.
Ein integraler Aspekt ist selbstverständlich die weltweite Situation von Frauen. Ein anderer beschäftigt sich damit, das richtige technologische Gleichgewicht für eine neue Gesellschaft zu finden. Ein anderer gibt die Subrealitäten von Träumen und dem Unbewußten wieder. Ein anderer deckt die Komplexität der sexuellen Leidenschaft bei Frauen und Männern auf. Wieder ein anderer wagt, die Komplikationen in lang andauernden, engagierten Beziehungen darzustellen. Das, was wir aus Gewohnheit als voneinander unabhängige Probleme ansehen — Geschlecht, Rasse, Weltpolitik,'Familienstrukturen, die Umwelt, Jugend, Alter —, enthüllt sich als miteinander verknüpft, sobald wir uns um das Hologramm herumbewegen, darunterlugen und uns darüber beugen. Die Mechanismen im Innern des menschlichen Körpers oder im Innern eines Atompartikels, die Fragen von Sterben und Tod, von Masken und Personen, von geistlichem Glauben und wissenschaftlichen Tatsachen, von Ästhetik und Astrophysik, enthüllen sich als miteinander verwobene Ausdrücke eines dynamischen Ganzen.
Politische Bewegungen sprechen von »Allianzen« und »Koalitionen«. In der Praxis sind beide häufig notwendig und schwierig. Dieser Prozeß könnte sicher erleichtert und beschleunigt werden, wenn uns klar wäre, daß die Beziehungen bereits vorhanden sind, und weniger darauf warten erfunden als vielmehr entdeckt und wahrgenommen zu werden. Kant sagte: »Freiheit ist das Vermögen, daß allen anderen Vermögen zur vollen Entfaltung verhilft.« Ich würde ihm zustimmen und zudem die Feststellung wagen: »Feminismus ist die Vision, die allen anderen Visionen aus ihrem Anfangsstadium heraushilft.«
Doch damit der Feminismus seine wahren Möglichkeiten ausdrücken kann, müssen wir Feministinnen die unseren ausdrücken. Das wiederum verlangt, daß wir uns auf die schwierige Aufgabe einlassen, weiterhin verletzlich und persönlich über unser eigenes Leben und das Leben anderer Frauen zu sprechen und zugleich standhaft zu bleiben gegenüber der Neigung zur Opferhaltung, Bitterkeit, zu Selbstmitleid oder uns gehen zu lassen. Die Schäden aufzudecken, die durch systematische Grausamkeit, Verkrüppelung, Indifferenz und durch die tägliche Verweigerung unserer Menschlichkeit angerichtet werden, ist schon schmerzlich und gefährlich genug. Eine noch viel schwierigere Herausforderung ist es aber, dies zu tun und uns dabei nicht von den Greueln vollkommen überwältigen zu lassen, die gegen uns selbst und die eigenen Leute verübt werden.
Dieser Herausforderung — die eigenen Bemühungen aufrechtzuerhalten trotz der Erkenntnis, daß die Regeln, nach denen sie strukturiert sind, nicht mehr gelten — sehen sich heute auch die auf dem Gebiet der Quantentheorie arbeitenden Physiker gegenüber. Viele von ihnen haben es in einer Art reaktionärem Verhalten vorgezogen, sich bewußt ihrer wissenschaftlichen Methode in einer Weise zu bedienen, die sich inzwischen durch die gleiche Methode als irrelevant erwiesen hat. Einige jedoch wagen weiterzugehen und weiter, wohin immer diese Methode sie führen mag.
Deshalb und wegen der erstaunlichen Erkenntnisse, die diese zweite  Gruppe gewonnen hat, habe ich in diesem Buch die Quantenphysik als die zentrale Analogie für den Feminismus und für die Freiheit gewählt. Die Themen von Relativität und Beziehungen untereinander, sowie der holographische Charakter der modernen Physik selbst, zeigen am besten - und in wissenschaftlich begründeter Form - was ich mit meinem erweiterten Bild von Feminismus meine. Außerdem ist es inzwischen akzeptierte Tatsache, daß die Quantenphysik unsere Wahrnehmung der Realität grundlegend verändert hat; für mich ist sie ein nützliches Vehikel, das uns vermitteln und bestätigen kann in welcher Weise Feminismus bisher - und mehr noch in Zukunft - das Gleiche tut. Zudem hilft sie uns, einen Blick von einer uns bislang unvorstellbaren Freiheit zu erhaschen.
Solche Erkenntnisse liegen im Interesse einer jeden Frau und eines jeden Mannes, nicht nur, weil sie Wahrheiten enthalten die wir alle zur Kenntnis nehmen müssen, sondern auch weil unsere Spezies sonst zum Untergang verdammt ist. Die menschlichen Gesellschaften auf unserem Planeten nähern sich der kritischen Masse, und unsere zerstörerischen Möglichkeiten scheinen unsere kreativen Möglichkeiten weit hinter sich gelassen zu haben. Wir können also unser Leben damit verbringen, daß wir uns hilflos verkriechen, in der einzigen Hoffnung, das Leben werde uns verschonen und uns das belassen, was wir uns als Sicherheit und Komfort vorspiegeln. Wir können aber auch aus unserem intellektuellen und emotionalen Atombunker heraustreten und ganz bewußt zu jener Existenzform mutieren, von der wir immer, heimlich, geträumt haben.
Einstein sagte, »was mich wirklich interessiert, ist, ob Gott als er die Welt erschuf, irgendeine Alternative hatte«.
Was mich wirklich interessiert, ist, ob du und ich eine Alternative haben.

New York City
Februar 1982
Robin Morgan

 

Daß Befreiung und Freiheit nicht dasselbe sind, daß Freiheit zwar ohne Befreitsein nicht möglich, aber niemals das selbstverständliche Resultat der Befreiung ist, daß der Freiheitsbegriff, der der Befreiung eigen ist, notwendigerweise nur negativ ist, und daß also die Sehnsucht nach Befreiung keineswegs identisch ist mit dem Willen zur Freiheit - all das sind natürlich Binsenwahrheiten. Und wenn solche Selbstverständlichkeiten so leicht übersehen werden, so deshalb, weil es in der Geschichte viele Befreiungskämpfe gibt, über die wir sehr gut unterrichtet sind, und sehr wenig wirkliche Versuche, die Freiheit zu gründen, von denen wir zudem meist nur in Form von Legenden überhaupt etwas wissen.
Krieg und Revolution haben alle ideologischen Rechtfertigungen überlebt. Und ... es gibt nichts mehr, wofür es sich zu kämpfen lohnte, als das, was das Älteste ist ... — nämlich die Sache der Freiheit gegen das Unheil der Zwangsherrschaft jeglicher Art.

Hannah Arendt