(4) Bettina ist gern bei der Großmutter. Sie ist gern in Offenbach, das, obwohl es zu dieser Zeit dort schon Fabriken gibt, ländlicher und ruhiger ist als Frankfurt. Die Grenzen zur freien Natur liegen dort näher. »In Frankfurt«, findet Bettina, »riecht es nach Schacher, nach Geld. Und was machen die Leute mit dem Geld? Ach! Sie geben Diners, sie putzen sich und fahren mit zwei Bedienten hinten auf.« Bettina will hinaus aus der Frankfurter Enge, in der man »nur die Dachziegel der Nachbarn zählen« kann. In ihrem Mansardenstübchen in der Domstraße zu Offenbach fühlt sie sich hoch, frei und stolz.
Bettina ist ein Kind, wie es sich die Großmutter immer gewünscht hat. Phantasievoll, einfallsreich, überschwenglich gefühlvoll, enthusiastisch, spottlustig gegenüber Erwachsenen, die sich allzu ernst nehmen, geniehaft unberechenbar. Die eigenen Kinder entsprechen selten solchen Wunschvorstellungen. Mit so einem Enkelkind wird man wieder jung.
Was Bettina an dem Haus der Großmutter gefällt, in dem auch noch ihre Tante Luise Mohn wohnt, ist dessen Geordnetsein, die Geborgenheit, Gemütlichkeit. Nestwärme ist diesem Kind bisher kaum geboten worden. Und die Großmutter hat Verständnis dafür, daß alles Gespreizte, allzu Glatte, Gekünstelte das lebhafte Mädchen zu Kritik provoziert. Der Großmutter darf man Dinge offen ins Gesicht sagen, die bei anderen Erwachsenen sofort Gereiztheit auslösen und Strafen nach sich ziehen würden.
Hin und wieder rafft sich Sophie von Laroche aber doch zu pädagogischen Vorhaltungen auf. Die Enkelin soll einsehen, daß man es ohne systematisches Lernen zu nichts bringt. Es geht doch nicht an, daß man die Feder übers Papier schluren läßt, völlig ohne auf Punkt und Komma zu achten, daß man Bethmann in Bettmann umbenennt und den Namen des Französischlehrers, der Lendroy lautet, in L'endroit abändert.
Der Großmutter kommt ein Einfall. Sie faßt Bettina an beiden Händen, damit sie einmal einen Augenblick still sitzen bleibt und ihr zuhört. »Weißt du, was den Sinn für Systematik bei dir befördern könnte... lern doch Latein!«
Das klingt fast flehentlich. Und ob nun gespielt oder echt: durch solch dringliche Bitten ist Bettina weit mehr zu beeindrucken als durch Befehle.
»Ich lerne Latein... versprochen«, sagt sie, und tatsächlich läßt die Großmutter sofort ihre Handgelenke los und sagt: »Dann spring, lieb's Mädele. Geh hinaus in die Luft, und morgen wollen wir weiter sprechen.«
Draußen klettert Bettina auf das Dach der Waschküche und von dort auf einen Ast eines Akazienbaumes, und als sie schließlich dort hockt und den Stamm des Baumes umarmt, flüstert sie ihm zu: »Ich nehm's zurück, daß ich Latein lernen will. Mach, daß die Großmutter nicht traurig ist darüber.«
Ein andermal liest Bettina der Großmutter aus ihrem Tagebuch vor. Als sie dabei eine ganz besonders bizarre Meinung zum besten gibt, unterbricht sie die alte Frau und sagt: »Weißt du ... auch im Geist kann man sich versteigen, mein Kind.« Und dann erzählt sie der Enkelin die Geschichte vom Kaiser Maximilian, der sich während einer Jagd beim Klettern in der Martinswand über Innsbruck verstiegen hatte. »Nur Engel haben ihn da wieder heruntertragen können, aber Engel sind nicht immer dazu bereit, wenn man sich mutwillig versteigt.« »Was brauch ich denn wieder herunter, wenn ich mich oben halten kann«, sagt Bettina sofort, »oder aber, ich könnte vielleicht auch Wolkenschwimmer werden.«
»Kind meiner Maxe«, sagt die Großmutter kopfschüttelnd, »was hast du nur für wunderliche Gedanken.« Abends, als Bettina in ihrem Mansardenzimmer im Bett liegt und die Ereignisse und Gespräche des Tages noch einmal an sich vorbeiziehen läßt, grübelt sie über diese Bemerkung nach. Weil sie das Kind der Maxe ist, darum ist die Großmutter bereit, ihr so vieles nachzusehen. Wie ist das nun? Ist die Mutter so eine besondere Frau gewesen und erwartet die Großmutter, daß sie deswegen auch eine ganz besondere Frau wird, trotz des Nicht-Latein-lernen-Wollens und der Wolkenschwimmerei? Oder hat die Großmutter gegenüber der Mutter ein schlechtes Gewissen? Viele Erwachsene sagen, die Mutter sei wie ein Engel gewesen und es sei ungerecht, daß sie so zeitig habe sterben müssen. Was meinen die Erwachsenen damit, wenn sie so etwas sagen? Sie möchte genauer wissen, wie das damals gewesen ist. Auch dieser Goethe soll die Mutter mit einem Engel verglichen haben. Sie muß das schlau anfangen, wenn sie die Großmutter darüber ausfragt. Sie hat schon gemerkt: Von der Jugend ihrer Tochter erzählt sie nicht so gern und frei weg wie von ihrer eigenen Jungmädchenzeit.
Von diesem Goethe hat die Großmutter einen Roman. Bettina hat hineingeschaut. Nur mal so, aus Neugier und weil sie alles interessiert, was mit diesem berühmten Mann zusammenhängt, von dem man sagt, daß er in die Mutter verliebt gewesen sei vor ihrer Heirat und vielleicht auch noch danach. Sie ist hängengeblieben in dieser Geschichte, vor allem, weil da ein Geschöpf darin vorkommt, das sie ungemein an sich selbst erinnert hat. Als hätte dieser Goethe sie gekannt. Dieses Geschöpf heißt Mignon, und das bedeutet - sie hat die Großmutter deswegen befragt -Liebling, Schoßkind oder einfach etwas Allerliebstes. Die Tante hat mit der Großmutter geschimpft, weil sie dem Kind nicht verbietet, ein solches Buch in die Hand zu nehmen. »Es stehen Dinge drin, da kann man ja schamrot werden«, hat die Tante gesagt.
»Also hast du es auch gelesen«, hat die Großmutter festgestellt und behauptet, Kinder verstünden immer gerade so viel, wie es gut für sie sei. Ob die Tante denn nicht auch meine, daß auf jeder Gasse zu Offenbach oder Frankfurt dem Kind noch ganz andere Geschichten zu Ohren kommen könnten. Mignon ist ein Kind der Blutschande, die Tochter eines umherreisenden Harfenspielers, der sich das Leben nimmt. Wahrscheinlich ist die Tante darüber schamrot geworden. Erwachsene meinen immer, Kinder wüßten nicht, was es alles gibt. Sie wissen meist viel mehr, als sich die Erwachsenen eingestehen wollen. Mignon ist wie Bettina, von der manche Leute ja auch sagen, daß an ihr ein Junge verlorengegangen sei. Und in den Wilhelm könnte sich Bettina verlieben. Sie versteht nur zu gut, daß er fort will, fort von den ordentlich geführten Kontobüchern der väterlichen Firma zu einer Schauspieltruppe.
Diese ganze Geschichte, so findet Bettina, ist imponierend offen erzählt. Schön grell wild und dann doch wieder beherrscht und genau. In ihr spricht einer geradeheraus und sicher über so vieles, worüber die Erwachsenen sonst verstummen, daß sie dem Goethe am liebsten einen Brief schreiben möchte, um ihm zu danken. Sie wird den Roman unbedingt zu Ende lesen. Sobald nur die Großmutter damit fertig ist, was sich am Lesezeichen ersehen läßt. Dann kann sie das Buch an sich nehmen, dann wird es auch der Tante nicht auffallen. Sie wird es auf ihren Baum mitnehmen, ganz weit hinaufklettern, bis dorthin, wo man es in den Ästen spürt, wenn ein Wind weht, und einen dann so ein Gefühl durchrieselt, für das sie kein Wort weiß. Ja, dort oben wird sie den Wilhelm Meister ungestört zu Ende studieren.
(5) »Ein kurzes, wildes, untersetztes Mädchen ... wurde stets als ein grillenhaftes unbehandelbares Geschöpf angesehen ... eine gewaltige Schwätzerin«, die auf Apfelbäumen herumturnt und »mit überschwenglichen Ausdrücken ihre Bewunderung der Mignon in Wilhelm Meister ausspricht.« So ein englischer Reisender, der auf seiner Tour über den Kontinent auch der Schriftstellerin von Laroche in Offenbach seine Aufwartung macht.
(6) Mit der Zeit wird Bettina entdeckt haben, daß auch die Lebensgeschichte der Großmutter ein Roman ist. Es fällt einem Kind nicht allzu schwer, alte Leute dazu zu bringen, von früher zu erzählen, noch dazu, wenn diese sich gern an das Früher erinnern, weil es für sie die glücklicheren und besseren Zeiten gewesen sind.
Aber was ich hier in chronologischer Abfolge hinschreiben kann, hat Bettina so nie erfahren. Für sie dürfte sich der Lebensroman der Großmutter in der Art eines Puzzlespiels zusammengesetzt haben. Wenn die alte Frau selbst erzählt, malt sie manche Situationen lustvoll genau, als durchlebe sie sie damit noch einmal. Anderes übergeht sie geflissentlich. Auch bohrende Nachfragen bringen da nichts ein. Aber es kommen hin und wieder Leute auf Besuch, die sie von früher gut kennen. Beispielsweise dieser Herr Herder, dem Bettina an der Tür eine Ohrfeige versetzt hat, als er gleich so vertraulich tat und ihr einen Kuß geben wollte. Hinterher hat es ihr leid getan, daß sie so heftig reagiert hat. Er sei eine Zelebrität, hat die Großmutter gesagt, eine Berühmtheit. Nun, so findet Bettina, es tut auch berühmten Leuten hin und wieder ganz gut, wenn sie merken, daß nicht immer alles nach ihrem Wunsch und Willen geht. Wenn man bei solchen Gesprächen zwischen alten Bekannten (oder Berühmtheiten!) und der Großmutter die Ohren spitzt, erfährt man so einiges. Und manches kann sie sich auch selbst zusammenreimen.
Vor allem interessiert Bettina, wie es zugegangen ist, als die Mutter so alt war wie sie jetzt und etwas älter. Was da war mit diesem Herrn Goethe, in dessen Roman sie hoch auf der Akazie schmökert. Und war denn die Großmutter auch einmal eine solche Zelebrität wie der Herr Herder immer noch eine ist? Wovon ist das abhängig, daß man berühmt wird, und was hat man eigentlich davon? Heißt es, daß einen sehr viele Menschen lieben, einem Aufmerksamkeit schenken und freundlich mit einem sind? Von vielen sehr geliebt zu werden - das wäre ihr recht. Manchmal verspürt sie ein großes Verlangen nach Liebe in sich, eine Art von Liebe, wie sie die Großmutter bei aller Freundlichkeit, allem Verständnis und aller Güte nicht zu geben vermag. Es macht sie unruhig, dieses ungestillte Bedürfnis in ihr, jemanden so zu lieben, von jemandem so geliebt zu werden.
(7) Bettinas Großmutter wird am 6. Dezember 1731 in Kaufbeuren geboren und auf den Namen Sophie getauft. Ihr Vater ist der Arzt Georg Friedrich Gutermann, Edler von Gutershofen, Sohn eines Senators und Hospizverwalters, der, als ein französisches Heer unter Turenne einst vor Biberach stand, die Stadt durch Hingabe seines ganzen Vermögens vor dem Untergang bewahrt hat. Die Mutter, Regina Barbara Anold, ist die Tochter eines Handelsherrn und Ratsassessors aus Memmingen. Seit 1740 leben die Eltern Sophies in Augsburg. 1747 erwirbt der Vater für sich und seine Familie das Bürgerrecht in dieser Stadt, nachdem er unter eben dieser Bedingung in den Kreis der am Ort zugelassenen Ärzte aufgenommen worden ist.
Sophie ist die Älteste von zwölf Geschwistern. Elf Mädchen sind es und ein Bruder. Der Vater stellt für seine Kinder ein ehrgeiziges Bildungsprogramm auf.
Mit drei Jahren kann Sophie fließend lesen. Mit fünf hat sie die ganze Bibel durchgearbeitet. Geschichtsunterricht erteilt der Vater selbst. Hinzu kommen für die Mädchen Französisch, Blumenmalerei, Stickerei, Klavierspielen und Gesang. In klaren Sommernächten steigt der Vater mit Sophie auf das Dach des Hauses und erzählt ihr, was er über die Gestirne weiß. Mit fünfzehn Jahren ist Sophie ein ungewöhnlich schönes Mädchen, schlank, mit hoher Stirn, dunklen Augen und hellbraunem, sehr langem Haar. Sie verliebt sich in den Italiener Johann Ludwig Bianconi aus Bologna, den Leibarzt des Fürstbischofs, der als Kollege im Haus des Vaters verkehrt, sie in Italienisch unterrichtet und mit ihr die klassische Literatur seines Heimatlandes liest. Er erteilt ihr auch Gesangstunden und Mathematikunterricht -nach einem französischen Lehrbuch , da er kein Deutsch versteht. Es ist bei beiden Liebe auf den ersten Blick, aber von einer Heirat will Vater Gutermann als orthodoxer Lutheraner nichts wissen. Die Unbedingtheit, mit der die Tochter an dem schönen und geistreichen Italiener festhält, und das Zureden seiner Frau bestimmten Georg Friedrich Gutermann schließlich, nach Italien zu reisen, um sich dort die Familie und die Lebensumstände seines zukünftigen Schwiegersohns einmal anzusehen. Sophie macht sich Hoffnungen, daß nun doch noch alles gut werden könnte: Der Vater kehrt mit einem günstigen Eindruck heim. Der Heirat scheint nichts mehr im Wege zu stehen, da kommt es zwischen dem Vater und ihrem Bräutigam bei der Aufsetzung des Ehevertrags über der Frage, in welchem Glauben die Kinder des Paares erzogen werden sollen, zu einem erbitterten Streit. Der Bräutigam verlangt, nicht zuletzt wegen seiner Stellung als Arzt des Erzbischofs, die katholische Konfession, Sophies Vater die protestantische. Was sie selbst dazu meint, ist unerheblich. Nach einem heftigen Wortwechsel weist der Vater Bianconi die Tür und zwingt die Tochter, vor den Augen der gesamten Familie alle Briefe, Gedichte, Arien und geometrischen Arbeiten zu verbrennen und ein von dem englischen Maler Wilson angefertigtes Porträt Bianconis zu zerschneiden. Ihren Verlobungsring muß sie zerbrechen.
Das Mädchen tut den heimlichen Schwur, daß niemand mehr ihren Gesang hören, die italienische Sprache aus ihrem Munde vernehmen und keiner von dem Wissen, das sie Bianconi verdankt, je etwas ahnen solle.
Die Mutter stirbt. Der Vater schickt die Tochter zum Großvater in das Haus des Pfarrers Wieland, dessen Frau Sophies Patentante ist. Sophie lernt den Sohn des Pfarrers, Christoph Martin Wieland kennen. Er ist siebzehn, zwei Jahre jünger als sie. Ein gefühlsstarker Junge mit strikten Grundsätzen, der dem damals sehr beliebten Dichter Klopstock nacheifert, ein überzeugter Christ. Tugendhaftigkeit und Reinheit sind für ihn hohes und hehres Ideal seiner Lebensführung. Zwischen den beiden jungen Leuten entspinnt sich langsam eine Liebesaffäre. Die Verhaltensweise der Liebenden ist von der Zeitmode der Empfindsamkeit bestimmt. Christoph Martin wandelt mit seiner Sophie durch Wald und Feld. Unter Tränen der Rührung und des Entzückens versichert man einander, daß man nur die reinsten und tugendsamsten Gefühle hege. Der junge Mann hält seiner Geliebten einen belehrenden Vortrag über die letzte Sonntagspredigt. Beide sinken auf die Knie und schwören der Tugend ewige Treue, um dann aufzuspringen, sich stürmisch zu küssen und darauf wieder langwierig zu diskutieren, ob solche leidenschaftlichen Küsse sich denn mit der Tugendhaftigkeit auch vertrügen.
Bevor Christoph Martin zum Studium nach Tübingen geht, verloben sie sich. Als er 1752 sein Studium abgeschlossen hat, kommt er nur für ein paar Tage heim. Er ist auf der Durchreise nach Zürich, wohin ihn der wohlhabende und einflußreiche Literat, Übersetzer und Kritiker Bodmer eingeladen hat. Das kurze Wiedersehen wird durch eine elende Zänkerei überschattet. Die Mutter, auf Sophie krankhaft eifersüchtig, beschuldigt diese, ihr den Sohn entfremdet zu haben. Sophie findet, daß sich Christoph Martins Liebe zu ihr abgekühlt habe. Von Heirat ist nicht mehr die Rede bei ihm; seine literarische Karriere geht vor. Nachdem er abgereist ist, bleiben die Briefe aus Zürich lange aus. Er erklärt das mit einem Versehen, aber es ist offensichtlich, daß er eine Ausrede gebraucht, daß er sich von Sophie trennen möchte und nur nicht recht weiß, wie er das anstellen soll. Da löst sie die Verlobung. Sie muß zurück ins Haus ihres Vaters, der inzwischen die Witwe eines Ulmer Ratsherrn geheiratet hat. Die zweite Frau des Vaters behandelt sie mit eisiger Förmlichkeit. Man gibt ihr zu verstehen, daß sie auf die Dauer nicht unter diesem Dach bleiben kann, daß sie stört. Der Vater drängt zur Heirat, die Stiefmutter macht spitze Bemerkungen: Lange könne sie nicht mehr zuwarten, wenn sie noch unter die Haube wolle. Zwei aufgelöste Verlobungen bei einem Mädchen, da würden die Leute hellhörig. Mit so einer stimme was nicht. Vielleicht, daß man sie mit zuviel gelehrtem Zeug vollgestopft habe. Es gehöre sich nicht, daß eine Frau klüger sein wolle als der Mann. Sowas treibe die Freier aus dem Haus. Daran werde jeder Mann irre.
Zu ihrem Glück taucht endlich jemand auf, der solche Vorurteile nicht hat, wohl weil er selbst von klein auf Vorurteilen ausgesetzt war. Georg Michael von Laroche ist 1720 als uneheliches Kind des Kurmainzer Kanzlers, Graf Friedrich von Stadion, geboren worden. Offiziell - auch das ist bezeichnend für die Moral dieser Zeit-ist Stadion nicht Laroches Vater, sondern ein Gönner, sein Wohltäter, der einen Waisenknaben im Kindesalter adoptiert hat. Unter diesem Deckmantel hat Stadion allerdings gewissenhaft für Laroche gesorgt, ihn nach seiner Ausbildung protegiert. Diesmal übergeht der Vater den wunden Punkt bei der Aufsetzung des Ehekontrakts; es gibt keine religiösen Auseinandersetzungen. Er will seine Tochter an den Mann bringen, und zu einer Zeit, in der Mädchen häufig schon mit sechzehn Jahren heiraten, wird es mit Anfang zwanzig höchste Zeit. Da darf man nicht kleinlich sein.
Sophie sieht keine Möglichkeit, gegen diese Engherzigkeit, gegen die Willkür der Männer und die Auffassung, Mädchen als eine Ware zu betrachten, zu protestieren. Aber sie vergißt diese Erfahrungen nie.
Man hat sich in späteren Zeiten viel über die übertriebene Empfindsamkeit der Heldinnen in ihren Büchern lustig gemacht. Bei solchem Spott wird leicht übersehen, daß solche Gefühlsseligkeiten Teil eines Mechanismus sind, um verdrängte Gefühle ganz anderer Art auszuleben.
1753 heiratet Sophie Georg Michael von Laroche und geht mit ihrem Ehemann an den eleganten, kunstsinnigen Hof des Mainzer Erzbischofs und Kurfürsten. Hier entwickelt sie sich zu einer gesellschaftlich gewandten, sich auf geistreiche Konversation verstehenden Dame, wird Mittelpunkt eines Salons, in dem höfische Kavaliere, Künstler und Gelehrte verkehren. Der Aufenthalt bei Hofe nimmt nach acht Jahren ein jähes Ende. Von Laroche muß dem Grafen von Stadion als Verwalter dessen umfangreichen Grundbesitzes auf Schloß Warthausen bei Biberach folgen. Dort feiert Sophie ein höchst gefühlvolles Wiedersehen mit Wieland. Seufzer, Tränenausbrüche, erstickte Worte, als Wieland Sophies kleinen Sohn gezeigt bekommt. Wieder Tränen, als er dem Ehemann der Geliebten von ehedem vorgestellt wird. Endlich schließt Sophie beide Männer in die Arme, und wieder einmal schwört man sich unverbrüchliche Freundschaft. Während der nächsten Jahre bleibt Sophie Wielands Vertraute, Gesprächspartnerin bei seinen schriftstellerischen Projekten, auch dann noch, als Wieland eine Vernunftehe mit der braven, aber an künstlerischen Dingen wenig interessierten Dorothea Hillenbrand eingeht.
1768 stirbt Graf von Stadion. Von Laroche muß, einem testamentarischen Wunsch seines Vaters und Gönners entsprechend, in den entlegenen Ort Bönigheim übersiedeln. Auch dort hat der Graf Besitzungen gehabt.
Sophie leidet unter der Trennung von ihren beiden Töchtern, die in Straßburg erzogen werden. Um, wie sie selbst später erklärt, ihr Inneres zu beruhigen und um sich zu erleichtern, schreibt sie ihren ersten Roman Die Geschichte des Fräulein von Sternheim. Wieland gibt ihn heraus, zunächst ohne daß der Name der Autorin genannt wird. Das Thema: die Schwierigkeiten, Kämpfe und Krämpfe weiblicher Tugend. Es ist geprägt von dem Vorbild der damals sehr beliebten Romane des Engländers Richardson. Der andere unübersehbare Einfluß ist die Empörung Rousseaus über die Unnatur der gesellschaftlichen Verhältnisse. Und natürlich gehen Sophies eigene Erfahrungen und viel von ihrem verdrängten Zorn in das Buch mit ein. Da steht Bürgertugend gegen lasterhafte Höflinge. Das Leben von Bauernkindern wird im Sinne Rousseauscher Philosophie idyllisch verklärt. Ausbrüche von Naturbewunderung wechseln ab mit Propaganda für eine reinere, edlere Menschheit.
Bei all dem Überschwang an Gefühlen und Idealen sind die Romane von Sophie von Laroche eine sehr anschauliche Informationsquelle über Lebensumstände und Bewußtsein des gehobenen Bürgertums zu dieser Zeit, denn die Szenerie ihrer Geschichten ist nicht ausgedacht, nicht erfunden. Sie überträgt ihre eigene Umwelt, die sie scharf und genau beobachtet hat, in ihre Bücher. Personen treten auf, von denen man merkt, daß die Autorin sie wirklich genauestens kennt.
Ihr erster Roman wird ein großer Erfolg. Er ist eines jener Bücher, die genau die Stimmung ausdrücken, die im damaligen Bürgertum vorhanden war. Viele Menschen aus dieser Gesellschaftsschicht erkennen sich und ihre Probleme und Gefühle darin wieder. Herder, Merck, der »Sturm-und-Drang«-Autor Lenz äußern sich mit überschwenglicher Zustimmung. Das Buch wird ins Französische, Englische und Holländische übersetzt. Der junge Goethe verteidigt es in den Frankfurter Gelehrten Anzeigen gegenüber, wie er meint, unverständigen Kritikern mit dem klugen Satz: »Die Herren irren sich, wenn sie meinen, sie beurteilten ein Buch, es ist eine Menschenseele.« 1771 wird von Laroche vom Trierer Kurfürsten Clemens Wenzellaus als Geheimrat nach Koblenz berufen. Am Kurfürstenhof hat soeben ein Kabinettwechsel stattgefunden. Gestürzt worden ist eine Regierung, der man vorwirft, sie habe den Klerikalismus im Land zu sehr begünstigt. So erklärt es sich auch, daß von Laroches Schrift Briefe über das Mönchswesen von einem Katholiken, eine scharfe, mit derben Satiren gepfefferte Anklageschrift, die fünf Auflagen erlebt, ihn für ein Amt, das etwa dem eines Staatssekretärs entspricht, empfohlen hat.
Für einige Jahre wird das Haus der Familie von Laroche zu einer Art von literarischem Wallfahrtsort. Merck, Lavater und Basedow sind dort zu Gast, schließen Freundschaft mit Sophie, bewundern deren hübsche Tochter Maximiliane und genießen die freisinnige Atmosphäre, die hier herrscht. 1772/73 kommt auch Goethe häufig in dieses Haus. Dort findet in diesen Jahren ein beliebtes literarisches Gesellschaftsspiel statt. Da reist von Düsseldorf ein Herr Leuchsenring an, der eine ganze Mappe mit Briefen von bedeutenden Persönlichkeiten mitbringt, bzw. Briefe, in denen von damals bekannten Persönlichkeiten die Rede ist. Beispielsweise kann der Mann Briefe einer gewissen Julie Bondeli vorweisen, die Rousseaus Freundin war oder vielleicht noch ist und Intimstes zu erzählen weiß. Der Philosoph hat eine weite Gemeinde in ganz Europa, und wer die Briefe der Bondeli hört, mag sich einbilden, dem großen Mann ganz nahe zu sein, so nahe eben wie jene Freundin.
Goethe bemerkt, man sei auf diese Art von Unterhaltung verfallen, »da für politische Diskurse wenig Interesse« bestanden habe. In diesem Haus im Thal, diesem »wohlgebauten Örtchen am Fuße des Schlosses Ehrenbreitstein«, das sich damals bei weitem noch nicht so martialisch ausnahm wie die spätere Festung, sieht Goethe auch die von Sophie und ihrem Ehemann besonders geliebte älteste Tochter Maximiliane - »eher klein als groß von Gestalt, niedlich gebaut; freie anmutige Bildung, die schwärzesten Augen und eine Gesichtsfarbe, die nicht reiner und blühender gedacht werden konnte«, so schildert er sie in Dichtung und Wahrheit.
Über die Mutter der schönen Maximiliane notiert Goethe:
- Sie war mild gegen alles und konnte alles dulden, ohne zu leiden; den Scherz ihres Mannes, die Zärtlichkeit ihrer Freunde, die Anmut ihrer Kinder, alles erwiderte sie auf die gleiche Weise, und so blieb sie immer sie selbst, ohne daß ihr in der Welt durch Gutes oder Böses oder in der Literatur durch Vortreffliches und Schwaches wäre beizukommen gewesen.
Daß Sophie, bestimmt durch Zweckmäßigkeitsüberlegungen, ihre beiden Töchter zwang, ungeliebte Männer zu heiraten, ist einer jener dunklen Punkte in ihrem Wesen, den man sehen muß, ohne ihn aufklären zu können.
Natürlich fragt man sich, warum eine Frau, die unter diesem Problem als junges Mädchen sehr gelitten hat, aus ihren eigenen bitteren Erfahrungen keine Konsequenzen zog. Aber nicht immer pflegen Menschen aus ihren Erfahrungen zu lernen. Nicht immer behandelt die nächste Elterngeneration ihre Kinder vernünftiger als sie selbst von ihren Eltern behandelt worden ist. Dabei scheint es Sophie bald bereut zu haben, daß sie die Werbung Pietro Anton Brentanos unterstützt hatte. Jedenfalls schreibt Goethe in Dichtung und Wahrheit:
- Frau von Laroche hatte ihre älteste Tochter nach Frankfurt verheiratet, (sie) kam oft, sie zu besuchen, und konnte sich nicht recht in den Zustand finden, den sie doch selbst ausgewählt hatte. Anstatt sich darin behaglich zu fühlen oder zu irgendeiner Veränderung Anlaß zu geben, erging sie sich in Klagen.
Goethe nennt das Haus in Thal-Ehrenbreitstein »fröhlich«, das »Haus zum goldenen Kopf« in Frankfurt »düster« und fügt hinzu, Maximiliane habe Schwierigkeiten gehabt, sich in ihre Rolle als Mutter einiger Stiefkinder zu finden. Seinen Konflikt mit Pietro Anton Brentano beschreibt er aus der Rückschau reichlich ungenau, so daß man, wie bei vielen Ereignissen, eine »Umdichtung« zumindest nicht ausschließen kann.
Unverblümter hat sich Goethes Mutter, die Frau Rat, über Pietro Anton Brentano geäußert. Dem sei seine Standeserhöhung (also wohl sein Konsultitel) so zu Kopf gestiegen, daß seine Frau befürchte, »das bisgen Verstand so noch in seinem Hirn wohnt, könne auf dem Mond reisen.« Mit »seiner Frau« ist Maximiliane gemeint. Noch bissiger lautet das Urteil der Frau Rat über den Mann der zweiten Tochter Sophies, Luise, den Hofrat Christian Mohn. Über ihn schreibt Goethes Mutter am 11. April 1779 in einem Brief an die Herzogin Amalie von Weimar:
- Teuerste Fürstin! Könte Doctor Wolf den Tochtermann sehen den die Verfasserin der Sternheim Ihrer zweyten Tochter auf hengen will; so würde Er nach seiner sonst löblichen Gewohnheit mit den Zähnen knirschen, und gantz Gottlos fluchen. Gestern stellte Sie mir das Ungeheur vor - Großer Gott!!! Wenn mich der zur Königin der Erden (Amerika mit eingeschlossen) machen wollte; so - ja so -gebe ich Ihm einen Korb. - Er sieht aus wie der Teufel in der 7ten Bitte in Luthers kleinem Katechismus - ist so dumm wie ein Heupferd und zu allem Unglück ist er Hof rath. Wenn ich von all dem Zeug was begreife, so will ich zur Auster werden. Eine Frau wie die Laroche von einem gewiß nicht gemeinen Verstand, von zimlichen Glückgütern, von Ansehen, Rang usw. die es recht drauf anfängt*,(*anlegt) ihre Töchter unglücklich zu machen und doch Sternheime und Frauenzimmer-Briefe schreibt- mit einem Wort, mein Kopf ist wie in einer Mühle.
Die zwei Töchter unglücklich gemacht. Das ist immerhin eine Meinung von Zeitgenossen. Mag es bei Maximiliane in Hinblick auf dieses Urteil noch gewisse Zweifel geben, so sind sie bei Luise ausgeschlossen. Ihr Mann war ein Alkoholiker, ein Sadist. Clemens Brentano, der als Kind längere Zeit bei den Mohns gelebt hat, nennt ihn ein Ungeheuer. Die Ehe wird geschieden. Aber bis es dahin kommt, ist Luise durch ein Martyrium gegangen - die tiefere Ursache dafür, daß Bettina die Tante nur noch als überreizte, engherzige, überstrenge Frau erlebt, die bei den Kindern der Verwandtschaft den bezeichnenden Spitznamen »Sperber« trägt.
Zwei Töchter, die unglücklich geworden sind in ihrer Ehe. Das muß beträchtliche Schuldgefühle bei Sophie gegeben haben. Sie wird sich gesagt haben, sie habe es gut gemeint und auch sie sei in einer Vernunftehe zufrieden geworden. Sie wird sich vor sich selbst damit verteidigt haben, es sei ihr darum gegangen, die Töchter abzusichern. Aber all diese Gründe werden sie doch nicht ganz beruhigt haben. Trauer und auch Zorn über das eigene Versagen, über die falsche Wahl müssen geblieben sein. Aber vielleicht ist es eben doch möglich, aus eigenen Erfahrungen zu lernen. Der unkonventionelle, herzliche und großzügige Umgang der Großmutter von Laroche mit Bettina läßt das zumindest vermuten.
1780 hat das heitere Leben in Koblenz - ein offenes Haus, genügend Geld, Berühmtheiten aus ganz Deutschland zu Besuch, geistreiche Konversation, Klatsch, Flirt, Ausflüge - ein Ende. Am Trierer Hof kommt die klerikale Partei wieder an die Macht. Die Minister Hornstein und Hohenfeld werden entlassen und mit ihnen der Staatsrat von Laroche. Die Drähte dafür sind aus Wien gezogen worden, wo man schon lange das »jesuitenfeindliche Treiben« mit Mißfallen beobachtete.
Der gestürzte Minister Hohenfeld wird für Schiller zum Vorbild zu seinem Marquis Posa im Don Carlos. Gegenüber den in materielle Bedrängnis geratenen von Laroches zeigt er nobelste Hilfsbereitschaft. Hohenfeld nimmt in Speyer die ganze Familie in sein Haus auf und begnügt sich selbst mit einem einzigen Zimmer, einer Nebenkammer.
Jetzt tragen Sophies literarische Arbeiten dazu bei, die ärgsten Sorgen von der Familie abzuwenden. Unter dem Titel Pomonafür Teutschlands Töchter gibt sie eine Zeitschrift heraus, die, wie es in dem Blatt selbst programmatisch heißt, »die Erziehungsgrundsätze Rousseaus, durch deutsche Weiblichkeit gemildert und gemäßigt, mutig vertreten will.«
Wieder, wie schon bei ihrem Roman - und dabei spielen ihre eigenen Lebenserfahrungen gewiß eine wichtige Rolle -, kommt Sophie einem Zeitbedürfnis nach, das in der Luft liegt. Die enthusiastischen Reaktionen auf diese Publikation sind fast unglaublich. Über einige Jahre hin wird Sophie durch diese Zeitschrift zur »literarischen Oberhofmeisterin« der bürgerlichen Frauen und Mädchen in ganz Deutschland. Sie erhält eine Flut von Zuschriften, in denen Frauen ihre intimsten Sorgen und Wünsche vor ihr ausbreiten. Die »gute Mutter von Deutschlands Töchtern« wird sie genannt, als »Tatenverbreiterin erhabener Mädchen« gerühmt. Eine Akademie der Arkadier in Rom nimmt Sophie unter dem Namen Artemisia Sidonie in ihre Reihen auf. Die Zarin Katharina II. von Rußland bezieht von jeder Nummer der Zeitschrift gegen ein recht nobles Honorar 500 Exemplare.
»Freilich«, schreibt einer der Biographen der Laroche, »verstand es Sophie, ihre Lehren, die auf Natur, Häuslichkeit und sittliche Veredlung hinwiesen, recht geschickt mit der Empfindsamkeit des Tages zu verquicken, und ein fein spekulativer Zug war es, daß sie in der Pomona all die lobrednerischen Briefe fremder Verehrerinnen anonym abdruckte und ihre eigenen Antworten darauf anfügte.«
Damit ist aber der Erfolg der Zeitschrift nicht erklärt. Zu einem solchen Erfolg kommt es nicht, ohne daß ein Bedürfnis vorliegt. Es bestand wohl darin, daß es damals Tausende und aber Tausende von Frauen gegeben haben muß, für die es ans Wunderbare grenzte, irgendwo bei jemandem auf Verständnis für spezifisch weibliche Sorgen und Nöten zu stoßen. Über dem Glanz und Ruhm der deutschen Klassik vergißt man leicht, daß sich zur selben Zeit in allen Gesellschaftsschichten Tragödien abspielten, deren Opfer fast immer Frauen gewesen sind. Wenn Goethes Mutter sich darüber aufregt, was für einen unmöglichen Menschen Sophie von Laroche ihrer Tochter als Ehemann ausgesucht hat, so verdrängt sie, unter welchen Umständen ihre eigene Tochter verheiratet worden ist und wie deren Lebenswille in einer unglücklichen Ehe zerbrach.
Es ist bestürzend, mit welcher Selbstverständlichkeit bei Konflikten oder Schwierigkeiten immer erwartet wurde, daß die Frauen die Zeche bezahlten, Frauen ohne aufzubegehren die Schwierigkeiten auf sich nahmen, Frauen ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse verleugneten.
Daß Männer und Frauen auch nur ansatzweise partnerschaftlich miteinander umgehen, ist selten, der Hausvater in der Pascharolle häufig. Und daß Frauen durch eine Überzahl von Geburten in physische und psychische Erschöpfung getrieben werden, nehmen die meisten Männer als naturgegeben hin. Andererseits hat die Zeitmode der Empfindsamkeit bei all ihren Tugendvorstellungen, die zumeist zu Lasten der Frau gingen, doch auch den Anspruch eines jeden Menschen auf eigene Gefühle und Empfindungen und eine daraus resultierende Handlungsweise bestärkt, die unter Umständen auch von der Konvention abweichen konnte. Das Recht darauf mußte daher auch den Frauen zugestanden werden. Dabei ist jedoch zu bedenken, daß es Töchter und Ehefrauen des gehobenen Bürgertums und nur ganz selten Mädchen und Frauen aus der Unterschicht sind, die die Bildungsvoraussetzungen und die Muße haben, sich von der Literatur in ihrem Aufbegehren gegen die Konventionen einer adlig-bürgerlichen Gesellschaft über Ehe, Sexualität und die Rolle der Frau, die sie als tägliche Misere erlebten, bestärken zu lassen. Und natürlich werden auch in der Pomona nicht wirklich emanzipatorische Ideen verbreitet, aber auch Verständnis kann Hilfe sein und Mut machen, nicht alles hinzunehmen und Vorstellungen darüber zu entwickeln, daß nicht alles so bleiben muß, wie es ist.
1784 beginnt für Sophie eine Zeit großer Reisen, sie besucht die Schweiz, Frankreich, ein Jahr später Holland und England. Auch hier läßt sich der Unterschied in der damaligen Männer- und Frauenrolle klar erkennen. Ein junger Herr aus gutem Haus macht zum Abschluß der Lebensphase, die für die Bildung vorgesehen ist, seine Kavalierstour durch zwei, drei, manchmal durch noch mehr Länder Europas. Während das ganz selbstverständlich dazugehört, wäre es niemandem eingefallen, etwa seine Tochter auf eine solche Reise zu schicken. Als Frau muß man auf künstlerischem Gebiet berühmt geworden sein, ehe man reisen darf.
Drei Eigenarten ihres Wesens spielen zusammen, wenn es Sophie drängt, zu reisen: ein unstillbarer Drang nach Erfahrung und Wissen, eine große Lust auf neue Eindrücke und der schwärmerische Kult um bedeutende Persönlichkeiten. Schon 1778 ist sie zu Klopstock nach Hamburg gepilgert. Inzwischen ist Sophie, die Verfasserin der Geschichte des Fräulein von Sternheim und die Herausgeberin der Pomona, selbst eine Berühmtheit. Jetzt wird der Ruhm abkassiert. Überall schlägt ihr schwärmerische Begeisterung entgegen. In Sursee in der Schweiz beispielsweise ist bei ihrer Ankunft schon eine Festtafel ausgerichtet. Vierzig Offiziere haben sich zu ihrer Huldigung versammelt und bringen feurige Trinksprüche auf sie aus.
Über all ihre Reisen veröffentlicht sie Tagebücher, die sie ihren Töchtern widmet. Eingesperrt in ihre Ehe und angebunden durch die vielen Kinder, genießen diese nicht solche Freizügigkeit wie die Mutter. Die Töchter mitzunehmen, scheint undenkbar gewesen zu sein.
1786 kauft das Ehepaar von Laroche sich ein Haus in dem noch recht ländlichen Offenbach, dem Sophie den Spitznamen »die Grillenhütte« gibt.
Der Strom der Bewunderer und Leser, die sie dort aufsuchen, fließt langsam dünner. Im Kreis ihrer Familie gibt es viel Trauer und Unglück. Luises Ehe ist geschieden. Der Lieblingssohn, die Lieblingstochter, um der nahe zu sein Offenbach wohl als Wohnsitz ausgewählt worden ist, der Ehemann sterben rasch hintereinander.
Sophie hat immer Menschen um sich gehabt. Nun wird es stiller. Auch das mag eine Rolle dabei gespielt haben, daß sie sich Ende Juli 1797 dazu entschließt, ihre drei Enkelinnen zu sich zu nehmen. Was Bettina betrifft, die als einzige ständig bei ihr bleibt, wird es noch ein anderes Motiv gegeben haben. Es sind authentische Äußerungen von Sophie überliefert, die verraten: indem sie sich um Bettina kümmert, meint sie auch etwas gutzumachen an Maximiliane.
1799 unternimmt Sophie eine letzte größere Reise nach Osmannstadt zu Wieland und weiter zu Goethe nach Weimar. Der Jugendfreund wettert über ihr geziertes Getue. Friedrich Karl von Savigny, der Sophie bei Wieland zum ersten Mal begegnet ist, notiert: »Eine lebhafte Frau, zwar sehr Schauspielerin und sehr verschieden von meinem Ideal einer Patriarchin, aber sehr interessant, es war mir wohl bei ihr.«
Herder hingegen meint, sie spreche Kanzleisprache, nie aber die Kabinettsprache des Herzens, Goethe spottet gegenüber Schiller über die sich jung gebärdende Matrone.
Daß Sophie von alldem so ganz und gar nichts gemerkt haben soll, will einem, stellt man die ungeheure Klatschsucht der Jenaer, Weimarer und Frankfurter Cliquen in Rechnung, nicht so recht einleuchten. Aber sie wird es fertiggebracht haben, darüber hinwegzusehen. Sie hat ein erfülltes Leben gehabt. Ein Leben wie aus einem empfindsamen Roman.