(8) Bettina wohnt noch nicht lange in Offenbach bei der Großmutter, als es zu einer Begegnung kommt. Sie spielt gerade mit ihrer Puppe, was sie nur noch selten tut, weil sie sich eigentlich schon etwas zu alt vorkommt, um noch mit Puppen zu spielen. Aber ab und zu tut sie es doch noch, weil die Puppe etwas ist, was man an sich drücken und liebhaben kann. Wenn sie also Lust hat auf Liebhaben und Liebgehabtwerden, spielt sie mit der Puppe.
An diesem Vormittag geht plötzlich die Tür auf. Ein fremder junger Mann kommt herein. Lachend, wild, stürmisch, verwegen. Schwer abzuschätzen, wie alt er sein mag. Vielleicht neunzehn oder zwanzig Jahre. Er gefällt ihr mit seinem schwarzen Haar, das so dicht und weich ist, den dunklen Augen und der ungewöhnlich weißen Haut. Sie schämt sich etwas, weil er gesehen haben wird, wie sie mit der Puppe gespielt hat. Da müßte er sie ja für ein Kind halten, und von so einem möchte sie viel lieber schon als junge Frau angesehen werden. Sie wirft rasch die Puppe unter den Tisch und hofft, sie werde ihm dort nicht auffallen. Er setzt sich, streckt beide Arme nach ihr aus und sagt: »Komm her, du Hübsche, weißt du nicht, wer ich bin?« Sie läuft zu ihm hin. Sie ist so voller Vertrauen wie sonst nie. Er schließt sie in seine Arme, küßt sie, drückt sie ganz fest an sich, was sie als angenehm empfindet. Er hebt sie hoch, setzt sie vor sich auf die Knie und sagt: »Ich bin der Clemens.«
Sie weiß, sie hat einen Bruder, der Clemens heißt. Recht häufig ist von den Erwachsenen über ihn gesprochen worden. Sie sagen, er tue nicht gut. Man hat es im Geschäft mit ihm versucht. Da hat er ein respektloses Märchen über den Kaufmannsstand gedichtet und sich immer in die Bibliothek des alten Buchhalters Schwab davongeschlichen, um dort zu schmökern. Er hält sich für einen Dichter, sagen die Erwachsenen und verdrehen die Augen dabei, als ob das etwas Schändliches wäre. Ihr hat es immer auf der Zunge gelegen, jene zu verteidigen, die versuchen, Dichter zu werden. Wenn sie nämlich Dichter geworden sind, dann bewundert man sie und gäbe was darum, sie zu kennen. Aber bis sie es sind, in der Zeit, da sie's schwer haben, spotten sie über sie, reden von brotloser Kunst und Wolkenkuckucksheim und daß sie noch in der Gosse enden werden.
Clemens haben sie nach Langensalza zu einem Geschäftsfreund des Vaters in die Lehre gegeben. Dort hat er für Aufregung gesorgt und ist wegen Frechheit gegenüber der Prinzipalin rasch wieder nach Hause geschickt worden. Er ist dann zu dem Onkel nach Schönbeck bei Magdeburg gereist, der dort eine Saline leitet. Er hat angefangen, das Bergfach zu studieren. Bettina kann sich vorstellen, wie öde das ist: zu lernen, wie die Steine alle heißen. Gewiß, es gibt bunte und funkelnde Steine. Aber allemal sind doch Steine etwas Totes, Starres und als solches ihr unsympathisch.
Nach dem Tod des Vaters hat Clemens erst in Halle studiert, es aber dort wieder nicht ausgehalten, schließlich das Studium und die Universität gewechselt. Jetzt studiert er Medizin in Jena und ist während der Semesterferien für ein paar Tage nach Frankfurt gekommen.
All dies ist im Familienkreis irgendwann einmal mit Sorge, Skepsis oder Empörung erzählt oder besprochen worden. Sie hat es mit angehört, zum einen Ohr hinein, zum anderen wieder raus. Sie weiß es und weiß es nicht, und wenn sein Name fällt, denkt sie nur: Ach der, der dichtet, der so frech sein soll und überall aneckt. Aber jetzt hat sich der Name in einen lebendigen Menschen verwandelt, der ihr gefällt und zu dem gleich eine Verbundenheit da ist. So läßt sie es sich auch gefallen, daß er sie aufhebt, in einen Sessel setzt, die Puppe unter dem Tisch hervorholt, sie ihr in den Arm legt und zu ihr sagt: »Du mußt sie wiegen und etwas für sie singen. Sie will gewiegt und in den Schlaf gesungen sein.« »Aber«, sagt Bettina unglücklich, »ich spiele sonst gar nicht so viel mit Puppen.«
»Dann gib sie mir. Ich spiele gern damit. Wünsche mir, sie wäre mein Kind und ein schönes Mädchen wie du hätte sie mir geboren.«
Tatsächlich nimmt er die Puppe, streichelt sie und fängt ein Lied an zu singen. Das ist so fein und merkwürdig, daß es ihr Gänsehaut auf dem Rücken macht.
Wenn die Sonne weggegangen,
Kommt die Dunkelheit heran,
Abendrot hat goldne Wangen,
Und die Nacht hat Trauer an.
Seit die Liebe weggegangen,
Bin ich nun ein Mohrenkind,
Und die roten, frohen Wangen
Dunkel und verloren sind.
Dunkelheit muß tief verschweigen
Alles Wehe, alle Lust;
Aber Mond und Sterne zeigen,
Was mir wohnet in der Brust.
Sodann legt er die Puppe vorsichtig auf das Sofa, streift das Tuch vom Tisch, wickelt sie darin ein und klopft für das Kind ein Kissen zurecht. »Sie muß jetzt schlafen«, sagt er, »wünschen wir ihr schöne bunte Träume.«
Bettina sitzt immer noch in ihrem Sessel. Für ihn ist die Puppe jetzt vergessen. Das läßt sich von seinem Gesicht ablesen. »Und nun zu Euch, mein Fräulein«, sagt er, kniet sich vor sie hin auf den Boden und sieht zu ihr auf. Jetzt hat sie das Verlangen, die Arme um seinen Hals zu legen und ihn zu küssen, aber sie tut es nicht. Es ist merkwürdig. Er ist ihr so ähnlich. Er kommt ihr so vertraut vor, obwohl sie ihn doch nur von dem kennt, was andere über ihn erzählt haben. »Wer bist du?« fragt sie. »Das sagte ich dir schon. Ich bin der Clemens.« »Und wie bist du, Clemens?«
»Ha, das wüßte ich auch gern. Kannst du mich nicht etwas Leichteres fragen? Jeden Morgen wache ich auf und denke, ich wüßt's. Jeden Abend geh ich zu Bett und bin anderen und mir selbst ein Rätsel. Ich bin ... warte, da fällt mir etwas ein. Die Rätin Goethe hat es mir gestern ins Stammbuch geschrieben, als ich ihr meine Aufwartung machte: Wo dein Himmel ist, / da ist dein Vaduz. / Ein Land auf Erden / ist dir nichts nutz. / Dein Reich ist in den Wolken / und nicht von dieser Erden. / So oft es sich mit dieser berühret / muß es Tränen regnen.«
»Das klingt, als seist du ein Luftschiffer.« »Gar nicht schlecht. Wunderbar. Stell dir vor: Du und ich und unser Kind da - könnt' auch armer Leute Kind sein, die's ausgesetzt haben, und wir haben's gefunden in einer blühenden Wiese -, wir wären in der Gondel eines Luftschiffes, das immer höher und höher steigt. Eben, damit wir nie mehr die Erde berühren und uns an schartigen Felsen nicht die Zehen anstoßen und es dann Tränen regnet. Und so weiter und so weiter ... bis über die Wolken, bis wir in ein Sonnenland kommen. Dort steigen wir aus und lassen es uns wohl sein.«
»Und was für Blumen und Bäume gedeihen in dem Sonnenland?« »Oh, das können wir selbst bestimmen.« Als er mittendrin ist, das Sonnenland auszumalen, bricht er plötzlich ab und fragt todtraurig: »Bettina, denkst du manchmal noch an unsere Mutter?«
»An Vater und Mutter.«
»Nun«, antwortet Clemens, »den Vater laß meinetwegen vergessen. Er war ein harter Mann. Im Sonnenland würden wir ihm nie begegnen. Aber der Mutter ... die muß mit den Engeln sein.« »Clemens, was sind das für Gedanken? Immer, wenn ich die Gräber besehen gehe in der Katharinenkirche und recht traurig bin, sag' ich mir: Sie sind gar nicht gestorben. Sie sind eine Blume, ein bißchen Sand oder ein Vogel. Und ich mag nicht, daß du den Vater schmähst. Er ist mir auch wert und lieb.« »Er hat die Mutter ins Grab gebracht. Das vergeß ich ihm nie.« »Er war freundlich, und er hat die Mutter geliebt, wie wir auch.« »Was verstehst du schon davon, du warst damals noch viel zu klein. Aber hast du noch nie jemanden sagen hören, daß die Mutter heute noch leben könnte, wenn er nicht mit seiner Härte und Strenge das Haus verfinstert hätte?« Jetzt ist seine Stimme ganz anders, schneidend und kalt.
»Er steht nicht so in meiner Erinnerung«, verteidigt Bettina den Vater, »Clemens, du verläufst dich in einen Haß, der ungerecht ist.«
»Nein, nein. Gerecht ist er und auch notwendig«, sagt Clemens, »je mehr ich ihn hasse, um so mehr kann ich sie lieben.« Bettina sieht ihn entsetzt an. Woher kommt das? Was macht, daß wir der Liebe so bedürftig sind und daß Haß und Liebe so nahe beieinander wohnen?
Clemens greift nach ihrer Hand und streichelt sie. »Habe ich dich verschreckt, gutes Kind? Verzeih. Und sprich zu niemandem davon. Auch zur Großmutter nicht. Bitte. Ich hätte auch gar nicht davon angefangen, wenn ich nicht gespürt hätte, wie nah wir einander sind.« »Das habe ich auch grad gedacht ... obwohl wir uns kaum gesehen haben. Obwohl du um so vieles älter bist als ich.«
Das Alter sei dabei ohne Belang, sagt Clemens. »Ich bitte dich«, sagt sie, »verrenn dich nicht in deinen Zorn auf den Vater, was immer er dir getan haben mag. Er ist tot und hat verdient, daß wir sein Andenken in Ehren halten.«
»So? Hat er?« fragt Clemens, wieder mit diesem schneidenden Hohn, mit dieser Erbitterung in der Stimme. »Ich mag es nicht, wenn du so bist.« »Dann hilf mir, nicht so zu sein. Ich bin es nicht gern. Aber es ist gut, wenn du mich gleich so kennenlernst. Ich finde nie genug Liebe, daß dieses Gift in mir davon aufgesaugt würde. Könntest du mich lieben?«
Sie ist verwirrt. Sie liebt ihn ja. Es ist da ein neues Gefühl in ihr, von dem sie ahnt, daß es mit der Liebe zu tun hat, die Frauen Männer entgegenbringen.
Er redet schon weiter. »Ich denke mir: da wir Bruder und Schwester sind, von derselben Mutter geboren ... kennst du das gewiß auch: diesen wütenden Hunger danach, geliebt zu werden.« »Haben den nicht alle Menschen?«
Darauf gibt er ihr keine Antwort, sondern redet abermals weiter: »Sie werden dir gewiß auch von mir erzählt haben, daß ich so viele Liebschaften gehabt habe und immer rasch neue suchte. Das ist wohl richtig. Aber das kommt nur daher, daß ich bei aller Suche noch nie auf die rechte Gegenliebe dabei gestoßen bin. Und jetzt ist so eine Ahnung in mir, als könnte ich sie bei dir finden.«
»Ich weiß nicht«, sagt Bettina, »wie sollte das wohl gehen?« »Indem wir miteinander reden in solchem Vertrauen wie eben.« »So leicht wäre das?« »Es scheint dir nur jetzt leicht. Es ist schwer. Wir müßten einander dabei immer mehr gleich werden, bis es nicht mehr den geringsten Unterschied gibt zwischen dir und mir. Wir müßten einander alles Wichtige, das sich in unseren Leben ereignet, immer mitteilen, damit wir uns nicht entfremden. Und wenn sich der eine oder andere von uns beiden verliebt, dürfte das die Liebe, die zwischen uns ist, nicht behelligen. Das wäre ein großartiges Unternehmen.« Ach, was redest du nur so hochgestochen daher, denkt sie. Sie hat eine entfernte Ahnung von dem, was er meint, wenn er von diesem wütenden Hunger nach Liebe spricht, aber das, was er da eben gesagt hat, ist ihr zu hoch. Sie liebt ihn. Das muß sie sich merken als Kennzeichen für Liebe, daß es gar nichts ausmacht, wenn der andere dummes Zeug plappert oder etwas tut, was man nicht begreift.
Sie legt die Arme um seinen Hals und gibt ihm einen Kuß. Sie küßt ihn so, wie sie meint, daß eine Frau, die sie noch nicht ist, einen Mann, der er ist, küssen müßte. Sie merkt, wie es ihm gefällt.
Drei Tage lang wacht sie mit dem Gedanken auf: heute sehe ich meinen Liebsten. Sie trällert und ist ausgelassen. Es ist großartig, verliebt zu sein. Man wird so leicht dabei, so vergnügt. Er kommt jeden Vormittag. Sie schwänzt die Französischlektion und den Klavierunterricht. Mögen die Lehrer zur Großmutter rennen und sich beschweren. Mag die Großmutter schimpfen. Bettina ist verliebt, zum ersten Mal, mit Haut und Haar. In einen Jungen, der Clemens heißt. Und der ihr Bruder ist. Nein, sie will doch niemandem davon erzählen. Auch der Großmutter nicht. Sie gehen am Main spazieren oder sitzen im Geäst der Akazie. Er hat erzählt und erzählt, ihr seine ganze Verbitterung, all die heruntergewürgten Erlebnisse anvertraut. Sie lernt ihn in diesen drei Tagen so gut kennen wie keins ihrer Geschwister. Sie wacht nachts auf und fragt sich: Was ist er nun eigentlich, mein Bruder oder mein Liebster? Und als sie ihn das fragt, weil die Art, wie sie miteinander umgehen, sich küssen und miteinander schmusen, ihr nicht nur diesen herrlichen Kitzel gibt, sondern sie auch beunruhigt, sagt er: »Warum dazwischen eine Grenze ziehen mit Worten? Warum immer alles festschreiben und einsperren in ein Kästchen? Es mit einem Etikett versehen. Hier die Rosenblättermarmelade. Dort die Essigfrüchte. Warum kann zwischen uns nicht etwas sein, wofür es noch kein Wort gibt? Mögen sich die Leute später darüber den Kopf zerbrechen, bis sie das richtige Wort dafür gefunden haben. Uns muß das nicht kümmern. Wir haben dem treu zu sein, was unsere Seele uns anzeigt.«
Da merkt sie wieder, wie ähnlich ihre Gefühle sind und wie verschieden von denen anderer Menschen. Nur eben, daß er das ausdrücken kann und sie nicht. Wie macht er das, daß er für alles Worte findet, so leicht und sicher, als greife er sie aus der Luft?
»Ich wette, daß du es auch dahin bringen würdest«, sagt er, »man muß ständig üben, seine Gefühle zu definieren, auch die vagesten und kompliziertesten ...« Und dann kommt er wieder auf den Roman zu sprechen, an dem er gerade schreibt. Er rühmt sich vor ihr, daß der Roman hundert Taler bringen und ihm außerdem noch in Jena den Ruf eines Mannes von Geschmack, Gefühl und Menschenkenntnis verschaffen werde, was um so nötiger sei, da sich durch sein Spötteln und seine Possen bisher viele ein völlig falsches Bild von ihm machten. Bettina hört ihm staunend zu, merkt aber auch, wie er's genießt, bestaunt zu werden. Das kann am Glück ihrer Liebe nichts ändern.
Am nächsten Tag kommt er nicht, am übernächsten auch nicht. Sie ist bedrückt. Soll sie nach Frankfurt gehen und ihn aufsuchen?
Aber sie hat so schon Ärger genug, wegen der Französischlektionen und Musikstunden, die sie seinetwegen geschwänzt hat.
Was ist nur ? - Er wird schon kommen. Wenn man einen liebt, darf man nicht böse über ihn denken. Dennoch kann sie plötzlich im Garten stehenbleiben und ungeduldig mit dem Fuß scharren. Die Tante sieht es und fragt, ob sie ein Gaul sei oder ein Hund. Sie möge daran denken, daß ein Paar Schuhe auch etwas kosteten. Sie müsse ja nicht dafür zahlen. Etwa du, sagt sie patzig, und gleich darauf tut es ihr leid, daß sie es gesagt hat.
Natürlich fällt es der Großmutter auf, daß sie bedrückt ist. Bei Tisch fragt sie: »Bist du traurig, Kind, weil der Clemens sich gar nicht mehr sehen lassen will? Ist es das?« Sie nickt stumm und kämpft mit den Tränen. Da sagt die Tante: »Du solltest wissen, Bettina, daß seit gestern Sophie von ihrer Freundin aus Koblenz zurück ist. Du weißt doch, daß sie seine Lieblingsschwester ist und seine Vertraute in allen Herzensdingen. Da ist jeder andere abgemeldet. Ob nun in Frankfurt oder hier. Damit mußt du dich abfinden.« Sophie, die mit dem einen Auge, die mit den ewigen Kopfschmerzen. Mit Sophie ist er die Jahre bei den Mohns zusammengewesen, ehe sie ihn in dieses »Erziehungsinstitut für Zöglinge des männlichen Geschlechts aller drei christlichen Religionsparteien« zu Mannheim gesteckt haben. Der Name der Schule hat sich bei ihr festgehakt, weil sie sich nicht hat erklären können, warum es denn drei Religionen seien. Bis ihr dann jemand erklärt hat, daß nicht nur zwischen Katholiken und Protestanten, sondern auch noch zwischen den Lutheranern und den Reformierten unterschieden werden müsse.
Es stimmt schon, was die Tante sagt. Bettina weiß, er wird nicht mehr kommen, jetzt, da die Sophie zurück ist. Mit ihr war es nur ein gefälliges Spiel, weil's ihm langweilig gewesen ist. Mit seinen Worten und Einfällen kann er wohl jedes Mädchen betrunken machen, es braucht da keinen Wein.
So sei er nun einmal, spricht sie ihn frei und schimpft auf sich, daß sie all sein Reden ganz ernst und heilig genommen hat. Wie töricht. Was ist sie doch für ein dummes Schaf, zu glauben, daß es für einen Zwanzigjährigen von Bedeutung sein könnte, ob sie ihn liebe oder nicht. Sie kommt sich betrogen vor, gedemütigt, möchte mit ihren Fäusten auf ihn einhämmern. Ach, das würde ihm ja gar nicht weh tun. Sie möchte ihn mit etwas treffen, was ihn schmerzt.
Er läßt sich in diesen Ferien nicht mehr sehen. Sie hört davon, daß er immer mit Sophie zusammensteckt. Ach, Clemens, wie muß ich dir komisch vorgekommen sein! Gewiß wird ihn Sophie auch verlieren an eine Rieke, Tine oder Stine. Das steht für sie fest, ist aber ein schwacher Trost. Und es ist und bleibt unartig, einfach nicht mehr nach Offenbach herüberzukommen.
(9) Es gibt kein Tagebuch Bettinas aus der Zeit um 1800. Aber es gibt Briefe von ihr und Äußerungen von Personen ihres Bekanntenkreises, aus denen sich die Ereignisse rekonstruieren lassen. Im Herbst des Jahres 1800 hätte Bettina in ein Tagebuch eintragen können:
... Heute nun erreichte uns die traurige Nachricht, daß unsere Schwester Sophie in der Mitternachtsstunde des 19. September zu Osmannstädt einem Nervenfieber erlegen ist. Gunda und Charlotte Serviere waren zu der Kranken gereist. Georg Winkelmann, der Mediziner, der mit Clemens befreundet ist, stand unserer Schwester bei. Gottfried Herder, der Sohn des Dichters, war der behandelnde Arzt. Clemens ist den Tag aus Frankfurt herüber gekommen und hat uns Mitteilung von all dem gemacht. Als die Großmutter und die Tante immer noch leis vor sich hingeweint und sich von Zeit zu Zeit geschneuzt haben, hat er mir zugeflüstert, ich möge ihm hinaus in den Garten folgen, er habe mir etwas zu sagen, was keine Zeugen vertrüge. Zuerst wollte ich ihm ganz kalt entgegnen, was er sich denn einbilde, wir seien für immer und ewig geschiedene Leut. Allein, er sieht so elend aus, und ich merke, daß ich ihn wohl auch immer noch lieb habe, so viel alle Mal, daß ich ihm solche Bitte nicht abschlagen kann. Als wir draußen zwischen den Rabatten gehen, sagt er als erstes, er bitte mich um Entschuldigung dafür, wie er vor Jahr und Tag mit mir umgesprungen sei, wie er mich kennte, hätte ich es nicht vergessen. Ich möge es ihm jetzt verzeihen, um der armen Sophie willen.
Ich weiß nicht, was sagen. Wenn ich ehrlich sein soll, es geht mir durch den Sinn: Was kümmert mich die tote Sophie? Die hat der Liebeskummer verzehrt nach einem Mannsbild, von dem sie sich getrennt hat und das sie gar zu gern hätte heiraten wollen. Aber dann tut sie mir doch auch leid, wie alle, die so nach Liebe hungern und dürsten. Ich schau in die Luft, als stünde dort geschrieben, wie ich mich geben soll.
»Sag doch was«, ruft der Clemens nach einer Weile, »deine Stummheit ist giftig.«
Also frag ich ihn, ob ich immerhin noch gut genug sei, um jemanden abzugeben, der ihn im Leid tröstet? Ich hätte es auf eine unbedingte Liebe abgesehen gehabt, so, wie er es mir damals vorgeschlagen. Allerdings habe er es damit wohl kaum ernst gemeint, was sich ja schon daraus ergäbe, daß er mich von damals bis zum heutigen Tag nie mehr angeredet. Doch hätte ich solch unbedingte Freundschaft und warmherzige Zuneigung inzwischen gefunden. Allerdings nicht bei einem Mann, der wohl a priori einem treulosen Geschlecht angehöre, sondern bei einem Mädchen.
Er will freilich gleich wissen, wie sie heiße und wie es zugegangen, aber ich denke gar nicht daran, ihm von dem Tag zu erzählen, da die Günderrode die Großmutter besuchen gekommen ist, um ihr ein paar Proben ihrer Dichtkunst vorzulegen und ihr zu sagen, wie sehr sie des Fräulein Sternheims Geschichte bewundere. Wie die Großmutter das Günderrödchen mir dann zugeführt und gesagt hat, sie sähe es gern, wenn wir Freundinnen würden, wie es sehr rasch dahin gekommen ist, daß wir es wurden - uff, müßte schon jemand viel Schnauf haben, um diesen langen Satz zu lesen, ohne Atem zu holen, den ich da jetzt hingeschrieben! Ach, wie schätze ich mich doch glücklich, ein Mädchen gefunden zu haben, schön wie ein Engel, gebildet und klug und im Leid erfahren von klein auf, weil sie viel herumgestoßen worden ist, seit ihr Vater gestorben und die Mutter, nur darauf aus, in der Hofgesellschaft zu Hanau zu glänzen, sie in das Cronstettische Stift zu Frankfurt getan hat, das sich an der Westfront des Roßmarktes hinstreckt und mit seinem Garten an das Gontard-sche Grundstück grenzt. Dort hat Karoline zwei Kammern, und geh ich jetzt häufiger nach Frankfurt, so vor allem wegen ihr. Am liebsten würde ich ständig mit ihr zusammen wohnen. Sie hat Macht über mich. Für sie nehm ich mich sogar in Zucht und versuche es mit dem systematischen Lernen. Denn sie hat mich, sobald wir etwas näher miteinander bekannt waren, heftig ob meiner Unordentlichkeit und Fahrigkeit gescholten, daß ich mal dieses will und dann wieder jenes und nichts vertiefen könnte, wie es nötig sei, wenn man über die Dinge nicht nur oben drüber hin wollt mitschwätzen können, sondern sie tief in ihrem Wesen erfahren, mit Gewinn für die eigene Existenz. Wir haben Spiele miteinander, die würden auch den Clemens in Erstaunen setzen. So zeichnen wir beispielsweise eine mythologische Landkarte ... eben nicht eine reale, sondern eine solche, die die Wohnungen der Fabelwesen verzeichnet, was einen geistlichen Herrn, der in das Stift kam, sehr verwunderte, als er mir über die Schulter sah, wie ich so lange ausgestreckt auf dem Fußboden in des Günderrödchens Kammer lag und hier einen Zentauren eintrage und dort zwei Quellnymphen, die miteinander schmusen. Wer weiß, vielleicht machen wir es wahr und wandern zusammen nach Griechenland. Mit Karoline an meiner Seite getrau ich mir, bis ans Ende der Welt und aller Tage Abend zu gelangen. Aber ich schweife ab vor lauter Begeisterung ob meiner Liebe zu Karoline und unserer Freundschaft. Weiter nun davon, was ich mit Clemens im Garten geredet habe.
Er führt Entschuldigung um Entschuldigung an, weswegen er sich damals nicht mehr habe sehen lassen, und im Erfinden von diesen ist er ein großer Meister.
»Ach«, spricht er, »du warst damals einfach noch zu sehr mit dir selbst beschäftigt, um zu begreifen, was in mir vorging. Verstehst du, die Wurzel allen Ärgers und Leides war die Mereau. Eine Frau - keine andere könnte unserer verstorbenen Mutter ähnlicher sehen, weshalb ich sie lieben muß, wie hoffnungslos diese Liebe auch sein mag, ist sie doch verheiratet mit einem verknöcherten Mann und hat zwei Kinder von ihm, von denen das eine im letzten Winter gestorben. Und ich kann nur lieben, wenn meine Liebe gestützt wird ... durch eine andere. Sonst bin ich zu schwach, zu bizarr, zu schwankend in meinen Launen. Muß immer jemand da sein, der bereit ist, der Geliebten mein besseres Selbst vor Augen zu rücken und zu bestätigen. Und eben dies tat Sophie für mich. Darin war sie mir unentbehrlich. Die Mereau hielt große Stücke auf sie, schon als die beiden Frauen nur ein paar Briefe miteinander gewechselt hatten.
Ich komme nach Frankfurt, so sehr Sophiens Zuspruch bedürftig. Und was höre ich: Sie ist zu einer Freundin nach Koblenz verreist. Müßte wissen, wie dringlich ich mit ihr zu reden habe, daß ich hauptsächlich deswegen hergekommen bin. Aber nein, sie muß zu einer Freundin! Und dann geriet ich an dich. Du erschienst mir so liebenswert, wie du da saßest, mit der Puppe im Arm, so großmütig in deiner Fürbitte für den toten Vater wider meinen Zorn, daß es mich verlockte, so jemanden wie dich fest zu lieben. Aber wie alt warst du damals? Vierzehn, wenn ich recht rechne. Darf man einem vierzehnjährigen Mädchen den Kopf verdrehen? Darf man sich von einer Vierzehnjährigen Küsse geben lassen, die einem vorkommen, als gäbe sie einem eine Siebzehnjährige? Man darf nicht. Und deswegen beschloß ich, dich auf lange Zeit zu meiden.« Ich sage ihm auf den Kopf zu, daß dies alles ein eben von ihm erfundener wilder Roman sei. Schmeichelhaft für mich die Rolle, die er mir darin zugewiesen, doch hätte ich inzwischen gelernt, auf der Hut zu sein, nicht auf solchen Leimruten festkleben zu bleiben.
Damals, als er sich so entsagungsvoll dazu durchgerungen habe, mich zu meiden, sei ich vierzehn gewesen, jetzt, da er meine Nähe wieder suche, fünfzehn.
Oh, ruft er aus, das mache denn doch einen gewaltigen Unterschied. Er kenne nicht wenig Mädchen, die mit fünfzehn, sechzehn schon einem Mann in die Ehe gegeben würden. Also hätte ich dafür nur noch ein Jahr, rechne ich laut nach und schüttele mich, denn ich stelle mir vor, ich könne tatsächlich in diesem Alter, da ich niemanden liebe außer dem Günderrödchen, einem Mann überantwortet werden, zur ehelichen Opferung meiner Unschuld.
Wirklich, ich sei wesentlich verändert gegenüber damals, stellt er fest, dies sei eine Beobachtung, die auch andere bestätigen würden, keine Schmeichelei, aber er sei nun völlig allein auf der Welt, da unsere Schwester Sophie gestorben, die Mereau ihm den Laufpaß gegeben. Wenn auch nur noch ein Rest der früheren Güte in mir sei, so nähme ich seinen Antrag an, mit ihm in eine Korrespondenz einzutreten, in der wir einander ebenso unverstellt begegnen wollten, wie wir es uns damals vorgenommen. Das könnt' in Arbeit ausarten und viel Zeit verschlingen, wehre ich ab. Ich denke darüber nach, wie er immer steif und fest behauptet, niemand liebe ihn, und dabei von einem ganzen Taufregister von Frauen- und Mädchennamen die Rede ist. Und warum ist er so mißtrauisch, sieht sich überall verleumdet und angeschwärzt?
»Es wird ein Gewinn sein für dich«, sagt er, auf seinem Korrespondenzvorschlag beharrend. Wir müßten nur dafür Sorge tragen, daß es die Großmutter nicht erführe. Die werde es gewiß nicht gern sehen, wenn ich mit ihm vertrauliche Botschaften austauschte. Die Familie mache sich von ihm die Vorstellung eines Wüstlings und Liederjan.
»Armer Clemens«, sage ich, damit er nicht vor Selbstmitleid absäuft.
Ich sei nicht wiederzuerkennen, erwidert er. Ich entwickelte eine ironische Ader, die einem Frauenzimmer schlecht anstehe. Er zweifle, ob dieses Mädchen, dem ich mich zugewendet, der rechte Umgang sei für mich. Ich müsse schauen, daß ich die rechte Menschenkenntnis erwürbe. Auch dazu könne unser Briefwechsel manches beitragen. Die Großmutter dürfe nichts merken. Er gehe von Frankfurt fort, vorerst nach Marburg zu seinem Freund Savigny, einem vortrefflichen Burschen, den ich unbedingt bald kennenlernen müsse. Er werde seine Briefe an Gundel nach Frankfurt senden. Sie könne sie mir in Offenbach abliefern und dabei jeweils meine zur Absendung in Empfang nehmen. Vielleicht, daß mir gar nichts einfalle, was wert sei, an ihn geschrieben zu werden, gebe ich zu bedenken. Darauf er: Alles sei passend. Die kleinste Kleinigkeit mit Intensität erzählt, mache eine Geschichte.
Wir gehen immer noch in Großmutters Garten umher. Derselbe Garten, in dem die Tante mich gefragt hat, ob ich ein Pferd geworden sei oder ein Hund. Tatsächlich aber war ich ein Kaninchen, hypnotisiert von Clemens, dem Zauberer. Jetzt hat der Clemens etwas Hündisches, wie er darum bettelt, daß ich auf den Vorschlag eingehe. Er bettelt um Liebe, denn ich schmeichle mir nicht, daß es ihm um die Neuigkeiten aus meinem Leben hier in Offenbach und in Frankfurt zu tun ist. Vielmehr geht es ihm darum, daß jemand ihm Aufmerksamkeit schenkt und er jemanden hat, vor dem er sich ausschütten kann. Es ist mir unangenehm, jemanden so klein zu sehen, den ich einst in meiner Phantasie viel zu groß aufwachsen ließ. Ich lasse ihn noch ein bißchen bitten und betteln, ehe ich in den Briefwechsel einwillige. Ich weiß wohl, er ist ein armer Teufel.
Und wenn sich auch die Gewichte meiner Gefühle verschoben haben seit vor einem Jahr, durch meine Bekanntschaft mit dem Günderrödchen, so ist doch noch mehr als nur ein Fünkchen Zuneigung zu ihm in der Asche. Es geht mir seltsam mit diesem Bruder: Ich kann mich von meinem Verstand hundert Mal davon überzeugen lassen, daß er bizarr, unverläßlich, häufig ein Feigling, nicht selten sogar ein Schuft ist, etwas an ihm nimmt mich sehr bald wieder für ihn ein und führt mich in Versuchung, ihn genauer kennenzulernen.
Als ich endlich zugestimmt habe, lobt er mein Verständnis, tut so, als hätte ich mein Herz für ihn mir aus der Brust gerissen, schwört mir zu, er wolle mir den zweiten Teil seines Romanes, der Godwi heißen soll, widmen und ruft schließlich aus: »Mit den Briefen zwischen dir und mir will ich bei aller Trauer und allem Kummer wohl über den Winter kommen.«
Ich hüte mich, ihn allzu ernst zu nehmen.
(10) Was schreibt sie denn nun an den Clemens über ihr Leben in Offenbach? An den Bruder, der mal in Marburg ist, bei seinem neuen Freund, dem Savigny, dann plötzüch nach Münster geht und schließlich zum Studium nach Göttingen? Bettina findet auch in ihrer engen Welt Bemerkenswertes. Sie wundert sich über so manches, was sie sieht und hört. Über die Lehren, die jene Leute ihr geben, die sie zu einem angenehmen und liebenswürdigen Mädchen erziehen wollen. Ihr kommt das gar nicht angenehm, sondern schrecklich vor, was andere Leute wohlerzogen und gebildet nennen.
Da wohnt beispielsweise in der Nachbarschaft ein junges Mädchen namens Veilchen, eine Jüdin. Wie gewöhnlich wacht Bettina am Morgen zeitig auf. Sie schaut aus ihrer Mansarde auf die Gasse und sieht dort Veilchen die Straße kehren. Sie pflückt einen kleinen Strauß Veilchen und bringt ihn dem Mädchen. Sie will mit der anderen ins Gespräch kommen, gerade weil diese aus einer anderen Welt stammt, aus der Welt der nicht vornehmen, der nicht ehrbaren Leute. Als sie da beieinander stehen, sagt sie zu Veilchen, die offenbar um einiges älter ist als sie: »Ach, lassen Sie mich doch auch ein bißchen kehren.«
Es ist noch vor sieben Uhr, aber der Zufall will's, daß der Hauslehrer der Familie Bethmann schon unterwegs ist. Der sieht's und trägt's der Tante Mohn zu, daß er die Bettina vor der Haustür eines Juden angetroffen habe, wie sie die Straße kehrte. Die Tante macht eine Affäre daraus. Bettina lacht. Sie kann nicht einsehen, warum es eine Schande sein soll, mit einem Judenmädchen zusammen auf der Straße angetroffen zu werden. Dieses jüdische Mädchen ist in Bettinas Augen das artigste und fleißigste Geschöpf auf der Welt. Sie verdient durch Sticken den Lebensunterhalt für ihren Großvater und für die zwei Kinder ihres verstorbenen Brüdes. Zum Tanz zu gehen, schön herausgeputzt auf Freier zu warten, das kann sie sich nicht leisten. Sie arbeitet hart.
Trotz der Schelte, die es von der Tante gesetzt hat, schleicht sich Bettina weiter zu Veilchen hinüber und hilft ihr sticken. Das tut sie frühmorgens bis etwa acht Uhr und ist immer noch zeitig genug zurück, um der Großmutter beim Frühstück Gesellschaft zu leisten.
Es ist das erste Mal, daß Bettina Armut sieht. »Da ist viel zu bestreiten«, berichtet sie Clemens, »vom Hemd bis auf die Schuhe und Schüsselchen und Töpfchen, und der Herd, der eingefallen ist, und die Ofenplatte geplatzt; das muß geflickt werden und das Wohnzimmer frisch geweißt, wo die Leute eintreten, um die Arbeit zu bestellen.«
Clemens findet es zunächst auch ganz natürlich, daß Bettina dem Veilchen sticken helfen will. Nur vielleicht nicht so früh am Morgen. Denn wenn sie vielleicht auch beim nächsten Mal keinem Hauslehrer begegnet, so doch möglicherweise anderen Leuten, die sich den Mund deswegen zerreißen.
Im Verlauf der weiteren Korrespondenz erweist sich jedoch auch Clemens als nicht frei von Vorurteilen. Veilchen möge ein gutes Geschöpf sein, findet er, aber wenn Bettina sich schon mit ihr einlasse, »zu ihr herabsteige«, so schreibt er wörtlich, dann bitte keine Vertraulichkeiten. Da begehrt Bettina heftig auf:
Wer bin ich denn, daß ich mich herablasse, wenn ich zu einem guten Geschöpf vertraulich werde? Bin ich ein Engel? Nun, die fliegen ja den guten Menschen nach und bewachen sie auf Schritt und Tritt, aberich glaube nicht, daß ich ein Engel bin, ich glaube vielmehr, daß ich zu ihr hinansteige, statt herab.
Sie hält zu Veilchen. Davon läßt sie sich weder von der Tante, der Großmutter, dem Bruder, noch von Offenbachs vornehmen Leuten abbringen.
Nachdem ein paar Briefe zwischen Clemens und ihr hin- und hergegangen sind, wird ihr klar, daß der Bruder sie zu einem Wunschgeschöpf machen möchte, einem weiblichen Wesen, dem alle Ecken und Kanten abgeschliffen worden sind, zurechtgetrimmt für einen »einfachen, vortrefflichen Mann«, den er sich für sie wünscht.
Da explodiert sie:
Ich bitte Dich ... gebe doch Deine Stoßseufzer auf um einen lieben Mann, den Du mir herbeiwünschest... glaub mir, daß ich keiner Stütze im Leben bedarf... Ich bedarf, daß ich meine Freiheit behalte. Zu was? - Dazu, daß ich das ausrichte und vollende, was eine innere Stimme mir aufgibt zu tun. - Denn: Meine Seele ist eine leidenschaftliche Tänzerin, sie springt herum nach einer inneren Tanzmusik, die nur ich höre und die anderen nicht. Alle schreien, ich soll ruhig werden, und Du auch, aber vor Tanzlust hört meine Seele nicht auf Euch, und wenn der Tanz auswar, dann wärs aus mit mir... Das gelob ich vor Dir, daß ich nicht mich will zügeln lassen, ich will auf etwas vertrauen, was so jubelt in mir, denn am End' ist's nichts anderes als das Gefühl der Eigenmacht.
Immer wieder eckt sie an, weil sie ihre Einfälle auslebt. Sie will der Selene und dem Hesperus opfern, der Mondgöttin und deren Bruder, die sie sich als ihre und Clemens' Schutzgötter vorstellt. Dazu gibt sie Geld in einen kleinen leinenen Beutel, auf den sie mit Goldfäden und roter Seide ihren Namen stickt und dazu noch allerlei Zeichen. Den Beutel steckt sie in einen Schuh, in den ersten besten Schuh, der ihr in die Hände fällt, und vergräbt das Ganze zwischen den dicken Wurzeln einer Pappel an der Rosenwand im Garten.
Dann soll sie mit der Tante nach Frankfurt auf Verwandtenbesuch, und von dem guten Paar Schuhe fehlt einer. Himmel, es ist einer von den Sonntagsausgehschuhen, den sie vergraben hat. Sie muß ihn wieder ausbuddeln und an der Pumpe säubern. Dabei fällt in der Dämmerung plötzlich ein Ring aus dem Schuh, ein Ring mit einem dunklen Stein.
Weil das Geld nun nicht Selene und Hesperus geopfert werden kann, muß sie es anders verschwenden. Nebenan wohnt ein Magnetiseur, ein armer Schlucker. Er möchte gern fortreisen, aber dazu fehlt ihm das Geld. Also wirft Bettina das Opfergeld hinüber zu ihm in den Garten und hofft, daß er die Münzen findet und sie als Reisegeld benutzt.
An den Ring erteilt sie um Mitternacht Befehle und erwartet, dann werde ein Geist erscheinen und ihr beistehen, wenn sie sich mit einem ihrer Streiche wieder einmal hineingeritten hat. Freilich vergebens. Clemens mahnt, sie solle nicht faseln, sondern endlich vernünftig werden. Aber sie will in die Wolken schauen und in den Mond. Sie will so lange hinsehen, bis sie eine andere Welt entdeckt.
Eines Abends kommt sie in die Küche. Da sitzt die blinde Magd auf einem Schemel, ein Huhn zwischen den Schenkeln, das Messer schon gezückt, um es zu schlachten. Entschlossen springt Bettina hinzu. Sie zieht der armen Agnes den Schemel unter dem Hintern fort. Die Magd fällt auf die Nase. Das Huhn entflattert durchs offenstehende Fenster. Hinterher ist Bettina selbst erstaunt über ihre Entschlossenheit, das Schlachten des Huhns zu verhindern. Sie fängt das Huhn - es heißt Männewei, weil nicht ganz sicher ist, ob es sich um einen Hahn oder um eine Henne handelt - wieder ein und trägt es zum Gärtner, der es unter seine Obhut nehmen soll, bis bessere Zeiten kommen. Danach, in ihrer Mansarde, in den Sternenhimmel schauend, tut sie ein Gelübde, immer alles daran zu wagen, wenn sie einen Menschen in Gefahr sieht, und sollte schon das Messer über seinem Haupt schweben.
Ein rasender Entschluß vermag viel, aber Zagen ist das Verderben aller Großtaten. Hätte ich nur einen Augenblick mich besonnen, so lebte jetzt kein Männewei mehr. Und mit so einem Tier ist's eine besondere Sache, man weiß nicht, ob es ein Jenseits hat, doch lebt es gern, doch hat es mehr mit der Natur zu schaffen wie wir, doch gehört ihm die Welt jeden Tag es drauf verweilt, ja es ist der Mühe wert, ein Leben zu retten, sei es welches es wolle.
Es gibt Sätze in diesem Briefwechsel, die Bettina in ihrer Eigenart sehr deutüch charakterisieren und sie auch noch zweihundert Jahre später lebendig werden lassen:
Ich weiß, daß eine ganz eigne Polizei existiert, womit man die jungen Mädchen verfolgt. - Und das nennt man in der Ordnung. Und aber die Ordnung umfaßt nicht das Außergewöhnliche, das sich reimt mit dem Göttlichen. Ordnung ist hölzern, sie kann sich nicht reimen! - Aber göttlich und außerordentlich reimt sich.
Man muß ihr keine Vorträge halten über Empfindsamkeit, wie es moralisierend der Clemens tut und damit nur gegen so manches anschreibt, was er in sich selbst vergeblich bekämpft.
Aber bei Bettina ist keine Gefahr, daß sie in Empfindsamkeit ertrinkt. Sie mag die Natur. Soviel ist richtig. Es stimmt auch - und sie hat es in ihren Briefen an Clemens schon deutlich ausgesprochen -, daß sie sich in der Natur viel weniger einsam vorkommt als unter Menschen in einem Salon, Menschen, die sie an Automaten erinnern, Menschen, deren Gesten und Äußerungen nur noch nach den Vorschriften der Konvention ablaufen. Aber Bettina braucht auch Geselligkeit. Sie lacht gern, kann frech sein, hat Sinn für Komik und für das Groteske.
Wo sie übersteigert ist, wo sie allzu schrill daherredet und lacht, sind Spott und Gekreisch nicht selten Schutzschicht für etwas, womit es ihr bitter ernst ist. Im folgenden Brief an Clemens beispielsweise wird bei aller Lust am »Schauspiel« ihre Anteilnahme doch sehr deutlich:
Ich habe zwar gar keine Neigung, daß etwas vorgehen soll, aber doch wie letzt in der Blaufärberei am Kanal Feuer ausbrach, machte mir das ein unendliches Vergnügen; damit stimmte das Volk mit seinem Schauspielertalent überein.
Eine Verzweiflungs- und Jammergeschreikomödie, gewürzt mit den ausgelassensten Scherzen; das Ganze war unwiderstehlich, ich bedauerte, daß es nicht schicklich war, mitzuspielen, sondern nur mitzuhören. - Gegenüber vom Feuerbrunsttheater, im freien Feld steht das große Haus, worin Bernards blasende Instrumentisten alle wohnen, die manchmal sich das Pläsier machen, aus allen Fenstern heraus nach den vier Weltgegenden hin ihre Passagen zu exerzieren, diese waren durch die ausschlagenden Flammen in Begeisterung versetzt-sie bliesen Tusch, wenn ein Stück Dach einfiel oder Mauer! - Was einen doch gleich Lebensübermut durchströmt, wenn die Menschheit nicht so ängstlich am Besitz klebt. -Wenn man hört Mitleidsquellen rieseln, über das einzige bißchen Habe, was den Armen nun verloren ist - das macht so malade, es steht einem der Verstand still, da doch gewiß jeder genug hätte, wenn jeder wüßte, was er mit dem seinen anfangen soll. -
Der Blaufärber hatte die großmütigste Gleichgültigkeit bei diesem Veraschen seiner Einbläuung, und es kamen die närrischsten Witze vor bei der Judenspritze, bei welcher der Blaufärber selber stand und sie fortwährend dirigierte gegen die zwei uralten Linden in seinem Hof, die sein Ururgroßvater, der auch Blaufärber war, gepflanzt hatte, unter denen der Färber seine Hochzeit gehalten. -Wenn ihr mir die erhaltet, sagte er zu den Juden, so schenk ich euch zwanzig Taler. - Nun wurden die Juden so feurig, lauter arme Lumpen! - Es gab ein Gezänk mit der Polizei, sie wollte auf die unnützen Linden kein Wasser verwendet haben, die Juden schrieen mörderlich, als man ihnen den Schlauch entriß, nach dem Blaufärber; der kam herbei und mußte ihn wieder erobern. »Was solle die alte Bääm«, sagt der Herr Bolezei. Wie, Herr Polizei! Sie schmähen die alten Linden, das Wahrzeichen von Offenbach?
»Ei, do könnt ganz Offebach abbrenne, und die Wahrzeiche bliebe alleen stehe. Die könnte doch das Maul nicht uftun und erzähle, daß Offebach da gestane hat.«
Die Linden wurden übrigens gerettet; denn die Juden ließen sich nicht zu nahe kommen!
(11) Häufig in dieser Zeit geht Bettina nach Frankfurt hinüber, um die Günderrode im Stift zu besuchen. Karoline von Günderode bewohnt dort zwei schmale Kammern. Es steht nur das Allernötigste darin. In der einen ein Bett, ein Stuhl und eine Kommode mit Schüssel und Krug. In der anderen ein Tisch und ein Bord mit wenigen Büchern. Der zweite Raum führt in einen Garten mit mächtigen alten Bäumen, der von einer Mauer gegen einen anderen Garten hin abgetrennt wird, aus dem manchmal Kinderstimmen herüberdringen, wohl auch mal ein Ball herübergeflogen kommt.
Auf den Bäumen kann Bettina herumklettern, soviel sie will, ohne daß sich jemand darüber entsetzt. Einmal sieht sie drüben im anderen Garten eine Frau umhergehen und einen Brief lesen. Sie hat von dem Blatt in ihrer Hand aufgeblickt, in das Laub, in den Himmel, als ob sie etwas suche. Sie hat Bettina gesehen im Geäst, ist zusammengezuckt und hat mit einer raschen Bewegung das Blatt hinter ihrem Rücken verborgen, als könne Bettina von dort oben herab lesen, was in dem Brief steht.
Bettina hat Karoline von diesem eigenartigen Erlebnis erzählt. Sie hat erfahren, das müsse Susette Gontard gewesen sein, die Frau des Bankiers nebenan, der vor zwei Jahren seinen Hauslehrer davongejagt hat, weil er eben diese Frau geliebt haben soll. Was sie da hört, läßt sie an die Szene mit Goethe, ihrer Mutter und ihrem Vater denken. »Hat sie den Hauslehrer auch geliebt?« fragt Bettina.
»Du meinst den armen Herrn Hölderlin?« sagt Karoline, »ich denke schon. Er war ein schöner und sanfter Mensch. Einmal wird man ihn wegen seiner Dichtkunst ehren. Das steht für mich fest.« Sie hat Bettina Gedichte von Hölderlin vorgelesen, die ganz unabhängig von ihrem Sinn wie eine schwere Musik auf Bettina wirken. Dann auch ein Stück aus dem Hyperion, der auf ihrem Bücherbord steht.
»Warum ist sie nicht mit ihm gegangen, als ihr Mann den Hölderlin fortgewiesen hat?«
»Sie hätte wohl gewollt«, sagt Karoline, »aber da sind die Kinder. Und dieser Mann ist ohne Vermögen und ohne Stellung. Von schönen Gedichten wird keiner satt. Und bedenk den Skandal.« »Davor dürfte man sich nicht fürchten«, sagt Bettina, »und es müßte edle Menschen geben, die in einer solchen Notlage helfen.« »Die müßten wohl erst noch geboren werden«, sagt Karoline. Bettina weiß, Karoline ist viel klüger als sie, aber sie macht nie etwas her davon. Man kann sie alles fragen, ohne daß sie die Hände über dem Kopf zusammenschlägt wegen der Bildungslücke. Karoline ist immer bereit, einen anderen an ihrem Wissen teilhaben zu lassen, ohne sich dabei in der eigenen Überlegenheit zu sonnen. Sie will nicht, wie die meisten Menschen, nur bestätigt sein. Sie sucht Kritik, Widerspruch und hat immer noch Fragen, wenn Bettina nur bewundert.
In den Gesprächen mit Karoline bekommt Bettina eine Ahnung davon, was es in Kunst, Geschichte und Philosophie für Entdek-kungen zu machen gibt, daß es sich lohnt, neugierig zu sein. Auch Karoline kritisiert Bettina ob ihrer Sprunghaftigkeit, aber sie tut es mit einer Freundlichkeit, die den Trotz wegschmilzt. Es hat etwas Beruhigendes, mit Karoline zusammen zu sein. Was immer man ihr auch erzählt, es kann einen noch so aufregen, erbittern - ein paar Worte von ihr rücken alles wieder zurecht.
Um so erstaunter ist Bettina über die Reaktion der Freundin, als sie ihr eines Nachmittags erzählt, endlich lasse Clemens davon ab, sie mit dem Savigny verheiraten zu wollen. Jetzt sei für diese Rolle die Gundel im Rennen, die den Savigny auch ganz leidlich fände. Bettina sieht, wie Karolines Augen sich plötzlich schreckhaft zu weiten beginnen, wie sie blaß wird und mit einem kleinen, kläglichen Laut zusammenknickt.
Erst will Bettina aus dem Zimmer rennen und Hilfe holen, aber dann kniet sie sich hin, fühlt der Freundin den Puls, öffnet ihr das Kleid, küßt sie, einem spontanen Impuls folgend, auf Brust und Hals.
Karoline schlägt die Augen auf. »Ach, du bist's, Bettina.« Sie sitzt auf dem Fußboden, die Beine ans Kinn gezogen, und gerät in ein Weinen, das ist wie ein Krampf, über den sie keine Gewalt hat, und es hilft auch nichts, daß Bettina sich über sie beugt, sie in die Arme nimmt und immer wieder sagt: »Ich bin doch bei dir ... Was hast du denn? Was ist dir? So sprich doch.« Karoline will aufspringen, Bettina abschütteln, will in den Garten. Aber Bettina hält sie fest umklammert, die Kleinere die Größere; die Jüngere die Ältere. Sie sagt entschieden: »Ich will dich erst lassen, wenn du wieder gelassen bist.«
Sie führt Karoline hinüber in die andere Kammer, lenkt sie zum Bett hin, auf dem sie sich ausstreckt. Viel Zeit vergeht, ohne daß sich dieses Weinen, das sie durchschüttelt, beruhigt.
Bettina weiß nicht, was es ist, nur, daß es schrecklich ist und daß sie Karoline nicht allein lassen darf.
Das Licht im Zimmer wird grau. Dann ist es draußen völlig dunkel. Sie liegen nebeneinander auf dem Bett. Karoline hat ihr Gesicht an Bettinas Arm geschmiegt. Sie sind ganz nahe beieinander. Fast, als seien sie ein Körper. Und Bettina weiß, daß diese Nähe Karoline tröstet.
Plötzlich setzt sich die Freundin im Bett auf, schilt sich töricht, nennt die Situation ungehörig. »Geh, laß mich. Ich komme schon mit mir zurecht.«
»Ach was«, sagt Bettina, »du mußt reden. Du mußt es ausspucken. Es wird dich sonst erwürgen. Das laß ich nicht zu.«
»Ich schäm' mich so sehr«, sagt Karoline. »Wie konnte ich mich nur so gehen lassen.«
»Warum sich vor jemandem schämen, der einen gern hat? Spürst du das nicht?«
»Ich weiß, daß du mich gern hast«, sagt Karoline, »wenn es bei jemandem wahr ist, so bei dir. Wenigstens du sollst mir bleiben ... und von keinem gestohlen werden.« »Karoline, was redest du da? Wer soll mich dir stehlen?« »Irgendein Mannsbild, aus Mutwillen. Für sie ist's immer nur ein Spiel. Und immer ist das Recht auf ihrer Seite.« »Schau, ich finde die Männer doch ebenso garstig wie du.« »So darfst du nicht reden. Es ist wider die Natur«, sagt Karoline. »Nichts, was aus Liebe geschieht, ist wider die Natur«, behauptet Bettina. Sie beugt sich über Karolines Gesicht und küßt sie auf die Augen.
Es vergeht noch Zeit, von der Bettina nicht zu sagen wüßte, wie viele Minuten es sind. Es kommt ihr lange vor. Sie sprechen nicht. Danach scheint Karoline wieder so ruhig und gelassen wie sonst und erzählt, was der Anlaß gewesen ist für ihr Weh. Den Savigny hat sie in einer Gesellschaft kennengelernt, die die Leonardis im Park ihres Guts in Lengfeld, unweit dem Otzberg, im nördlichen Odenwald gegeben haben. Es waren so heitere Stunden. Sie plauderten, lasen sich vor, sind spazierengegangen, und am Morgen haben sie und Savigny ihre Namen in einen Baum geschnitten. Ein so schöner Mann. Vernünftig in seinen Urteilen.
Jederman sagt ihm eine große Karriere als Jurist voraus. Aber das ist ihr gleichgültig gewesen. Ein Mann, der nicht nur tändelt und flirtet. Ein Mann, mit dem man reden kann. Sehr bald ist sie jedoch gewarnt worden. Er sei gewiß ein Mann, der allgemein Achtung verdient, hat die von Barkhaus, ihre mütterliche Freundin, geschrieben, und wer sich einstens das Weib dieses Mannes nennen könne, ziehe das große Los. Allein sein einsames Leben, er sei früh Waise geworden, habe seine Gefühle sehr hochgespannt. Er habe sich dabei ein Ideal geschaffen, das er schwerlich in dieser Welt realisiert finden werde.
Solche Warnungen also habe sie in ihrer Verliebtheit einfach überlesen, da es doch Briefe von ihm selbst gegeben habe, die ihre Wünsche noch heftiger aufgestachelt hätten. Auch habe sie sich geschmeichelt, daß er im Umgang mit ihr viel lockerer geworden und diese verbissene Korrektheit fast verschwunden sei bei ihm, geheilt durch Liebe. Bis hin zu diesem Treffen im Park zu Wilhelmsbad, vor seinem Aufbruch nach Halle und Leipzig, sei sie sicher gewesen, daß er sie heiraten werde. Sie habe sich daher auch nicht geziert und ihn vorsichtig hingehalten, wie das die Sitte wohl verlangt hätte, sondern habe sich ihm im ganzen Überschwang ihres Gefühls offenbart. Und an diesem Tag in Wilhelmsbad habe er sich dann ganz plötzlich getrennt von ihr. Nicht nur auf Zeit, die sie gern abgewartet hätte, sondern für immer. Und warum? Recht plump habe er ihr erklärt, er brauche zur Ehefrau eine, die tüchtig sei im Kochen, Waschen und Stricken, und keinen Blaustrumpf, der Verse mache. Freunde könnten sie bleiben, als Freundin wolle er sie nicht missen, aber als ihren Bräutigam dürfe sie sich ihn nicht denken.
Und nun sei's einfach wie ein Blitz in sie eingeschlagen, als sie gehört habe, er könnte die Gundel nehmen. Ob denn die Bettina glaube, daß die Schwester ihm eine bessere Hausfrau sein werde als sie?
»O ja doch«, antwortet Bettina frech, damit es Karoline vielleicht lachen macht, »mit der Gundel hat er das Rechte. Töricht und ewig leidend. Du mußt dir fest zusagen, du wärest für ihn viel zu gut gewesen. So kommt es der Wahrheit nahe. Du bist gut und klug, und wenn er dich gerade darum ausschlägt, ist ihm doch wirklich und wahrhaftig nicht zu helfen, was immer sonst seine Vorzüge sein mögen.«
»Ich lieb ihn immer noch viel zu sehr, als daß ich ihn der Gundel gönnte! Und dann find' ich es wiederum häßlich von mir, daß ich nicht zusehen kann, wie sie glücklich wird mit ihm.«
»Ach, vergiß ihn!« ruft Bettina aus, »wie viele Männer gibt es doch unter der Sonne noch außer ihm.« Mit dieser Phrase hat sie die Großmutter einmal ein Mädchen trösten hören, das Liebeskummer hatte.
»Ja, für euch ...«, entgegnet Karoline erbittert.
»Was meinst du damit ... für uns?« fragt Bettina erstaunt.
»Stellst du dich so naiv, oder bist du es?«
»Ich weiß wirklich nicht, was du meinst.«
»Meline, Gundel, du ... ihr habt eine Mitgift ... ach, vielleicht sollten wir aufhören, davon zu reden. Es bleibt von der Gemeinheit immer ein bißchen an einem selbst hängen.«
»Ich bitt' dich entschieden, daß du es mir erklärst.« »Sieh mal, Bettina, die Gundel, die Meline, du ... bei euch ist Geld da. Für euch gibt es viele Männer unter der Sonne. Für mich nicht. Ich habe gemeint, der Savigny, der würde in seiner Rechtschaffenheit ... und sehr rechtschaffen ist er, das will ich immer behaupten ... dieses Hindernis zwischen uns nicht gelten lassen. Ich war zu vertrauensvoll. Es ist ihm auch nicht anzukreiden. Nur mir, als Torheit. Aber ich komme einfach nicht darüber hinweg.« Da ist es wieder: das Geld, der Schacher.
Jetzt ist es Bettina zum Heulen. Sie denkt an ihre Mutter, die von der Großmutter verschachert worden ist. Jedenfalls sieht sie es jetzt so. Sie denkt an Sophie, für die die Großmutter sich gewünscht hat, sie solle den Sohn Wielands heiraten. Wenn die Sophie nicht an Nervenfieber gestorben wäre, dann wäre es wohl auch dazu gekommen, ungeachtet der Tatsache, daß dieser Wie-landsohn ein rechter Windbeutel sein soll. Wie merkwürdig - der Mann mag einen schlechten Charakter haben, aller Welt bekannt. Er ist immer noch ein Mann und hat als solcher seinen Wert. Aber ein Mädchen ohne Geld, auch wenn es ein so freundliches Wesen hat wie Karoline - das kann es sich aus dem Kopf schlagen, daß einer sie aus Liebe heiratet. Und wenn sie noch dazu gescheit ist, so ist das kein Vorzug, sondern ein Nachteil. Vor so einer haben die Männer offenbar Angst, weil sie dann mit ihrer eigenen Gescheitheit nicht so hell glänzen können.
Bettina ist sensibel genug, sich das auszumalen, wovon die Günderrode nicht spricht - die Angst, ein ganzes Leben lang in diesem Stift eingesperrt zu sein.
»Ich liebe dich sehr. Ich wünschte, das könnte dir helfen«, flüstert Bettina in der Dunkelheit. »Ich werde dich immer lieben. Du bist schön. Du bist klug. Vergiß doch die Männer. Wie töricht, daß sie das nicht zu schätzen wissen. Ich schwöre dir bessere Treue.« Und sie schiebt ihre Hand durch Karolines Haar, unter ihren Nacken. Ihre Gesichter sind jetzt einander zugewandt. Sie küssen sich. Es ist, als ob eine Spannung dadurch aus ihnen wiche. Danach liegen sie nebeneinander auf dem Bett, halten einander bei der Hand. Sie sind ruhig, still. Sie brauchen keine Worte. Es ist gegen Morgen, als Bettina aus dem Stift schlüpft. Die Luft ist frisch, und das Licht ist hell auf dem Weg. Beim Frühstück verlangt die Großmutter Auskunft, wo sie denn über Nacht gewesen sei. Man habe sich in der Grillenhütte Sorgen gemacht. Bettina lügt nicht. Sie sagt, sie habe Karoline trösten müssen. Es sei unmöglich gewesen, sie in dieser Nacht allein zu lassen. Man habe damit rechnen müssen, daß sie sich etwas antue. »Aber das geht doch nicht, Kind«, meint die Großmutter, aber man merkt, daß sie versteht, warum es sein mußte. »Es war eine Ausnahme«, sagt Bettina, »es wird gewiß nicht mehr vorkommen.«
»Das wollen wir hoffen«, beschließt die Großmutter die Unterhaltung.
Aber Bettina denkt gern an diesen Nachmittag und diese Nacht. So nah ist sie noch nie einem Menschen gewesen. Was doch um die Männer immer für ein Aufstand gemacht wird - wer ihnen absagen könnte, ganz und gar, würde sich gewiß viel Kummer ersparen. Man müßte sie bestrafen. Verdient hätten sie's. Einmal, als sie wieder bei der Karoline drüben im Stift ist, sagt sie zu ihr: »Sei gewiß, meine Liebe, du wirst hier im Stift nicht verschimmeln. Gesetzt den Fall, es will dich kein Mann, so wie du bist, dann nehme ich einfach auch keinen, und wir ziehen zusammen in die weite Welt. Wir müssen nur noch entscheiden, ob nach Griechenland oder nach Amerika. Ich weiß, du bist für Griechenland ... Aber ich werde mir für Amerika Argumente zurechtlegen. Zum Beispiel ist alles so weit dort, so groß, und wir könnten Indianer werden, während wir durch Europa nur in Männerkleidern kämen.«
»Du erzählst Märchen von einem hohen Baum herab«, sagt die Günderrode lachend. Aber es bleibt die Hoffnung, daß sie diesen oder einen anderen Plan tatsächlich verwirklichen könnten. Es gibt sogar Leute, die ihnen das zutrauen. Dann aber kommt ein junger Mann. Und etwas wird anders.