(18) Der Sommer und Herbst des Jahres 1805 sind eine angenehme Zeit für Achim von Arnim. Seit den düsteren Wochen vor einem Jahr, da er in England krank lag, hat sich in seinem Leben vieles zum Besseren gewendet.
Im August 1804 ist er von England über Holland nach Berlin zurückgekehrt. Er hat ein geräumiges Junggesellenquartier im Levischen Haus hinter dem neuen Packhof bezogen. Im November ist Clemens von Heidelberg herübergekommen. Sie haben Ausflüge nach Wiepersdorf und nach Ziebingen zu dem Dichter Tieck unternommen. Clemens hat an seiner Komödie gearbeitet und Achim aus dem Tristan vorgelesen. Sie haben wieder einmal dieses Glück verspürt, das von alten Büchern und Texten ausgehen kann. Man bläst den Staub fort, und wo vorher scheinbar nichts als graue Flocken gewesen sind, beginnt eine Wunderwelt zu glitzern. Es ist ihnen in diesen Wochen gewesen, als werde endlich der erste Schritt zur Verwirklichung ihres Lebensplans getan.
Clemens ist Achim ein guter Freund, aber er ist zerrissen wie eh und je. Seine Frau ist wieder schwanger. Trotzdem hat sie ihn reisen lassen. Aus Heidelberg hat Clemens über die häusliche Enge geklagt. In Berlin beklagt er sich darüber, von Sophie getrennt zu sein. Achim neckt ihn mit einem Vers, den er in der Schweiz gehört hat:
Der arme Hans im Schnakenloch
hat alles, was er will.
Und was er hat, das will er nicht,
Und was er will, das hat er nicht.
Dem armen Hans im Schnakenloch
geht's nimmer, wie er will.
Sophie schreibt ihm einen ebenso liebesstrahlenden wie vernünftigen Brief, den Clemens selbstverständlich seinem Herzensbruder Achim zu lesen gibt. Darin heißt es über Clemens' ewige Sehnsüchte und Selbstquälereien:
Soll ich weinend oder lachend antworten? Einen größeren Don Quichote wie Dich trug gewiß nie die prosaische Erde! Zuhause sitzt sein treues Weib, liebt ihn, lebt eingezogen, arbeitsam, trägt ihn in und unter dem Herzen und ist ganz zufrieden. Er reist ganz lustig durch die Welt, zu einem geliebten, wunderholden, einzigen Freund; er könnte ganz ruhig und glücklich sein. Aber weil er nun gar nichts weiß, ihm gar nichts fehlt, so kämpft er gegen Windmühlen und trägt sich mit unwesentlichsten Grillen! Ich bitte Dich, nimm doch das Gute wahr, das Dein ist; es nicht genießen, ist auch Sünde, und bekämpfe diesen unbeschreiblichen Hang, stets nach dem Fernen Dich zu sehnen. Diese ewige Sehnsucht gehört nur Gott. Meine Liebe, meine ich, müßte Dich umgeben wie ein warmes, weiches Kleid, das Du überall mit Dir trägst und in dem Du dich wohl befindest...
Im Dezember ist dann Clemens zu Sophie zurückgereist. Nun kommen aus Heidelberg Briefe und gehen Nachrichten von Berlin nach Heidelberg, in denen ein alter Plan immer deutlichere Gestalt gewinnt.
Es gibt keine umfassende Sammlung deutscher Volkslieder. Über Pläne zu einer solchen Sammlung haben die beiden Freunde schon in Göttingen gesprochen. Achim hat in Schottland erlebt, wie man dort die alten Romanzen und »border«-Balladen sammelt und druckt. Zum einen, damit sie nicht untergehen, zum anderen aber auch, um so das Wesen des Landes, seine nationale Identität zu dokumentieren.
Der erste Hinweis auf den Liederbuchplan der Freunde findet sich in einem Brief von Clemens, der das Datum des 15. Februar 1805 trägt. Er schreibt:
Ich habe dir und Reichardt einen Vorschlag zu machen, bei dem ihr mich nur nicht ausschließen müßt, nämlich ein wohlfeiles Volksliederbuch zu unternehmen... wenn wir zum Anfang nur ein hundert Lieder, die den gewöhnlichen Bedingungen des jetzigen Volksliedes entsprechen, beisammen haben, mehrere sehr vernünftige Prediger der Pfalz haben mich schon darum gebeten, man könnte es abteilen in einen Band für Süddeutschland und einen für Norddeutschland, weil beide sich in ihren Gesängen notwendig trennen, es muß sehr zwischen dem Romantischen und Alltäglichen schweben, es muß geistliche, Handwerks-, Tageszeit-, Jahreszeit- und Scherzlieder ohne Zote enthalten... es muß so eingerichtet sein, daß kein Alter davon ausgeschlossen ist, es könnten die bessern Volkslieder drinnen befestigt und neue hinzugedichtet werden, ich bin versichert, es wäre viel [da] mit zu [be]wirken; äußere dich darüber, mir ist der Gedanke lieb!
Sie sind sich bald einig gewesen. Achim hat Clemens geantwortet: »Mit keinem andern als mit Dir möchte ich es (das Volksliederbuch) herausgeben.«
Es hat die herrliche Zeit des Sammelns und Sichtens begonnen, des Umgangs mit schönen alten Büchern und Drucken. Sie haben Glück gehabt. 1803 sind im Zuge der Säkularisierung zahllose Klosterbibliotheken aufgelöst worden, deren Schätze man in den Antiquariaten und bei Sammlern vorfindet. Bei dem allgemeinen romantischen Interesse dieser Zeit hat die Suchanzeige der beiden Freunde ein großes Echo unter Pfarrern, Lehrern und Studenten gehabt. Über der Lektüre von Johan Just Winkelmanns in Bremen erschienener Schrift Des Oldenburgischen Wunder-Horns Ursprung aus dem Jahre 1644 hat sich der Titel für ihr Liederbuch gefunden: >Des Knaben Wunderhorn.<
Natürlich haben die »Wunderhornisten« die Sammlung so gestaltet, wie es ihnen gefiel. Also ist sie weder streng wissenschaftlich, noch ist der Begriff »Volkspoesie« sehr eng gefaßt worden. Neben echten Volksliedern stehen auch Ritterballaden, Meistergesänge, höfische Hochzeitscarmina, Kirchenlieder, Legenden und Gedichte, beispielsweise von Hans Sachs, Opitz, Weckherlin, Zesen, Friedrich Spee und Paul Gerhardt. Hier sind zwei junge Autoren an der Arbeit, die selbst zur Gitarre singen, selbst, und das gilt vor allem für Clemens, täuschend ähnlich im Volksliedton schreiben können. Sie drücken in dieser Sammlung ihren Traum von einer besseren Zeit im deutschen Mittelalter aus. Aber sie leisten dabei »ein Rettungswerk in zwölfter Stunde«. Gewiß nämlich wären ohne diese Sammlung viele deutsche Volkslieder bei den nun sich rasch verändernden Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen untergegangen.
Ende Mai 1805 reist Achim von Arnim nach Heidelberg, um mit Clemens am Manuskript des Wunderhorns - es erscheint zunächst der erste Band auf der Herbstmesse 1805 mit dem Druckdatum 1806, später der zweite und dritte Band mit dem Druckdatum 1808 - durchzusprechen. Am 13. Mai wird Clemens' und Sophies zweites Kind, eine Tochter, geboren. Es stirbt nach sechs Wochen an Scharlach. Clemens beginnt sich einzubilden, daß über seiner Ehe ein Fluch liege.
Lulu Brentano, so hört Achim in Heidelberg, wird den Bankier Karl Jordis heiraten, einen guten, aber etwas einfältigen Menschen. Aus Paris hat von Savigny die Geburt einer Tochter gemeldet, die Bettinas Namen erhalten soll.
Ach ja, Bettina.
Als Clemens im Winter 1804 in die Heimat zurückgereist ist, hat Achim ihm eine Tasse für Bettina mitgegeben. Jetzt hat sie ihm nach Heidelberg ein Glas geschickt, aus dem er seinen Wein trinken soll. Als er sie dann wiedersieht - Clemens ist in Wiesbaden zur Kur, und er hält sich in Frankfurt auf, um den Druck von Band I des Wunderhorns zu überwachen, findet er, sie sei vernünftiger und gesetzter geworden, habe an »eigenem Sinn und Festigkeit« gewonnen, wie er es gegenüber Clemens ausdrückt.
Es ist etwas Merkwürdiges um ihr Verhältnis. Manchmal sind sie sich so nahe, und einen Augenblick später liegt ein Abstand zwischen ihnen, der ihn bestürzt.
Sie hat eines seiner Gedichte vertont. Als ihr der Musiklehrer dabei helfen wollte - nur ein paar Akkorde in der Begleitung hat er vorgeschlagen zu ändern -, löst das einen Wut- und Verzweiflungsanfall bei ihr aus. Sie hat das Blatt gleich wieder wegwerfen wollen. Der Klavierlehrer, der Hoffmann, hat ihr darauf recht entschieden den Kopf zurechtgesetzt. Er hat ihr klar gemacht, daß sie nicht erwarten dürfe, alles gleich vollkommen hervorbringen zu können.
Das braucht es bei ihr. Jemand, der auf ihr heftiges Wesen mit Ruhe und Besonnenheit reagiert. Der ihr Schranken setzt. Und genau dazu sieht Achim sich nicht in der Lage. Eine Geliebte erziehen müssen - das kann und will er nicht. Wenn er einen Menschen liebt, mag er nicht in ihn eingreifen, in ihm herumstochern, ihn korrigieren oder zurechtweisen. Der andere soll in sich selbst ruhen, sich selbst zügeln können, wenn er ausgebrochen ist. Sie sind viel zusammen in diesem Sommer: Auf Ausflügen in den Rheingau, in Frankfurt im »Haus zum Goldenen Kopf« und wohl auch wieder draußen, auf dem Hofgut, der Grünen Burg. Es gibt Leute, die meinen, sie müßten sich bald verloben und heiraten.
Davon ist keine Rede. Sie sind immer noch beim steifen Sie. Aber Bettina kann ihm an den Hals fliegen, ihn küssen, mit ihm zärtlich sein, als wären sie Brautleute.
Es kann vorkommen, daß ihn eine Angst befällt, wenn sie aus dem Zimmer geht, daß er in eine Leere stürzt. Dann beschließt er, seien die Zeiten und seine Vermögensverhältnisse wie sie wollen, ihr am nächsten Tag einen Antrag zu machen. Aber wenn der nächste Tag da ist, wenn die Sonne scheint und mehr Menschen um ihn sind, findet er es verantwortungslos, einer Stimmung zu folgen. Wie viele sind doch unglücklich geworden in der Ehe, eben deswegen. Er und ein Ehemann. Er muß lachen. Er steckt nicht weniger voller Merkwürdigkeiten als Clemens. Wie würden Bettina und er sich aneinander reiben. Und er weiß, wie unglücklich es ihn macht, mit jemandem, der ihm nahesteht, im Streit zu sein.
Da ist es doch besser, die Dinge auf sich zukommen zu lassen und die angenehme Stimmung im Kreis guter Freunde und interessanter Bekannter zu genießen, die sich in diesem Sommer immer wieder zusammenfinden: die zahlreichen Geschwister Brentano, von Savigny, Georg Friedrich Creuzer, ein ungewöhnlich häßlicher Mensch, aber ein guter Philologe, der Ungewöhnliches über die Mythologie und die Symbole bei den Alten zu erzählen weiß, und schließlich die Günderrode.
Treffpunkt für diesen Freundeskreis wird durch die Verschwägerung der von Savignys mit den Brentanos nun immer mehr Träges. Außer dem Gut gibt es dort auch noch ein Herrenhaus, fast ein ländliches Schlößchen, in einem romantischen Park gelegen. Wer nicht in dem nicht allzu geräumigen Haupthaus untergebracht werden kann, für den wird, wie beispielsweise für die Günderrode bei der Tauffeier für Bettinchen, in unmittelbarer Nähe ein Hexenhaus hergerichtet.
Es stellt sich heraus, daß an vielen Ecken und Enden Menschen sich in der Vergangenheit umsehen, um die Verhältnisse der Gegenwart zu verbessern.
Von Savigny hat in Paris nach alten Rechtsquellen geforscht. Ab dem Wintersemester liest er in Marburg, und Bettina, die offenbar weder in Frankfurt noch in Offenbach eine Bleibe hat, soll dorthin zu Schwester und Schwager. Es wäre anders, wenn sie verheiratet wäre. Dann müßte sie nicht mit diesem jungen Paar und dem Kind leben. Als Achim das Gespräch bei von Savigny auf dieses Thema bringt, erklärt der ihm, Bettina werde sie nicht stören, und von Bettina hört er, sie habe die Verläßlichkeit des Schwagers schätzen gelernt.
Ein schöner Sommer, ein guter Herbst. Die Männer gehen auf die Jagd. Man musiziert, diskutiert, liest einander Gedichte vor. Die jüngeren Angehörigen der Brentano-von Savigny-Familie liefern sich beim Aufstehen im Herrenhaus auf Träges eine Kissenschlacht. Von Savigny dagegen verkörpert Würde und Ordnung, den Gelehrten, den man nicht stören darf, weil er tief denkt.
Anfang November hat das ein Ende. Die Savignys und Bettina sind nach Marburg davon. Achim bricht auf zu einer Propagandatour für das kürzlich erschienene Wunderhorn. Er holt in Weimar gewissermaßen Goethes Segen für das Unternehmen ein, das ja noch fortgesetzt werden soll. Auf dem Umweg über Nürnberg und Gotha besucht Achim wichtige Buchhandlungen und Antiquariate. In Jena sieht er, mit einem Empfehlungsbrief Goethes versehen, in der Universitätsbibliothek den Codex alter deutscher Lieder ein. Im Januar 1806 ist er in Berlin, muß aber gleich wieder reisen, diesmal mit dem Onkel, auf dessen Güter nach Mecklenburg.
In diesem Winter werden die Briefe zwischen Bettina und ihm häufiger, in ihrem Ton intimer. Er braucht diese Briefe. Er braucht Bettina. Er will Teilnahme an ihrem Alltag. Er schreibt:
Sie Wortkarge, Silbensparende, Papierabschneidende, Tintenvergießende, schönsiegelnde Barbarin, was beschäftigt Sie so unendlich? Schürzen Sie etwa Knoten in einem Spinngewebe, damit sich die Spinne ärgert, oder blasen Sie Flaumfedern durch ein Schlüsselloch? Ich habe den Brief schon umgekehrt, ob etwa ein geheimer Sinn dann herauskäme, aber kein Wort wie Sie leben...
Und als es Frühling wird, klagt er:
...also im Mai sind Sie in Trages? Und ich werde dann mitten im Sande mit Pächtern rechnen und streiten, mich ärgern über Politik, Lieder abschreiben, eine Art tantalisierende Freude...
Vielleicht aber tut er auch das alles nicht, sondern reist erst zu den Reichardts, dann nach Magdeburg, um sich einmal das Grabmal des Erzbischofs Ernst von Sachsen anzusehen, er könnte von dort nach Göttingen gehen, wo es ihm immer so gut ist, weil er Goethe dort zum ersten Mal gesehen und seinen ersten Roman geschrieben hat. Und von dort würde er nach Trages kommen.
(19) An einem Tag im Frühjahr 1806 kommt Bettina in Frankfurt an die Pforte des Stifts und erfährt, daß das Fräulein von Günderrode sie in Zukunft nicht mehr zu empfangen wünsche. Bettina ist bestürzt. Sie kann das nicht glauben. Sie läuft zurück ins »Haus zum Goldenen Kopf«. Was hat das zu bedeuten? Sie schreibt an Karoline:
Ich hätte gern, daß Du der Gerechtigkeit und unserer alten Anhänglichkeit zulieb mir noch eine Viertelstunde gönntest, heute oder morgen; es ist nicht, um zu klagen, noch um wieder einzulenken. Beides würde Dir gewiß zuwider sein, und von mir ist es auch weit entfernt. Denn ich fühle deutlich, daß nach diesem verletzten Vertrauen bei mir die Freude, die Freude meines Lebens nicht mehr auf Dich ankommen wird wie ehemals, und was nicht aus Herzensgrund, was nicht ganz werden kann, soll gar nicht sein.
Bettina hört von dem Faktotum des Hauses Brentano, Claudine Piautaz, Karoline habe zu ihr gesagt, Bettina wisse sehr wohl, warum sie sie nicht mehr zu sehen wünsche. Bettina hat eine vage Ahnung, eine Vermutung, die sich später als richtig erweisen wird, aber sie findet - verständlicherweise -, daß man eine vage Ahnung nicht als Grund dafür gelten lassen kann, von heute auf morgen eine langjährige, enge Freundschaft zu beenden.
Wenn mir mein Freund das Messer an die Kehle gesetzt hätte und ich hätte so viele Beweise seiner Liebe, so freundliche, so aufrichtige Briefe von ihm in den Händen, ich würde ihm dennoch getraut haben. Die Briefe mußt Du mir wiedergeben, denn Du kömmst mir falsch vor, solange Du sie besitzest, auch leg' ich einen Wert darauf, ich habe mein Herz hineingeschrieben.
Auch auf diesen Brief kommt keine Antwort. Es vergehen etwa vierzehn Tage.
Es ist in diesen Jahren unter den wohlhabenden Frankfurter Bürgerfamilien üblich geworden, im Sommer die Stadt zu verlassen und zum Urlaub in die Sommerhäuser zu ziehen. Die Gontards besitzen ein solches Sommerhaus nördlich von Frankfurt. Bettinas Stiefbruder hat ein Haus in Winkel im Rheingau gekauft. Mehrere andere Frankfurter Bürger haben ebenfalls dort Sommerhäuser erworben. Bettina hört, daß Karoline mit den Zwillingsschwestern Servière in das Haus eines Frankfurter Weinhändlers abgereist ist. Sie selbst besucht in diesen Wochen häufig die alte Rätin Goethe. Sie beginnt, die Mutter des einstigen Hausfreundes ihrer, Bettinas, Mutter über ihren Sohn auszuholen, und welche Mutter würde nicht gern von einem berühmten Sohn reden.
Im Haus der Familie Goethe, im Hirschgraben, lernt sie eines Tages auch Fritz Schlosser kennen, Advokat wie sein Bruder, Johann Georg, der mit Goethes Schwester Cornelia verheiratet gewesen ist.
Ein Mädchen mehr, das von den Eltern in eine »Vernunftehe« gezwungen worden und letztlich daran zerbrochen ist. Wieviel Bettina über die Ehemisere Cornelias erfahren hat, läßt sich schwer sagen; die Ereignisse liegen schon einige Zeit zurück.
1773 hat Cornelia Johann Georg Schlosser geheiratet, 1777 ist sie gestorben.
Johann Friedrich Schlosser, der Fritz, ist Rat beim Stadt- und Landgericht. Er plant einen Ausflug in den Rheingau und möchte dort die Günderrode aufsuchen, über die er viel Gutes sagen gehört hat. Er unterhält sich darüber mit Bettina.
Sie erzählt ihm, daß sie mit Karoline verzankt sei, bittet den Fritz aber, der Günderrode von ihr zu erzählen und darauf zu achten, was für ein Gesicht sie dann mache.
»Wann gehen Sie hin«, fragt Bettina, »morgen?«
»Nein, erst in acht Tagen.«
»Sie müssen morgen gehen, sonst treffen Sie sie nicht mehr an.
Am Rhein ist's so melancholisch. Sie könnte sich ein Leid antun.«
Schlosser sieht Bettina bestürzt an.
»Ja, ja«, sagt sie weiter, »sie stürzt sich ins Wasser oder sie ersticht sich aus bloßer Laune.«
»Freveln Sie nicht«, sagt Schlosser.
Bettina hat sich in Eifer geredet. »Geben Sie nur acht, Schlosser«, fügt sie noch hinzu, »Sie finden sie nicht mehr, wenn Sie nach alter Gewohnheit zögern, und ich sage Ihnen, gehen Sie lieber heute als morgen und retten Sie sie vor unzeitiger melancholischer Laune.«
Und sie treibt ihren bösen Scherz noch weiter. Sie beschreibt, wie die Freundin sich umbringen werde. Sie redet von einem roten Kleid mit aufgelöstem Schnürband, von der Wunde dicht unter der Brust.
Schlosser heißt das »tollen Übermut«, aber später wird es Bettina »bewußtlosen Überreiz« nennen. Damit ist eine Überwachheit der Sinne gemeint, ein Zustand so starker Sensibilität, daß er ein unbewußtes »Erfassen« auch zukünftiger Dinge ermöglicht.
Selbst wenn Bettina zu Schlosser aus bloßem Zynismus so gesprochen haben sollte, deutet auch das auf ihre starke emotionale Beteiligung hin, auf ihre Hilflosigkeit, ihr Verletztsein und ihre Angst.
Tatsächlich haben sich in letzter Zeit - als die Freundinnen noch zusammenkamen - seltsame Szenen abgespielt, seltsam auch dann, wenn man weiß, daß Menschen damals ihre Gefühle und Empfindungen geradezu überschwenglich, um nicht zu sagen theatralisch zum Ausdruck bringen.
Einmal ist Bettina in diesen Monaten des Frühjahrs 1806 zu ihrer Freundin gekommen. Sie hat Karoline in einem Zustand fiebrigfreudiger Erregtheit angetroffen.
»Gestern habe ich«, so hat Karoline erzählt, »einen Chirurg gesprochen, der hat mir gesagt, daß es sehr leicht ist, sich umzubringen.«
Sie hat hastig ihr Kleid geöffnet und Bettina unter der schönen Brust den Fleck gezeigt. Ihre Augen haben freudig gefunkelt. Bettina hat sie angestarrt. Es ist ihr unheimlich geworden. Sie hat gefragt: »Nun... und was soll ich denn tun, wenn du tot bist?« »Oh«, hat Karoline gesagt, »dann ist dir nichts mehr an mir gelegen. Bis dahin sind wir nicht mehr so eng verbunden. Ich werde mich erst mit dir entzweien.«
Bettina hat es nicht fassen können. Sie ist in lautes Schreien ausgebrochen. Sie ist der Freundin um den Hals gefallen. Sie hat sich auf ihren Schoß gesetzt. Sie hat sie auf den Mund geküßt. Sie hat ihr das Kleid aufgerissen und jene Stelle geküßt, die ihr Karoline bezeichnet hatte. Unter Tränen hat sie Karoline gebeten, sich ihrer zu erbarmen. Sie ist ihr immer wieder um den Hals gefallen, hat ihr die Hände geküßt. Die waren kalt und zitterten. Dann hat Karoline gesagt: »Bettina, brich mir nicht das Herz.« Bettina hat zu scherzen versucht. »Wenn du dich umbringen willst«, hat sie gerufen, »müßtest du ja erst einmal dein Testament machen.«
»Ja, das stimmt«, hat Karoline tonlos geantwortet, und dann hat sie aufgezählt, was sie diesem und jenem vermachen wolle, Bettina den kleinen Apoll unter einer Glasglocke, dem sie einen Lorbeerkranz umgehängt hatte. »Schreib nur alles auf«, hat Karoline zu Bettina gesagt. Auf dem Nachhauseweg hat sich Bettina Vorwürfe gemacht. Es ist ihr so vorgekommen, als sei alles nur ein Scherz gewesen, Phantasterei.
Aber das ist nicht die einzige Begebenheit solcher Art gewesen. Bettina erinnert sich an einen anderen Tag. Da zeigt ihr Karoline einen Dolch mit einem silbernen Griff. Sie haben darüber gestritten, ob ein so schreckhaftes Wesen wie Karoline, die ja nicht einmal einen Tropfen Blut sehen kann, es wagen würde, sich mit einer so grausigen Waffe zu töten.
Bettina sticht auf einen Polsterstuhl ein. Stich um Stich. Das ganze Zimmer wird von einer Staubwolke erfüllt. Bettina nimmt Karoline bei der Hand und führt sie hinaus in den Garten. Sie reißt junge Weinreben ab und wirft sie auf den Boden. Sie trampelt darauf herum und ruft: »So mißhandelst du unsere Freundschaft.« Sie deutet auf die Vögel in den Zweigen und ruft aus: »Haben wir nicht treu wie sie zusammengelebt? Du kannst auf mich bauen. Es ist keine Stunde in der Nacht, in der ich nicht für dich da wäre. Komm vor mein Fenster und pfeif um Mitternacht, und ich geh ohne Vorbereitung mit dir um die Welt. Was ich für mich selbst wagen würde, das wage ich auch für dich. Aber du! Was berechtigt dich, mich aufzugeben? Wie kannst du nur solche Treue verraten? Und versprich mir, daß du dir solch grauenhafte Ideen aus dem Kopf schlägst.«
Karoline ist beschämt. Sie blickt weg. Sie ist blaß. Beide sind still gewesen, eine lange Zeit.
»Günderrode«, sagt Bettina, »wenn es ernst ist, dann gib mir ein Zeichen.«
Danach ist Karoline an den Rhein gereist. Sie hat Bettina von dort ein paar Zeilen geschickt. Einmal hat sie geschrieben:
- Ist man allein am Rhein, so wird man ganz traurig. Aber mit mehreren zusammen, da sind grad die schauerlichsten Plätze am lustaufreizendsten. Mir aber ist doch lieb, den weiten, gedehnten Purpurhimmel am Abend allein zu begrüßen. Da dichte ich im Spazieren an einem Märchen. Das will ich Dirvorlesen; ich bin jeden Abend begierig, wie es weitergeht. Es wird manchmal recht schaurig und dann taucht es wieder auf.
Karoline ist nach Frankfurt zurückgekommen, und als Bettina sie gebeten hat, das Märchen vorzulesen, hat sie gesagt: »Es ist so traurig geworden, daß ich's dir nicht lesen kann. Ich darf nichts davon hören. Ich kann es auch nicht weiter schreiben. Ich werde krank davon.«
Sie hat sich zu Bett gelegt und ist mehrere Tage im Bett geblieben. Der Dolch aber hat immer auf ihrem Nachttisch gelegen. Einmal, als Bettina sie besuchte, hat sie ihr erzählt: »Mir ist vor drei Wochen eine Schwester gestorben. Sie war jünger als ich. Du hast sie nie gesehen. Sie starb an Schwindsucht.« »Warum sagst du mir das erst heute?«
»Nun, was könnte dich das interessieren? Du hast sie nicht gekannt. Ich muß so etwas allein tragen.«
Die Günderrode hat auch erzählt, vor drei Nächten habe sie von ihrer toten Schwester geträumt. Die sei ihr erschienen, aber es sei eben nicht wie im Traum gewesen, sondern wie Wirklichkeit. Ihre Schwester habe den Dolch genommen, damit zum Himmel gewiesen und ihn wieder auf den Nachttisch gelegt. Sie habe auch die brennende Nachttischlampe angehoben und auch damit in die Höhe gewiesen. Auch diese habe sie wieder abgestellt und sie dann ausgeblasen. Und noch eine Szene fällt Bettina wieder ein, als sie versucht, sich darüber klar zu werden, warum Karoline so plötzlich und unwiderruflich, jede Aussprache und Begründung ablehnend, mit ihr gebrochen hat. Eine Szene, die sich zu Sylvester des Jahres 1805/ 06 in Marburg abgespielt hat.
Creuzer ist nach Marburg aus Heidelberg herübergekommen, um Savigny zu besuchen. Sie hat ihn angesehen und nicht begreifen können, daß so einer sich überhaupt für eine Frau interessiert, und dann hat Creuzer von Karoline gesprochen, so, als könne er ihrer Liebe zu ihm ganz sicher sein. Bettina hat eine Empörung in sich gespürt. Es hat einen Augenblick gedauert, bis ihr klar geworden ist, daß es sie eifersüchtig gemacht hat, Creuzer so reden zu hören. Er hat das kleine Kind auf den Schoß genommen und es gefragt: »Wie heißt du?... So so, Sophie... Nun, solange ich hier bin, sollst du Karoline heißen. Karoline, komm, gib mir einen Kuß.« Da ist Bettina wütend geworden, hat ihm das Kind weggerissen und es aus dem Zimmer geführt. Sie ist mit dem Kind fort, durch den Garten. Sie hat Karolines Namen in den Schnee geschrieben, sich mit glühendem Gesicht auf den Schriftzug im Schnee geworfen und geweint. Das Kind hat mitgeweint. Auf dem Weg zurück ist sie Creuzer begegnet und hat ihm zugerufen: »Weg da... aus dem Weg, Mann. Fort!«
Später hat sie allein im Turm gesessen. Die Stadt unter ihr; es schlug Mitternacht. Da ist es losgegangen. Die Trommeln sind gerührt worden, die Posthörner haben geschmettert. Flinten wurden abgefeuert. Studentenlieder sind von überall her herangeweht. Es ist ein Jubellärm aufgestiegen. Das vergißt sie nie. Sie kann nicht genau ausdrücken, wie wunderlich ihr zumute war, dort oben in schwindelnder Höhe, und wie es allmählich wieder still geworden ist und sie sich allein gefühlt hat. Da ist sie ins Haus zurückgegangen und hat an die Günderrode geschrieben. Seit jenem Sylvestertag weiß Bettina, daß zwischen der Günderrode und jenem in Heidelberg lehrenden Professor Friedrich Creuzer ein Liebesverhältnis besteht. Die Freundin selbst hat nie zu Bettina davon gesprochen. Das ist erstaunlich angesichts der engen Freundschaft, die seit Jahren zwischen ihnen besteht. Verständlich wird es, wenn man die Lebensumstände Friedrich Creuzers näher kennt. Creuzer ist der Sohn eines Steuereinnehmers und Buchbinders in Marburg. Er ist neun Jahre älter als die Günderrode. Obwohl sehr begabt, kam für einen jungen Mann aus dem Kleinbürgertum ohne Unterstützung durch wohlhabende Gönner ein Studium nicht in Frage. Creuzer kann nur studieren, weil Savigny ihm Geld gibt.
Creuzer heiratet schließlich die um dreizehn Jahre ältere Sophie Leske, die Witwe eines seiner Professoren. Auch diese Ehe trägt dazu bei, daß der mittellose junge Mann sein Studium abschließen und eine akademische Karriere beginnen kann. Aber um welchen Preis? Um den der materiellen Abhängigkeit von einer Frau, die Creuzer nicht liebt, die ihn häufig daran erinnert, daß er ohne sie nicht auskommen werde. Nach einem Streit verläßt sie ihn einmal, nur für einen Tag. Das reicht hin, ihn an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu treiben. Er weiß nicht, wo das Geld liegt, um fällige Rechnungen zahlen zu können. Er findet bestimmte Schlüssel nicht.
Creuzer, der weltfremde deutsche Gelehrte, der zerstreute Professor. Eine Karikatur. Ein Klischee. Nun, hier fallen Karikatur und Wirklichkeit fast zusammen.
Creuzer erhält einen Ruf nach Heidelberg, einer zu diesem Zeitpunkt darniederliegenden Universität, die reorganisiert werden soll. Er erwirbt sich dabei beträchtliche Verdienste, führt außerdem seine Studien in Altertumswissenschaften weiter. Im August 1804, die Günderrode ist zu Besuch bei Freunden in Heidelberg, wo auch ihr Bruder studiert, unternimmt man einen Spaziergang mit einer Gruppe von Professoren und Dichtern. Auch Clemens Brentano ist mit dabei. Auf diesem Ausflug lernen Karoline und Creuzer sich kennen.
Es ist die Begegnung zwischen zwei Menschen, die unter ihrer Einsamkeit und ihren Mängeln leiden. Die Günderrode, eingesperrt in dem Frauenstift, freut sich, endlich einmal jemanden zu finden, der Verständnis für ihre philosophischen und literarischen Interessen hat. Creuzer, ewig unsicher und unzufrieden mit seiner äußeren Erscheinung, genießt es, auf eine hübsche junge Frau Eindruck zu machen. Aber die intensiven Gespräche zwischen Karoline und Creuzer ändern nichts daran, daß eine Frau als gleichberechtigte Partnerin des Mannes - gleichberechtigt nicht nur bei der Äußerung schöner Gefühle, sondern auch in Fragen der Wissenschaft der Literatur - für die meisten Männer damals undenkbar war, und das gilt durchaus auch für aufgeklärte Intellektuelle. Dafür gibt es viele Hinweise. Es gilt als unschicklich für eine Frau, Gedichte, die sie geschrieben hat, unter dem eigenen Namen erscheinen zu lassen. Die Mereau mag sich über solche Vorurteile hinwegsetzen, aber das wiederum führt zum Scheitern ihrer ersten Ehe und belastet auch die Ehe mit Clemens. Auch der Günderrode macht Clemens Vorwürfe, weil sie einen Gedichtband nicht anonym erscheinen läßt. Überhaupt erwartet man von der Günderrode als Stiftsdame besonders strikte Anpassung an das, was als schicklich gilt. Würde sie sich auflehnen, riskierte sie den Ausschluß aus dem Stift. Und was dann? Um ihr geringes Erbe muß sie ohnehin schon prozessieren. Unter diesen Umständen entwickelt sich die Bekanntschaft und Liebe zwischen der Günderrode und Creuzer von Anfang an unter dem Vorzeichen des Unmöglich-Unwirklichen. Creuzer reist nach der ersten Begegnung sehr bald nach Frankfurt. Zunächst widersetzt sich Karoline seiner Werbung, dann läßt sie sich darauf ein. Briefwechsel und Treffen müssen geheimgehalten werden, denn natürlich ist Sophie, die Ehefrau Creuzers, empört und eifersüchtig: Das also ist nun der Dank dafür, daß sie den um viele Jahre jüngeren Mann in seiner Studienzeit ausgehalten hat. Eine Scheidung kommt nicht in Frage. Weniger wegen des Skandals - auch die Mereau hat sich von ihrem Mann, der Universitätslehrer war, scheiden lassen - als aus materiellen Gründen. Mit ihrer Wiederverheiratung hat Sophie die Pension, die ihr aus der ersten Ehe zustand, aufgegeben bzw. den Anspruch darauf verloren. Ein deutscher Professor verdient nicht genug, um sich eine Scheidung leisten und danach zwei Frauen unterhalten zu können. Die abenteuerlichsten Pläne werden zwischen Karoline und Creuzer gesponnen. Als er Aussicht auf eine Professur in Petersburg hat, überlegt sie allen Ernstes, ob sie ihm nicht, als Mann verkleidet, dorthin folgen könne. Auch eine Lebensgemeinschaft zu dritt wird erwogen. Es scheint, als ob Sophie nun doch in eine Scheidung einwilligen werde, aber dann vertraut sie sich wieder Kollegen Creuzers an, die den Herrn Professor ins Gebet nehmen und es sich zur Aufgabe machen, ihn auf den Pfad bürgerlicher Tugendhaftigkeit zurückzuführen.
Auch die Günderrode hat ihre Vertrauten und Ratgeber. Als Savigny mit Frau und Kind aus Paris zurückkommt, erfährt er von dem Verhältnis. Bei aller für ihn typischen Beherrschtheit und Sachlichkeit scheint er doch verärgert, daß Karoline nicht schon früher seinen Rat in dieser Sache gesucht hat. Auch Eifersucht mag bei seiner Verärgerung mit im Spiel gewesen sein. Ein Kollege von Creuzer, der Theologe Daub, schreibt an Karoline und macht ihr Vorwürfe, sie sei in eine Ehe eingebrochen. Es sei an ihr, der Misere dadurch ein Ende zu machen, daß sie sich von Creuzer trenne. Die Trennung wird versucht. Aber der Versuch dauert nur zwei Monate. Dann söhnen sich die Günderrode und Creuzer wieder aus. Schon bei diesem Konflikt erweist sich, daß die Frau die Willensstärkere ist, mehr Tapferkeit aufbringt, mehr riskiert.
Karoline hat außer Bettina eine etwa gleichaltrige Freundin, Susanne Heyden, die Briefe zwischen den Liebenden vermittelt. Von ihr läßt sie sich den Schlüssel zu einer Ferienwohnung im Kettenhof zustecken und die genauen Zeiten mitteilen, wann es am sichersten ist, sich dort zu treffen, ohne dort, vor den Toren Frankfurts, Bekannten aus der Frankfurter Gesellschaft zu begegnen.
Creuzer wird zunehmend unsicherer, nervöser, gereizter, ängstlicher.
Während sich Karoline mit zwei Freundinnen in Winkel aufhält, will Creuzer sie dort besuchen kommen. Immer wieder aber schiebt er den Besuch hinaus. In seinen Briefen gebraucht er höchst fadenscheinige Ausreden. Er habe zuviel zu tun, seiner Frau sei unwohl. Karoline begreift: Er fürchtet, in Winkel von irgend jemandem gesehen zu werden, den er aus Marburg, Frankfurt oder Heidelberg kennt.
Schließlich bestellt Creuzer Karoline zu einem Rendezvous nach Frankfurt, auf den Kettenhof.
Es war gewiß nicht die erste Begegnung der beiden, die sich unter Umständen abgespielt hat, die vor allem von Karoline als entwürdigend empfunden werden mußten. Was während dieses Treffens vorgefallen ist, darüber gibt es keine verläßliche Nachricht. Fest steht, daß Creuzer in diesen Tagen darauf dringt, daß Karoline mit Bettina bricht. Zwei Motive dürften dabei eine Rolle gespielt haben: Creuzer ist auf Bettina genauso eifersüchtig wie diese auf ihn. Er ist sich nach dem Vorfall in Marburg über die engen, ja erotischen Beziehungen zwischen den beiden Mädchen im klaren und muß dem fassungslos, wenn nicht gar haßerfüllt gegenübergestanden haben. Dabei fühlte er sich mit Sicherheit ganz im Recht: Daß ein verheirateter Mann mit einem Stiftsfräulein eine Affäre hat, mag skandalös sein. Aber Männer haben nun manchmal Affären. Das weiß jeder. Es ist ein Skandal, aber so etwas kommt vor. Aber daß zwei junge Frauen sich lieben, ist mehr als ein Skandal; es ist wider die Natur - so sieht es die Umwelt, so sieht es Creuzer.
Creuzers zweites Motiv ist sein Beharren auf Vorsicht und Heimlichkeit. Seine Geheimniskrämerei, seine Furcht um seinen guten Ruf kommt einem Verfolgungswahn nahe. Creuzer kennt Clemens und Bettina. Seine Abneigung gilt beiden. Vielleicht hat er sogar um einen Brief von Clemens an Karoline gewußt, ein Brief, der ziemlich unverhohlen die Aufforderung an Karoline enthält, doch endlich einmal mit ihm zu schlafen. Und von Bettina ist Creuzer während seines Besuches in Marburg über Sylvester wegen einer roten Perücke ausgelacht worden. Er ist gegenüber Kritik an seiner äußeren Erscheinung sehr empfindlich. Und er weiß um Bettinas Offenheit, die er wohl Geschwätzigkeit genannt haben mag.
Der Brief, mit dem Creuzer Karoline zum Treffen nach Frankfurt bestellt hat, ist überliefert. Somit auch die dringliche Anweisung, strikt darauf zu achten, daß niemand, aber auch wirklich niemand, vor allem aber keines der beiden Brentano-Geschwister etwas von diesem Rendezvous erfahre.
Es dürfte dieser Brief gewesen sein, vielleicht auch Vorhaltungen bei dem Treffen selbst, die Karoline veranlaßt haben, jeden Kontakt mit Bettina zu vermeiden.
Karoline kehrt nach dem Rendezvous im Kettenhof in den Rheingau zurück. Creuzer reist wieder nach Heidelberg. Er erkrankt dort lebensgefährlich. Auf dem Krankenlager faßt er nach einem Gespräch mit Freunden von der theologischen Fakultät den Entschluß, mit Karoline zu brechen. Das teilt er ihr nun aber nicht selbst mit. Er läßt Freund Daub an Freundin Susanne Heyden schreiben:
- Creuzers bestimmt und entschieden erklärter Wille ist es, daß das bisher zwischen ihm und der Fräulein Karoline bestandene Verhältnis aufgehoben, daß es vernichtet sei... Er selbst verlangt von mir die Bitte an Sie, dem Fräulein diese Nachricht mitzuteilen; ich tue diese Bitte um so getroster, weil ich Sie als die wahre Freundin des Fräuleins kenne und verehre, und um so lieber, weil mir das Fräulein von ihrerfrühesten Jugend sehr wert ist und ich sie um keinen Preis in der Welt betrüben möchte, welches letztere gleichwohl kaum vermieden werden könnte, wenn ihr die genannte Eröffnung durch mich, einen Mann,... und nicht durch eine Dame geschähe.
Susanne weigert sich zunächst, die ihr aufgetragene Nachricht weiterzugeben. Der Inhalt des Briefes sei zu hart. So etwas müsse mündlich ausgerichtet werden. Der Theologieprofessor wiederholt seinen Auftrag. Susanne bedauert, nicht selbst in den Rheingau reisen und mit der Freundin sprechen zu können. Karoline hingegen ist bedrückt, weil sie lange ohne Nachricht von Creuzer ist.
Am 26. Juli 1806 geht sie am Nachmittag dem Postboten entgegen, läßt sich von diesem alle Briefe aushändigen, darunter auch einen von Susanne an eine der beiden Serviere-Schwestern, und öffnet diesen Brief auf ihrem Zimmer. Nach einer Stunde kommt sie, scheinbar bei guter Laune, zum Nachtessen herunter und erklärt Lotte Serviere, sie habe eine gute Nachricht erhalten, Creuzer sei krank gewesen, aber nun gehe es ihm wieder besser. Karoline ißt mit Appetit, lacht und scherzt und erklärt dann, daß sie im Mondschein Spazierengehen möchte, allein, ohne Begleitung. Es wird zehn, elf, zwölf. Sie ist von ihrem Spaziergang immer noch nicht zurück. Die Zwillingsschwestern sind beunruhigt und schik-ken Leute aus, die nach ihr suchen. Als man sie nirgends findet, taucht die Vermutung auf, sie habe sich mit Creuzer getroffen und dieser habe sie entführt.
Man sucht weiter. Gegen vier Uhr morgens findet man sie tot in einem Weidengebüsch am Rheinufer, mit einem Dolchstich das Herz durchbohrt.
Von all dem weiß Bettina nichts, als sie am Tag nach dem Gespräch mit Schlosser erfährt, daß ihre Verwandten beabsichtigen, ebenfalls nach Winkel zu reisen.
Sie kommen mit dem Schiff bis nach Geisenheim und übernachten dort. Bettina sitzt am Fenster und sieht aufs mondbeschienene Wasser. Die Magd, die den Tisch deckt, plappert so daher: Gestern habe sich eine junge schöne Dame bei Winkel umgebracht. Sie sei am Rhein spazierengegangen, sehr lange. Am Abend habe man sie vergeblich gesucht. Am Morgen hätten sie Bauern am Rhein unter Weidenbäumen gefunden. Einen Dolch in der Brust. Mit dem habe sie sich das Leben genommen. Der Bauer habe den Dolch aus ihrem Herzen gerissen und ihn voller Abscheu weit in den Rhein hinausgeschleudert. Ein Schiffer habe ihn fliegen sehen.
Bettina hat zu Anfang nicht genau hingehört, aber zuletzt kommt es ihr vor, als seien die Worte nur für sie gesagt worden, und sie ruft: »Das ist die Günderrode gewesen!« »Was redest du da wieder. Es sind so viele Frankfurter derzeit im Rheingau.«
Sie erwidert nichts. Sie denkt: Gerade was man prophezeit, ist gewöhnlich nicht wahr.
In der Nacht träumt ihr, Karoline komme ihr in einem mit Kränzen geschmückten Kahn entgegen, um sich mit ihr zu versöhnen. Sie springt aus dem Bett, läuft in das Zimmer, in dem die anderen schlafen, und ruft: »Es ist alles nicht wahr, eben hatmir's lebhaft geträumt.«
Der Bruder beruhigt sie, schickt sie wieder zu Bett. Sie beginnt wieder zu träumen: Wasser trüb schilfig, die Luft dunkel. Es ist sehr kalt. An einem sumpfigen Ufer gehen sie an Land. Da ist ein Haus mit feuchten Mauern, aus dem schwebt Karoline hervor, sieht sie ängstlich an, gibt zu verstehen, daß sie nicht sprechen könne.
Sie läuft wieder ins Schlafzimmer der Geschwister hinüber, und diese müssen sie beruhigen.
In ihrem Bett überlegt sie. Jetzt ist sie hellwach. Es fällt ihr ein, wie Karoline gesagt hat, wenn sie sterbe, würden sie schon keine Freundinnen mehr sein.
Sie sind keine Freundinnen mehr. Macht, denkt sie. Welche Macht mußte das über sie gehabt haben, daß es die Liebe, die zwischen uns war, auslöschen konnte.
Am nächsten Morgen fahren sie weiter auf dem Rhein. In der Mitte des Stromes. Aber sie sieht es doch, sieht die Gruppe von Menschen, die am Ufer steht, Bauern und der Fritz ist darunter und sie weisen auf einen Fleck im Gras, das geknickt ist, weil dort der Kopf gelegen hat. Der Schiffer lenkt unwillkürlich sein Boot näher ans Ufer heran, so daß sie die Unterhaltung mitanhören kann. Wortfetzen. Ein rotes Kleid, der Dolch, eine breite Wunde. Sie weint nicht. Sie landen in Rüdesheim. Fast jeder weiß etwas davon zu sagen. Sie mag es nicht mitanhören, wie sie alle davon reden. Aufgeputscht, lüstern. Sie rennt an allen vorbei, fort, rennt eine halbe Stunde bergan, den Ostein hinauf, bis sie außer Atem ist, bis ihr die Augen brennen.
Wie schön dort unten der Strom liegt. Die Städte und die anderen Flüsse, die in ihn münden, die Weinberge, die Hänge und das Tal, wie geordnet, wie undenkbar, daß dies Schauplatz gewesen ist für ein solches Geschehen. Es müßte Karoline doch zurückgelockt haben, denkt sie, und Jammer ist in ihr, von dem immer ein Teil bleiben wird, ein Schatten, obwohl man doch sagt, die Zeit heile alle Wunden.
(20) Am 11. September 1806 schreibt die Landgräfin Caroline von Hessen-Homburg an ihre Tochter Marianne einen in französischer Sprache abgefaßten Brief, in dem es unter anderem heißt:
- ...Man hat heute früh den armen Holterling* (*Gemeint ist Friedrich Hölderlin) abtransportiert, um ihn seinen Eltern zu übergeben. Als er mit aller Kraft versuchte, sich aus dem Wagen zu stürzen, wurde er von einem Mann, der auf ihn aufpassen sollte, zurückgestoßen. Holterling schrie, daß die Häscher ihn entführen wollten, wehrte sich mit allen Kräften und zerkratzte diesen Mann mit seinen langen Fingernägeln derart, daß er über und über blutig war.
Es ist unwahrscheinlich, daß Bettina diesen Brief zu lesen bekam. Höchst unwahrscheinlich. Wahrscheinlich aber, wenn auch durch kein Dokument belegbar, sind ihr die in dem Schriftstück erwähnten Ereignisse zu Ohren gekommen. Weil die Gontards entfernte Nachbarn der Brentanos und direkte Nachbarn des Frauenstifts gewesen sind, in dem Karoline von Günderrode gelebt hat. Weil die unglückliche Liebe des Hofmeisters der Gontardschen Kinder zu der Frau des Hauses in Frankfurt Stadtgespräch gewesen ist. Wahrscheinlich schließlich und endlich, weil Bettina den Sohn Susettes, den ehemaligen Schüler Hölderlins, Henry Gontard, näher kennt.
Im September 1806, der Schmerz über den Verlust der Freundin ist noch kaum gedämpft, kommt also die Nachricht, daß der Verfasser des Hyperion endgültig in den Wahnsinn abgestürzt sei. Ihre Gedanken laufen um zwei Jahre zurück. Sie erinnert sich wieder an Gespräche mit Hölderlins Freund Sinclair im Haus ihres Stiefbruders in Frankfurt, an Pläne, die sich an diese Gespräche geknüpft haben.
Damals, 1804, hat Sinclair, der Freund, den schon kranken Hölderlin nach Homburg geholt. Susette Gontard, die Frau, die Hölderlin über alles geliebt hat, ist seit zwei Jahren tot, gestorben an Röteln und an ihrer schwachen Lunge. So der Befund der Ärzte. Aber es gibt Menschen, die auch aus Mangel an Liebe erkranken, verrückt werden, sterben.
Bettina lebt 1804 noch im Haus der Großmutter. In Frankfurt, im Haus ihrer kaufmännischen Verwandtschaft, erfährt sie von Sinclair, daß Hölderlin in einer Bauernhütte hause, bei offener Tür schlafe, daß er stundenlang zum Gemurmel des Baches griechische Oden hersage. Als die Landgräfin ihm ein Klavier schenkt, zerschneidet er die Saiten, aber nicht alle; nur so viele, daß mehrere Klaves klappen, und er phantasiert auf dem so zugerichteten Instrument.
Die Leute nennen das Wahnsinn, aber Bettina denkt: Das könnte mir eingefallen sein.
Laut sagt sie zu Sinclair: »Mir kommt sein Wahnsinn milde und groß vor. Ich möchte zu ihm gehen.«
»Oh, tun Sie das«, ermuntert sie Sinclair, »wenn Sie das könnten, er würde gesund. Es ist doch gewiß, daß er der größte elegische Dichter ist, und nichts ist so traurig als daß er nicht wie ein solcher behandelt und geschützt wird als ein heiliges Pfand Gottes. Keiner ahnt und weiß, was für ein Heiligtum in diesem Mann steckt.« Er schüttelt traurig den Kopf. »Ich darf seinen Namen hier in Frankfurt gar nicht nennen«, fährt er fort, »denn fällt der Name, gleich schreit man die fürchterlichsten Dinge über meinen Freund aus. Bloß, weil er eine Frau geliebt hat, um den Hyperion zu schreiben. Die Leute nennen hier lieben, heiraten wollen. Aber ein großer Dichter erklärt sich in seiner Anschauung.« Wie recht dieser Sinclair doch hat mit dem, was er sagt. »Die Leute nennen hier lieben, heiraten wollen.« Als ob es solches Glück brächte... das Heiraten. Und Sinclair hat ihr den Ödipus von Hölderlin zum Lesen geliehen. Er hat dazu bemerkt, der Text sei vielleicht schwierig zu verstehen. Das lege man nun auch gleich wieder als Beweis für Hölderlins Verrücktheit aus. Aber wenn ein Konflikt kompliziert und die in ihn verwickelten Menschen besonders seien, anders als andere, was Wunder, wenn sich dies auch in der Sprache spiegele.
Bettina liest also die Sophokles-Übersetzung und findet danach Sinclairs Klage berechtigt, die Deutschen verstünden zuwenig, was ihre Sprache Herrliches habe.
Den Hölderlin in Homburg besuchen zu gehen, hat man ihr ausgeredet.
»Du bist ja nicht recht gescheit«, sagte der Stiefbruder Franz, »was willst du bei einem Wahnsinnigen. Willst du auch ein Narr werden?«
Sie hat es sich ausreden lassen. Sie hat nicht darauf bestanden. Sie ist nicht zu Hölderlin gefahren.
Es war nicht einmal ein Verbot, nur eine Meinung, ein guter Rat, ein Einwand, eine vorsichtige Warnung der ach so Vernünftigen, der Wohlmeinenden und Phantasielosen. Hölderlin ist Karolines Lieblingsdichter gewesen. Hölderlin und Karoline, das sind zwei Menschen, an denen Bettina erfährt, was Unbedingtheit heißt und wohin sie führt. Hölderlin, Susette, Karoline - drei Menschen, die zerbrechen, weil ihr Liebesbedürfnis sich nicht mit der Konvention, mit den Normen der Gesellschaft in Einklang bringen läßt. Es sind solche Erfahrungen, die Bettina lehren, Sätze zu schreiben wie diesen: »Alles aus Liebe, sonst geht die Welt unter.«
(21) Die Ehe, auf die Clemens zunächst so gedrängt hat, die Sophie nur eingegangen ist, weil sie ein Kind erwartete, verläuft alles andere als glücklich. Einer Freundin schreibt Sophie, die Ehe mit Clemens sei Himmel und Hölle, aber die Hölle herrsche doch vor. In Clemens' Liebesbedürfnis steckt viel Angst vor Einsamkeit, vor der eigenen Zerrissenheit; Sophie hat dies gewußt. Es war ein Grund, weshalb sie Clemens ursprünglich nicht hatte heiraten wollen.
Wenn er mit Sophie zusammen ist, wünscht er sich von ihr fort. Als er sich längere Zeit bei Achim in Berlin aufhält, sehnt er sich zu ihr zurück. Während Clemens für sich jegliche Freiheit und Freizügigkeit in Anspruch nimmt - während der zweiten Schwangerschaft seiner Frau, beispielsweise, schreibt er Karoline einen überschwenglich-peinlichen Liebesbrief -, ist er von geradezu krankhafter Eifersucht, wenn Sophie in der Heidelberger Gesellschaft zu gefallen weiß oder sich mit einem Mann in ein längeres Gespräch einläßt.
Den Tod der beiden ersten Kinder, Achim Ariel 1804 und der Tochter 1805, beginnt er als Fluch zu deuten, der auf seiner Ehe liege.
Sophie Mereau mag kokett und ein wenig leichtfertig gewesen sein, aber das Verständnis, das sie Clemens entgegengebracht hat, die Souveränität, mit der sie trotz aller Schwierigkeiten zu ihm hält, verdienen Bewunderung. Einmal schreibt sie:
- Dir fehlt etwas, was Dich von allen bürgerlichen Verhältnissen ausschließt. Du hast keinen Sinn für Schonung, für Schicklichkeit. Du kannst Dinge aussprechen, die das innerste Wesen des anderen zerreißen. Wie von einer fremden bösen Macht gezwungen sagt Deine Zunge oft Worte, von denen Dein Herz, Dein Verstand nichts wissen können, die auch das nicht verschonen, was Du selbst für das Heiligste erkennst. Ja, ich bebe, wie dieser Fehler, der einzige, den ich in Dir kenne, Dich noch in tausend Gefahren stürzen, Deine Ehre, Dein Leben selbst aufs Spiel setzen kann. Ich selbst weiß, wie Deine Worte empören können, was müssen andere fühlen, die Dich nicht lieben, die heftiger sind als ich.
Dieser Brief besagt viel über Clemens' Eigenart und die Probleme dieser Ehe, auch wenn Sophie fortfährt:
- ...ich allein verstehe Deinen Wert, fest drücke ich beide Augen zu, halte die Hände vor beide Ohren und so springe ich in den Abgrund - in Deine Arme.
Trotz aller Spannungen hat Clemens in dieser Ehe etwas gefunden, was er seit jenen Tagen seiner Kindheit, da er so zeitig seine heißgeliebte Mutter verlor, immer wieder gesucht hat. In mehr als einem Brief wird deutlich, daß Sophie das fertig brachte, was weder den Schwestern noch den Freunden des Maßlosen und Zerrissenen gelang, nämlich Clemens samt seiner Fehler zu lieben und ihm damit Ruhe, Geborgenheit und Sicherheit zu schaffen.
Über den Kern der ehelichen Schwierigkeiten zwischen Clemens und Sophie hat Achim von Arnim, der beide gut kannte und beide mochte, ein recht treffendes Urteil abgegeben. Er vergleicht das Paar mit zwei Orgelspielern. Spiellustig seien beide, aber immer nur dann,
- wenn der eine den anderen bereits die Register ziehen hört. Sogleich fährt er dem anderen in die Parade und greift seine eigenen Tasten. Nun fehlen dem ersten die Stimmen, die der zweite braucht und er schimpft, weil es ihm zu ungezogen dazwischen pfeift.
Beide Ehepartner sind Künstler, Autoren; beide sind es gewohnt, für das eigene künstlerische Schaffen, für den Gedanken oder Plan, der sie gerade beschäftigt, das Interesse aller anderen in Anspruch zu nehmen. Da bleibt es nicht aus, daß Konkurrenz entsteht und Streit. Dagegen stehen Clemens' maßlose Ansprüche und unrealistische Erwartungen an die Ehe, die in einem Brief an Sophie deutlich werden: »Ihre vorige, sehr schlechte Welt ging nicht in dem großen Liebesmeer unter, [als] das ich, mich selbst auflösend, um ihre Brust ergoß.«
Clemens scheint erwartet zu haben, der Zustand verliebter Exaltation werde ständig anhalten. Als er die Erfahrung machen muß, daß dies nicht so ist, macht er Sophie dafür verantwortlich. Seine Kritik ist bitter und auf Verletzung berechnet. So, wenn er Sophie vorwirft, sie habe ein kaltes Wesen, verachte die Häuslichkeit und habe doch zu nichts Höherem Talent.
Als sie am 31. Oktober 1806, nach noch nicht dreijähriger Ehe, bei der Geburt des dritten Kindes, das tot auf die Welt kommt, stirbt, bricht er völlig zusammen. Freunde müssen ihn auf ein Schiff bringen, mit dem er nach Frankfurt reist. Dort pflegt ihn Bettina, offenbar die einzige in der Familie, die in der Lage ist, mit ihm umzugehen.
Sie wird Zeugin einer Farce, die mit einer hastig geschlossenen zweiten Ehe endet.
Am 22. Juli 1807 gehen Claudine Piauz, Clemens und Bettina ins Palais Thurn und Taxis, wo der Fürstprimas von Dalberg, der Landesherr von Frankfurt, das inzwischen seinen Status als Freie Reichsstadt verloren hat, für den aus dem Osten zurückkehrenden Napoleon einen Empfang gibt. Sie stehen im Gedränge unter den Schaulustigen im Treppenhaus und sehen, wie der Kaiser hinter Leuchter tragenden Lakaien die Treppe hinaufeilt. Bettina beugt sich von der Nische, in der sie steht, weit vor, um den großen Mann auch nur ja genau zu sehen. Später schreibt sie an Achim, sie habe wie ein brauner Eichenast dicht über Napoleons Kopf gehangen, der sei stehengeblieben, habe in die Höhe geblickt und sie starr und durchdringend angesehen. Ihr seien die Tränen in die Augen getreten, und sie habe zu zittern begonnen. Wenn Napoleon sie auch beeindruckt, so fällt ihr Urteil über diesen Mann, der ganz Europa erobert, doch sehr kritisch aus:
Da schreit alles, er hat einen Stern! Ach, er kann nicht ewig leuchten und da wird alles mit verlöschen. Ich fühle, es liegt größere Freiheit darin, mit den Unterdrückten die Ketten zu tragen, als mit dem Unterdrücker sein Los zu teilen. Was ist mir Talent, das seine Bahn zeichnet mit Friedensbruch und Meuchelmord.
Sie hat Plutarch gelesen. Sie vergleicht die Tyrannen, die dort beschrieben sind, mit jenem ihrer Zeit, dem die Menschen zujubeln, von dessen Dämonie sie schwärmen. Gemessen an dem Überschwang, zu dem sie sonst häufig neigt, klingt ihr Urteil sehr überlegt. Sie findet, daß alle Tyrannen etwas gemeinsam haben:
»...bis auf den kleinsten Zug ist es immer wieder dasselbe, ungerechte, eigennützige Heuchler, immer dasselbe Ungeheuer der Mittelmäßigkeit.«
Unterdessen hat die Liebesaffäre zwischen Clemens und einer Sechzehnjährigen ihren Anfang genommen.
Das Mädchen heißt Auguste Bußmann. Es ist die Nichte und das Mündel des Frankfurter Bankiers Moritz Bethmann. Der Vater ist gestorben. Die Mutter hat wieder geheiratet. Sie hat von ihrem zweiten Mann, Alexandre de Flavigny, eine kleine Tochter, die später als Gräfin d'Agoult und als Geliebte von Franz Liszt die Mutter von Cosima Wagner werden wird.
Diese Auguste Bußmann hat sich zuvor schon einmal einem Mann regelrecht an den Hals geworfen. Als ihre Eltern bzw. ihr Vormund ihr den betreffenden Mann ausreden wollten, hat sie auf dem Maskenball der Königin von Holland einen Kniefall getan und die Königin darum gebeten, ihr zur Heirat zu verhelfen. Zu dem Zeitpunkt, da sie Clemens beim Empfang für den Kaiser kennenlernt, dauert der Briefwechsel mit ihrem »eher epoux« noch an. Sie sieht Clemens, drängt sich vor allen Leuten im Treppenhaus nicht nur dicht an ihn heran, sondern legt ihm, sehr zum Ergötzen der Menge, die Arme um den Hals. Natürlich fühlt Clemens sich von einer solchen Annäherung geschmeichelt. Später wird er elegant schreiben, er habe in diesem Augenbück nie damit gerechnet, daß sich diese hübschen Mädchenarme einmal in Halseisen verwandeln würden. Nur um zu verhindern, daß sie sich auch noch dem Kaiser zu Füßen werfe und so seine arme Person mit der Weltgeschichte verquicke, habe er ihr jedes Zugeständnis gemacht, jedes Versprechen gegeben.
Clemens überlegt, ob er nicht Frankfurt für einige Zeit heimlich verlassen solle, bis sich ihre Liebeswut gelegt habe. Er hat schon Vorbereitungen dazu getroffen, da schickt sie ihm ein Billet, er möge sich unbedingt Schlag zehn Uhr auf dem Paradeplatz vor dem Haus ihres Onkels einfinden. Dieser romantischen Situation kann er sich nicht entziehen - sie könnte aus jenem Theaterstück sein, Ponce de Leon, das er vor ein paar Jahren geschrieben hat. Sie wartet schon auf ihn, als er zum Rendezvous erscheint, »mit nichts als ein Bündelchen unter dem Arm« und »läuft mit mir, dem es ganz ordinär dabei zu Mut wird, zum Tor hinaus... So war ich nun noch unkopuliert*, (*Gemeint ist: er hatte noch nicht die Ehe mit ihr vollzogen) - doch honoris causa dafür erklärt, innerlich aber schon getrennt.«
Ob es sich tatsächlich so verhalten hat, wie Clemens es hier ironisch-burlesk schildert, muß dahingestellt bleiben. Jedenfalls flieht das ungleiche Paar zunächst nach Kassel. Zwischen den beiden Familien wird ein Heiratsvertrag ausgehandelt, wobei die Bethmanns vor allem Wert darauf legen, daß ihre Ehre wieder hergestellt werde. Es kommt schließlich zu einer Eheschließung nach katholischem Ritus im Fritzlaer Dom.
Der Alltag dieser Ehe ist von Anfang an eine Katastrophe. Achim spricht in seinen Briefen von einer »verfluchten Ehestandszankschaft«, »von einem eisernen Halsreifen, obenhin mit Myrten umwunden«. Bettina pflegt sich zu erkundigen, ob die »alte sumpfige Grundmasse in diesem ehelichen Teich wieder aufgerührt worden sei.« Von einer Freundin aus Kassel hört sie: Die Gatten spien Feuer vor Zorn, es setze Windstöße und Stürme von Verwünschungen.
Wir hören, daß Auguste acht Taler für Haarwickel ausgibt, sich an Zwetschenkuchen den Magen verdirbt und meist im Hemd herumläuft.
In lächerlichem Aufzug, mit Schwungfedern auf dem Kopf und weithin flatternder, knallroter Schabracke sprengt sie durch die Stadt. Ihr Ehering soll schon wenige Tage nach der Hochzeit aus dem Fenster geflogen sein.
Auguste wird Clemens immer unerträglicher. Sie täuscht einen Selbstmordversuch vor, indem sie sich mit der Schere ein paar Stiche versetzt, die ihr nach Clemens' Meinung auch ein kolossaler Floh hätte beibringen können. Ein zweiter Selbstmordversuch, diesmal mit Gift, macht das Maß voll. Jetzt endlich führt Clemens aus, was er schon in Frankfurt geplant und ob der Verlockung zu einem romantischen Abenteuer dann doch nicht getan hat. Er brennt durch, sucht das Weite und leitet das Scheidungsverfahren ein.
Damit sind wir allerdings schon ein paar Jahre weiter. Clemens' Fluchtpunkt ist Landshut, ist München, wo zu dieser Zeit die Savignys und Bettina leben. Eines Morgens wird er aus dem Schlaf gerüttelt. Jemand, der es gut mit ihm meint, ruft ihm zu: »Los, machen Sie sich aus dem Staub. Ihre Frau ist heute hier angekommen.«
Unterwegs hat Auguste angekündigt, sich im Wirtshaus vor den Augen ihres Mannes umzubringen. Clemens kleidet sich in rasender Eile an, rafft seine Papiere und das Nötigste zusammen, flieht. Auf der Straße sieht er Auguste zweimal aus der Ferne, ohne jedoch von ihr gesehen zu werden. Sie rennt von Apotheke zu Apotheke und verlangt Gift. Clemens flüchtet aufs Land, zu einem Einsiedler.
Von 1809 an leben die unverträglichen Eheleute getrennt.
1812 wird endlich die Scheidung ausgesprochen. Auguste heiratet später einen Angestellten ihres Onkels und macht schließlich ihrem Leben ein Ende: Sie ertränkt sich im Main. Nicht einmal ein Bild bleibt von ihr.
Das Urteil, daß sie überspannt, männerwütig, verrückt gewesen sei, ist Zeitgenossen und Augenzeugen wohl sehr leicht und nicht ohne Schadenfreude und Klatschlust über die Lippen gegangen oder aus der Feder geflossen. Ob ein solches Urteil Auguste gerecht wird, bleibt zumindest fraglich.
Wer genauer hinhört, für den klingt aus Augustes exaltiertem Verhalten auch Sehnsucht nach Liebe, hilfloses Verlangen nach Selbstbestimmung. In ihren Auffälligkeiten liegt auch Protest gegen Konventionen, liegt Unangepaßtheit. Clemens, der von sich behauptet, sie nie geliebt zu haben, bewundert immerhin den Mut ihres »entsetzlichen Charakters«. Man kann sie sich als eine Geschädigte und Verstörte vorstellen, vielleicht auch als eine Kranke, die schon deswegen von vornherein im Unrecht war, weil sie das Pech hatte, als Frau geboren worden zu sein.