Mai

Sonntag 1ten
Trügerischer Schein des Föhn, einen Augenblick schönes Wetter, dann Regen. Loldi erblickt ein Rotkehlchen und sagt, »wie Mama's Schal ist er«. - Gr. Bassenheim besucht mich, Rundschau der Welt, in welcher es sonderbar genug hergeht (Frankreich-Rom-Plebiszit - Unfehlbarkeit - England-Griechenland[1] Marathon-Mord der Gesandtschafts-Leute - dazu Internationale Konspiration. - In Deutschland die drei J.'s). Wir lesen der Gräfin den gestern angekommenen Brief Richter's, welcher erstens erzählt, seit seiner Entfernung hätten sich die Juden um 45 000 vermehrt (!), dann daß ein Jude bei einer Vorstellung der MSinger nach der Ouvertüre ausruft, »ach! das arme Orchester«, zischt und, von seinem Nachbarn angefahren, zuletzt selbst applaudiert und sagt: »Schaun S', was scheen is applaudiere ich auch, aber solche scheene Stellen gibt es ein bis zwei - wollen mir sagen drei.« Kindertisch. Später lese ich ihnen sizilianische Märchen vor. Dann geh ich mit R. durch Regen und Wind spazieren. Abends spricht R.: »Wenn ich die >Sieger< einst im Alter dichte, so werde ich ihnen ein Vorspiel geben, worin der erste Teil der Handlung (worin das Tschandala-Mädchen den Ananda verschmäht) vorgehen sollte. Nur die Musik vermag das wiederzugeben, das Geheimnis der Wiedergeburten.«
Montag 2ter
Kinderarbeit. R.'s Arbeit. Dann antwortet er an C. Frantz und vergleicht die Sucht nach vereinzelnden Stücken in der Opernmusik mit der Sucht [nach] Sentenzen in den Trauerspielen. Nichts von außen, bloß Zeitungen und Geld aus Berlin. Kindertanz und Märchen.
Dienstag 3ten
Wüstes Wetter führt den neuen Knecht ein. R. klagt, er habe nicht arbeiten können; viel mit den Kindern Erdkunde, Märchen, u.s.w.7. Mai 1870
Mittwoch 4ten
Wie uns das Frühstücksgespräch auf Richter und seinen Aufenthalt in Paris (er hat Notre Dame nicht und im Louvre bloß Napoleon's Stiefel gesehen) bringt, sagt R.: »Ja wer in der Kindheit nichts von den >Alten Griechen< gehört hat, der ist für die Schönheit verloren. Alle meine späteren Empfindungen von der Häßlichkeit unsrer jetzigen Welt stammen von dem Anblick der Bilder in der Mythologie von Moritz.[2] Perseus mit dem schönen Helm und sonst in nackter Gestalt entzückte mich und flößte mir Abscheu ein vor unsrem ganzen Militärwesen, zugeknöpft ausgestopft mit ihren Orden. Wie ich dann las, daß die gekrönten Dichter einzig als Preis den Olivenkranz erhielten, begeisterte mich das und verachtete ich die Menschen, die mit den Bändeln herumliefen. Der Respekt vor dem Olivenkranz gab mir die Verachtung der Orden ein, nicht demokratischer Dünkel oder plebejische Roheit, wie dein Vater z. B. wohl meint.« Er arbeitet, ich bei den Kindern, bei Tisch ergreift es mich schmerzlich, daß er sagt: >In der Erregung der Arbeit habe er öfters zu mir hinauf gewollt, nun wisse er aber, daß ich immer die Kinder unterrichte, da bliebe er zurück. Ich sollte doch eine Gouvernante für die Kinder nehmen.< Ich muß weinen, denn mir scheint, ich habe dieses Opfer zu bringen, und doch wie möchte [ich], daß er stets befriedigt sei. Briefe, einen vom König an R. wie immer, er könne ihm nicht untreu werden u.s.w., einen an mich von einem Lieutenant, ich werde aufgefordert, für eine Zeitung zu schreiben!!! Sehr unangenehmer Eindruck eines mit Auslassungen gedruckten Briefes R.'s an den Musikdirektor Eberle, welche Auslassungen das Schreiben so verunstalten, daß es den Km. Eckert und Betz hat kränken müssen, daher wohl ihr Schweigen. R. ist davon sehr angegriffen, er schreibt an Eckert und steht am Morgen (Donnerstags) um 4 Uhr noch auf, um den Brief noch eindringlicher zu machen. Da sieht er den Sonnenaufgang in der Orangestube, wie bei Fidi's Geburt, wieder. - Letzte Tanzstunde.
Donnerstag 5ten
Brief von Pr. Nietzsche an mich. R. nicht wohl und mit seiner Arbeit nicht zufrieden. Nachmittags aus. Brief des Advokaten, Not wegen den Heimatscheinen der Kinder. Plauderabend, Vorbereitung zu der projektierten Partie morgen.
Freitag 6ten
Keine Partie, übles kaltes Wetter; R. schreibt Briefe (an den König und an Hans Herrig), ich suche Gedichte zu R.'s Geburtstag. Brief von Frau Schure. R. nicht wohl, ich bin in Sorge um ihn. An Ciaire geschrieben.
Samstag 7ten
Wiederum Kinderhusten! - Am Morgen ruft mir R. zu: »Du bist eigentlich ein Wunderweib, ich überlegte mir eben deinen Brief an Franziska Ritter,[3] das ist vielleicht das Schönste, was du getan« (es war eine Verstimmung eingetreten, die ich beizulegen versuchte. Dann kommt er zu mir und wir kommen auf die Memoiren von Berlioz zu sprechen, die er jetzt liest. »Man sieht an ihm so die Reziprozität der Naturanlage und der Verhältnisse und Zustände; in Paris ist ihm alles abscheulich, und doch kann er es nicht verlassen, diese Abscheulichkeit ist ihm die Welt. Im Grunde war sein Hauptkummer die Oper, die er nicht zu Stande brachte.« - Zeitungen aus Wien; ein Passus darin, wo gesagt wird, die Eroica prophezeit Wagner, ist R. besonders unangenehm, »wenn man mich mit Beethoven vergleicht, ist es mir schauderhaft, da möchte ich immer sagen: Was wißt ihr von B.?« Ich erkläre ihm, wie es mir gemeint zu sein scheint (Apotheose des Germanischen - nicht Napoleon's, folglich Fingerweis auf Wagner), da lacht er und sagt, »mein Bewußtsein ist mir über den Kopf gewachsen«. Er hatte nämlich in dem Brief an den König mich als sein Bewußtsein bezeichnet. - Wir mußten recht lachen gestern, als Jakob uns erzählte, der alte Lampenanzünder vom Schweizerhof (welcher immer R. begrüßt: »Guten Tag Herr Richard Wagner«) sei soeben von einer Todeskrankheit genesen; nun pflückt er sich überall die Camillenblüten und ißt sie, nimmt sich auch ein bißchen davon nachts auf die Nase, um sich am Leben zu erhalten, dabei sagt er aber immer, »oh! Sterben ist was Großartiges«! - R. sagt, daß die Memoiren von Berlioz ihn wiederum darin bestärkt hätten, nie mehr mit Paris sich einzulassen. Scherz über Fidi's Beruf (Wundarzt), doch bleiben wir dabei, denn ein bestimmtes Handwerk muß einer haben - R. ist nicht wohl und aufgeregter Stimmung, ein wenig hat er aber doch gearbeitet. Ich bin sehr in Sorge, wenn es ihm nicht gut geht, in Sorge und Trauer. Abends den »Phaidon« begonnen.
Sonntag 8ten
Hübsches aber bleiches Wetter. R. arbeitet, ich zur Probe des Huldigungs-Marsches in die Kaserne, Gott weiß, wie dies gehen wird, vielleicht hilft mein Stern, etwas aufgeregt bin ich aber. Kindertisch um 4 Uhr wegen der Probe. Abends im »Phaidon« weiter.
Montag 9ten
Zu meiner Überraschung beschließt R. die Partie. Wir gehen, doch die bleichen Wolken sind da. Große Freude der Kinder, Ankunft in Brunnen; Fahrt zum Grütli, ich gedenke Großmamas und Daniel's Geburtstag, beide heute. Das Wetter wird schlecht, allein wir bleiben heitrer Laune. Abends, wie ich mich zu Bett begebe, höre [ich], wie R. auf der Axenstraße das Thema der Liebesscene von Siegfried und Brünnhilde mir zuruft.
Dienstag 10ter
Schauerliche Pensionsnacht in Brunnen; Kos bellt, Leute schreien, Boni hustet, Betten krachen, Türen knarren etc. - wie ich öfters aufstehen muß, um Boni zu verpflegen, fällt mir ein, was Sokrates über Angenehmes und Unangenehmes sagt; mein Bett, sonst unausstehlich, war mir jedesmal, daß ich wieder nach der Versorgung der Kleinen hineinsprang, recht angenehm, und so lachte ich, der beiden Enden gedenkend. R. hatte auch kein Auge zugemacht. Wir beschließen die Heimkehr um 10 Uhr. Zu Haus Plebiszit - ja; Briefe, Clemens Brockhaus berichtet über den schrecklichen Zustand seiner Familie in Folge des Unglücks, dann eine Todes-Anzeige, Constantin Frantz hat seinen Sohn verloren, der letzte Brief R.'s gab ihm wiederum Auftrag für den Kirchhof!! Ankunft der lateinischen Rede des Pr. Nietzsche,[4] dann eines schönen Frühjahrsanzuges, den R. für mich bestellt hat und womit er mich überraschte! Brief Frl. v. Meysenbug's (R. wenig erfreuend). R. erstaunt, von Km. Eckert keine Antwort zu erhalten; also eine Feindschaft! Dieser wird den ersten besten Klatsch benutzt haben, um seine Dankbarkeit los zu werden. - Wie ich nachmittags zu R. hinunterkomme, spielt er mir das soeben entworfene »Amsel-Thema, Beethoven'sches Scherzo«, er hat es unsrer Amsel nachgesungen. »Wenn ich so etwas erführe, würde ich es ganz einfach Beethoven'sches AUegro nennen, um damit zu sagen, das ist der Schöpfer dieser Form, er ist der Meister, ohne ihn wäre es nicht da.« »Wie gern würde ich jetzt dichten«, sagt er, »welche leichte rasche Arbeit, was ist das im Vergleich zum Partiturschreiben, das ist das Skelett, wie das Geäst, der Baum im Winter; die Musik ist die Blüte, die Blätter.« -Abends Musik. Er spielt mir aus dem ersten Akt der Götterdämmerung. Er klagt dann über die Schwierigkeit der Scene zwischen Waltraute und Brünnhilde, die eine in hastiger Aufregung, die andre expansiv erregt, daß eine Freundin zu ihr kommt.
Mittwoch 11ten
Die Kinder mit den Gedichten beschäftigt; R. ruft mich, während er arbeitet; er will mich umarmen. Ich verlasse ihn, um hastig zu sticken, des Geburtstages wegen. Nachmittags zur Gr. B.; den alten Fürsten vielleicht zum letzten Male gesehen- Großer Schreck am Tage; R. hat vor seinem Fenster den Kuckuck gehabt und gesehen, er beschreibt ihn uns in seiner großmächtigen Figur. Mir gibt alles Sorge, weiß nicht warum.
Donnerstag 12ten
Sehr früh aufgestanden wegen der Mappe. Hübsche Briefe des frühern Kmeister Esser und des alten Freundes Pusinelli, welcher meiner freundlichst erwähnt. Sorge wegen Fidi, der seine Heiserkeit nicht verliert. Boni überrascht mich mit einem hübschen, ganz gut französisch erzählten Märchen. Loldi sagt, »dem Mond fehlt eine Backe«. R. nicht ganz wohl. (Viel Plebiszit-Gespräche).
Freitag 13ten
Das Beethoven-Comite in Wien ladet R. [ein], die 9te Symphonie zu dirigieren (Lachner Fidelio, der Vater die Missa Solemnis); R. will nicht; »wo ich einmal zu Hause sein werde, werde ich dir die Symphonie aufführen, aber mit all' dem Gesindel will ich nichts zu tun haben«. Er ist leider nicht wohl. Marie Bassenheim bei uns zu Tisch. Abends hat sich R. in Tücher eingewickelt, um einer Erkältung zu begegnen; ich lese ihm Scenen aus »Wallenstein« vor, und wir kommen darin überein, daß das Stück - zumal das Verhältnis von Thekla und Max - lange nicht hoch genug gewürdigt sei. R. erzählt mir, wie ihm das imponiert habe, als er nach Würzburg kam, daß ein gewisser Seiffert ihm sagte, Heine sei ein ganz andrer Dichter als Schiller. Wir sprechen davon, in Bayreuth die Stücke aufführen zu lassen, denn die schändlichen Darstellungen verderben sie einem, z. B. die Thekla immer ganz weichlich larmoyant, während sie die ganze Schroffheit der wahren Liebe hat. »Da ist er«, erinnert uns an Eva's selgen [?]* (*  Undeutlich, »selben« wäre ebenso einleuchtend, [5]) Ausruf in den MSingern; »es ist der Magnetismus, welcher macht, daß z. B. das Schaf in der weiten Welt das Kraut sicher findet, das ihm taugt, alles übrige ist schattenhafte Scheu, so die Liebende, die ganze Welt besteht in Schemen, aber wo er ist, weiß sie«.
Samstag 14ten
R. bei der Arbeit, ich besuche ihn im weißen Gewand, da lacht er und sagt: »Die weiße Dame, oder vielmehr Thekla; denn zu allem Schönen habe ich dich als Vorbild; darum bin ich glücklich; du hast gewußt, daß mir zu helfen war.« Fidi ist leider immer heiser. R. tollt viel mit den Kindern herum, die gar lieblich sind. In der Zeitung lese ich, daß Hans ein Konzert in Florenz dirigiert hat. Mit R. zur Stadt; fürchterlicher Sturmregen, über welchen wir aber lachen.
Sonntag 15ten
Sehr anständiger Brief des Kapellmeisters Levi, welcher abgeschlagen hat, die Walküre zu dirigieren. Schöner herrlicher Tag; Sonnenglut, beim Dadadada des Fidi entwirft R. einiges an der Erzählung Waltrautes (er »entsendet die Raben«). Kindertisch in bester Laune. Nachher liest R. den älteren Kindern und mir »Das fremde Kind«[6] von Hoff mann vor; viel Freude an der schönen Erzählung, von welcher R. sagt, daß der Druck der Zivilisation, der Bruch zwischen Natur und Kultur darin sehr gut ausgesprochen sei. - Besuch unsres Rechtsanwaltes, welcher das Verfahren in Berlin gar nicht begreift und gar nicht absehen kann, wann es zu Ende kommen wird. Brief an Pr. Nietzsche. Schöner Abend, Zikaden, Maikäfer, größte Üppigkeit, Saft und Kraft überall.
Montag 16ten
Könnten wir die Leidenschaft doch bezähmen; könnte sie aus dem Leben gebannt sein; mich betrübt jetzt ihre Annäherung, als wäre sie der Liebe Tod. - Brief Claire's; im Garten mit den Kindern gearbeitet, R. unterdessen bei seiner Skizze. Zur Stadt gefahren mit Lusch; R. schreibt an Kmeister Esser eine für den Druck beabsichtigte Darstellung seines Verhältnisses zur Aufführung der Walküre. Brief des Herrn Hans Herrig; sehr sonderbar, er scheint von der Idee R.'s wirklich mehr besessen als erfüllt. - Fidi immer heiser, ich darüber sehr traurig. - Gestern abend lasen wir im »Phaidon«; da fiel mir ein, was R. mir vom So-krates sagte, daß diese weise Besonnenheit, dieses absolute Beschauen, dem man nichts anhaben konnte, nur einmal in der Welt dagewesen sei, während die Heiligen selbst doch in Anzahl da waren. (Wegen den Taufscheinen geschrieben).
Dienstag 17ten
R. hatte eine üble Nacht, stand auf, lief in [den] Garten, belauschte den Tagesanbruch, machte »Rabenstudien« (doch der krächzte graulich) und befand sich schließlich sehr schlecht. Gestern abend umkreiste ihn noch eine Fledermaus, was mir gar schrecklich war. Fidi immer heiser; ich führe die Kinder zur Gr. Bassenheim, Geburtstag der Kleinen, Eva zum ersten Mal eingeladen. Abends R. mit mir »Wallenstein« gelesen.
Mittwoch 18ten
R. immer unwohl, ich selbst angegriffen, doch Fidi etwas wohler. Das Wetter schön. Erste botanische Stunde mit den Kindern; schöner Nachmittag draußen mit R. Hübscher Brief von Pr. Nietzsche an ihn. Abends »Wallenstein's Tod« begonnen.
Donnerstag 19ten
R. meinte beim Frühstück, der »Wallenstein« habe ihm ins Gedächtnis gerufen, was er in »Oper und Drama« über das Wesen des Schauspiels sagt; so vieles wird erfordert, um dem Publikum etwas begreiflich zu machen, was ihn* (* Fälschlich für »es«?) eigentlich kalt läßt. R. ist leidend, ich bekümmert durch viele Mißstände zum Geburtstage; seit sechs Monaten ungefähr arbeite ich daran, und alles beinah läßt mich im Stich; da hilft das Gefühl, daß wir eben nichts nach außen bewegen können! Fidi wohler.
Freitag 20ten
Fortsetzung der geburtstäglichen Contrarietäten, aber herrliches heißes Wetter, die Arbeit im Garten mehr aufgesteckt als ausgeführt. Die Kähne auf dem See erinnern an das Bild der Melodie, wie R. es in »Oper und Drama« gegeben, sie wogt über das Element, ist von ihm verschieden, kann ohne es** (** Im Original »ihn«) nicht sein. Fidi unser Kurfürst, sieht prachtvoll aus, »durch ihn hat der Weltgeist uns gezeigt, was er wollte, warum er unsre Liebe geprüft hat und unsre Treue«. - Lusch bereite ich vor, die ihr zum Geburtstag geschenkten Vögel wieder ziehen zu lassen; es kostet sie einen großen Kampf, doch entschließt sie sich, Vögel nur im Winter zu hüten und im Sommer zu befreien. Wie preise ich den Stern der Kinder, der sie hier in dieser Einsamkeit und in der Nähe R.'s ihre Jugend hat [verbringen lassen].* (* In der Handschrift »versetzt«) Kein Kampf des Lebens, keine Drangsal wird dieses Glück antasten können. - Nach Tisch lesen wir im »Wallenstein«, Jakob kommt atemlos herein, der Oberpostillon des Königs ist da, bringt ein Pferd. Ankunft Granes, Jubel der Kinder, Thespiskarren (die Kleinen springen auf den Karren und tanzen). Armer Fritz! Der Postillon sagt Gutes vom König. Heitrer Spaziergang mit R. abends bei schönstem Mai-Wetter. Fidi auf dem Pferd, ernst, erstaunt, aber sicher.
Samstag 21ten
Um 4 Uhr wach, halb fünf auf, schreibe dieses Gedicht auf, das Loulou beim Befreien der Vögel morgen sagen soll:

Liebe Vöglein flieget fort,
gedenket mein am freien Ort,
ein Nest euch bauet
drin Kleine erschauet,
Männchen sing freier
Weibchen brüt Eier
Zu mir kommt wieder
fällt Schnee hernieder,
friert es auch draußen,
bei mir kommt hausen,
die Kleinen bringt her.
Willkommne Wiederkehr!

Und bleibt ihr fort so lebet wohl
nicht ist der Liebe Wesen hohl,
wie dürfte Liebe sie sich taufen
wollt sie Besitz mit Kummer erkaufen.
 Und fallen, süßer Tau, wohl Tränen,
sie weihen zur Blume unser Trennen.
Schöner Fink
flink folg dem Wink,
liebster Zeisig
 eifrig eilig zeige dich
die Tür ist auf
nehmt euren Lauf.

Der schönste Tag ist heut'
daß sein Vogel auch sich freut
will von Herzen das Kind,
drum liebe Vöglein, geschwind,
ziehet frei dahin
Es folget euch froh mein Sinn.

[Den] Kindern die Haare gemacht und weitere Vorbereitungen. Briefe vom alten Bekannten und Miseregesellen R.'s, E. Kietz, er will ihn besuchen. Ankunft der Taufscheine. Ich fahre zur Probe, so viel ich beurteilen kann, geht das Stück gut. Wir beenden den Wallenstein in lautester Bewunderung für dieses Meisterwerk, [in] welchem nur die Nötigung, drei Stücke daraus zu machen, einzelnen Details geschadet hat.
Sonntag 22ter
Die Nacht über die Treppe und das Vorzimmer geschmückt, doch ich merke an meiner Stimmung, daß ich nicht mehr für Feste tauge, und bevor noch der Tag beginnt, sitze ich da, schreibe dies und weine. Gott gebe meinen Kindern Freude heute; wer viel gelitten hat, kann nicht mehr recht lachen. Am Festtage erkennt man besonders, wie traurig das Leben ist! Der unbeachtete Fluß der Tage ohne stille Flucht ist dem wunden Herzen wohl das Beste. Segne Gott alles, was ich liebe, und gebe mir bald Ruhe! - Die Freude, welche R. empfand, schwemmte bald die wehmütige Stimmung weg. Um 8 Uhr stellte ich die Kinder mit Rosenkränzen auf, Loldi und Eva an der Eingangstür, weiter unter der Laube unter einem Lorbeerbaum Boni, am untersten Fuß der Treppe, bei der von Blumen erdrückten Büste, mich und Fidi, am Schluß des Aufbaues Loulou; um 8V2 begann die Musik {Huldigungs-Marsch),[8] die 45 Soldaten aufgestellt unter der Tanne, am Schluß kam R. schluchzend aus der Wohnung heraus und bedankte sich beim Kapellmeister; er war tief erschüttert, so daß ich beinahe bereute, die kleine Festlichkeit eingerichtet zu haben. Nachher sagten die Kinder ihm Gedichte, wir frühstückten froh und begaben uns zur Ruh'. Am Nachmittag sollten die Vögel losgelassen und ein Feuerwerk abgebrannt werden, allein ein gewaltiger Sturm erhob sich, und wir beschlossen in Ruhe den Tag. Viele Briefe und Depeschen (König, Richter, Standhartner u.s.w.), ein schönes Gedicht von Hans Herrig (Die drei Nornen), ein hübscher Brief von Pr. Nietzsche. Große rührende Freude gewährte mir eine Depesche vom Vater (In hellen wie trüben Tagen für und für mit Dir).
Montag 23ten
Langer Schlaf; dann Nachfeier. Der Rahmen nach Hansen's Zeichnung angekommen, ich setze Fidi hinein, die Kinder umgeben es, Loulou spricht beim Käfig ihr Gedicht, dann tragen wir den Käfig in [den] Garten, vier der Vögel fliegen gleich dahin; nur ein Buchfink blieb, wollte nicht auf den Ruf seiner Gebrüder hören, er blieb und blieb; aus Furcht, die Katze möchte über ihn kommen, sage ich Jakob, ihn herauszunehmen, der Loulou zu geben, um ihn auf einen Busch zu stellen; das geschieht, allein wahrscheinlich hatte der Schreck über die Unruhe ihn gelähmt, er flog nicht nach oben sondern nach unten, und der Hund Jakob's, den wir gar nicht bemerkt hatten, fiel über ihn her — er war tot. So wurde dieses kleine Freudenfest zur Tragödie, der arme Vogel hatte seinen Tod geahnt. Welche grause Lehre, wie elend mit seinem armseligen guten Willen steht der Mensch dem Schicksal gegenüber. Der Fink mußte mit seinem Leben die Freiheit seiner Brüder bezahlen. - Ich schreibe an Pr. Nietzsche; nach Tisch erste Ausfahrt mit Grane nach Stanz. Abends unser Feuerwerk. Kapellmeisterin meines Lebens nennt mich R., auf die Morgenmusik anspielend.
Dienstag 24ten
R. schreibt Briefe (geschäftliche und andre); Herr Weißheimer fährt fort, sich schamlos gegen R. zu [zeigen]*. (* In der Handschrift: »sein«) Frl. v. Meysenbug gratuliert auch. R. verfällt in Betrachtungen über die zweite Generation, die sich ihm genähert und nichts taugte, dagegen die dritte, jetzt 25 Jahre alt, scheint mit Ernst und Konzentration die Idee R.'s zu erfassen. Ich arbeite mit den Kindern; nachmittags Besuch der Agathe Aufdermauer aus Brunnen, unser Tribschen entzückt sie. Dann zum Juwelier, welcher von Semper kommt, dieser hat ihn schauerlich empfangen zuerst, dann nach und nach einige Erläuterungen gegeben. Abends »Philoktet«.[9] Ich schreibe an Frau Schure und zitiere ihr R.'s Wort über Wallenstein: »Unter Saturnus geboren und Jupiter kokettierend, welcher ihm nicht Stich hält.«
Mittwoch 25ten
Ankunft von zwei Ananas aus Paris, wir vermuten Judith. Brief Esser's (Richter meldet, daß Wüllner in München die Walküre dirigiert!!). Ankunft von Blumen, der König sendet sie. Brief von Kmeist. Eckert; Mißverständnis, seine Frau war todkrank; Freude, daß ein Böser weniger. Ich schreibe an Dr. Pusinelli wegen der Ampel. Schlimme Nachrichten vom Fürsten Wallerstein. - (»Mein gutes Bewußtsein«, nennt mich R.). Mit den Kindern gearbeitet, R. nimmt die Götterdämmerung wieder vor. Ausfahrt, um mich nach dem Befinden des Fürsten zu erkundigen. R. schreibt an Richter, dieser möge zu dem Sekretär des Beethoven-Comite gehen und sagen, daß R. unmöglich auf einen Brief antworten könne, welchen die Herren Hanslick[10] und Schelle unterzeichnet hätten. Abends bemerkt R., daß Fidi förmlich im freien aufginge; am Morgen sei er so klein, mittags im Garten sei er stark; »d. h. wir sehen es so«, ich: »Wenn wir es sehen, so muß es auch sein, denn das, was in uns eine Veränderung bewirkt, wird auch das Kind berühren.« »Das ist eben das Problem«, erwidert R., und von da aus erklärt er mir den Schopenhauer'schen Willen (von Brahma zu Buddha), »der Drang zum Leben, dann zur Erkenntnis, endlich zur Vernichtung. Die Reue, d. h. die Erkenntnis, daß etwas in uns lebt, das viel mächtiger ist als unsere Vorstellung vom Übel«. Lange sprach R. schön und ergreifend zu mir; mir war es, als dränge ich durch ihn in das Wesen der Welt, doch einzig durch ihn. Nachher »Philoktet« beendigt, mit unendlicher Bewunderung. - Die Briefe vom Konzil unterhalten uns, die Unfehlbarkeits-Diskussion ist mit folgender Beweisführung eröffnet worden: Petrus, auf den Kopf gekreuzigt, sei das Symbol, daß der Kopf die Glieder trage, denn: >Die Sizilianer, denen Petrus die Unfehlbarkeit gepredigt, hätten im Zweifel an die Jungfrau gesendet, diese erwiderte: Allerdings, sie entsänne sich, daß ihr Sohn Petrus für unfehlbar erklärte — »Die Sonne scheint der Gemeinheit«, sagt R., wie in den Zeitungen vom temps de l'empereur die Rede ist.
Donnerstag 26ten
Himmelfahrt. In den Zeitungen steht von einer Ovation, welche die Feldmusik R. gebracht hat; das unterhält R.; so wird Geschichte gemacht, sagt er, daß du die Leute bestellt hast, wird niemandem einfallen, hier war nun gar nicht die Absicht einer Ovation, aber ich fürchte, daß die meisten Ovationen, von denen man hört, so bestellt sind. - Nachmittags im Wald mit den Kindern, Loulou macht mir Freude; aus Scherz hatten wir ihr 50 Centimes gegeben, da kam eine alte Frau, und von selbst bat sie mich um Erlaubnis, der Frau das Geld zu geben. - Abends »Die lustigen Weiber« von Shakespeare. (Besuch des jungen Grafen B.; wir schreiben an Judith).
Freitag27ten
Konferenz mit dem Pfarrer; wenig Ersprießliches; unter andrem wirft er mir die Morgenmusik vor. R. schreibt mittlerweilen an den König. Große Freude tut ihm der Dr., welcher sagt, er habe nie einen so schönen Knaben gesehen als Fidi. Schöner Nachmittag, Fidi im Sonnenbad; in der Einsiedelei gelesen. »Die Musik ist nichts wie Wille«, sagt R.
Samstag 28ten
An das Stadtgericht zu Berlin das Attest des Pfarrers geschickt, dann an Ciaire geschrieben. R. arbeitet. Nachmittags Ausfahrt, wie wir uns über Kos' Intelligenz freuen, frage ich, »wohin wandert nun die Seele eines solchen Tieres?« »Das müssen wir uns recht freundlich denken«, erwidert R., »nur den Tod müssen wir uns ernst vorstellen als die Prüfung des Lebens, was nachher kommt aber so freundlich als möglich.« Abends Schluß der »Lustigen Weiber« mit vieler Freude und Bewunderung; R. sagt, daß namentlich auf der Bühne sich dieses Werk prachtvoll, unterhaltend, mannigfaltig mache. Beim fünften Akt sagt er: »Shakespeare hatte den Kopf voll von diesen Feen, Elfenwelt, das Old England lebte in ihm.« »So hätten wir von drei großen Dichtern hintereinander gelesen (Schiller, Sophokles, Shakespeare), und jede dieser Dichtungen hat uns gleich ergriffen und überrascht, weil das Werk eines solchen Genies immer den Stempel des Unbegreiflichen an sich trägt.« Von Berthold Auerbach (kein solcher!) stand in der Zeitung ein Aufsatz über den Wald; R. sagt, er habe ihn vor Ekel über die affektierte Naturwüchsigkeit nicht lesen können, »diese Kerle sind eine wahre Pest« (die Juden).
Sonntag 29ten
Allerlei Spiele und Unterhaltungen mit den Kindern, während R. arbeitet. Wir erfahren, daß Laube nun vom Theater in Leipzig sich entfernen muß, weil die Stadt bei der nötig erachteten Schließung ihm keine Entschädigung hat zahlen wollen: »Solch ein alter Gesell, wie schmachvoll für ihn, nicht von dem gemeinen Rummel lassen zu können.« Spaziergang durch den Wald mit den großen Kindern; R. hatte sich nicht entschließen können, die kleinen zu Hause zu lassen, wir kehrten um, holten sie im Wagen und ließen sie heim fahren, während wir nach Hause durch den Wald wandern. Bei Tisch sprachen wir von der Notwendigkeit, Shakespeare englisch zu besitzen, und auch Walter Scott; von diesem letzteren fällt es R. plötzlich auf, daß er die ganze englische Geschichte in seinen Romanen bearbeitet hat, mit Ausnahme der Zeit, welche Shakespeare behandelt hat. - Ein Mordanfall, welcher die Zeitungen füllt (eine ganze unschuldige stille Schmiedesfamilie von einem Dieb ermordet), läßt uns das schreckliche Schicksal, unter welchem jeder steht, betrachten. Nicht der Mord ist es, der uns hier mit Grauen erfüllt, sondern das furchtbare Los, das einem jeden beschieden sein kann. Heimgekommen erzählt uns Vreneli, sie habe in der Stadt erfahren, ein Kahn mit einem Mann und seinem Kinde sei in die Well und das Rad des Dampfschiffes geraten und umgekommen; unsre Leute auf Tribschen haben das Schreien der Menschen auf dem Dampfschiff vernommen. Welche Warnungen, welche Zeichen, und wer kann hienieden glücklich sich nennen? —    Das Gespräch beim Abendessen bringt uns auf Mozart; indem er die
»Zauberflöte« vornimmt, sagt R.: »Mozart ist der Gründer der deutschen Deklamation; welche schöne Humanität klingt aus den Antworten des Priesters an Tamino; denke, wie steif bei Gluck solche Oberpriester sind. Wenn man diesen Text bedenkt, der eine Posse sein sollte, und das Theater, für welches es geschrieben, und vergleicht, was vor Mozart geschaffen wurde (selbst das noch berühmte Matrimonio Segreto von Cimarosa),[11] von der einen Seite das elende deutsche Singspiel, von der andren die pomphafte italienische Oper, da erstaunt [man] über die Seele, die er hat solchem Text eingehaucht. Und welches Leben hat er geführt! Ein wenig Flitter in der Zeit seiner Popularität, den er um so ärger hat büßen müssen. Er ist nicht fertig geworden, deswegen man ihn auch nicht mit Raphael vergleichen kann, denn es steckt noch zu viel Konvention in ihm.« -    Wir beginnen die »Jungfrau von Orleans«; am Schluß des Prologs sagt R.: »Ja, das drängt alles zur Musik, das will aber nicht etwa sagen, daß das Kunstwerk hier verfehlt sei.« Wie ich ihm sage, daß einzig der Vater
Are mich ein wenig verletze, ich diesen lieber in Shakespear'scher Art behandelt wissen möchte, sagt R.: »Daran nur nicht denken, Sh. ist ein Naturgenie, Schiller ein Kunstgenie; er und Goethe wollten der deutschen Sprache das ideale Pathos abringen und die deutsche Bühne von der gemeinen Realistik befreien.« Wie wir mit Tränen den ersten Akt beschließen, sagt R.: »Wie Goethe uns durch seine Objektivität rührt, so rührt uns Schiller durch seine Subjektivität.«
Montag 30ten
Kleiderbesorgungen; R. sagt mir, daß er sich nun feine helle Beinkleider bestellt habe, indem er sich gesagt habe: »In deinem Brautjahr darfst du noch elegant sein.« - Ich bin besorgt um Loulou, welche über Kopfschmerzen klagt. In der Zeitung steht, daß die erste Probe der Walküre am 16ten Mai stattgefunden habe und daß Kmeister Marpurg aus Darmstadt die Aufführung dirigieren wird. R. sehr aufgeregt davon, schreibt an Herrn Marpurg, um ihm zu sagen, daß es ihm (R.) nicht etwa an Dirigenten fehle, sondern daß ein jeder anständige sich weigere, das Werk zu dirigieren ohne den Komponisten. Rückblick auf den König; nagender Kummer. - In der Zeitung ist die Rede von großen Unruhen in Florenz, das bekümmert mich um Hans; wie schwer trägt doch der Beglückteste an der Last des Lebens. - Richter schreibt aus Wien, gibt Notizen über den Herrn Horawitz; ein äquivoques Wesen-Gegenstück zu Herrn Julius Lang; immer die Falstaff'sche Armee! - Abends die »Jungfrau von Orleans«. (Brief Klindworth's aus Moskau, welcher den Siegfried für Klavier arrangiert und sagt, wie dankbar wir alle dem König sein müßten, der R. die Muße verschafft, solche Werke zu schreiben. »Etwas anderes hat diese Muße produktiv gemacht«, sagt R.).
Dienstag 31ter
Wie wir gestern abend noch auf die Wandlungen der Seele zu sprechen kamen, rief R. aus: »Gott sei Dank, daß hierüber noch ein tiefes Geheimnis ruht, sonst hätten die Menschen bereits alles polizeilich geordnet, du wirst zum Vogel, du zum Hund, würde der Gendarm einem sagen.« - Am Morgen empfängt mich R. im Frack mit Vatermörder, »weil du doch die Förmlichkeit liebst«, die Kinder finden, er sähe aus wie »ein Herr«. Um elf Uhr Ankunft des Malers Kietz; viel Durcheinander, bei dem Gespräch nach Tisch fällt mir das Wort R.'s an Kietz[7] auf: »Du behauptest, die Maler stünden der Natur näher als die Musiker, Unsinn, bevor das Kind sieht, schreit es, und wir hören diesen Schrei.« - Herr Kietz sagt von Fidi: »Er hat das Schwert im Auge.« - Wir sind abends ein wenig müde vom vielen Reden und Redenhören, ein wenig hilft der Maitrank, allein wir sind aus unsrem Geleise. Mir geht es seltsam, ich werde immer stiller und fühle, daß ich unfähig bin, irgend welchen Menschenverkehr zu ertragen; es verdüstert sich meine Stimmung, unaussprechliche Sorgen drücken mich, wie ein Davongejagter ist mein Herz. Der Zufall ließ mich lesen, daß in Florenz so große Dürre entstanden, daß beinahe Hungersnot erfolgt ist, [es] wurde mir ganz weh und bang, das Gerede dazu hilft einem nicht, einzig hilft der Verkehr mit großen Seelen in der Vereinigung mit R. Wie ich mich gestern abend zurückzog, mußte ich zu meiner Beruhigung Goethe Schiller Briefwechsel vornehmen, da kommt über mich die ruhige Ergebung, es komme was kommen muß! - Vom Freunde R.'s, dem Philologen Lehrs,[12] erzählte Kietz, er habe ihn einst angewiesen, das Feuer zu machen, und ihn, Kietz, gescholten er habe gar keinen architektonischen Sinn; Kietz habe nun nach seinen Anordnungen (L. konnte nicht vom Stuhl aufstehen) den Kamin gerichtet; bevor das Feuer zur Hälfte verbrannt, war Lehrs selbst erloschen! (In Sorge um Lulu's Kopfschmerzen).