Oktober

Samstag 1ten
R. freut sich immer am Morgen über die Klavierübungen Loulou's im unteren Salon, er sagt, mit den kindlichen Tönen bekäme er recht die Vorstellung des Familienlebens. Gestern las er mir aus seiner Biographie etwas vor, und ich mußte über die Schamlosigkeit seiner Frau, ihm gegenüber, erbeben. - Wie wir gestern vom Spaziergang heimkamen, fanden wir im Vorhof einen Italiener mit seinem Murmeltier, die Kinder spielten mit dem Tiere. Mich bewegte das Antlitz des Bettlers tief, der ganze Untergang einer Nation lag wie ein Traum darauf, lethargische Wehmut blickte uns aus den schwer gehobenen Augen an; sympathisch, tief belehrend, rührend ist dieser schöne Stamm, ob er noch Taten fähig ist, bezweifle ich. - Sorge um Fidi, der in großer Mattigkeit immer einschläft. Besuch von Graf. Bassenheim; sie schlägt mir vor, Loulou und Boni mit ihrer Tochter in eine neu zu errichtende Schule zu schicken. Mir fällt es schwer, darauf einzugehen; R. wünscht es, damit ich mehr Ruhe hätte, ich will es mir überlegen, ob meinen Kindern ein VorTeil daraus erwächst, sei es durch Umgang mit andren Kindern im gemeinschaftlichen Lernen, sei es durch besseren Unterricht, als ich vielleicht im Stande bin ihn zu geben, und will die Lehrerin sehen. Abends in Knie's Arena[1] mit den vier Kindern, R., Richter und Hermine. Große Aufregung der Kinder ;Loulou alles mit ihrer Aufmerksamkeit verschlingend, Boni prüfend, Loldi staunend, Eva sinnend, alle sehr ernst, die Pantomime Harlekins hatte den Haupterfolg. Wie immer stimmte mich das Schauspiel wehmütig; indem ich die vier erregten Kindergesichter betrachtete, frug ich mich: Wie lange werden für euch die friedlichen fröhlichen Stunden schlagen? Im Wagen umarmte mich R., ausrufend: »Daß ich so mit dir und den Kindern eine Vergnügungsfahrt mache! Es ist ein Traum.« Richter fuhr Hermine im Charabanc, was sehr ergötzlich ausfiel, denn Fritz, der gute alte, hüpfte auf drei Beinen und mußte schließlich von Richter gezogen werden! - Etwas in Sorge um mein vierteljährliches Geld, das Rothschild mir diesmal nicht geschickt hat.
Sonntag 2ten
Brief von Herrn L.* (Lenbach) Das Bild ist nun wirklich abgegangen, ich verheimliche dies R., um ihm eine Überraschung zu machen. Aus Frankreich immer nur Lügenhaftes, es widert einen an. R. setzt seine Proklamation[2] auf; es scheint mir alles, was er in der Angelegenheit der Bayreuther Aufführung anordnet, einfach und einleuchtend, er fürchtet aber den rohen Sinn der Fürsten. Kindertisch, dann mit den vieren zum Jahrmarkt; Kasperl, Wachskabinett, Karussell. Abends liest R. die Puppenkomödie von Faust. Am Vormittag musiziert R. mit Richter (Quartette von Beethoven). Abends die Euryanthe-Ouvertüre, wobei R. uns seinen Jugend-Eindruck davon erzählt; wie die Geigen-Begleitung auf der G-Saite unter Weber's Leitung geklungen und ihn als Kind dämonisch fasziniert hätte. »Solche Kindereindrücke sind unersetzlich für den, der sie nicht gehabt.« Coriolan- und Egmont-Ouvertüren spielt er auch, bewundert namentlich den Lakonismus dieser Werke, während bei einem anderen, Schumann z. B., kommt immer noch einmal Forte, und noch einmal Forte, und einzelne Züge, die dem größten Meister zu eigen sein könnten, und doch ist das Ganze verwischt. Einzelnes aus Weber's Aufsätzen liest R. auch vor (Parodie der deutschen, franz. und italienischen Oper.
Montag 3ten
Fidi wohler, unendliche Freude! Kummer (kleiner!) über die Großen, weil sie so zum Lügen aufgelegt sind. Ich erhalte von Herrn von Rothschild kein Geld. Zur Stadt mit R. - Abends musiziert. (Gestern schwirrten drei Schwäne hoch in der Luft über unsre Köpfe, herrlicher Anblick.)
Dienstag 4ten
Ich lerne stricken! Es fällt mir schwer, ich will aber den Kindern Gamaschen machen. Immer bei Fidi, dessen Besserung rasch vor sich geht. Spaziergang mit R., abends »Die Perser«.[3] Erhabener Eindruck und Bemerkung, daß das ganze jetzige Elend von Frankreich doch kein Stoff zu einer Tragödie geben könnte, ja selbst kaum zu einer Klage!
Mittwoch 5ten
Das schöne Bild von Lenbach ist da! Ich hatte gestern abend die Ankunft erfahren und erwachte am Morgen, sprechend: »Jetzt zieht es daheim, jetzt kannst du davonziehen.« Wie mir Vreneli sagte, es sei ausgepackt, fügte sie hinzu: »Aber Sie werden einen Schreck haben, der schwarze Rahmen.« Nicht ich bekam den Schrecken, sondern Richard, der mich tot zu sehen glaubte, oder den Vater im Klostergewand, kurz der schwarze Rahmen wirkte heftig auf seine Vorstellung. Nach und nach kam das Bild zu seinem Rechte, und unsäglich lieb gewonnen hat er es. Tief ernst ward unsre Stimmung den Tag über; es gibt für uns keine andren Freuden mehr als solch erhaben feierliche. - Zur Graf. B., dort die Lehrerin getroffen; es fällt mir schwer, den Unterricht der Kinder aufzugeben; einzig die Vorstellung, daß die Kinder vielleicht lieber mit andren Kindern arbeiten möchten, könnte mich dazu bringen. Vorstellung von der Schwester der Gräfin Moy aus München, eine große Verehrerin von R., die den Tristan gesehen hat; sie ist freundlich, allein alles Fremde greift mich an. - Abends »Campagne in Frankreich«[4] mit vielem Vergnügen gelesen. - R. schreibt an Lenbach.
Donnerstag 6ten
Immer das Bild! Es ist wunderschön; R. hatte gestern von Goldregen geträumt und behauptet, das habe die Ankunft des Bildes gedeutet. Ich schreibe an Lenbach und an Marie M. - Kindertisch; am Schluß desselben kommt von J. J. Weber aus Leipzig das Honorar für das Nibelungengedicht (20 Louisdor). R. lacht sehr darüber. Schöner Abendspaziergang mit R., zum Hiob's-Saft, wie R. plötzlich den Tee nennt, Fortsetzung der »Campagne in Frankreich«. - Durch die Ankunft des Bildes angeregt hat R. die Instrumentation des Siegf ried's wieder aufgenommen. - Bericht Jules Favre's über die Begegnung mit Bismarck; unangenehm sentimental. R. sagt, es sei wahrhaftig empfunden, die Franzosen könnten nicht mehr anders; gleichgültig gegen fremdes Leiden, und eigenes gar nicht im Stande, würdig zu ertragen.
Freitag 7ten*
(* Stern im Original. Von hier an hat sich Cosima Wagner zu persönlichen Zwecken regelmäßig Notizen über ihren biologischen Zyklus gemacht (erstmals davor: Donnerstag, 29. Juli 1869). Entfallen künftig.) Herrlichstes Wetter, beinahe Sommer! Die Kinder spielen den Tag über, und zum ersten Mal wird Fidi im Schmuck des von mir gehäkelten Rockes ausgetragen. R. geht allein spazieren. Abends aus der Biographie den Artikel Spontini gelesen.[5] - Mein »vornehmer Besuch« nennt R. das Portrait.
Samstag 8ten
R. beschließt eine Partie nach Brunnen, die Kinder werden fertig gerüstet; der Himmel umwölkt sich, R. will den Kindern melden, daß wir bleiben, doch der Kummer des »blauen Regiments« hält ihn ab, und wir fahren doch. Erneute Lehre, daß wir nach außen nichts unternehmen dürfen; in Brunnen Föhnsturm, wir machen nach Tisch einen Spaziergang, werden von Staubwirbeln zurückgescheucht. In Brunnen verbleibt Richter bei Herrn Danike, [6]Stephen Heller, Jaell und Frau, letzterer der gutmütige jüdische Typus, kommt zu mir heran und unterhält sich mit R. Die Unruhe dieser Leute wirkt jetzt ganz unheimlich auf mich. Frl. Agathe Angermann singt uns etwas vor, wobei R. bemerkt, wie die Natur alles sei; diese arme unschöne, bereits fünfzig- oder sechzigjährige Person singt noch mit anmutiger Stimme, spricht gut aus, und wenn auch der Vortrag sehr schlicht und kunstlos, so ist doch auch jede Geschmacklosigkeit vermieden. Da das Dampfschiff nicht in Brunnen hält (des Föhns wegen), fahren wir nach Gersau. Dort ist alles still und ruhig, und wir verbringen eine heitre Stunde auf der Terrasse. Heimfahrt im Dunkeln, ich reiche R. die Hand, »die einzige Hand«, - ruft er aus - »da weiß ich, was ich fasse, wenn ich diese Hand nehme«. Sein Ausdruck erhaben wehmütig, ergreift mich tief; die Kinderspiele reißen uns aus unserer beschaulichen Stimmung; R. muß alle Kinderhüte anprobieren, und so tollt er um uns herum, bis wir in Luzern ankommen. Wie wir die Brücke passieren wollen, fehlt uns der Rus, wir rufen, endlich heißt es vom Kapitän nachlässig, er sei in's Wasser gefallen. Furchtbarer Moment, R. will ihm nach, wir beschwören den Kapitän, das Schiff nicht abfahren zu lassen, er gibt dies ungern mürrisch zu, ich muß die weinenden Kinder halten, Richter ruf ich zu, nur Wagner nicht tun zu lassen; pfeifen, rufen nach Rus; wenn das Schiff sich bewegt, ist unser Hündchen hin; endlich kommt er angeschwommen, da, wo die Barken halten; sein Instinkt hat ihn geleitet. Schluchzend empfängt ihn R., ich versteinert vor Sorge um R. So ist denn diese Vergnügung beschlossen worden; ich höre immer die Stimme, die mir zuruft, bleib im Hafen, wo du eingelaufen; doch die Kinder hatten viel Freude. - Sehr unangenehm berührte uns die französische Sprache, die wir vielfach hören mußten; R. kam auf die »Campagne in Frankreich« zu sprechen und sagte: »Solch ein freies Wesen, das alles sieht, alles erkennt, mit allem tiefes Mitleiden hat und doch so heiter bleibt, daß es immer eine Hülfe für alle ist, kann man sich nur als Deutschen denken.« - (Herr Fritzsch schickt das Honorar für den »Beethoven«.)
Sonntag 9ten*
(* Datum lesbar ausgebessert (aus »10ten«), erklärt den Erinnerungsfehler im Text) Heute vor 17 Jahren sah ich Richard zum ersten Male! (Im Datum mich geirrt, der Jahrestag ist morgen). Heiterer Morgen mit R. und Fidi trotz heftigstem Sturmwetter draußen; gegen Mittag Blitz und Donner. Kindertisch beinahe im Finstren, doch heiter und froh. Nachmittags, wie R. eine Seite fertig instrumentiert, erblicke ich gerade zwischen den beiden Pappeln auf unserer Terrasse, vor unserer Türe, einen wundervollen Regenbogen; ich rufe R., ein vollendeter Triumphbogen, Rheingold, sage ich, Bayreuth, sagt R'., und in dem Augenblick tritt der Buchhändler Prell ein und will uns seine Notizen über Bayreuth geben. Gutes Omen, ruft R. aus. Herr Prell erzählt, daß in Bayreuth sehr leicht Häuser zu haben sein werden, und rühmt die Lage der Stadt. In Straßburg war er auch und unterhält uns durch mancherlei Einzelheit; wie z. B. er in der Bierkneipe bayerische Soldaten angetroffen, die bald Lieder gesungen: »Napoleon der Schustergeselle etc.« - Gestern bewunderte R. das Bild des Gal Moltke und sagte: »Ihn und Bismarck möchte ich wohl kennen lernen, allein ohne daß sie wüßten, wer ich bin; als Sekretär, gänzlich obskurer Untergeordneter möchte ich sie sehen und beobachten.« Er sagt, man könne in dem Antlitz von Gal Moltke etwas von Friedrich dem Großen wiederfinden, die große Besorgtheit, Besonnenheit, Konzentration der Gedanken. -
Montag 10ten
Zur Feier dieses teuren Tages mußte nur die A.A. Zeitung einen schändlichen Aufsatz des Herrn Schletterer[7] über R.'s Schriften bringen. Da es keine Veranlassung hat (die Schriften sind alt), kommen wir auf die Vermutung, es fürchten sich gewisse Herren in München, daß R. nun zurück berufen werden möge, und suchen nun durch Schmähungen dies zu verhindern. Das Traurige dabei, sagte R., ist, daß wenn ich mit meinem Plan hervortreten werde, die Leute wie von der exzentrischen Raupe eines Charlatan davon zu sprechen sich erlauben dürfen. - Interessant ist auch, daß wir durch diesen Artikel erfahren, daß das Schriftchen über Devrient mit R.'s vollem Namen in zweiter Auflage bei Stilke in Berlin erschienen ist, ohne daß R. ein Wort davon erfahren, und nachdem er 50 Gulden für die Pseudonyme Ausgabe bei Fleischmann in München bezahlt hat! - Rothschild aus Frankfurt sagt, daß der Pariser zahle, er aber nicht wisse, warum meine Rente mir nicht bezahlt worden sei; weiter nichts, so daß ich das Nachsehen habe. R. vermutet, daß die Judenbroschüre mir hier einen Streich spielt. (Gestern abend noch herrlicher Mondschein, das Gewölk zog schweigsam eilig, immer durchleuchtet vorbei, so daß R. sagte, der Mond sei entschieden wie der General, der Revue hält, an dem das Heer vorbeizieht.) Sehr hübscher rührender Brief von einer halb vergessenen Freundin aus Berlin. R. liest den Aufsatz von Herrn Schletterer und erkennt richtig darin die Absicht, auf den König von Bayern zu wirken. »Wie elend dieses ewige Vorwerfen meines Wohlseins, ich komme mir vor, als hätte ich nicht das Recht, einen Hund zu ernähren.« R. ist nicht wohl; schwerer trüber Tag; Fidi unsre Sonne. Abends mit Loulou die urdeutschen Völkerschaften vorgenommen. -(Gestern Brief von Kmeister Herbeck, der Lohengrin ist mit ungeheurem Erfolg in Wien wieder aufgenommen worden.)
Dienstag 11ten
Kummer um unsre Truppen in Frankreich, die doch viel und ()* (* Ein Wort verwischt, nicht mehr lesbar) lange leiden müssen. Arbeit mit den Kindern, Ausfahrt und kleine Besorgungen zu Loulou's Geburtstag. R. nicht ganz wohl, instrumentiert doch. Abends Gespräch über Pflichtgefühl, Recht und Unrecht, »nicht die Werke, sondernder Glaube«, sagt R., »nicht gegen meine Neigung das für Recht Erkannte tun, sondern aus voller Herzensneigung das Gute tun, das erkenn ich an«, sagt R. Ich entgegne ihm, daß ich den Kampf kenne, und daß mir das Rechte zu tun oft schwer geworden. »Du hast aber nicht anders gekonnt«, erwidert er. - Wir lesen den ersten Gesang von »Don Juan«[8] zusammen, wobei R. bemerkt, daß nicht das Kunstwerk, sondern die Persönlichkeit fesselt.
Mittwoch 12ten
Loulou's Geburtstag heiter begonnen, Vögel, Kleid, usw. Die übliche festliche Musikschachtel, und diesmal Fidi als Gratulant. Kindergesellschaft, lebende Bilder, Richard leider nicht wohl. Abends musiziere ich mit Richter, während R. die Biographiekorrekturen durchsieht.
Donnerstag 13ten
Brief M. Muchanoff's, den ich beantworte, ich glaube kaum, daß sie kommt. Spaziergang mit R., furchtbarer Föhnsturm, der wahrscheinlich an R.'s Unwohlsein schuld ist. Abends [im] »Don Juan« fortgefahren, wobei wir uns gestehen, daß es eine traurige Zeit ist, in der so etwas von einem Hochbegabten geschrieben wird. (Brief an Tausig mit Photographie und an Marie Much.)
Freitag 14ten
Orleans eingenommen von bayerischen Truppen; »daß wir dies erleben, die Demütigung der fr. Nation, ja das«, sagt R., »und eine Frau und einen Sohn dazu, ist das nicht ein Traum. - Seitdem ich dich kenne«, fügt er lachend hinzu, »kann ich nicht mehr leben, ohne eine Frau zu lieben«. Ein Sonnenblick erheitert uns tief, Musik, denken wir, und R. sagt plötzlich: »Ich möchte wissen, ob in irgendeiner Kunst etwas dem ähnlicher ist wie dies in der Eroica, wo das Thema in drei Tonarten hintereinander angeschlagen wird. Das ist der wille, ganz frei und aufgelöst vom Druck der Individualität. In der Materie besteht noch immer der Bann; man muß sich den Menschen denken wie er tanzt, ruht, trinkt, schläft etc., alles das hört hier auf.« - Er instrumentiert, macht Fidi-Musik, wie er sagt. Fidi bei uns am Mittagstisch. Nachher mit den drei Mädeln zum Jahrmarkt; große Freude am Kasperltheater, dessen Mann sich durch lebendigen (schlesischen) Dialekt, sehr gute Einfälle, die Puppen durch drastische Bewegungen auszeichnen. »Der vornehme Besuch« beim Karussell! Ich lasse die Kinder fahren, Rus rennt nach. Abends weiter in »Don Juan«.
Sonnabend 15ten
Ich lasse die Kinder im Garten spielen, schreibe der Pensionsvorsteherin, daß ich ihre Mithilfe nur für das Englische in Anspruch nehme. Bei Tisch erzählt R., daß bayerische und preußische Truppen in Kampf geraten sind, letztere wollen überall die schwarz-weiße Fahne aufstecken, erstere bestehen darauf, daß entweder für alle die schwarz-rot-goldne, oder aber für die Bayern die weiß-blaue, für die Preußen die schwarz-weiße etc. gelte, und dies mit Recht. Wir beklagen den engen bornierten Gesichtspunkt der Preußen in dieser Frage. Regentag, R. nimmt den zweiten Akt von Siegfried mit Richter vor; die letzten Worte Fafner's an Siegfried ergreifen mich unsäglich, ich sagte zu R., es wäre eine Rührung der Art, wie wenn ich ein sterbendes Tier betrachtete, was rührender vielleicht ist, wenigstens auf andre Art uns bewegt als ein sterbender Mensch; R. erwidert: »Die Ergebung ist beim Tier augenblicklicher, weil der Tod ihm unerwartet kommt, während der Mensch das ganze Leben gegen ihn ankämpft.« Siegfried und Fafner bezeichnen wir als Kasperl und das Tier, welches ihn happen will, R. sagt, es ist derselbe Typus. Abends »Don Juan«; ich erkenne, daß ich vieles, fast alles Satyrische darin gar nicht verstehe, dafür freue ich mich unbedingt der lyrischen erhabenen Episoden, wie die der Haydee, die ich gestern las.
Sonntag 16ten
Von Herrn Rothschild aus Frankfurt erhalt ich den Bescheid, daß er mir keinen geben kann; R. erhält eine Depesche vom Gesangslehrer Schmitt, folgenden Inhalts: »Die Lüge war Dir bisher fremd, sie ist Schande Deinem Namen u.s.w.«, R. erklärt diese verspätete und doch so heftige Beantwortung seines Briefes durch Wahnsinn. Wiederum eine traurig beschlossene alte Beziehung. Dagegen schickt Herr Dingelstedt mit allerlei Artigkeiten den Kontrakt zum Rienzi und meldet den Triumphzug, welchen Lohengrin in das neue Haus gehalten, nennt den Tristan einen versunkenen Hort, und erklärt, die Nibelungen-Trilogie ins Auge zu fassen! - Heitere Laune R.'s beim Kindertisch; er erzählt von Böhmen und Leipzig, das er sehr liebt. Nach Tisch gehen wir spazieren; Besprechung unsres Kunst-Plans, Richard meint, er würde wohl daran tun, Bismarck mit einigen Zeilen seine Broschüre Kunst und Politik nach Beendigung des Krieges zuzuschicken. Ich gebe ihm recht, denn solch ein Mächtiger muß erst einsehen, welche Wichtigkeit das Theater hat. Heimgekehrt finde ich Loulou unwohl, ich bringe sie zu Bett; die zwei Kleinen tollen indessen bei R., er ruft mir zu, daß er zu glücklich sei, »unsre Liebe hätte uns dem Tode geweiht, die Kinder erhalten uns am Leben«. Daß die Kinderchen alle immer so sauber aussehen, freut und wundert ihn, er sagt, er begreift nicht, wie es ging, und käme sich so vornehm dabei vor. Ich bin glücklich, daß er wieder wohl ist; ein Bad, gestern, hat ihm geholfen. Abends »Don Juan«; die Harems-Scenen widern uns an, trotz des Talentes; es ist wie aus einer komischen Oper, sagt R., und es scheint unmöglich, daß ein Abendländer diese orientalische Sitte in ihrer Naivität schildern könne. Wir gedenken »Tausend und einer Nacht«, welch andren Blick in diese Welt gewähren diese Erzählungen. Dann, Byron mit Goethe und Schiller vergleichend, sagt R.: »Es ist alles zu heftig beim Lord, es weht in seinem Werk eine trockene Glut, denn Wärme hat er wohl. Unsre Dichter, die Hohlheit und Schlechtigkeit der Welt genau ebenso erkennend, retten sich auf andrem Weg. Und mit Mephisto macht Goethe die Satyre in viel mächtigerer Weise ab. Byron geht das Drama ab, er beschreibt, kann aber nicht darstellen.« - »Du bist mein Alles, ich dein Allerlei«, sagt mir R.
Montag 17ten
Loulou zu Bett. - In der Musikalischen Zeitung (Signale) steht ein Bericht über die Msinger aus Berlin, wobei ein Herr G. Engel,[9] der zu den unverschämtesten Schmähern R.'s gehört, auf einmal konstatiert, daß einzig die Werke R.'s das Theater zu füllen jetzt im Stande sind, das acht Deutsche daran erkennt, auch das edle Kunstprinzip, und hofft, daß nun nicht mehr aus Paris man die Nahrung der deutschen Theater holen würde! -Übles Regenwetter und nichts von Bedeutung; abends wieder in »Don Juan«, meinerseits sehr widerwillig aufgenommen.
Dienstag 18ten
Sehr hübscher Brief von Franz Lenbach an mich; ich freue mich immer, lange bevor er berühmt war, ihn anerkannt und (freilich vergebens!) ihn dem König von Bayern empfohlen zu haben. - R. hat einen Brief von einem Herrn Fiege[10] aus Berlin, der ihm erzählt, mit welchen Schwierigkeiten er einige Aufsätze über die Msinger in dieser oder jener Zeitung durchgesetzt habe. Kleine Sendung der Tante an Loulou zum Geburtstag. In der Zeitung steht ein Aufsatz von Gregorius über das Lager von Metz; dieser bringt uns lebhaft vor Augen die wunderbare preußische Organisation; »was wäre Europa ohne diese preußische Macht«, ruft R. aus, »ohne diesen verachteten Winkel, von dem kein Mensch etwas erwartet, der aber seit dem Fall der Hohenstaufen sich förmlich vorbereitet. Dadurch, daß ihr Land sandig und unergiebig, sind die Menschen auf strengste Ordnung angewiesen, und diese Ordnung ist es, die dieses Wunder der Verpflegung von 600 000 Mann bewirkt. Wo wäre Deutschland ohne Preußen, darum ist es zu begreifen, daß sie ihr Preußentum nicht aufgeben wollen, denn sie können sagen, von Deutschland wissen wir nicht, was es ist«. - Loulou schickt den Brief an den Großpapa, sie ist aber immer noch unwohl. - Ich bin von Wehmut erfüllt; unser alter Fritz ist nun geopfert worden, er taugte zu nichts mehr und war leidend, nun wurde er getötet. Wir schweigen darüber im Haus, es ist mir aber wie eine Sünde, die ich begangen, da ich die Notwendigkeit eines Todes einsah und zugab. R. geht weit spazieren; es ist herrliches Wetter; ich bleibe bei Loulou und lege die Sommersachen beiseite. Abends »Don Juan«, dessen Lektüre wir aufgeben. Wir besprechen den Unterschied mit Aristophanes, wie naiv, genial, nicht Dichter, sondern Dramatiker und vor allem Musiker, der griechische dasteht gegen den Briten. - Einnahme von Soissons durch die Deutschen. R. träumte von einer freundlichen Unterredung mit Moltke; wir kamen überein, daß solch einem Menschen eigentlich gar nichts zu sagen ist, und daß unsereiner in die größte Verlegenheit geraten würde, wollte er ihm seine Gefühle ausdrücken. »Nur die Proklamationen eines ganzen Volkes können das«, sagt R.; ich: »Und ein König.« »Ja«, sagt R., »deshalb hat der Instinkt der Völker sie dazu getrieben, einen Auserwählten sich zu geben, der vieles von seiner Freiheit aufopfern muß, um im gegebenen Falle für die Gesamtheit auftreten zu können.« -
Mittwoch 19ten
Ich gedenke meiner Verlobung vor 15 Jahren, unter den Auspicien der Tannhäuser-Ouvertüre in Berlin. Wie möchte ich das gut machen, das Hans durch mich gelitten; vielleicht hoffentlich vermögen es die Kinder. Von Frankreich Nachrichten, daß Vesoul eingenommen ist. Bei Lulu, die noch zu Bett, schreibe ich an Franz Lenbach. Nach Tisch zu Gräfin Bassenheim. Abends Musik; R. singt mir aus Siegfried die wunderbare Scene zwischen dem Wanderer und Mime. - Tag über gedenke ich des alten Fritz; mir ist, als ob mit ihm ein guter Schutzgeist uns verloren gegangen wäre.
Donnerstag 20ten
R. träumt von seiner seligen Frau, »sie ist nicht meine selige Frau, sondern du, im Sinne, wie der Ausdruck im Mittelalter gebraucht wurde«. - Wir freuen uns nicht, daß man Paris noch nicht beschießt, denn je länger je mehr leiden unsre armen Truppen. Garibaldi [11]- der alte Tor - organisiert in den Vogesen! - Sehr schlimmes Wetter; Kindertisch, dann Kinderspiel und sizilianische Märchen. Abends liest R. uns »Marino Falieri« von Hoffmann, wovon wir die Anlage sehr gut finden, wovon der Stil aber uns - namentlich in Liebesscenen - sehr unangenehm ist. - R. instrumentiert die Scene zwischen Wotan und Siegfried und sagt, es sei die schönste Scene, die er gedichtet, fügt dann scherzend hinzu: Wotan ist tragisch, weil er zu lange, und Siegfried, weil er zu kurz lebt. (Brief von Tausig an mich; von H. Herrig an R., Herr Stade schickt seine Widerlegung des musikalisch Schönen von Hanslick.)
Freitag 21ten
Die Kinder wohler, können mit mir arbeiten. Willes laden uns zu Mittwoch ein, R. sagt, er freut sich mit mir zu stolzieren, Wille sei nun erst überzeugt, daß etwas Rechtes an Richard, seitdem ich ihn geheiratet!! Wir fahren zur Stadt trotz schlechten Wetters, R. besorgt für Richter einen Schlafrock. Richter ist ganz überrascht von der Einleitung zum dritten Akt von Siegfried, die er jetzt abschreibt; er bespricht die Instrumentierung, namentlich des Nornen-Themas, R. lacht: »Ja, es klingt kindlich und kreischend; wie das Jungfräuliche, das nie geliebt hat, nie Mutter geworden ist, neben dem heilig Hehren etwas dämonisch kindlich Kreischendes hat; man kann sich eine Hexenstimme nur hoch und kindlich denken; der bebende Ton des Herzens klingt nicht darin.« - R. ist nicht ganz wohl, die schlechte Witterung greift ihn an. - Abends lesen wir das Volksstück von Fortunat;[12] viel Vergnügen daran, und die Bemerkung, daß die Volkspoesie niemals etwas von moralischer Deutung gewußt hat; das ist eine Erfindung unserer Zeit. - Richter erfährt, daß sie in München die Walküre im Abonnement geben! Und dagegen können wir nichts! -Als ich bereits zu Bett war und wir schon Abschied genommen, kam R. noch einmal, mir sagend, >ich könne gar nicht wissen, wie lieb er mich habe; es sei ihm immer wie ein Traum, daß ich ganz da sei, er glaubte, ich sei ihm nur geliehene Das stimmt mich zum Gebet; was kann ich vom Leben Übles sagen, die ich, ohne Verdienst irgend welcher Art, ohne Anrecht, ohne irgend etwas, das es erklärte, ein solches Glück gefunden. Während ich andere Vortreffliche so Leiden tragen sehe; freilich fehlt das Leiden mir nicht, doch ist es um R., um Hans, nie um mich!
Samstag 22ten
Vaters Geburtstag! Von Frankreich die Nachrichten, daß wahrscheinlich Bazaine, mit welchem nun verhandelt wird, die Sache in die Hand nehmen und endlich in Frankreich Ordnung machen wird. - Fidi leidet; seine Zähne kommen schwer und langsam, er hat viere bis jetzt, auch ist er mit Gehen und Sprechen zurück, Ati sein einziges Wort. Wir trinken auf des Vaters Gesundheit, bei Tisch; R. lacht plötzlich und sagt: »Ich habe es anders gemacht als Wotan und Sachs, ich habe gleich Brünnhilde und Eva geheiratet; ich lasse die Guten vortreffliche Dinge sagen, hüte mich aber, sie zu befolgen.« - Schöner Tag, den ich den Kindern ganz widme; Charaden mit ihnen spiele u.s. w. Abends Die Ritter von Aristophanes. (Brief von Marie Muchanoff - sie kommt nicht.)
Sonntag 23ten
Mathilde Schure schreibt mir; sie ist trostlos über Elsaß und Lothringen! - Lektüre von Herrn Federlein's Abhandlung[13] über Rheingold, die ich sehr gut finde und infolgedessen R. empfehle, sie in Artikeln drucken zu lassen. - Kindertisch; nachher Spaziergang mit R. auf der Chaussee von Hergeschwyl. Wir treffen wieder einmal einen altbekannten, bösen, kläffenden Hund, R. sagt: »Ich könnte mir denken, daß ich als Geist noch einmal wandeln werde, nur um das ungestillte Verlangen, diesen Hund durchzuprügeln, zu befriedigen.« - Dann kam er auf die griechische dramatische Kunst zu sprechen, auf den Kothurn, der ungefähr das vorstelle, was eine Verdoppelung der einzelnen Blasinstrumente vorstelle; »es ist eine Notwendigkeit, wenn der Raum zu groß ist, aber es erhöht nie den Eindruck, den das einzelne, die Melodie spielende Instrument macht. Es hat die Maske, der Kothurn, das Sprachrohr, eine ganz eigene Kunst bedingt, das Wechselvolle des Shakespeare'schen Dramas konnte diese Kunst nicht haben, dafür hat es das erhabene Monumentale erhalten«. - Abends Der Friede von Aristophanes; mich dünkt, daß R. vielerlei überspringen muß, um mir diese Stücke vorlesen zu können; wie dem sei, es bleibt mir eine unbedingte Freude an der Vorstellung dieses unvergleichlichen Zusammenhangs von Volk und Dichter, an der sprudelnden Erfindungsgabe und an der tollkühnsten Vermischung von Ernst und Scherz. -
Montag 24ten
Brief von Pr. Nietzsche, der wieder genesen nach Basel zurückgekehrt ist; er meldet Befürchtungen für die kommende Zeit, daß der Militarismus, und vor allem der Pietismus auf allem drücken werde. R. sehr aufgebracht bei diesem Gedanken, alles gestatte ich, ruft er aus, Gendarm, Soldat, Knebelung der Presse, Reduktion des Parlamentarismus, nur keinen Obskurantismus. Das einzige, worauf der Mensch stolz sein kann, ist die Freiheit des Geistes, das einzige, das ihn über das Tier erhebt; ihm diese Freiheit verkürzen oder benehmen, ist ärger als noch ihn kastrieren. - Ich schreibe an Frau Schure, die mir französisch (gegen ihre Gewohnheit) schrieb; wir besprechen die traurige Stimmung dieser Elsässer, die nun mit Gewalt Franzosen bleiben wollen, die sie nie geworden sind! - Es heißt, Frau Viardot[14] habe ihr ganzes Vermögen durch den Krieg verloren und müsse wieder zu singen beginnen. Wir besprechen die merkwürdige Begabung dieser Frau und dabei ihr für uns unheimliches Wesen; was R. auf das Jüdische zurückführt: »Diese Leute haben nicht die Seele ihrer Begabung.« - Der wiedererschienene Föhn greift R. sehr an. Ein Bad hilft ihm. Abends lesen wir in einer Broschüre von Pr. Adolph Wagner aus Freiburg, vieles sehr Gute über Elsaß und Lothringen.
Dienstag 25ten
R. träumt wieder von seiner Frau, daß sie unsere Heirat nicht anerkennen wollte; dabei der stehende Zug in R. 's Träumen, daß er sich ängstige um ihr Geld, ob er ihr welches geschickt habe, eine Fortsetzung der steten Sorge, in der er im Leben war, sie gut zu versorgen. Der Tag geht in Packerei vor sich, unsere Exkursion nach Zürich ist für morgen festgesetzt. - Abends liest R. uns in seiner Biographie die Teile,[15] in welchen Sulzer und Hagenbuch, die Richter auch übermorgen kennen lernen wird, vorkommen. (Ich schreibe an Ottilie Brockhaus.)
Mittwoch 26ten
Abfahrt, großer Kinderabschied (gestern »elende Bilder«, wie Eva sagt) in Richters Stube; sämtliche Kinder bei ihm, ich und R. auch zuletzt, großer Lärm, Eva stellt »Mutter und Kind«, vergißt aber die Mutter und stellt bloß willy Stocker hin, verschwindet hinter die Kulissen (Richter's Bett - Vorhang). Heitere Fahrt mit R., laue Föhn-Stimmung, es ist lind draußen. In Zürich empfängt uns Arnold Wille,[16] dessen freundliche Unterhaltung uns ein wenig ermüdet. Er erzählt vom Polenfest in Rapperswyl, von den polnischen Altertümern (Bibliothek, bestehend aus französischen Romanen usw.), vom polnischen, in Berlin gegossenen Adler, der immer herunterfiel, etc. Die Mutter, Frau wille, erfreut uns wieder durch ihr warmes Herz und ihre große tiefe Intelligenz. Bei Tisch ein Professor Hellwig, der meinen Vater kennt, und ein Pr. Ben-dof (oder Bender?). Abends liest Richard aus der Biographie vor (bloß Frau wille und ihrem Mann); große Teilnahme der vortrefflichen Frau und Interesse des gescheiten Mannes. Bei Tisch bringt R. die Gesundheit von Moltke aus, dessen Geburtstag heute ist; (auch auf Tribschen bringen ihndie Kinder aus). Furchtbarer Föhnsturm; wir können, R. und ich, kein Auge schließen.
Donnerstag 27ten
Frühstück mit der Familie, mit Rührung nehme ich von der ausgezeichneten Frau, die noch wunderschön sich über R.'s Biographie ausließ, [Abschied]. Ich fahre dann allein zu Frau Wesendonck. R. wollte trotz meinem Zureden mich nicht begleiten, ihre Gedichte (Aufruf an das deutsche Volk u.s.w.) haben ihm sehr mißfallen; auch behauptet er, sie habe sich schlecht zuletzt gegen ihn benommen. Zum ersten Mal seit elf Jahren betrat ich nun die Räume, in denen ich eine Art von Vermittler und Vertrauten-Rolle[17] gespielt. Die freundliche Frau fand ich brünett geworden, während ich sie vor vier Jahren noch blond in München gesehen hatte; das machte mich wirr. Ich freute mich über ihren freundlichen Empfang, besichtigte ihre Bilder und sann im Heimweg über das seltsam Traumartige des Lebens. Als ich vor elf Jahren [sie] zur milden Stimmung gegen R. zu bringen versuchte, wer mir da gesagt hätte, ich würde selbst mit R. in ein großes Schicksal verwoben werden, dem hätte ich es wohl geglaubt, doch hätte es mich furchtbar erschrocken. Ihre Tochter Myrrha (!) ist ein gutes treuherziges blondes Mädchen. - Von der Wesendonck'schen Villa zum Hotel Baur, wo Regierungsrat Sulzer, Pr. Hagenbuch und Oberst Müller (auch Richter) sich bei uns einfanden. Dr. Sulzer vor allem erfreut und rührt uns; seine leidenden Züge, seine feinen, bestimmten, doch nie schroffen Worte, seine Blindheit, sein ganzes reserviertes, doch aber seelenvolles Wesen fesseln mich unaussprechlich. Er Teilt mir mit, wie sein Familienleben (er hat seine Frau verloren und hat 5 Kinder) ganz durch seine Teilnahme am Staatsleben verloren gegangen ist und aus dieser Teilnahme keine Befriedigung irgendwelcher Art zu erwarten sei. Ich bitte ihn um den Besuch seiner Kinder zu den meinigen. Unser Zusammensein ist heiter; zum ersten Mal sahen die beiden Regierungsräte sich wieder am freundschaftlichen Tisch, denn in Polizeidingen sind sie getrennt. Wie Hagenbuch erzählt, er sei vor Tribschen vorbeigefahren, sagt R., Sie hätten auch die kleine Ecke noch machen können, und erzählt von seiner Mutter, wie er ihr gesagt hätte, der h. Bonifacius sei in seinen Missionen bis nach Guhr (?), einem kleinen Ort bei Leipzig gekommen, antwortete sie: »Nun, da hätte er wohl vollends die kleine Strecke bis Leipzig machen können.« - Viele Erinnerungen tauchen auf, die alten Zeiten leben zwischen den Freunden wieder auf, und heiter und erregt trennt man sich. - Eine frühere Freundin R.'s besuchen wir noch, Frau Heim, die wir mit gepudertem Haar antreffen. Sie und die nunmehr brünette Frau Wesendonck wirken auf mich förmlich gespenstisch durch die Haarfarbe. Sie freut sich aber unsres Besuches sehr. Heimfahrt mit Richter, zu Hause gegen 10 Uhr, wo Loulou freudestrahlend, das rechte Bild der kindlichen Liebe, uns entgegen springt. Die andren sind zu Bett. Brief von Math. Maier, die auch vergangene Tage berührt; ich bin sehr angegriffen, R. auch.
Freitag 28ten
Kinderwiedersehen, gleich darauf Kinderunterricht. R. müde, verbringt den Morgen mit Zeitungen. Nach Tisch überschüttet R. mich mit seiner himmlischen Liebe; er behauptet, ich würde alle Tage schöner, ach Gott! An seinem Glück wolle er sterben. - Weniges Göttliches gebe es, allein Cosima sei göttlich; betrachte ich mich dann, so komme ich mir vor wie das unscheinbarste Gebäude, das durch die Strahlen des Sonnenuntergangs auch zum herrlichsten Anblick gedeihen kann. Als er mich verließ, spielte er ein wunderbares Thema, das ich ihn bat aufzuzeichnen. Hierauf kam Loulou von der Klavierstunde und meldet, Ba-zaine habe sich ergeben! Wiederum 150 000 Franzosen unterzubringen; es klingt märchenhaft. Dabei lasen wir noch am Morgen in der Zeitung, daß Kératry[18] erklärt habe, jetzt cerniere Bazaine die Preußen! - Abends sagt mir R.: »Daß wir Bazaine haben, ist schön, aber daß ich dich habe, ist noch viel schöner.«
Samstag 29ten
Boni zu Bett, erkältet; ich hoffe, es wird nichts sein. Loulou arbeitet bei mir. R. instrumentiert. Bei Tisch fasse ich meine Empfindung des gegenwärtigen Krieges in den Worten: »Der Krieg ist für Frankreich kein Unglück, sondern eine Schande.« R. findet dies richtig. Unser Student nimmt Abschied, er hat [sich] durchgekämpft und widmet sich der Naturwissenschaft, er geht nach Basel. Abends kommen wir auf Tannhäuser zu sprechen, und in Folge dessen spielt und singt R. den 2ten Akt, der mich namenlos erschüttert. Biterolf (Moltke!), Wolfram, der Landgraf, alle rühren mich zu Tränen, doch Elisabeth's »daß auch für ihn« (in diesem »auch« liegt das Christentum, sagt R.) bewegt mich bis in's Innerste meiner Seele. R. beinahe darüber erschrocken, will meine Rührung nicht billigen, er scherzt und sagt: »Du bist Elisabeth, Elsa, Isolde, Brünnhilde, Eva in einer Person, und ich habe dich geheiratet. Dann will ich nichts von Liebestragik wissen, die Weltseele ist mir ganz gleichgültig, ich will dich behalten und sehr lange leben.« - Mir ist es, als ob ich an einer solchen Herzenserschütterung sterben werde. - Zu Mittag verteidigte R. gegen Richter den Text der »Euryanthe«, der viel zu viel schlechtgemacht worden wäre. -
Sonntag 30ten
Fidi macht vier Schritte! - Brief an Pr. Nietzsche, um ihm unsren Studenten zu empfehlen. Reduzierter Kindertisch, Boni krank, Loulou in Strafe wegen Nachlässigkeit (sie hat die sizilianischen Märchen verlegt). Spazierfahrt mit den zwei Kleinen. Abends Dame Kobold von Calderon gelesen, allerlei hierüber gesprochen, wie die feine Dialektik, das feine Spiel mit den Begriffen die einzige Weise, um - ohne die Musik - der Liebe z. B. beizukommen. Die Calderon'schen Personen sind keine Individualitäten, es sind Masken, deren der Dichter sich bedient, um sie die tiefsten Dinge sagen zu lassen, doch bedingt diese Dichtkunst eine vollständige Blüte des Theaters, deren sich Calderon bemächtigen konnte, um eine Einsicht der Welt kund zu geben. - R. sagt, er weiß, er wird seine projektierten Stücke (Luther's Hochzeit — Bernhard von Weimar, in welchem er Dietrich von Bern wiedererkennt) nicht schreiben, denn die bloße Form (Vers oder Prosa) sei eine Frage, über die er nicht hinwegkomme; nichts ohne Musik. Er zitiert mit Vergnügen, was ihm Dr. Herrig geschrieben, die Musik sei das Gesetz der Schwere, nach welchem alles wandle und stehe, der Dichter sei der, der außerhalb dieses Gesetzes zu stehen versuche. R. bedauert, daß, um die fehlende Musik zu ersetzen, dieser junge angehende Dichter auf die Tendenz sich werfe; allerdings zeigt Calderon eine Tendenz, aber es ist keine speziell politisch historische, sondern die christlich katholische, in welcher eine Welterkenntnis sich bestimmt ausgeprägt hat, und wie gesagt hatte er eine blühende Theaterperiode hinter sich, die das belebte; auch glückte so etwas einmal und nie wieder.
Montag 31
»Und küssen dich so wie ich wollt,[19] an deinen Küssen vergehen sollt«, - so schloß gestern R. den Tag. - Heute Brief von der Mutter, welche auf Berg lebt. Briefe der Schures, immer wütend französisch! - Zur Graf. B. gefahren; ihr Sohn Teilt traurige Einzelheiten [mit] vom Leiden unsrer Truppen vor Metz. Das Portrait Gambetta's in der illustrirten Z. zeigt uns wieder das Febrile, Kraftlose einer untergehenden Race. Abends »Fuenteovejuna« von Lope de Vega; unendliche Freude daran. - Mit Recht sagt R., daß uns Zusehenden nur Schweigen gebühre angesichts des furchtbar Großen, das sich ereignet; kein Prahlen über Siege, keine Klagen über die Leiden, schweigendes tiefes Erkennen, daß der Gott waltet.