Januar

Donnerstag 1ten
Die Glocken läuteten das Jahr ein; wir fahren aus. Kindertisch; Gedenken vergangener Jahre, »wir haben genug Nöte um einander ausgestanden«, Gedenken des Vaters Geyer, wie gern er ihnen bescherte. Gedenken unsrer Unternehmung, des Schweigens, darin wir uns hüllen werden, wenn, wie es scheint, der König uns nicht hilft. Beim Kaffee nach Tisch sehe ich einen Raben, der mit ausgebreiteten Flügeln auf den Baum vor meinem Fenster sich setzt und bald darauf fortfliegt. R. sagt, es sei ein gutes Zeichen, der Rabe sei der Hauptvogel der Deutschen gewesen, Wolfram sei der höchste Namen gewesen, er habe die beiden heiligen Tiere Wolf und Raben vereinigt; Löwe, Adler seien traditionell gewesen. - Trotzdem erschreckt mich das Zeichen. Abends wird R. von einem Fieberschauer überfallen, ich bringe ihn zu Bett, der Dr. kommt und hofft, daß es nicht Schlimmeres wird.
Freitag 2ten
Die Nacht verging erträglich, am Tage ist aber R. sehr matt und bedarf äußerster Schonung. Ich übernehme es, das Haus zu beaufsichtigen, und lasse mich vor- und nachmittags im Treibhaus nieder. Große Beruhigung strahlen mir die Pflanzen aus, im Hause aber muß ich immer R. matt und bedrückt anfinden. Die Ungewißheit, in welcher er seitens des Königs gelassen wird, erdrückt ihn förmlich. Abends nehmen wir unseren »Luther« endlich wieder vor; R. gibt ihm durchaus recht in der Strenge gegen die Reformierten, wenn schon das Mysterium, über welches man eigentlich gar nicht sprechen sollte, formuliert werden mußte, dann also.
Sonnabend 3ten
R. liest mir aus Claudius'[1] »Wandsbecker Boten« einen Passus über Christus, der überaus schön und rührend ist. Unsre Freundin spricht von einem Kinde der Atma, das eben geboren sei, worauf R. den Witz das Welt asthma macht. Er geht aus, kommt zu mir ins Treibhaus, ist aber matt und aufgeregt zugleich, »wovon lebe ich«, sagt er, »von meinen Opernerfolgen und von der Gnade eines Königs, der mich nicht verstehen will«. Wir lesen in der Zeitung, daß der König sich Kopien aus Versailles machen läßt! Abends in Luther fortgefahren.
Sonntag 4ten
R. hatte eine unruhige Nacht und ist leidend, dazu kommt Pr. Overbeck, den ich nun allein zu empfangen und zu bewirten habe, bis abends R. hinzukommt. Wir erhalten einen guten Eindruck von dem gelehrten Mann. Er berichtet aber nicht sonderlich Gutes von der Gesundheit unseres Freundes Nietzsche. Am Morgen nahm ich Abschied von Malwida, welche, beständig leidend, in München den Arzt konsultieren will, um zu hören, ob sie nach Süden soll? Werden wir sie wiedersehen? Der Abschied ist mir sehr wehmütig! Ich gebe ihr einige Zeilen für Rat D. Mit einem unaussprechlichen Gefühl sehe ich die Tage dieser ersten Woche vergehen, ohne günstige Entscheidung, so daß die Bestellungen nicht gemacht werden können und demnach das Jahr 75 nicht eingehalten. R. will die Nicht-Aufführung anzeigen.
Montag 5ten
R. hatte wieder eine schlechte Nacht, ich fürchte förmlich, mit ihm zusammen zu sein; von der Sache zu sprechen wie von ihr nicht zu sprechen drückt auf ihn; ich sehe ihn förmlich erliegen und kann nichts! Die »Uniform des Elendes« ist wiederum angetan, Gott helfe uns; dazu kommen die materiellen Sorgen um mein kleines, von der Mutter mir immer noch vorenthaltenes Kapital, die Rente ist mir noch nicht bezahlt. Am Vormittag komme ich nicht in das Haus, dafür aber am Nachmittag um so anhaltender. Eine seltsame Aufgabe bei so trübem Sinn, so großer Hoffnungslosigkeit, sich es behaglich machen zu wollen oder zu müssen. - Abends in Luther gelesen, dann auch über das Abendmahl von Claudius, sehr schön, obgleich er auch Luther nicht ganz verstanden hat und die Einigkeit der Wahrhaftigkeit vorangehen läßt. Wir lachen darüber, wie Luther eigentlich den Vornehmen widerwärtig sein muß. Herrlicher Vergleich von Gott mit dem Drucker, den Abdruck des Lebens werden wir erst im Jenseits erfahren, hier sind die Buchstaben verkehrt. R. erzählt, daß, wie er auf den Platz des Gymnasiums gegangen, er sich gefragt hätte, wie sein Leben aussehen würde ohne mich! Dieser Unsinn, sagt er, diese Gegenstandslosigkeit; nirgends ein Haft!...
Dienstag 6ten
Um vier Uhr nachts kommt R. zu mir, er könne nicht schlafen; da ich auch wach war, beraten wir ein Circular an die Patrone, darin alle Erfahrungen mitgeteilt werden, von den Wiener W.-Vereinen an bis zu dem Besuch des Kronprinzen mit Nicht-Beachtung des Theaters u.s.w. (Vater und sonstige Freunde), dazu der Entschluß, den Aufführungen gänzlich zu entsagen, da 1875 nicht eingehalten werden kann. R. telegraphiert noch an Düfflipp, er müsse Ja oder Nein wissen. Ein schwerer Entschluß! Beim Frühstück aber scheint R. förmlich erleichtert, er sagt, er habe noch um fünf Uhr einen Vers gemacht: Da der deutsche Geist nicht will zahlen, kann ich Hoffmann nicht lassen malen. Wir bedenken unsre Lage hier und finden sie schwierig. Dazu schreibt Claire, daß meine Mutter wiederum vom Ausgaben-Wahnsinn gefaßt ist. Malwida schreibt, Düfflipp telegraphiert - der König verweigert die Garantie!... Nachmittags wiederum zum Treibhaus und von dort aus beaufsichtigt. Heimgekehrt finde ich Freund Feustel und R. zusammen beratend, 25 000 Gulden sind noch auf das Theater zu zahlen. Wie diese erlangen, wie zu gleicher Zeit die Gelder einziehen und zu gleicher Zeit die Leute nicht hintergehen. R. telegraphiert zuerst an Heckel, dieser muß die Wahrheit erfahren. Der Brief von M. schmerzt uns, R. sagt: Was man andren sein kann, das sind sie einem; von der und der möchte ich geliebt sein, [auf sie] möchte ich Einfluß üben, das ist eigentlich die Liebe, in einem Schönes zeugen, sagt Diotima, d. h. den andren von sich erfüllen; aber um jeden Preis begehren, auch wenn man nicht geliebt wird, da sind bestialische Leidenschaften. In Luther gelesen. Gegen Mitternacht uns getrennt. Die Kinder heiter und munter, fahren im Schlitten. Feustel meinte, wenn man mit dem Termin nicht gedrängt hätte, hätte man 30 000 Gulden wohlfeiler bauen können.
Mittwoch 7ten
R. sieht angegriffen aus, hatte aber eine bessere Nacht; er sagt, wie [er] zum Frühstück kommt: Jetzt muß man viel auf einmal sein, vorsichtig, klug, wahrhaftig und vornehm. Er sagt, die Erfahrung mit Erlanger habe vollends dem Faß den Boden ausgerissen. Er sprach gestern, wie ihm der Mut gesunken sei, als er die Cadres der Armee durchgesehen habe und die französische Terminologie gefunden; wir sind Barbaren, und zwar ganz im lutherischen Sinn zugleich »unkultiviert und undeutsch«. Beim Frühstück sagt er: »Du hörst doch noch den Ring des Nibelungen«, und kommt auf den Gedanken, bloß keinen Termin zu stellen und zu sagen; ist das [Geld], 200 000, da, dann ist [es] gut, glaubt aber nicht, daß es einlaufen wird. Brief von Rat Düfflipp, welcher die telegraphische Notiz bestätigt. Abends sage ich, ich weiß selber nicht, von welchem Geist getrieben, zu R.: »Wie schön ist es doch, von allen verlassen zu sein!« R. erfaßt diesen Ausruf lebhaft und sagt: »O, es ist der einzig würdige Zustand.« Gestern und heute faßte ich mein ganzes Wesen in einem Gebet: Mit Richard zugleich zu sterben! Nur solange hienieden zu wandeln, als mein Blick seinem Blicke begegnen kann, wenn meine Hand die seinige halten, mein armseliger Geist seinen Geist schauen und erfassen kann. R., dem ich das schlicht sage, antwortet: »Wir werden aber noch recht lange miteinander leben.« - Brief von Bucher, daß der Fürst doch die Broschüre gelesen und sie zum Gutachten an Minister Delbrück[2] gegeben. Es scheint nicht ganz unmöglich, daß er die Garantie übernehme, worum ich gebeten, meinen heftigen Widerwillen gegen irgend welches Angehen der Freunde bekämpfend. Abends Freund Luther!
Donnerstag 8ten
Hans' Geburtstag - Hausbeschäftigungen, nachmittags Heckel, abends dazu Feustel, wir erfahren dabei erst, was Rat D. Feustel schon im Dezember mitgeteilt, nämlich daß der König gegen R. aufgebracht sei, weil dieser den Hymnus von Herrn Dahn auf den König nicht komponiert habe; dieser habe R.'s Brief dem König zugeschickt, und letzterer sei im höchsten Grade darüber aufgebracht und habe deshalb die Gewähr versagt!!! Es bestätigt sich, daß die Subskription nichts hervorgebracht. R. wird durch die Freunde gebeten, keine öffentliche Erklärung abzugeben, sondern zuerst zu suchen, die Schulden durch Konzerte zu tilgen (!!), dann würde der Bericht des Verwaltungsrates erfolgen, darauf könne R. sein Wort sprechen. Heckel soll an Herrn Wesendonck sich wenden, dessen Vorschlag wieder aufnehmen (Zeichnungen und Zahlungen, bis alles gezeichnet sei), dann an den Großherzog v. Baden sich wenden, er möge ein Fürstenkonsortium bilden, und dieses solle an das Reich appellieren.
Freitag 9ten
R. schreibt an den König über den Vorfall F. Dahn (welcher es nebenbei R. übel genommen hat, daß er jetzt nicht die Muße habe, seinen Band Gedichte zu lesen, er aber in seine Bibliothek gehöre gebunden getan, um bei günstiger Zeit ihn vorzunehmen), indem er ihm sagt, er hätte wohl gedacht, daß, wenn sein K. Wohltäter Musik von ihm wünsche, er ihm gestatten würde, die Verse dazu zu dichten, er auch Herrn Dahn's Gedicht nicht besonders geachtet hätte, da haufenweise solche Zumutungen an ihn kämen, er überdies zu dem antikisierenden Versmaß gar keine Weise gefunden haben würde. Zugleich meldet er dem König das Aufgeben seiner Aufführungen. Dies geschah, nachdem Abschied von dem guten Freund Heckel genommen worden war. - Der Notar bezahlt, ich höre aber nichts vom Kapital! Abends sehr peinliche Hauserfahrung, die Frage des Verkehres mit den Leuten eine sehr wichtige, folgt man nur seinem Herzen wie wir, so erfährt man arge Mißverständnisse, und doch kann man seine eigene Natur nicht aufgeben. Alles lächerlich Unangenehme heißt jetzt bei uns Felix Dahn. Wenn man bedenkt, daß die Gewährleistung an diesem Faden gehangen hat, welchen Einblick gewinnt man nicht dadurch in die Lächerlichkeit dieser Welt. Ein Schönes aber ist es, daß bei jedem Ärger, jeder Prüfung, R. und ich, wir inniger fester empfinden, was wir uns sind. Besuch des Dekans mit dem Hauptmann v. Volmar, R. gerät dabei leider in Wärme, da der Herr ihm von den Münchner Aufführungen der Walküre spricht. -
Sonnabend 10ten
Im Gewächshaus geschrieben, bei glänzendem Sonnenschein, unsäglich beruhigender Aufenthalt, kein Buch der Welt kann, glaube ich, so wohl tun wie diese grünen Blätter, die sich mir wie schmeichelnd streichelnd entgegen strecken. - R. pflegte heute Loldi's Füße! Und sagt: »Ich tue so gern einem Kinde so etwas.« Gestern ging er mit Fidi spazieren, dann zu Angermann Bier und Brezel mit ihm genießen. Dereinst werden wohl die Kinder an seine himmlische Güte und Liebe denken, die ihnen im Leben nicht wieder vorkommen wird. Wie ich ihm von meiner Freude über das Gewächshaus spreche, sagt er: »Ja, das sind unsere Naturfreuden, uns Nordischen, wie im Gefängnis, wo ein erblühendes Veilchen das Herz des Gefangenen entzückt und mehr wirkt als die ganze Natur auf den Freien.« Die Kälte im Haus ist groß. Viel Schlittschuhlaufen der drei älteren Kinder, abends Luther - der Tod seines Töchterchens, wobei der Geist sich freut, das Fleisch sich grämt!
Sonntag 11ten
Nach der Lektüre gestern fiel unser Gespräch auf die Mission, die dem Könige von Bayern hätte zugewiesen sein können; da der deutsche Kaiser die ganze politische Last auf sich habe, so hätte er ganz unbehindert als eigentlicher Gründer des Reiches der deutschen Kunst ihre Stätte bilden [können]. R. sagte, daß man nur von den Fürsten, welche nicht eigentlich als Kronerben und für den Thron erzogen würden, etwas erwarten [dürfe]; so der jetzige Kaiser Wilhelm, der Gr. von Baden, der erste König von Bayern - Friedrich der Große und die früheren freilich eine Ausnahme. Er liest mir im Freytag die seltsame bezeichnende Geschichte von Helmbrecht[3]: und verwünscht die Renaissance, die das Deutsche untergraben habe. - Fidi überrascht uns nach Tisch, ich weiß nicht bei welcher Gelegenheit ich R. vom kälteren Deutschland sprach, worauf Fidi einfiel: »Aber in Spanien ist es schön« - entschieden eine Erinnerung an das öfters vorkommende Zitat aus »Don Juan« - wir mußten sehr lachen. - R. liniert die Partitur zum zweiten Akt. Depesche von Minna Standhartner, der Vater habe soeben in Wien gespielt (für die Franz Joseph Stiftung), »stürmischer Beifall«, was uns seltsam dünkt! - Abends Luther, unseren Freund begraben, durch ihn die Erkenntnis gewonnen, wie das deutsche Volk das Christentum erfaßte.*(*Am Rand der Vermerk: »im Treibhaus«) - Ich schrieb an Richter wegen Wien und eines möglichen Konzertes dort, o des Elendes! - Gott sei Dank ist R. nun gesund. Unsere bunten Haushaltsnöte bringen ihn zu dem Ausruf: »Hol der Teufel die Weiber, du bist die einzige, die, wie die Eitelkeit gekränkt war, nicht alles über den Haufen warf und unsägliche Unruhe und Not stiftete.« - Im Lauf des Gespräches entsinnt er sich Paganini's und seines Dämoniums, da können die Herrn Joachim und Konsorten sich verstecken. -
Montag 12ten
Erinnerungen vergangener Tage und Leiden, R. beklagt mich dabei immer, als ob er nicht ebenso gelitten und ertragen hätte. Mein Tag vor und nach der Mittagszeit gehört dem neuen Hause an, wo immer viel Not ist! In den kurzen Augenblicken, die mir gegönnt sind, lese ich in der alten Ausgabe von Werther's Leiden und bin durch die Zartheit der Empfindungen aufs neue ganz ergriffen; R. lacht, wie er mich so gesammelt einige Minuten vor dem Abendbrot darin lesen sieht, und bietet mir an, nach Tisch mit ihm darin zu lesen; ich beginne mit dem Briefe vom
22ten Mai; mit der träumenden Resignation! R. sagt, die Weltanschauung in »Werther« ist das Wichtige, nicht der Roman.- R. hatte mit dem Buchdrucker Bonfantini zu tun, und in Folge dessen korrigiert er auch an der Biographie. »Ach! mit Franzosen verkehre ich gern in Geschäftssachen, nur nicht in idealen Dingen.« - Heute blaue Tinte, eine Gabe R.'s.
Dienstag 13ten
Tauwetter ist eingetreten, ich bin beständig im Hause, Vor- und Nachmittag; R. nimmt die Korrekturen der Biographie weiter vor, der Aufenthalt in Paris erscheint ihm immer grauenhafter; »ach, es war alles hübsch«. - Von dem Wahlunsinn erzählt er mir, daß sie in Chemnitz einen Sozialisten, oder wie diese Leute heißen, gewählt haben, welcher die Stadt nicht einmal betreten darf, und wie kam dies, weil fünf-bis 6000 Bürger sich der Wahl enthalten haben, »o dieses Parlament«, ruft R. aus, »könnt ich nur mit Bismarck einmal darüber sprechen«. In Bayern scheinen sie zumeist im ultramontanen Sinn gewählt zu haben. -Abends lese ich in Hölderlin, und zumeist Schiller und Goethe über ihn, denn er selbst fesselt uns wenig; seine Briefe an Schiller gemahnen mich an manche Briefe an R. (Herrig, Stade,[4] Fuchs etc.), immer mit sich selbst beschäftigt. R. liest in Freytag weiter und findet, daß er einen guten Gedanken hat, die unselige Trennung des Landmannes von dem Gebildeten durch den Einfluß der Latinität zu erklären.- Da uns Hölderlin nicht fesselt, lesen wir Colebrooke's Abhandlung über die Vedas und gelangen zu den Auszügen aus den Upanishads.
Mittwoch 14ter
Immer größerer Tau, doch geht es in das Haus, allerlei Pflanzungen mit dem Gärtner besprochen, dann mit dem Maler Maurer die ganze Dekoration wieder vorgenommen. R. treffe ich immer bei der Korrektur an.- Er erzählt mir, er habe darüber nachgedacht, ob er das Idyll würde für großes Orchester machen, aber es würde sich nicht so gut machen; ich sage ihm, daß es mir schrecklich wäre, dieses Werk der Öffentlichkeit hingeliefert zu sehen. Viele Freude über Fidi, der heiter, gesund, witzig und liebevoll sich uns zeigt. Mit R. zusammen nach dem Hause, wir sprechen von Männern, Frauen, Liebe, ich sage ihm, er sei der einzige Mann, der Liebe eines Weibes verdiene, er sei treu und zart, er glaube an die Liebe. R. antwortet: »Den meisten Männern fehlt die Sammlung. Dadurch sind sie zynisch.« Abends in den Upanishads; ich glaube, wer die Schopenhauer'sche Philosophie nicht durchgemacht hat, kann diese Geheimnisse nicht verstehen, und ich begreife, daß Schwager Brockhaus von irgendeinem verrückten Brahmanen, der dies geschrieben - sprach. Das Heil und das Vergnügen, als entgegengesetzt, schlägt blitzesartig in den Sinn ein. Die Sammlung des Herzens, als Erfordernis zu der Erlangung des Geistes. Den Tod des Todes erlangt, wer hier eine Verschiedenheit sieht. Der Tod schuf das Bewußtsein, weil er wünschte: ich möchte geistbegabt sein. (Erschaffung des ersten göttlichen Wesens es teilt sich in zwei - Entfaltung der Welt durch Name und Gestalt.) Das Gesetz, welches über dem König steht, durch ihn*(*Wahrscheinlich »durch es«, das Gesetz, gemeint) beherrscht der Schwache den Stärkeren. Unvergänglichkeit der Nahrung, wundervolles Kapitel, der Sohn als Sühner. Ich kann hier nicht bemerken, was mich alles da fesselt, namentlich durch R. mir gedeutet. Wir sprechen von der göttlichen Weisheit dieser Menschen, welche, um etwas auszudrücken, das nicht ausdrückbar eigentlich ist, wie z. B. über dem Herz ist die Vernunft- nun ist ohne ungestümes Herz auch die rechte Vernunft nicht hervorzubringen, das ungestüme Herz allein aber vom Übel - daher alle die Abstufungen, die Atma, den Purusha, die endlosen Gliederungen [schufen] ; und ihrer Weisheit ist es wirklich dadurch gelungen, eine Religion zu stiften aus einer Erkenntnis, die abstrakt dem gewöhnlichen Menschen niemals zu eigen werden kann. Nicht viel auf einmal lesen wir daraus. -Und nach einer kleinen Pause, durch den Winter unseres Mißvergnügens hingeleitet, nehmen wir »R. III.«**(**»Richard III.« von Shakespeare.) vor, und können nicht davon loskommen, auch im Gespräch! Die Unterbrechung: »Margaret«, »Richard«, »He« unter andrem ist einer jener Blitze, die einem die Wahrhaftigkeit der Scene grell hervortreten [lassen], den Dichter aber immer unsichtbar unfaßbarer machen. Wie war er, dieser Unbegreifliche, vor dessen Gewalt alle schwinden? - Welcher Dichter aller Zeiten und Zonen hätte sich gestatten dürfen, seinen Held beständig förmlich das Programm seiner Handlungen machen zu lassen, ohne uns den Glauben an die Wahrheit verlieren zu lassen - hier glaubt man alles, so war es, so waren sie. Wir sind wiederum einmal wie zerschmettert.
Donnerstag 15ten***
(***Fälschlich »16ten«, irrtümliche Datierung in der Handschrift bis einschließlich Montag, 19. Januar 1874) - »Du krönst mich mit deiner Barmherzigkeit«, sagt mir R. am frühen Morgen, »du bist nicht nur die Krone meines Lebens, du bist die der Welt.« — Ach! und nichts kann ich für ihn. Er schreibt an Heckel einen Brief für den Gr. von Baden und sagt: »Man tut das, aber bei allem hat man kein Vertrauen, keinen Glauben, man tut es, um nichts verabsäumt zu haben.« Zu Mittag erzählt er, er habe einen Traum vom Kaiser Wilhelm gehabt, daß dieser überaus freundlich gegen ihn war, und wie R. gerührt überschwenglich sich bedankte, deprecierte der Kaiser: »Nur keine Salbadereien«, worauf R. ein wenig konsterniert erwiderte, der Kaiser aber durchaus freundlich und gut. - Zum Haus gegangen; wie ich heimkehre, hält ein altes Weib mich an, sie möchte durch das Grundstück durch, es war spät, Fidi's Füße naß, ich suchte ihr begreiflich zu machen, daß sie nichts gewänne, wenn sie hier durchginge, sie war taub, ging dann ihrer Wege, mich einer tiefen, wie ein Schatten sich über mich streckenden Reue [überlassend]; warum tat ich ihr nicht den Willen, selbst da sie sich täuschte, sie verstand mich nicht und muß ein bitteres Gefühl von Besitz und Nicht-Besitz empfunden haben. Müder als sie schleppte ich mich heim, meine dumme Klugheit verwünschend und meine Bequemlichkeit, vor allem aber meinen Argwohn — ich befürchtete unredliche Absichten, was hätte sie tun können, hätte ich sie durchgeleitet, Fidi würde diese Strecke mehr schon vertragen haben, und ich finde keine Entschuldigung und möchte es büßen.    Abends Upanishads und »R. III«.-Vorher hatte R. noch einen großen Ärger, das Wasser des mühsam gegrabenen 2ten Brunnen erweist sich als schlecht.
Freitag 16ten
R. ist nicht wohl, trotzdem das Wetter besser geworden ist. Zu viele Sorgen wühlen in ihm herum. Des Morgens beide im Hause, um die Hildebrand'schen Aquarelle[5] zu verteilen. Nachmittags auch, die Kinder schlittschuhlaufend, Fidi, welcher zwei Pfefferkuchen dort erhält, gibt Eva den größten, wird dann darüber wütend: »Ich muß das immer
tun, damit die Leute etwas sagen!«    R. schreibt seinen Brief ab (an Freund Heckel!). Abends »R. III.« weiter gelesen und Upanishads beendet. Die Traum-Theorie von Schopenhauer dort gefunden.
Sonnabend 17ten
R. hatte eine üble Nacht, wilde Träume, unter andrem, daß Frau Wesendonck ihm ein jüngst geborenes Kind zeigte, bei ihr höre das nicht auf, bemerkend; dann, mit der größten Naivität, gab sie dem Kind, welches einen seltsamen Kopf-Putz hatte und frühreif war, daß R. vermeinte, es habe weißes Haar, die Brust - »so naiv geht das hier her«, sagte R., da kam ein großmächtiger Geier auf Mutter und Kind zu, R. verscheuchte ihn zuerst, er kam aber wieder auf sie losgestürzt. - Da erwachte er. - Dann traf er mich schwarz gekleidet, sehr blaß und traurig aussehend, auf der Straße in Paris, wollte mich heimführen, »Herr Gott, aber Minna lebt ja noch - sie wird auch sagen, sie hat nichts gekocht. Dieser Unsinn muß doch aufhören«. Still haltend hätten wir uns dann aufgemacht, uns in den immer verirrter werdenden Straßen verloren. - Gestern freute ich mich einer aufblühenden Cyklame, Malwiden hatte ich den kleinen Topf geschenkt, Trennung tritt ein, die kleine Pflanze treibt ihre Blüten; nicht wie die Kinder möchte ich werden, aber wie die Pflanzen, lautlos Menschenverderbliches einatmend, lautlos Heilsames ausatmend, stumm blickend erfreuend, stumm vergehend, dem Lichte zustrebend, schützend entgegenstrebend. - Wie ich R. von der neu erblühten Cyklame erzähle, sagt er: Ja du bist noch dankbar, du hast diese Gabe oder bist noch so jung, dich inmitten des Ärgers an etwas zu erfreuen, ich kann es nicht. - Hübsches Schlittschuhlaufen der Kinder. Heimgekehrt findet R. einen Brief des guten E. Heckel auf, der nicht an Herrn Wesendonck geschrieben, wie es hier abgemacht war, sondern anstatt auf den Vorschlag des genannten Herrn zurückzukommen, ihm einen andren machte, den Herr W. natürlich zurückweist. So ist es, ein jeder will der Klügste sein, - R. lacht sehr, als ich ihm sage: Nicht den Türkenglauben, sondern die Christengeduld muß man in dieser Sache haben. Abends Quartette von Beethoven mit R. gespielt; die Sammlung des Herzens, von der die Upanishads sprechen, wird hier wie ein Wunder hervorgebracht, und in dieser Sammlung wie auf klarem ruhigen Wasser erblüht das tönende Entzücken. Hier ist das Brahm, die Andacht erreicht, hier ist das Nicht-sein, und dem Erkennenden ist man nah.    Wie ich R. von der Reinheit und Keuschheit dieser Musik sprach, sagt R.: »Ja, das ist deutsch, und das war seine Basis, bei Mozart kommt es auch dazu, aber seine Basis ist doch die italienische gefällige Opernkunst.« - Heute früh rief mich R., sagend, ich will dir die zwei Feuerbachs,[6] Philosoph und Maler, im Orbis pictus zeigen, darauf zeigt er mir zwei Feuerländler - ich muß sehr lachen, auf der Seite voran waren die großen Männer nicht viel besser. (Träne des Gewächshauses).
Sonntag 18ten
R. hatte eine schlechte Nacht; »wenn man es nur über sich bringen könnte, nicht immer an die Sache zu denken«. Daß noch 25 000 Gulden Schulden darauf stehen, ist förmlich erdrückend. Wie eine Ironie sind alle Notizen, die kommen; Wagner-Konzerte in London, Erfolg der Meistersinger in Köln, Bitten um Autographen u.s.w. R. kommt auf den Gedanken, das Theater der Stadt zu schenken, um dann eine Hypothek darauf aufzunehmen. Besuch des Bürgermeisters; Schrecken über die Wahlen - Deutschland durchaus nicht für allgemeines Stimmrecht geeignet. Die Guten, zufrieden mit der Regierung, enthalten sich, und nur die Schlimmen sind tätig (Juden, Ultramontane, Sozialisten). R. ist nicht wohl, daher sehr heftiger Laune. In dieser Stimmung entwirft er ein Gedicht zur Gänseleberpastete, die er Herrn Feustel zum Geburtstag geben will, ich bitte ihn, es nicht abzugeben.
Montag 19ten
Ich las gestern abend für mich die 12 anonymen Briefe eines ästhetischen Ketzers[8]; lauter gesunde Ansichten, von welchen man nicht recht begreift, wozu der Autor sie auszusprechen sich gedrungen fühlt. Auch ist schließlich alles aus »Beethoven« und »Kunst & Politik« entnommen, und es fehlt die philosophische Grundlage. - In das Treibhaus, von dem R. sagt, wenn es nur nicht neben dem Treiben des Hauses läge. - Teppiche und Vorhänge ausgesucht. Brief von Richter, er hat in Wien nichts ausrichten können. Abends beginnen wir das Buch eines Basler Missionars über Indien. Richard beschließt »R. III.« - große Freude noch an dessen Anrede an seine Truppen. In ihm zeigt uns Shakespeare das letzte Ausrasen der normannischen Kraft - wären die Erscheinungen des Traumes nicht, er erschiene ungebeugt, ungestraft, um sein Leben ist er nicht besorgt, und die Krone erkannte er sich zu gegenüber den Schwächlingen Eduard und Clarence.
Dienstag 20
»Wer keine Nation bekennt, ist so gut wie nicht geboren, ohne Geburt«, »so bin ich«, antworte ich lachend. »Die Frau hat das Vaterland ihres Mannes, von je haben die Männer fremde Weiber genommen, welche wie die Vögel bestimmt sind, den Samen hin und her zu tragen. Die Frau geht ihrer Liebe nach, liebt sie den deutschen Mann, so wird sie eine Deutsche.« R. instrumentiert den 2ten Akt - dies das Beste! Vollständige Frühlingsluft heute, Sperlinge zwitschern im Hofgarten. Abends weiter in dem Buch über Indien gelesen. Vorher Besuch des Dekans, welcher sich merkwürdigerweise die Gründung der deutschen Nationalkirche vom Bischof Ketteler[8] erwartet. - Die protestantische Geistlichkeit soll durchweg ultramontan gewählt haben, und aus dem Schöße dieser vertrockneten dürren Kirche soll nichts zu erwarten sein.
Mittwoch 21ten
Herrn Feustel's Geburtstag, zu welchem ich die Kinder hinschicke mit einer Gänseleberpastete, bei welcher Gelegenheit wir uns schwören, R. und ich, niemals dieses raffinierte Produkt der menschlichen Grausamkeit zu genießen. R. arbeitet. Ich schreibe an Dr. Standhartner wegen des Konzertes in Wien. Augenleiden fesselt mich an Haus und Nichtstun. Abends bitte ich R., den Kindern (Daniella und Blandine) die Dichtung des Fliegenden Holländers zu lesen, was er gütig tut. Meine Besorgnis, in den Kindern den edlen Keim zu legen oder zu pflegen, wächst täglich. - Einiges aus dem Quartett von Beethoven op. [ ]*(*Freigelassen) (mein Liebling) spielt R., und wie ich über die Wirkung solcher Musik auf mich nachdenke, muß ich finden, daß es durchaus der Empfindung gleicht, wenn zuerst das Kind im Mutterschoß sich regt - das Regen des Ewigen im Herzen, das urwaltende gewöhnlich Stumme, Unbewegliche, tönt und rührt sich. Wie die Wurzel die Tongefäße zerberstet, so ist es mir, als müßte mein Dasein unter diesem Treiben zerspringen.
Donnerstag 22ten
R. arbeitet und geht nachmittags zu Herrn Feustel, ihm zu gratulieren, kommt trüben Sinns heim und mag am liebsten nicht sprechen. Er findet dort eine große Indifferenz und rein geschäftlichen Ton. 30 000 Gulden Schulden sollen noch auf dem Bau sein. - Erschreckende Nachricht des Selbstmordes von Pr. Ott. Abends in dem Buche des Missionars weiter gelesen, R. beklagt es, daß lauter Menschen sich mit diesen Dingen befassen, die nicht dazu berufen sind und sie als Kuriosa behandeln.
Freitag 23ten
In Amerika erscheint eine zweite Auflage des »Beethoven«, welches dort als eines der bedeutendsten Bücher unsrer Zeit bezeichnet wird, sehr merkwürdiges Zeichen! Auch schicken die New Yorker 2000 Th., die Wiener 600, Lenbach 300, Antonie Petersen 5 Pfund, ungefähr im ganzen 3000 Th.- Freilich ein Nichts, bedenkt man den Bedarf. Immer abends Beschäftigung mit Indien, eine wahre Geistes-Befreiung.
Sonnabend 24ten
Die längst erwarteten Tantiemen aus Berlin treffen endlich ein, es scheint, Herr von Hülsen versendet dieselben immer mit Wut, und R. muß immer danach telegraphieren - sie betragen für dieses Quartal 1400 Th., und es zeigt sich, daß R.'s Werke die größten Einnahmen erzielen. Ein Augenleiden verhindert mich am Lesen und Schreiben, R. übernimmt abends den Vortrag. Wir plaudern darauf zuweilen bis in die Mitternacht hinein. »Ich habe, was ich will«, sagt er zu mir, »dich, und damit bin ich zufrieden, alles übrige lasse ich fahren.« Er kam heute auf den Gedanken, Schott sechs Ouvertüren vorzuschlagen, die er vom nächsten Jahre an komponieren wolle, gegen eine Vorbezahlung von 10 000 Gulden. Diese Ouvertüren versprach er mir einmal zu schreiben, Lohengrin's Meerfahrt, Tristan als Held, Romeo und Julie Grabesgesang. Die andren weiß er noch nicht.
Sonntag 25ten
Die Kinder wohnen dem Begräbnis des armen Prof. Ott bei und sind schön ernst davon gestimmt. Pr. Hoffmann schreibt, daß die Leute sich in sein Atelier drängten, um die Skizzen zu sehen. Er fragt auch nach der Bestellung an -, was und wie soll man da antworten. Ich muß es bewundern, daß R. noch so heiter ist bei der niederdrückenden Sorge und Ungewißheit. Er wiederholt mir stets, ich sei es, die ihn aufrecht erhielt, da möchte ich immer in das Loblied der h. Jungfrau einstimmen! - Wir gehen zusammen spazieren, die Allee nach Eremitage, Freude an dem hübschen Ländchen, viel Friede und Heiterkeit auf den Fluren. Abends Indien.
Montag 26ten
Englische Übersetzung des Rheingoldes und Sieg-fried's, bald wird der ganze »Ring« erscheinen (Alfred Norman). - Brief von Malwiden aus San Remo, sie war krank, genießtaber jetzt den Süden-ich danke Gott für jede farbige Wolke, die sich hier mir zeigt, und R. meint, auf die Grade kommt es nur an, das dichterische Gemüt wird hier ebenso erweckt als dort unten. Blinkt er klein, der Stein, so blinkt er doch! — Wiederholte Nachrichten von Köln, die Meistersinger scheinen dort einen großen Erfolg gehabt zu haben - traurig ist es nur, daß dieser Erfolg uns nichts sagt! — Abends die Inder, weiter vorgedrungen, erkannt, daß der Buddhismus die Erfüllung des Brahmanismus war; dieser der Erkenntnis bloß zugewendet, letzterer der Ethik. Am Schluß liest mir R. einiges aus der »Lysistrate« des Aristophanes vor - zu großem Gaudium.
Dienstag 27ten
Früh in das Haus gegangen; wie ich heimkehre, zeigt mir R. einen Brief des Königs, den er nicht lesen wollte, ich soll ihm den Inhalt mitteilen; ich erkenne gleich, daß er sehr freundlich ist -; der König verspricht, seine Sendung nie aufgeben zu wollen, und sagt, er wäre nur zum Zögern durch den Zustand seiner Kasse gezwungen gewesen. Das Gedicht des Pr. Dahn's behandelt er als Lobhudelei und weiß, daß R. Besseres zu tun hätte als derlei zu illustrieren. Dabei aber bleiben wir in Ungewißheit, gewährt er die Garantie oder nicht?... Heckel hat den Brief dem Großherzog von Baden zukommen lassen. Abends weiter in dem neuen Brahmanismus vorgeschritten. Vor der Lektüre besprachen wir die Menschen, die alle von ihm abgefallen sind, wie Brockhausens, Karl Ritter, Willes, Laube, eine Unzahl übersieht R. in seinem Leben. Ich sage ihm, er auch kann sagen von dem Nibelungenring: »Sie hören nicht die folgenden Gesänge, welche den ersten lauschten!« Er antwortet: »Das kümmert mich wenig, die Menschen sind mir erstorben, bevor sie dahinschieden, und ich habe, was ich wünsche: dich!« - Er spielte heute den Schluß des zweiten Aktes, das Reichste, Mannigfaltigste, an dramatischen Akzenten Akuteste, das er geschaffen, vielleicht.
Mittwoch 28ten
Die Frage, die heute früh R. quält, ist, ob er an Pr. Hoff mann in Wien schreiben soll, daß das Unternehmen unbestimmt verschoben sei, oder auf den gestrigen Brief des Königs hin auf die Garantie rechnen. Während ich einige Besuche abstatte, entscheidet er sich, ich wage es aber nicht, ihn zu fragen, wie, und freue mich nur, wenn es in meiner Macht liegt, ihn ein wenig zu zerstreuen. Beim Kaffee kamen wir wiederum auf »die Eisblöcke, die im Meere der Jämmerlichkeit geschmolzen sind«, zu sprechen, u. a. auf K. Ritter; R. behauptet, der Artikel über das Judentum habe ihn vernichtet, wie auch den armen Tausig; er habe jüdisches Blut in den Adern gehabt. R. macht einen größeren Spaziergang, geht zum Theater hinaus und begegnet dort einer Bauernfrau, mit welcher er sich heiter unterhält, er spricht ihr von dem schlechten langen Weg, den sie zurückzulegen hat bis zu ihrem Dorf, »ach! lieber Herr, wenn man den 30 Jahre lang jeden Tag zu machen hat, denkt man nicht mehr, ob er schlecht oder gut ist«. - Nachdem wir abends noch in dem Basler Buch gelesen, wollte R. mir aus Aristophanes vorlesen, es war aber unmöglich, die Zügellosigkeit ist so groß, und Frauen dürfen daran keinen Teil nehmen. Während R. einen Spaziergang machte, saß ich lange im Mondschein im Treibhaus; konnte mich gar nicht von dem sanften Strahlen trennen und von der großen Stille.
Donnerstag 29ten
Den ganzen Morgen im Hofgarten spaziert, die Kinder auf dem Eise beaufsichtigend. R. arbeitet an dem zweiten Akt. Nach Tisch ging er zu Herrn Feustel, welcher die Aussagen des Königs über das Dahn'sche Gedicht nicht begreift, da er bei Hofr. Düfflipp Depeschen des Sekretärs Eisenhart[9] gesehen, welche meldeten, daß der König höchst ungnädig gegen R. gesinnt sei! - Augenblicklich ist die Bank in Coburg bereit, 50000 Gulden vorzuschießen, wenn die Garantie eintrifft! 10000 Gulden sind nun wenigstens an die Männer abbezahlt worden. - In der Zeitung steht als literarische theatralische Nachricht, daß Laube und Dingelstedt nach langjährigem Hasse sich versöhnt haben, und als Ergebnis davon soll der »Faust« (Dekorationen von Makart etc.) I. und II. Teil in sechs Tagen aufgeführt werden. Ich muß sehr über die Elenden lachen. R. sagt vom »Faust«, »wie Sphinxe ragen solche Werke in unsere unfähige Kultur hinein. Nachgeholt kann das deutsche Schauspiel nicht werden, das ist versäumt worden, die Musik ist da und hat alles überschwemmt«. - Es war mir heute noch beschieden, in furchtbarer Weise geprüft zu werden. Als die zwei älteren Kinder heraufkamen, gute Nacht zu sagen, scherzte ich mit Blandinchen über kommende Zeiten. Die Kinder entfernen sich, ich bemerke, daß Daniella etwas sagt, rufe Blandinchen herbei, frage darnach, »wie fade«, habe sie bemerkt von meinem Scherz!... R. entsetzt, ich Stillschweigen, der Seele Ruhe gebietend, aus dieser Ruhe das Gebet der Ergebenheit stammelnd. Hier habe ich einzig hinzunehmen. Daß nicht meine Scheidung von Hans, sondern meine Ehe mit ihm eine Schuld war, erkenne ich nun mit Schrecken. Tiefe Seelenarbeit, Versuch, sie bis dahin zu schwingen, Gott für die Strafe zu danken, Entschluß, die Heiterkeit, welche R. so nottut, nicht verkümmern zu lassen; Zurückhalten der Tränen, Andacht!
Freitag 30ten
Es fällt schwer, mit R. von anderen Dingen zu sprechen als von dem gestern Erlebten!... Doch lasse ich keine Trauer aufkommen. Von der Schule heimkehrend will Daniella mich um Verzeihung bitten, daß sie mich so gekränkt habe, ich erwidere: Sie habe mich nicht um Verzeihung zu bitten, gekränkt hätte sie mich nicht; wenn sie Unarten zeige, löge, impertinent werde, würde ich sie nach wie vor strafen, daß sie aber nach einem in Freundlichkeit zugebrachten Tag bei einem herzlich liebevollen Scherz, der ihrer Schwester galt, sich also ausläßt, dafür hätte ich keine Strafe, keinen Vorwurf, eine Revelation sei mir dies, und ich hätte nur mit Gott hierüber zu verkehren, welcher Segen und Fluch verhänge. Ich lasse sie bei mir arbeiten, behandle sie wie immer und hege keine Bitterkeit gegen das Los, keinen Groll gegen das Kind und glaube zu verstehen, zu erkennen. R. möchte sie entfernt sehen, ich kämpfe dagegen, denn ich glaube doch, daß sie hier glücklicher ist als anderswo und daß die guten Anlagen ihrer Natur besser entwickelt werden. Bin ich im Herzen.betrübt und kämpfe ich dieses Weh demütig durch, so bleibt mir vielleicht der Segen nicht versagt, daß das Kind gut werde; und daß meine Art ihr fremd bleibt, ist am Ende für sie ohne Bedeutung. - Brief des Vaters, er sagt, daß bei dem Kranz, welchen ihm der Wagner-Verein bei Gelegenheit seines Auftretens in Wien gereicht, er eine gemischte Rührung empfunden habe, er sage sich wohl, daß er nichts Besseres tun könnte, als seine Finger den W.-Vereinen zur Verfügung stellen. Gestern schrieb Marie Schleinitz sehr kleinlaut, die Stimmung in Berlin sei eine so gedrückte, von der Petition an den Kaiser erwarte sie sich nichts. Ferner erzählt sie, daß Hans und Dohm zugleich Gäste von Frau von Heldburg[10] in Meiningen gewesen seien und daß ersterer glänzendster Laune gewesen sei und sich äußerst befriedigt von den Londoner Erfolgen und Einnahmen bezeugt hätte. Möchte er Freude an den Kindern erleben. — Spaziergang mit R., Fidi und Eva, Schneegestöber - ich fühle mich unwohl, und es ist mir, als ob das Herz ersticken müßte, es gelingt aber die Bändigung, und ich preise das Schweigen! Abends mit R. zu Frau Groß, »pendre la cremaillere«. - Vorher einen Brief des Herrn Schott, der mit einigen »Ques« auf R.'s Vorschlag eingehen zu wollen scheint.
Sonnabend 31ten
R. schreibt an Herrn Schott und freut sich auf das Gelingen der Kombination.- Ausgang nachmittags mit den Kindern. -Im Hause werden die ersten Hildebrandischen Aquarelle angemacht. Abends - meine Augen immer schwach - liest R. im Timaios[11] vor, wir unterbrechen uns aber bald, da, wie R. bemerkt, man von den Griechen keine tiefe Metaphysik erwartet, sondern künstlerische Darstellung, und es der Künstler ist in Piaton, viel mehr als der Philosoph, der uns entzückt. Allen Spielereien der Inder liegt eine tiefe Weltanschauung zu Grunde, hier scheint es, als ob durch die Spielereien [hin]durch erst die richtige Erkenntnis gewonnen wird.