Juli

Dienstag 1ten
R. hatte eine böse Nacht, er träumte von einer Fahrt mit seiner Schwester, bei welcher der Wagen in den Abgrund fuhr; mir, es zu Tisch erzählend, sagt er, er sei überzeugt, daß die Anschauung Schopenhauers [richtig sei], daß man vom Leben zum Tode erwachte wie von einem beängstigenden Traum, und daß der Todeskampf dem Krampf gliche, mit welchem der Schlafende sich vor dem Aufwachen sperrt und seinen üblen Traum festzuhalten sucht. - Besuch von Freund Feustel, welcher die traurige Vermutung ausspricht, daß der Leipziger Theaterdirektor, welcher jetzt gegen das Urteil appelliert, sich bankrott erklären wird und jetzt nur Zeit gewinnen will, um sein Vermögen in Sicherheit zu bringen, so daß vor zwei Jahren kein Vorteil zu erwarten ist, wenn überhaupt einer entsteht. Nicht angenehme Notiz; doch benimmt sich Feustel bei allem so freundschaftlich, ist [in] jeder Beziehung so behülflieh, daß R. immer erheitert von seinem Umgang wird. Zum neuen Hause, Sitzung; die Büste wird besser, und der gute Bildhauer rührt mich durch die Bemerkung, daß Wagner ganz anders aussehe als früher, und daß er ihn nie so heiter und so wohl gekannt hätte, und daß man sich ihn überhaupt in solchem Familienleben gar nicht hätte vorstellen können. Er erzählt uns auch hübsche Züge von Uhland und seinem unscheinbaren Wesen. -Abends unsere Lektüre. - Bei Gelegenheit des Hauses und der Nöte, die er davon hat, sagte R.: »Das Gute kommt so langsam, und lang erwartet beständig gehemmt, das Üble aber kracht über einem zusammen, unvorhergesehen.«
Mittwoch 2ten
»Du bist mir vom Himmel bestimmt worden, das habe ich mir soeben gesagt«, ruft mir R. am Morgen zu, »und alles hat sich darin ergeben müssen.« - Wir besprechen beim Frühstück die gestern erfahrene Notiz, daß Graf Roon seine Güter in der Mark im Wert von 400 000 Th. an H. Bleichröder[1] mit allen Rechten, die darauf sind, verkauft hat und sich nach Süddeutschland zurückzieht! Der brandenburgische Edelmann gibt die pr. Monarchie auf! Der Jude tritt für ihn ein! Und Bismarck? Er soll dem Könige vorgeschlagen haben, das Ministerium wieder zu übernehmen, und dieser soll abgeschlagen haben. R. betrachtet die Lage Bismarck's - der sich nun einsam nach Varzin zurückzieht, als eine völlig tragische, er sprengt die preußische Monarchie und tut recht daran, doch wohin steuert er, wo ist das Deutsche? - R. sagt, wenn sie im Preßgesetz noch erklärt hätten, sie wollten die deutsche Sprache vor gänzlicher Verwahrlosung behüten und durch eine Kommission Geldstrafen auf Verhunzungen in den Journalen ansetzen. Selbst in Uhland finden wir völlig unrichtige Konstruktionen und sinnlose Wortbildungen! Der einzelne kann kaum mehr dem Überfluten dieser Decadence entgegenarbeiten, und wird so viel Fleiß auf Forschung und Erkenntnis verwendet, wird wenig auf Darstellung gegeben. R. sagt, daß selbst Grimm in seiner Grammatik nicht auf Logik der Satzbildung achtgegeben hätte. - Alwine Frommann, die mir in ihrer Weise ganz einzig geschrieben, geantwortet. R. schreibt Geschäftsbriefe bezüglich der Haase'schen Sache. Kalte Witterung, wir gehen doch zum neuen Haus, Fidi mit dem Maurer sich unterhaltend, überhaupt ganz anders, seitdem sein Haar geschnitten, männlicher gestimmt, will nicht mit den andren Kindern zum Bürgermeister, trotz Kuchen und Erdbeeren, auch nicht mit mir, verlangt Helferich zu heißen und schlägt Eva, indem er ihr sagt: »Ich heiße jetzt Helferich«! - Abends in Uhland gelesen, viel Freude an den verschiedenen Typen, namentlich der Mönch Ilsan ergötzt uns sehr; immer neuer mächtiger Eindruck des Nibelungenliedes (namentlich II. Teil); wer hat das gedichtet; größer als Wolfram, weil er durch die Volkspoesie, durch dem Volke nahestehende Gestalten begeistert war; Wolfram durch Fremdartiges-der Nibelungendichter war auf heimischem Grund und Boden. Erbärr lichkeit Hebbel's und Geibel's! - R. beschließt den Tag mit dem Ve »Nur der erringt sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie errinj muß«; »dieses tägliche Kämpfen, um auf den Punkt zu kommen: nun h der Teufel alles übrige«.
Donnerstag 3ten
Ich hatte eine üble Nacht mit allerlei Gedan1 (Briefe entworfen, Aufgeben der Feier etc.). Vormittags Besuch der undantia von Makart, die hier ausgestellt ist und die mich wahrhaft zückt; Freude, daß ein Deutscher jetzt so originell konzipiert und so ki ausführt, keine Nachahmung irgend eines Musters sichtbar. Traurig, daß kein Haus sich findet, um dieses Bild anzukaufen, und daß es wie eine Menagerie umherwandeln muß; denn daß es für einen bestimmten Raum und für ein bestimmtes Land (Ungarn, was das serbisch-türkisch-neugriechische Colorit angab) beabsichtigt war, hat zu den entschiedenen Vorzügen des Bildes verholfen, nun wandert es umher heimatlos, schlecht beleuchtet, und Makart arbeitet weiter für Kunsthändler, gewinnt freilich viel Geld, muß aber dabei verkümmern! Das Bild interessiert mich so sehr, daß ich nach Hause gehe und R. dazu bewege, die Korrektur des 9ten Bandes zu verlassen und es zu besichtigen. Er teilt meine Empfindung. - R. möchte eine Büste von mir haben, er sagt: Wenn ich nur so dabei helfen könnte, wie du bei der meinigen. - Nachmittags zum neuen Hause, R. geht dann zum Riedelsberg, wo donnerstags sein Kränzchen ist; er kommt daheim mit der Nachricht eines Anschlags, die guten Leute wollen wie alljährlich gemeinschaftlich eine Reise machen und fordern R. dazu auf; er sagt: »Die haben gut reden, die froh sind, von ihren Frauen los zu kommen, aber ich!« - Er wünscht, daß ich mit den Kindern mitgehe, was doch aber nicht gut möglich ist. - Ich verbleibe lange im Garten, dem Vogelgesang lauschend, zwei Amseln antworten sich, die Sonne sinkt feurig unter, tiefer Trost! Das Grab liegt still daneben, »balde balde ruhst du auch« - In »Paulus« für mich gelesen. Wie wir von der Brüder Schlegel [Verdienste] um die deutsche Sache gesprochen, sagt R.: »Ja, Goethe und Schiller kümmerten sich nicht viel um den deutschen Gedanken, sie verhielten sich zu ihm wie Fr. der Große zu ihnen.«
Freitag 4ten
Endlich wieder schönes Wetter, R. arbeitet, ich mit den Kindern im Garten; nach Tisch Gespräch über Siegfried und Brünnhilde, daß ersterer nicht tragisch sei, weil er nicht zum Bewußtsein seiner Lage kommt, ein Schleier ist über ihm, seitdem er Brünnhilde für Günther geworben, aber alles unbewußt, der Zuschauer erkennt es. Wotan und Brünnhilde sind tragisch. - Ich lese nachmittags im »Paulus«, zu großer Ergriffenheit von der Mächtigkeit dieses Wesens. Traurig sein im Sinne Gottes, nicht im Sinne der Welt, wie rührt diese Lehre! Heitere Nichtachtung der weltlichen Dinge, stille tiefe Trauer über die Schuld! Die Unterwerfung Paulus' der Forderung der Jerusalemer Kirche, sich scheren zu lassen und die Gelübde zu tun (Nazir), ist das Beispiel, in welchem Sinn man die Gebote achten soll und in die Kirche gehen, aus christlicher Liebe. Ich teile R. meine große Ergriffenheit mit. Wir gehen zum neuen Hause, und ich muß lachen, daß das Buch eines Verketzerten mich so religiös stimmt. Die Büste wird ganz gut. Darauf kleiner Spaziergang und abends Lektüre (R. freut sich der sächsischen Soldaten, wie [er] das Blau des Himmels und Grün der Bäume nennt). Beim Kapitel des Rüdeger müssen wir gerührt uns gestehen, daß dieser zweite Teil des Nibelungenliedes über die Ilias geht durch diese zarten Züge der Pflichttreue, die einem förmlich in der Schilderung das Herz zerreißen. - »Du hättest einen Gott zum Mann haben müssen«, sagt mir R.; »nun, den hätte ich ja«, meine ich! - Wie er in seine Arbeitsstube tritt, sagt er: »Nun hat alles einen Sinn, meine Bücher, mein Schreibtisch, da du bei mir bist; wenn ich denke an meine früheren Umzüge, diese Verzweifelung, mit welcher man sich da einrichtete.« - »Deine erste Frau wäre jetzt nicht mehr jung genug für dich«, sagt ich ihm heute, »o mein Kind, wäre alles so geblieben wie es war, so wäre ich sehr alt jetzt.«
Sonnabend 5ten
Richard ist gar nicht wohl und hatte eine schlechte Nacht; er arbeitet aber doch etwas; nachmittags zur Sitzung, von da über das Theater zur Bürgerreuth. Ein Gefühl von Angst, das ich nicht beschreiben kann, überfällt mich, wie ich das riesige Gerüst sehe und den breiten Zuschauerraum! So lange die Idealität bloß in uns lag, erschrak mich ihr Abstand von der Realität nicht, nun aber, da sie geformt vor uns ist, erschreckt mich die Kühnheit, mir erscheint dann alles wie ein Grab (Pyramiden!). Ich verschweige diese Empfindungen, und heiter nehmen wir das Abendbrot auf der Bürgerreuth ein; um heimgekehrt uns zu Bett zu begeben.
Sonntag 6ten
Zur Kirche mit den Kindern, dann wiederum Makart's Bild angesehen; Kindertisch, dann zum Hause, der Springbrunnen und die Sitzung! Abends Uhland. Leider ist R. nicht ganz wohl.
Montag 7ten
Krankes Kindermädchen, für welches ich eintreten muß. R. arbeitet und liest vor seiner Arbeit in Holtzmann's »Germanische Altertümer«, die ihn sehr fesseln. - Brief aus Barcelona, es hat sich dort ein Wagner-Verein gebildet zur Verbreitung seiner Werke, sie bitten um ein Konzertprogramm und schreiben sehr rührend. Zur Sitzung. Abends Uhland.
Dienstag 8ten
Lieblicher Brief von Marie Dönhoff mit 3 neuen Patro-natsscheinen, R. arbeitet, ist aber unzufrieden, weil er eine Seite neu schreiben muß. Zum neuen Haus, die Büste ist vollendet und recht gut. Abends Uhland. (Frankreich in wahnsinnigen Bigottismus verfallen, die Schweiz dagegen sehr wacker.)
Mittwoch 9ten
R. erzählt mir einen seltsamen Traum, den er diese Nacht gehabt, er sei zu einem Fürsten, den er Hoheit nannte, in einem ähnlichen Verhältnis gewesen wie zum König von B.; dieser warf ihm freundlich vor, an seinem (R.'s) Geburtstag mit Extra-Zug gefahren zu sein, ihn bittend, es nicht mehr zu tun, worüber R. ihm versichert, es sei nicht der Fall gewesen, und ihn Hände drückend beruhigt habe. Wie er aber sich entfernt habe, habe R. sich gesagt: Wenn er nur nicht die gräßliche Schuld entdeckt; es war dies eine Art von Betrug, der zum Tode vielleicht führen müßte (von dem R. angenommen, daß keiner auf ihn kommen würde), falls, wie unvermeidlich, er entdeckt würde; nun frug sich aber R., wie er das aushalten wolle, wenn der Unschuldige statt ihm belangt würde, unter gräßlichen Gewissensqualen wachte er, sehr unwohl, doch förmlich erlöst, auf. - Herr Brandt ist hier, um den Bau zu besichtigen, wir teilen uns unsere gegenseitige Angst mit! Er erzählt von Semper, dieser habe ihn gebeten, für ihn nach München zu telegraphieren, die Pläne zu verlangen, die er gern in Wien ausstellen wollte, dann habe er aber die Bitte zurückgenommen. Mittagessen mit Herrn Br. und Kiet-zens; die Frau ist auch gekommen, und R. sagt, es sei merkwürdig, welche Frauen sich die Künstler immer in Deutschland nehmen. Die Büste ist aber schließlich sehr gut geworden, und ich muß es dem guten Menschen wirklich danken, daß er so geduldig, willig und darauf eingehend alle meine Bemerkungen aufgenommen. R. hat viel Ärger im neuen Hause, Herr Wölfel benimmt sich roh und tückisch. - Tantieme aus Berlin, die Werke sind bloß im ganzen Vierteljahre 3 Mal gegeben, und eine Aufführung des Lohengrin an R.'s Geburtstag brachte 5000 Thaler ein. Ich schreibe nach Barcelona und an M. Dönhoff, auch an M. M.* - Abends in Uhland gelesen. Der Passus von Otfried: (»War der Gesang dieser Sprache ((die fränkische)) nie so in Regel gebunden, so wandelt sie doch in schöner Einfachheit, sorge du nur dafür, daß Gottes Wort schön laute im Verständnis. Zeit und Regel sei deine Predigt selbst, das Metrum halt an deiner Zunge, schöne Verse seien deine Taten, in Gottes Gebot laß deine Füße gehen! Denke und dichte darauf in diesen sechs Zeiten, daß du in der siebenten rasten mögest«) macht auf mich den größten Eindruck, mir ist Luther's Sinn darin.
Donnerstag 10ten
»Wer auf Freuden vertraut, der zimbert auf den Regenbogen«, dieser Vers von Freidank,[2] durch R. mir zitiert, begleitet uns heiter den ganzen Tag. - R. arbeitet, ich- beschäftige mich mit den Kindern und schreibe links und rechts (u. a. an E. Ollivier). - Nachmittags fahren [wir] zur Eremitage, lassen die Wässer springen, großes Vergnügen für die Kinder, ein wenig ermüdend für uns; die Gedanken an Friedrich den Gr. verlassen uns dabei nicht. R. freut sich über Fidi und sagt: »Dieses Glück durch dich! Und die Leute, die sich einbilden, daß irgend etwas aus der Vergangenheit noch haften könnte, mein Verhältnis zu Minna oder den verschiedenen M-Ms« (so nennt er seine Beziehungen zu Frauen)! »Alles ist wesenlos, ich weiß von nichts mehr.« Bei schönem Sonnenschein erblicken wir das Theater, das sich mächtig erhebt, in der Ferne. Schöner großer Eindruck. - Abends geht R. zum Kränzchen; gegenüber (beim Ruckriegel!) ist Turn[ ]** mit üblicher Militär-Musik schauderhaftester Auswahl, plötzlich erhebt sich eine Mozart'sche Melodie wie eine Palme in dem Sumpf, und ich bin - so elend auch die Ausführung - gefesselt und gerührt; Elsa's Brautzug erscheint zuletzt wie eine gefangene Königstochter in diesem Triumphzuge der Gemeinheit, traurig und rührend - trifft das entstellte Antlitz ein Herz, und ist es nur das meinige, das die Gefesselte erkennt und ihr entgegenschlägt, so wenden sich die Ketten zu den Himmelsbanden, die alles vereinen und alles lösen! Sehnsucht nach R.!
Freitag 11ten
Der edle feurige Mariani in Italien ist gestorben. - In Berlin geben sie die MSinger gar nicht mehr! - Claire schreibt, daß ihr einziger Sohn herzkrank sei - Gedanke an Fidi -, neulich sagte R., wie schrecklich das sein müßte, den Sohn, den einzigen, zum Krieg hinzugeben, wenn z. B. der Sohn im Krieg zwischen den Preußen und Österreichern gefallen wäre, es wäre doch entsetzlich. - R. arbeitet, nachmittags zum neuen Hause und dann zum Walde, ich mit den Kindern; zu unsrer größten Überraschung, sich durch Siegfried-Motiv in der Ferne anmeldend, kommt uns R. entgegen. Abends Uhland. (Mit unserem Baumeister besseres Einvernehmen.)
Sonnabend 12ten
Hypotheken-Unterzeichnung auch meinerseits, dann R. zur Arbeit. Abends zu Feustels; nicht gar angenehm, R. erholt sich davon durch anhaltendes Lesen in einer Monographie über die Religion der Patrizier und Plebejer in Rom eines Italieners Pellegrino,[3] welcher in Deutschland Philologie studiert und nun deutsch schreibt.
Sonntag 13ten
Mit der Dekoration des Hauses mich beschäftigt, Hildebrand's Echters[4] durchgenommen. Kindertisch, dann zum neuen Hause, bald zurück, heftiges Gewitter. In Uhland gelesen. R. arbeitet regelmäßig.
Montag 14ten
Regelmäßige Tage, Beschäftigung mit und für die Kinder; R. [mit] der Partitur und viel mit deutschen Altertumsfragen, immer in Bezug auf »Was ist deutsch« beschäftigt. Viel Scherz über die Franzosen, welche bei der Revue für den Schah von Persien[5] die Kürassiere von Reichsofen leben lassen!! - Die Beschränkung der Presse besprechend sagt R., er würde nur gegen Verleumdung unerhörte mittelalterliche Strafen setzen (wo möglich Hand abhauen), alles sonst gestatten. In Uhland weiter gelesen. Sorge um den Verleger Fritzsch, der krank sein soll. Der erste honette gute Geschäftsmann, mit dem R. zu tun hatte, muß uns auch gleich die Sorge um sein Leben einflößen.
Dienstag 15ten
Einerlei des Lebens mit vielem Ärger mit dem Haus verbunden. Der Maler Hoffmann schreibt verständig und anständig. Er ist, wie es scheint, mit seinen Skizzen fertig. Abends Uhland. - Der Tag gehört im Scherz R.'s Barbier, welcher meldete, er sei italienischer Abkunft, sie hießen ursprünglich Schnabisauf; der Name ist nämlich Schnappauf! Wir müssen über das italienische Schnabisauf sehr lachen.
Mittwoch 16ten
Immer dasselbe, nichts von außen, außer von Amerika die Bestellung einer kleinen Komposition für eine illustrierte Zeitung. - Kindertisch, und darauf wie gewöhnlich zum Hause. Entschluß, keine Verzierungen keinerlei Art anzuwenden, sondern einfach bleiben und alles in die Verhältnisse legen. Abends Uhland. (Unser Freund Kietz ist von der Universität Tübingen zum Dr. ernannt worden, zur Belohnung für sein Uhland-Denkmal.)
Donnerstag 17ten
R. ist sehr fleißig und arbeitet jetzt wieder gern. Die Welt ist ziemlich still, nur das Haus bereitet uns Nöte. Gespräch nach Tisch durch Zufall über Taubheit und Blindheit, R. würde eher erstere ertragen, sein Ohr habe mehr Leiden als Freuden (diese freilich sehr exta-tischer Art) gehabt, während das bloße Sehen viele Zerstreuung gewähre. Abends den ersten Band von Uhland beendet.
Freitag Sonnabend 18-19ten
Immer nicht viel zu notieren; mich hat eine ungemeine Müdigkeit befallen in Folge schlafloser Nächte; die Einsamkeit hier ist mir nicht so wohltätig als in Tribschen, sie ist nicht so geborgen, und je länger der Lebenskampf dauert, um so ernster wird die Sehnsucht nach der Befreiung; doch alles kommt, und die Buße des Lebens muß sich erfüllen. Wir beginnen den »Mythus von Thor« von Uhland. R. erzählt mir, er habe das Glockenspiel seinem Orchester beim Abschiedsgruß von Brünnhild beigefügt, als exzentrisches Moment, als ob die Flamme freudig loderte. - Wie ich R. meine Lebensempfindung mitteile, sagt er: Ja, schaffen muß man, sonst bloß sich mühen und andere erzeugen, die sich auch mühen werden, das ist Unsinn.
Sonntag 20ten
R. stand früh auf und spielte das Thema der Kantate, die zu seinem Geburtstag gespielt worden war, dann kam er zu mir und sagte, es knüpfe sich eine so freundliche populäre Erinnerung für ihn nun daran. Er habe lieblich von mir geträumt, sagt er mir auch dann. Wir kommen auf die Enthüllung von Tausig's Grabdenkmal zu sprechen, wobei die ungeschickten Leute den Trauermarsch der Eroica gespielt, so unpassend wie möglich, sie hätten besser Chopin's Marsch spielen können. »Bei unsrem Begräbnis«, sagt R., »soll der Schlußsatz von Tristan und Isolde gespielt werden.« - Mit den Kindern zum Photographen, während R. arbeitet. Kindertisch; R. zitiert plötzlich »o glaube mir, der ich den Sauerteig« u.s.w. und sagt, daß an dem »allein ich will« von Faust, was ganz abseits der Vernunft und der Erkenntnis liege, sich die ganze Schopen-hauer'sche Philosophie knüpfen ließe. R. ruft aus: »Ich bin froh, daß ich dich habe, du führst aber ein elendes Leben bei mir!« - (Putz, der Hund aus der Feenwelt!) Das Buch über Kaspar Hauser von Daumer[6] empfangen. Mit Interesse begonnen; wie ich mit R. über Daumer spreche, sagt er: »Wie mir eine Gräfin Poniatowski sagte, daß in Italien alles Bedeutende in den Klöstern sei, so könne man sagen, daß zu einer gewissen Zeit in Deutschland alles leidenschaftlich Erregte, einer Gemeinsamkeit Bedürftige, vom Konsistoriums-Wesen Angeekelte katholisch wurde - freilich, dort fühlten sie sich erst recht vereinsamt!« - Mir gefällt die Sprache Daumer's und seine Aufstellung der Frage zwischen Glauben und Unglauben. - Die Geschichte K. Hauser's selbst sehr lehrreich, hier hat wieder die Abgefeimtheit sich der aufgeblähten Nüchternheit, des so dummen und so gescheit sich dünkenden Rationalismus bedient und ein Gewebe von Lug und Trug anscheinend siegreich auszubreiten - doch immer an einer Masche fehlt es, durch welche die Wahrheit schlüpft und alles zerreißt! - Wir gehen mit den Kindern spazieren, die Kornblumen in den Feldern erinnern R. an eine erste Frauen-Huldigung; wie er 12 Jahre alt war, in Thale zum Besuch seines Lehrers Humann, habe ein Mädchen ihm einen Kranz von Korn- und Mohnblumen aufgesetzt, den er schon weggerissen habe. — Weiter auf dem Spaziergang gedenken wir des »Mythus von Thor« und Olafs, des Christlichen-König; wie Thor sagt: Ich sollte mich rächen, und in das Meer verschwindet, so wehmütig, so schön; R. sagt: »Solche Eindrücke sind es gewesen, die mich gänzlich von der modernen Welt abgewendet haben und die andere aufsuchen lassen.« - Wie schön vom deutschen Volk, so persönlich an seinen Göttern gehangen zu haben, sie noch festzuhalten, so lange es nur ging, und dann rührend verschwinden [zu] lassen; Tannhäuser-Sage, Wotan als Knecht Ruprecht, der Neck, welcher weint, daß er nicht erlöst sein kann!... - R. las mir einen drolligen, gut gemeinten Aufsatz über den Vater: »Ja ja«, sagt er, »die deutsche Anerkennung, sie zappelte, ward groß!« — Abends zu den Automaten mit den Kindern. (R. meldet, Ende der Woche des Theaters Hebeschmaus!)
Montag 21ten
Zweimal zum Bau des Hauses am Morgen; dann an die Amerikaner geschrieben. Viel in »Kaspar Hauser« gelesen. Besprechung des Hebeschmauses, ob den Vater dazu einladen? Fidi mit seinem Papa ausgegangen. Die Trompete! — R. freut sich, daß der »Beethoven« nach »Auber« in dem 9ten Band kommt, und sagt, was man Schopenhauer verdanke; seit ihm könne man über gewisse Themen, die sonst ganz unzugänglich - wie die Musik - frei sprechen.
Dienstag 22ten
An den Vater geschrieben, ihn zum Hebeschmaus eingeladen. R. arbeitet (schreibt auch ein Gedicht über die Modernen*).(*Siehe auch Anm.[7] - Zwischen der Eintragung vom 6. und 7. September 1873 befanden sich zwei undatierte Zettel, einer von Richard Wagner beschrieben mit dem Gedicht(-Entwurf?): » Modern. Laßt eure Ahnen in den Grüften modern, Wagner, Hier / wenn man bedenkt«; der andere von Cosima: »Man muß immer auf schlimme Dinge gefaßt sein, wenn man - hm, hm!«) Nach Tisch mit den Kindern zum Siegesturm, Waldrast, Abendbrot auf der Bürgerreuth. R. hatte sich wieder sehr gegen einen sehr gutmütigen, aber albernen Zeitungsschreiber [zu wehren], der für die Gartenlaube einen Aufsatz zu schreiben hat, welcher ganz objektiv gehalten werden soll; R.'s Namen (auf Herrn Keil's Verordnung) nicht genannt. Das nennen die guten Leute objektiv! Viel abends über Daumer's Buch gesprochen, da es in Regensburg erschienen, kommen wir auf den Gedanken, die Jesuiten haben dessen Veröffentlichung betrieben, um dem Großherzog v. Baden einen Streich zu spielen (natürlich ist Daumer naiv und nur benutzt); wenn es dem deutsch gesinnten Fürsten auch bloß Schwermut beibrächte, so wäre dieser Partei die allerdings furchtbare Geschichte schon recht. Vielleicht haben sie die Schrift [von] Dr. Julius Meyer veranlaßt, um Daumer zu provozieren. »Daß nur das Schlechte klug ist und das Gute so ohnmächtig und albern.« »In Bezug auf mich kann auch ausgerufen werden: Daß nur dem Kopf nicht alle Hoffnung schwindet!« Er sagt, er habe oft eine beinahe unbezwingliche Lust, zu weinen, und erschiene dann zänkisch!
Mittwoch 23ten
Beschäftigungen mit Kindern und Haus. R. arbeitet und ist im ganzen wohl. Die Leute arbeiten jetzt an unserer Gruft. R. geht zum Riedelsberg, um den Hebeschmaus zu besprechen, ich begleite ihn ein Stück Weg und kehre durch die Wiesen bei schönem Sonnenuntergang heim; tiefes Nachdenken, wandelnd - ich glaube, kein Klosterbruder kann losgelöster von den Dingen sein als ich, selbst eines schweren Loses der Kinder in Zukunft gedachte ich und nahm es hin - denn so ist es (und wir können weder für uns noch für die Unsrigen den Kelch entfernen). Seltsam ist es, daß man dabei heiter bleibt, wenigstens dem Anschein nach; der Kampf um diese Heiterkeit ist aber auch oft heftig, die Flügel sinken, und man sehnt sich nach der Ruhe.
Donnerstag 24ten
R. arbeitet bei ungemeiner Schwüle; nach Tisch erzählt er mir, die Leute auf dem Riedelsberg hätten triumphierend von der Mediatisierung der Fürsten gesprochen, »wer hat sie mediatisiert«, frug R., »Napoleon; nun sind sie da, in die Hände der Jesuiten und Juden getrieben, weil sie nichts mehr zu bedeuten haben und doch eine eximierte[8] Stellung einnehmen. Früher befaßte sich der Adel mit Literatur, jetzt herrscht dafür Paul Lindau etc.«! Besuch des Herrn von Meyern, früherer Intendant in Gotha! Wir gehen mit ihm zum Theater - ein, wie es scheint, sehr guter Mann, der aber unter andrem R. fragt, ob er nicht nach den Nibelungen den Mythus verlassen würde, um die moderne Tendenz zu verherrlichen; dabei ein Enthusiast! - Wir kasparhausern ein wenig des Abends.
Freitag 25ten
In Folge der Abendgespräche hat R. schauerliche Träume von Banditen und kommt dazu, sich mit Schrecken die Frage zu stellen, ob es herauskommen wird, daß er die 60000 Gulden gestohlen. — (Unterbrechung von 14 Tagen, ich beginne mein Tagebuch wieder Freitag den 8ten August und schreibe aus der Erinnerung nach) - Hauptmann von Steinitz mit Frau sind angekommen und bringen den Abend bei uns zu, die gute Frau hat den besten Willen, aber alle Theaterunarten, und R. glaubt kaum, daß er sie wird gebrauchen können.
Sonnabend 26ten
Für den Vater Wohnung im Reichsadler besorgt, ihm in Neumarkt entgegengereist, er kommt um die erwartete Zeit nicht; wiederum zurück, R. erwartet mich mit dem plötzlich angekommenen Freund Klindworth,[9] welcher sich die Götterdämmerung zum Arrangieren abholt. Um 3 Uhr der Vater sehr müde und angegriffen. Abends Musik; R. singt mit Fr. v. St. die Scene aus dem Fl. Holländer zu tiefstem Eindruck und Ergriffenheit, er selbst erschüttert, gerade diese Scene, in welcher er unsere ganze Situation wiedererkennt, vor dem Vater zu singen. Nachdem sich alle entfernt haben, verharren wir noch lange in gedenkender Erschütterung - niemals werden des Holländers Worte je wieder so gehört werden.
Sonntag 27ten
Gegen elf Uhr den Vater besucht, mit ihm heimgekommen, zu Hause gespeist; darauf musikalische Session mit Fr. v. St. (Lohengrin), Besuch des Haus-Baues und abends Musik -d.h. der Vater spielt einiges.
Montag 28ten
Der Vater spricht mir von Hans, daß er wohlauf sei, daß seine Aussichten in England glänzende seien, daß er bereits 30 000 Th. für die Kinder zurückgelegt. Nachmittags Musik, dritter Akt von Siegfried, Herr Klindworth begleitet nach seinem schwierigen Klavierarrangement, R. singt zu namenloser Ergriffenheit, der Vater bemerkte, daß nach 25 Jahren die Besten kaum erkennen werden, welcher Reichtum in diesen Sachen wäre; wir erhalten Sendungen von einer Broschüre über die Juden von einem türkischen Obersten und von einer Schrift des Pr. Overbeck[10] über die Unchristlichkeit unserer heutigen Theologie, letzteres scheint vorzüglich zu sein. - Besuch des Theaterbaues. Abends die »h. Elisabeth« vom Vater vorgenommen.
Dienstag 29ten
Stilles gleichmäßiges Leben mit dem Vater, welcher sich erholt hat und, wie es scheint, gern das ungewohnte Leben mit uns teilt. Er ist immer sehr mit französischen Produkten versehen, doch wir geben ihm manches Deutsche, das er denn auch liest. Fahrt zur Eremitage mit den Kindern; Lusch benimmt sich schlecht gegen Eva. Abends erster Teil und Scherzo von 106,[11] As moll Präludium aus dem Wohltemperierten Klavier von Bach, hervorgezaubert von dem Vater. (Unsere gute Freundin A. Frommann schreibt entsetzt über den Aufsatz im 8ten Band über Herrn Devrient und seinen Stil. R. antwortet ihr bündig, daß er derlei Arbeiten nicht zum Vergnügen mache.)
Mittwoch 30ten
Großer Kindertisch mit dem Vater, welchem die Kinder gefallen und der namentlich Fidi immer als merkwürdig bezeichnet, »merkwürdiger Junge«. - R. arbeitet, ist aber ermüdet und einigermaßen verstimmt, behauptend, er sei übrig in meinem Zusammenleben mit dem Vater. Abends immer Musik, unter andrem auch die »Rätsel« von Weitzmann[12] gespielt zu großem Ergötzen.
Donnerstag 31ten
Große Einladung beim Vater, sämtliche Kinder bei Tisch, viel Scherz, leider entsteht unter den Kindern, wie sie zu Hause sind, ein häßlicher Streit, immer gegen Eva gerichtet, und ich muß R. zu Hülfe, zur Züchtigung der zwei Großen rufen, ich lege ihm die Fälle, die sich angehäuft haben, vor und bitte ihn, das strenge Amt des Vaters zu übernehmen, zum ersten Mal gibt er Daniella und Blandine einen Schlag, sie sind tief erschrocken. - Abends der Dekan, der Bürgermeister, Dr. Landgraf, der Vater spielt zu unerlöschlichem Eindruck das Adagio von 106, von Zeit zu Zeit wirft R. ein erklärendes tiefes Wort ein, so daß unsere ganz unvorbereiteten Zuhörer ganz überwältigt erscheinen. - Wie alles sich entfernt hat, verfällt R. in tiefe Melancholie, er weint und schluchzt darüber, daß er den Kindern eine Züchtigung zu Teil werden ließ, erkennt sich das Recht dazu nicht und ist wie aufgelöst von Schmerz.