September

Sonnabend 1ten
Egidi-Tag, Wende des Wetters, es ist kalt. R. fühlt sich nicht wohl, meint, er müsse seine Diät verändern. Der Arzt weiß auch nicht Bescheid. - Schöner Brief des Königs - auch von Herrn von Wolzogen, daß eine Versammlung hier[1] stattfinden wird. R. möchte die Aufführung von der Münchner Intendanz hier gern aufgeben dürfen. Abends Herodot. Ich spiele die 4händige Sonate von Beethoven mit Boni vor, R. lobt uns beide.
Sonntag 2ten
R. hatte wieder eine wilde Nacht mit bösen Träumen, wobei es sich immer um mich handelt, diesmal auch um Fidi. Veränderung der Diät für ihn. Er kann aber arbeiten. Viel über den Krieg gesprochen, welcher sehr schlimm für die Russen sich weiter entwickelt.
Montag 3ten
R. schreibt dem Herrn Patron Schmidt und bittet ihn, an der Versammlung Teil zu nehmen, welche in Bälde hier stattfindet. - Zu Tisch sagt er scherzend, ich weiß wohl was, aber nicht wie, er meint es von seiner Arbeit! Abends Herodot. Die Kälte ist schon da!...
Dienstag 4ten
Regenwetter, im Hause Arbeit, abends Herodot. Meldung von H. von Wolzogen, daß die Versammlung der Patrone*(* Dieser Seite ist eine gedruckte Einladung beigelegt, s. Anm.[2]) hier am 15ten stattfindet. Brief meines Vaters, daß Hans die Kmeisterstelle in Hannover und die Direktion der Konzerte in Glasgow angenommen! Abends Herodot.
Mittwoch 5ten
Arbeit! Wintersachen hervorgesucht für die Kinder und Rechenbücher, mit Bedauern bemerkt, daß die Ausgaben sehr hoch bleiben und ich nichts dazu tun kann, sie zu verringern! - - Isolde leidend, schreibt von Heimweh. Abends Herodot mit vielem Vergnügen!
Donnerstag 6ten
Gleiche Beschäftigungen; R. nicht ganz wohl, doch scheint er mir etwas zu arbeiten. Abends Herodot. Vorher Sprichwörter gespielt.
Freitag 7ten
R. mit Fidi in der Frühe aus, um ihm endlich hier einen Lehrer zu verschaffen; jedoch vergebens. Nachmittags muß ich liegen und überdenke einen Nachruf an Marie Muchanoff, welcher mich lange schon beschäftigt.
Sonnabend 8ten bis Freitag 21ten
An der Einschreibung in das Tagebuch durch allerlei verhindert, unter andrem am 14ten und 15ten durch das Erscheinen der verschiedenen Delegierten der Wagner-Vereine zur Besprechung der vorzunehmenden Entschlüsse. Herr Schmidt von Viersen (No 388) ist auch erschienen; sein Aufruf hat bis jetzt nicht viel gefruchtet, doch ist seine Anteilnahme uns eine wertvolle. Am Sonnabend 15ten in der Frühe hält R. seine Rede im Theater, bei wundervollem Wetter; es scheint große Hoffnung in Bezug auf Gründung der Schule zu entstehen. Freund Heckel schlägt die Gründung eines eisernen Fonds vor, und 6000 Mark werden gezeichnet. Freund Pohl soll nach Überwindung einiger Schwierigkeiten das Tagblatt hier übernehmen. Hans v. Wolzogen will sich hier niederlassen. Herr Hey soll den Gesangunterricht übernehmen. Herr Porges bringt vom Hof rat Düff lipp die Nachricht, daß der erste Vertrag über die Übernahme der Festspiele in Bayreuth seitens der Münchner Intendanz des Königs Genehmigung noch nicht erhalten, daß nun ein zweiter Vertrag vorläge. Am Sonntag löten liest R. allen den hiezu gebliebenen Freunden den Parsifal vor, welcher wirklich mit großer Ergriffenheit aufgenommen wird. - Für mich ist bei all diesem Planen das traurige Gefühl, daß R. vom eigentlichen Schaffen abgelenkt wird. Ich habe den heutigen Tag mit Herrn Tappert zugebracht, ihm die Papiere zeigend und einige Notizen gebend. Am Montag 17ten begibt sich R. wieder an die Arbeit; er scheint jetzt wirklich zu skizzieren. Der Himmel segne ihn und sein Werk! Dieser Montag bringt auch Fidi einen Lehrer; nun heißt es ernst und abstrakt werden! Wolzogens sind noch hier, er erfreut uns durch sein ernstes tiefes Wesen. R. arbeitet und schreibt an den König, um ihm den Plan der Schule [zu übermitteln] sowie seinen Dank für die gütige Absicht, die Spiele hier durch die Münchner Intendanz übernehmen zu lassen. Auch an Hof rat D. schreibt R., auch wegen dem Gesangslehrer Hey, welcher nun sehr notwendig hier sein wird. (Von Lektüre hatten wir vor der Versammlung nur Fortsetzung von Herodot und zu größtem Entzücken »König Johann«).
Donnerstag 20ten
Besuch unseres Neffen Fritz Brockhaus, zum ersten Male seit vier Jahren. Aufrichtige Freude darüber und viel Plauderei.
Freitag 21ten
Mr. Jenkins, der amerikanische Zahnarzt, kommt auf mein Ersuchen zu R., aus Dresden, der sehr artige Mann beginnt seine Operation gleich am Nachmittag. - Abends ergeht sich R. in einem langen Gespräch mit Fritz über das Unrecht, welches Bismarck mit der Annexion Hannovers etc. getan, verwalten ja, lange Zeit selbst, aber nicht einstekken.
Sonnabend 22ten
Weitere Operation, R. erträgt es mit Geduld, sagt selbst, er habe gestern während dem komponiert! Abschied von Mr. Jenkins, welcher durchaus von R. kein Geld annehmen will. Nachmittags hat R. eine Konferenz mit dem Bürgermeister und Herrn Feustel bezüglich der Schule, worauf er an Freund Klindworth schreibt, um zu sehen, ob er denselben für uns gewinnen kann. - Ein offener Brief von Herrn Hiller an meinen Vater, von Herrn Lesimple zugeschickt, läßt einen von neuem mit Erstaunen gewahren, wie weit die Schamlosigkeit der sich nicht Schämenden noch Grämenden gehen kann. Schöner Brief von Herrn von Wolzogen an mich.
Sonntag 23ten
Abschied von Fritz, welcher sich nicht genug wundern kann, wie heiter und in schöner Stimmung sich R. befindet. - Nach Tisch mit R. im Hof garten spazieren gegangen, er sagt mir, dieser Garten hänge, wie immer die Lokalität, mit seiner Komposition zusammen, eine Modulation z. B. sei die Töchterschulen-Ecke. - Heimgekehrt schreibt er allerhand Briefe, unter andrem an Herrn Pollini,[3] welcher ihm von einer Direktion seiner Werke in London geschrieben und ihm gesagt, es gebe kein Opfer, welches er nicht dafür bringen würde. R. refüsiert natürlich, erinnert aber den Impresario an seine »deutschen« Verpflichtungen; dazu schreibt er Herrn Voltz, um diesen zu ermahnen, seine Rechte hier zu wahren. - Peinliche Auseinandersetzung mit der Gouvernante, welche der üblen Laune freien Lauf gegeben. Abends spielt mir R. ein herrliches Thema und sagt mir, er könnte das ganze Vorspiel mir spielen, wenn er dies schon mit Tinte geschrieben.
Montag 24ten
Wiederaufnahme der Regelfmäßigkeit]. R. arbeitet, sagt mir dabei, es sei ihm, als ob er immer ganz von neuem begänne, Musik zu machen. Am Nachmittag schreibt er seinen Aufruf für die Schule.[4] Abends besucht uns ein Herr v. d. Leeve, welcher Patron gewesen und für Dr. Fuchs eine Beschäftigung an der Schule erbittet, indem er die Sustentation übernehmen wollte. (Neuer Sieg der Türken über die Russen!!)
Dienstag 25ten
R. meint, es würde ihm leichter sein, sich mit einem preußischen Lieutenant zu verständigen als mit dem gebildetsten Franzosen, die Sprache bilde eine zu große Kluft. - Er arbeitet und geht am Nachmittag das Lokal für die Schule besichtigen. Abends zeige ich meine neu eingeräumten Manuskript-Mappen R., darauf liest mir R. mit vieler Heiterkeit den Artikel Aristoteles von Voltaire im Dictionnaire philosophique vor. Durch die Kühnheit des Gedankenfluges gelangen wir dann zu Beethoven, und R. sagt, wenn er sich B. »in seiner Sternenpracht« vorstellen wollte, müsse er an den zweiten Teil von 111[5] denken (Adagio mit Variationen), er kenne nichts so Extatisches, dabei sei es gar nicht sentimental. Von dem Larghetto von 106 findet er, es sei zu lang und etwas akademisch; mich betrübt es, daß der Größte dem Größten es zuweilen nicht recht machen kann, selbst in den reifsten Werken.
Mittwoch 26ten
Ein seltsamer, wundervoller Tag! - Zuerst mit den Kindern gearbeitet; am Nachmittag gerechnet, das dritte Vierteljahr zusammengezählt! Nachmittags, gegen Abend, sehe ich R. emsig schreiben. Und abends sagt er (die Augen angestrengt!): »Es mußte doch zum h. Cosmas fertig werden!« Er spielt mir das Vorspiel in der Orchesterskizze vor! Lang andauernde Ergriffenheit — er spricht zu mir dann über diesen Zug des Grals-Mysterium, daß das Blut zu Wein wird, dadurch also wir gestärkt der Erde uns zuwenden dürfen, während die Wandlung des Weines in Blut uns von der Erde abzieht. Wunderbare Mischung in dem Vorspiel, des Mystischen und Ritterlichen. Die D dur Modulation ist für ihn wie die Verbreitung durch die ganze Welt der zarten Offenbarung. Um aber das Seelische der Worte Christus', das Losgelöste von jeder Materie zu verwirklichen, will er eine Mischung von Stimmen bringen, »eine Bariton-Stimme z. B. würde alles materialisieren; es muß nicht Mann, nicht Weib, Neutrum im höchsten Sinne des Wortes sein«. Lange noch über Christus gesprochen, das Evangelium von dem Tag vor dem Tode das Erhabenste, was die Menschheit hervorgebracht, unvergleichlich, das Göttliche! Er spielt mir noch einmal die Stelle, wo, wie er sagt, »der verklärte Blick sich bricht«. - Mit den Worten »es gibt ein Glück, das ohne Reu« schlafe ich ein nach diesen geweihten Stunden! - - Zum Scherz war auch R. übergegangen, dann aber immer wieder durch meine Tränen zu uns-rem Thema geführt.
Donnerstag 27ten
»Der h. Cosmas gratuliert!« Ich überziehe das Blatt bei den Kindern. Eine alte, liebe, lange Jahre entbehrte Beschäftigung. R. klagte, daß wir nicht vor 20 Jahren uns fanden und einten, ich meine, es sei gut, daß wir wenigstens vor 13 Jahren es taten. - Mein Heiliger bringt mir einen herrlichen Tag, wir gehen spazieren, R., Lusch und ich, und erfreuen uns der Sonne und des Himmels. Vor dem Abendbrot Briefschaften für uns beide. Abends in den »Phönikierinnen« von Euripides gelesen, dessen Einfluß, meint R., ein unermeßlicher auf Goethe und Schiller gewesen ist. Dann spielt mir R. das Vorspiel noch ein Mal vor. »Für Melle Condrie habe ich einige Akzente auch schon, z. B. das Lachen habe ich schon.« Viel in Erinnerungen uns verloren, heiter durch unser früheres Zusammensein, traurig durch die Mischung des Mitleidens! Ich bitte meinen guten Heiligen, seine heilende Hand auf alle Wunden zu legen! Denn das größte Gefühl meines Glückes bringt mich immer auf das Gedenken des Leidens des andren! - R. gedenkt, wie viel wir zusammen schon zu Stande gebracht; und unter solchen Umständen! Wäre unser Gefühl minder acht gewesen, wir hätten nach den Umständen müssen zu Grunde gehen! - »Wir werden, du und ich, im Andenken der Menschen leben«, ruft er mir zu. »Du gewiß«, rufe ich ihm lachend zu. - Leb' wohl, schöner teurer Tag, laß mich in Demut deiner gedenken!
Freitag 28ten
Vieles Gedenken Isolden's, welche uns in unserem Familienkreis recht sehr fehlt. Der gute arme Fidi wieder mit Furunkeln geplagt. Fahrt nach Fantaisie bei schönem Wetter. R. etwas unwohl, vielleicht angestrengt. Abends liest er uns einiges aus Darwin's »Abstammung des Menschen«, welche er jetzt vornimmt, vor.
Sonnabend 29ten
Schönes Wetter, welches ich zu einem großen Spaziergang benutze; an Herrn Feustel vorübergehend, muß ich im Namen R.'s seinem Drängen nachgeben, die Stimmen des Rings zu Konzertzwek-ken zum Besten der Schule zu versenden, was R. ungern tut. R. arbeitet und ist zufrieden mit seiner Arbeit. Abends die »Phönikierinnen« beendigt, mit gar wenig Freude daran.
Sonntag 30ten
In die Kirche zum Erntefest! Wie viel wäre nicht den armen Leuten, herbeigeströmt, in nicht viel Worten zu sagen, und wie wenig wird ihnen in blühenden langen Reden geboten! R. arbeitet und erzählt mir: »Ich war darauf, alles heute aufzugeben, nahm meinen Darwin, warf ihn aber plötzlich weg, denn während dem Lesen hatte sich alles gefunden, und so gut war ich dann gestimmt, daß ich mich förmlich zum Aufhören zwingen mußte, um nicht zu Tisch warten zu lassen. Es ist ein verrückter Zustand.« - Gestern fanden wir unter den Korrespondenzen der Musikalischen Zeitung einen Aufsatz von Hans, über den »Barbier von Sevilla«, in B.-Baden aufgeführt: mich ergreift dieses neue Lebenszeichen derart, daß ich kaum lesen kann!... Es ist witzig, allein der Witz tut mir nicht wohl. Abends nimmt R. den »Barbier« vor, Hans recht gebend in der unbedingten Bewunderung dieses Werks. Darauf Darwin.